MELCHIORs Bücher
& neue Romane zum Erst-Lesen
Mein jüngstes Buch.
Nicht ich
führe darin das große Wort
sondern eine hölzerne Schaufel.
So beredt und welterfahren
wie ich selber es niemals könnte.


Und führt damit zugleich
durch das Labyrinth meiner Bilder,
wie ich selbst es schon gar
nicht könnte.

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FREUDEN DES FINDENS OHNE ZU SUCHEN

Ich, die Schaufel, warte.
Ich habe den Vortritt hier, ich war zuerst da. Auf dieser Seite, an meiner Wand aus Bruchsteinen. Ich bin, wie Sie sehen, eine Schönheit. Ich bin tiefstes 19. Jahrhun¬dert, vielleicht bin ich sogar achtzehntes. Und überhaupt - fragt man eine Dame nach ihrem Alter? Ich bin handgeschnitzt und aus Pappelholz. Und was bitte sind Sie, der Sie sich gerade anschicken, mich zu über¬blättern? Sind Sie ebenfalls handgeschnitzt oder wenigstens aus Pappelholz? Haben Sie auch zweihundertfünfzig Jahre auf dem Buckel beziehungsweise auf der Schippe?
Alors, dann lassen Sie mir gefälligst den Vortritt hier. Ich warte schließlich schon seit geraumer Zeit. Seitdem der Künstler, er heißt übrigens Melchior, mich auf dem brocant erworben hat. Ich weiß nicht mehr wo, auch er weiß es nicht mehr. Aber es muss in Aquitanien oder im Berry gewesen sein. Im tiefsten Frankreich, wie Sie sehen. Brocant ist das, was Sie hierzulande Flohmarkt nennen. Aber ich bitte Sie, habe ich etwa Flöhe ?
Und nun warte ich darauf, dass er mich in mein zweites Leben befördert. Zu mir selber. Sie haben recht gelesen : zu mir selber. Melchior hat schon vielen Persönlichkeiten vom brocant zu einem zweiten Leben verholfen. Persönlichkeiten, die nicht einmal gewusst haben, dass sie auch nur Personen sind. Feuerzangen,. Pumpenköpfe. Schraubenschlüssel. Stuhlsitze. Ziegenkämme – ja, so etwas gibt es. Und nun sind sie Rollenträger, ja Akteure ! Stolze Solisten und stolze Ensemblespieler.

SCHAUBUCH Seite 2-10

"Ein Wahnsinnsbuch.
Man kann es nie auslesen und nie zu ende gucken.
Das Buch liegt so wohlig in der Hand - na, man muß es
Seite für Seite
aufschlagen und immer nur langsam weiterblättern..."


schreibt einer, der selbst am meisten
von Büchern und vom Büchermachen versteht -
Hans Joachim Gelberg,
Doyen der deutschen Verleger für junge Leser.
MELCHIORs SCHAUBUCH
gibts nicht im Buchhandel.
Man bekommt es
96 S., kartoniert, 23 x 24 cm,
zahlreiche Abb.,24 €
vom Autor
Wer in den 80er Jahren
an der Pariser Sorbonne ein Germanistik-Studium begann,
musste folgende Autoren gelesen haben:
Goethe, Hofmannsthal und Melchior Schedler -
diesen meinen Erstling.
Ein Debüt immerhin gleich bei Suhrkamp.
Henning Rischbieter, Herausgeber
von THEATER HEUTE
und mein geduldiger Mentor als ich
dort bei ihm Rezensent war, urteilte ernst :
"Schedlers Kanon passt in die edition suhrkamp
und nicht
in die bundesdeutsche Theaterrealität".

Ein Ehrentitel,
wenn man's recht ( links ) liest.

Der Amerikaner Jack Zipes,
Germanist/Komparatist an der University of Minnesota
und Übersetzer der Grimmschen Märchen
schrieb :

"It is the most serious work
on children's Theater published
on present
and represents the high level of Marxist
theoretical production
which has emanated
from the New Left movement in West
Germany since 1968, especially
in the realm of children's
education and culture".

Wer sich allerdings herzhaft
gewinnbringend echauffieren wollte, der las DAS hier.
Oder auch ( so hielten es die allermeisten )
eben grade nicht, sondern verließ sich auf beleidigte Gerüchte
& Buschtrommeln und paddelte damit wohlgerüstet durch die
Empörungswogen einer aufgeregten Epoche.

Beispielgebend Hartmut von Hentig , seinerzeit Säulenheilger,
ja Papst der fortschrittlichen Pädagogik,der mir schrieb :
Ich habe Ihr Buch grade in einem Vortrag
verrissen. Leider hatte ich keine Zeit, es
vorher zu lesen.
Ihr sollt's nicht so halten
sondern unten

links >>> weiterlesen...
>>>
Erst heute, 2016, erfahre ich, dass der Auflagen-Millionär Otfried Preußler seinerzeit Hans Joachim Gelberg wegen meiner bei Beltz erschienenen BLAUEN ELEFANTEN angiftete : "Für mich ist der Beltz Verlag tot." Gelberg, der in einem Parallel-Verlag seine Jahrbücher heraus gab, fühlte sich "automatisch in Sippenhaft", und Michael Ende verweigerte die Mitarbeit an eben iesen, weil "Preußler durchaus nicht unrecht hat, wenn er Sie mitverantwortlich macht für Bücher wie SCHLACHTET DIE BLAUEN ELEFANTEN."

Es entspann sich eine leidenschaftliche Debatte zwischen Ende und Gelberg, die Birgit Dankert in ihrer Michael Ende-Biografie gar "Eskapismusstreit" nennt ( 12 Jahre vor dem Historikerstreit ! ) um dann das Resümée zu ziehen :

"Melchior Schedler, damals Protagonist des modernen Kindertheaters, heute vornehmlich Maler, verstand den Autor Michael Ende besser, als der es wahrnahm. Surreale Momente sind Schedlers eigener Kunst nicht fremd, und die Empfindlichkeit Endes sieht er, eher dem Zeitgeist als handfester Berechtigung geschuldet. Dass sowohl der surrealistischen Kunst des Vaters als auch der surrealistischen Belletristik des Sohnes, sofern sie sich an Erwachsene richtete, der große Erfolg versagt blieb, ist Schedlers Meinung nach der deutschen Kulturtradition geschuldet, die dieser Kunstrichtung ablehnend gegenübersteht."

Birgit Dankert : Michael Ende - Gefangen in Phantasien Lambert Schneider Darmstadt 2016, S.170ff

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Christine Nöstlinger im Interview mit der taz am 12.10.16 :

"Damals gab es über Kinderbücher viel mehr Streit. Dort gab es einen, Melchior Schedler, der hatte ein Buch geschrieben, Schlachtet die blauen Elefanten in dem er auf alle Traditionellen losgegangen ist, zum Beispiel auf Otfried Preußler.Und da saß Preußler dann in einer Diskussion samt Ehefrau und drei Töchtern, alle so 180-Zentimeter-Walküren mit solchen Posituren (macht eine ausladende Bewegung vor der Brust). Preußler hat sich so aufgeregt, dass er ohnmächtig wurde, sodass ihn die vier Weiber hinaustragen mussten."
50 Jahre Sendung mit der Maus - Gedenkbriefmarke der Bundespost. Und jetzt wissen wir endlich,
wie mein Blauer Elefant ( 1973 ) in die Sendung des WDR ( 1975) geraten ist .

Wenn ich eines Tages in Rente gehe
werde ich mich beim WDR erkundigen,
wie viel Tantiemen er inzwischen mit seinem
Rüssel für mich aufgesaugt hat.
( Rechts mein duldsamer Anwalt )
Meine weiteren Bücher
brachten mich in den Höllenschlund der Bücher.

Die Frankfurter Buchmesse.
Ich wurde am Stand des S.Fischer Verlages
angeschrieben wie Frischware beim Gemüsehändler :
statt ZUCCHINI AUS NEUER ERNTE las man da
HEUTE : ERICA JONG / MELCHIOR SCHEDLER.

Ich musste
auf einer riesiglangen Schaumstoff-Wurst
sitzen und harren auf den ersten Leser,
auf überhaupt einen Leser.

Aber alle wollten nur Erica Jong
und ihr toupiertes Weißblond.
Ich konnte da nicht mithalten. Ich bin kein
Autor zum Ausstellen.
Wie Peter Härtling, den man, durch die Messe streifend,
an 17 Ständen Hof halten sah. Gleichzeitig !

Und erst Erich Fried ! An 77 Ständen.
Meine Bilder, die
mich am meisten erfreuen, sind die noch ungemalten.
Meine Bücher, die
ich euch am meisten ans Herz lege,
sind die ungedruckten.

Hier die Galerie meiner
noch nicht erschienenen Romane

MELCHIORs Romane
Kaspar, Melchior und Balthasar schlummern
hier gemeinsam unter einer großen Steppdecke, in Stein gehauen von Pater Gislebertus um 1120 in der
Kathedrale von Autun :"Gott befahl ihnen im Traum,
dass sie nicht sollten zu Herodes
gehen, und sie zogen auf einem andern Weg wieder in Ihr Land".
Aber welches Land soll das gewesen sein ?
Seit Jahrhunderten haben die Legendenbildner fruchtlos über dieses Reich Nirgendwo
spekuliert, bis in unseren Tagen unversehens -
MEIN KÖNIG DES LICHTS
ausgerechnet auf dem Weihnachtsmarkt
dem glücklosen Schriftsteller Melchior S.
ein klapperdürrer Uralter in die Arme sinkt und behauptet,
er sei König Melchior. Verirrt, umgetrieben, verlassen von den
beiden anderen und von Gott und Melchior S. habe sich nun seiner
zu erbarmen. Weil er halt nun mal der einzige Namensvetter ist.
Melchior versteckt Melchior, um Aufsehen zu vermeiden,sogar
vor seiner Frau ( was die Ehe ruiniert ) und vor den
begehrlichen Haustieren ( der KÖNIG DES LICHTS
duftet orientalisch appetitanregend ). Und vor den
Geheimdiensten, die ein salafistisches Komplott wittern.
Bis Melchior sich selbst vor den Behörden verstecken muss,
nun verlassen vom KÖNIG DES LICHTS, der sich mit Melchiors
Frau ins Chaos des Mittleren Ostens davon macht, wo sie
beide abhanden kommen. Bis Melchior in einem Strudel
von Sektenspinnern, Esoterikern, CIA, BND und NASA
sich selbst abhanden kommt.
Und als KÖNIG DES LICHTS seinerseits durch die Zeiten
irren muss - ?
( weiterlesen >>> links unten )
>>>
Melchior Schedler
MEIN KÖNIG DES LICHTS
Roman

Eiswasser in den Schuhen

"Vom Himmel hoch ihr Englein kommt !
Eia eia, susani, susani, susani !"
Wie ich diese Weihnachtsmärkte verabscheue mit ihrer krächzigen Zwangsbeschallung.
"Kommt singt und springt kommt pfeift und trombt !
Alleluja allelujuah. Von Jesus singt und Maria."
Verabscheuen ist gar kein Ausdruck dafür.Allein schon wenn ich nur das Wort sagen höre, wird mir der, ders ausspricht, zum Unsympathen.
"Kommt ohne Instrumenten nit
Eia eia, susani, susani, susani !"
Und es kann noch so lauschiger Sommer herrschen draußen vor den Fenstern, sobald jemand von Weihnachtsmärkten redet, saugen sich meine Schuhe auf einmal voll mit Nässe, mit saurer biestiger Nässe, und meine Zehen matschen in Eiswasser. Aber daran haben nur diese missfarbenenen Töpferinnen schuld.
" Bringt Lauten, Harfen, Geigen mit.
Alleluja allelujah. Von Jesus singt und Maria."
Diese Töpferinnen, diese bestimmte Rasse, wie es sie nur hier auf dem Weihnachtsmarkt gibt.Die unter ihren missfarbenen anthroposophischen Häkelmützen, die diese missfarbenen anthroposophischen Räucher-Töpfchen feilbieten, aufgereiht zwischen missfarbenen anthroposophischen Heilwärme-Kissen, prall gefüllt mit Dinkel und Hirse, alles makrobiotisch versteht sich.
"Das Lautenspiel muß lauten süß
Eia eia, susani, susani, susani !"
Und hinter diesen Kissen, Gebirgen von Kissen stillen sie ihre missfarbenen anthroposophischen Säuglinge, genauso makrobiotisch. Und beschenken mich über Räucher-Töpfchen, Säuglinge, Kissen hinweg mit diesem gewissen liebenden Blick, mit diesem makrobiotischen allumfassenden Liebesblick, wie ihn kein Mensch in das Repertoire seiner Mimik aufnehmen würde zwischen Januar und Oktober.
"Davon das Kindlein schlafen müß.
Alleluja allelujuah. Von Jesus singt und Maria."
Aber hier, auf dem Weihnachtsmarkt, da wird sie einem schutzlos zuteil, diese unerbetene unentrinnbare Liebesgüte und Gutliebe. Wo meine Zehen ohnehin schon vollgesogen sind mit Eiswasser.Mit eingebildetem, aber vollgesogen.
"Singt Fried den Menschen weit und breit
Eia eia, susanni, susanni, susanni !"
Drei überfressene Ponys müssen überfressene Kinder im Kreis tragen, alle Jahre wieder im Kreis, alle Jahre linksherum und immerzu links herum, in einschläfernder lahmer Behäbigkeit, als vollführten sie ihr end-loses Linksherum schon seit dem Weihnachtsmarkt vom vorvorletzten Jahr .
"Gott Preis und Ehr und Ewigkeit
Alleluja allelujah. Von Jesus singt und Maria."
Und in der Mitte dieser Mühle ist wie alle Jahre wieder diese Krippe aufgebaut, in gnadenloser Menschengröße müssen Maria und Josef ihr Kind eine Babypuppe bestaunen und dabei bis zu den Knien in Stroh stehen. In einem Stroh aus giftgelbem Plastik, wie es nur auf dem Weihnachtsmarkt ausgestreut liegt .
" Vom Himmel hoch, ihr Englein kommt !
Eia, eia, susanni, susanni, susanni !"
Und im Hintergrund halten sich schon die heiligen drei Könige bereit. Die Kinder, die grade nicht auf den Ponys das Linksherumlinksherum absolvieren müssen, werden vor diese heiligen drei Könige gruppiert und müssen "cheese" sagen damit es wie Lächeln aussieht. Fürs Album, das Oma zu Weihnachten bekommen soll.
" Kommt, singt und springt, kommt, pfeift und trombt !
Allelujah, allelujah. Von Jesus singt und Maria."
Sagt ihnen denn keiner, dass die heiligen Drei ihren Auftritt erst in ein paar Wochen haben, im nächsten Kalenderjahr also erst. Schon weil ich denselben Namen trage wie einer von den dreien, fühle ich mich da bei einer gewissen Verantwortung gepackt. Auch wenn ich keinen Kirchen--glauben mehr mit mir herum trage : eine geordnete Abfolge der Weih-nachtsgeschichte will ich doch eingehalten sehen. Schon weil ich von meinem Schriftstellerberuf her darauf bestehen muss, dass althergebrachte Erzählungen textgetreu weitergegeben werden. Zumal an die nächste Generation.
" Allelujah, alleeeeelujuaaaaaaah, von Jesus singt und Mariaaaaaaa-aaaa“ - "
Der Evangelist ist immerhin ein Kollege gewissermaßen. Ich würde niemals geschrieben haben was er geschrieben hat, aber dass er fahrlässig missachtet wird, betrifft auch mich. Also : fliehen, und weg hier ! Da werde ich aus dem Plastikstroh heraus am Ärmel zurückgehalten.
„Bruder !“
Zurück gehalten von einem aus dem Krippenpersonal ? Einem Hirten, oder vom Josef ?
„Schau dir das an, Bruder, das isn Geschöpf vom lieben Gott.“
Und es wird mir ein Hund vor die Augen gehoben.Eine Promenaden-mischung, ich kann nicht erkennen, wo der Spitz aufhört und der Terrier anfängt, jedenfalls hat er ein rotes Halstuch umgebunden und will mir seine Zunge zum eweis der Liebe quer übers Gesicht ziehen.
„Schau‘ n dir an Bruder, ‘n Geschöpf vom lieben Gott, `n Bruder vom Menschen, und du darfstn kraulen sogar, weil Weihnachtszeit is.“
Und nun kriege ich den Schleckhund auch noch auf dieArme gelegt. Schon wieder mit diesem liebenden Blick. Als ob der Köter der dienst-habende Ochs oder der Esel persönlich wäre aus dem Stall zu Betlehem.
"Vom lieben Gott ! Weil der hatn gemacht ! Liebreich, verstehste, weil der hat uns alle gemacht, mich und dich auch, da kannste doch nich hartherzig an vorbei gehen, lieblos, genau vier Wochen vor Heilig Abend. Bruder !"
Ich fliehe endgültig, Eiswasser in den Schuhen.Da greift schon wieder einer nach mir.
"Bruder …"
Diesmal lasse ich aber meine Fäuste sausen ! Jetzt kenne ich keinen Weihnachtsfrieden mehr, jetzt -
"Bruder..."
Ein alter Mann.Ein uralter.Das Alter in Person.
"Ein für alle Mal, ich gebe nichts. Grundsätzlich."
Und er, umso sanfter :"Melchior..."
So leise er’s auch sagt, so heftig entsetzt es mich meinen Namen zu hören, ausgesprochen von einem Wildfremden.
"Bruder Melchior !"
Dem, der meinen Namen im Mund führt, steigt kein Atem-Dampf aus der Mundhöhle, trotz der Kälte.
“Woher wollen Sie wissen, dass ich so heiße !"
"Ich bin am Ende."
Und dabei flattert um ihn her etwas wie das Sirren leichter Glöckchen.
"Und ich bin auch nur freier Schriftsteller.
Schriftsteller ! Natalie, wenn sie jetzt bei mir wäre, würde in ihr aufstäubendes Gelächter ausbrechen Du stilisierst dich schon wieder ! Schriftsteller sind doch auch nicht ungeschützter als Asylbewerber aus Ghana. Ihre Vergleiche immer ! Ihr aufstäubendes Lachen ! Aber sie ist nicht da, und darum ist das mit dem Schriftsteller ist das erstbeste, was mir einfällt. Und zu-gleich nehm ich’s mir übel, dass ich mich hinter so einer erbärmlichen Windelweichfloskel verstecke, als von ihr anerkannt beredsamer Redeflussmeister. Aber ich verstecke mich bloß, weil weil ich überrumpelt bin. Was mir auch zusteht. Den eigenen Namen hören zu müssen in aller Öffent-lichkeit, das trifft mich wie ein Überfall. Ein behördlicher, ein staatlicher Überfall : Sie da ! aus irgend einem Laut-sprecher,der hoch oben montiert ist, weithin zu vernehmen : Melden Sie sich unverzüglich, Sie Melchior ! Bei der Zentrale auf der Kommandantur ! bellt der Lautsprecher. Sie da, Sie Melchior bellt er, wir haben Ihre sämtlichen Daten, wir richten unsere Scheinwerfer auf Sie. Halten Sie nicht die Hände vors Gesicht, Sie sind umstellt.
Halte ich wirklich meine Hände vors Gesicht ? Ich bin schutzlos.Ich bin ausgesetzt.

Ich bin lächerlich.
"Bruder Melchior..." beharrt der Uralte und läßt mir kein Schlupfloch offen, nicht einmal in mein ureigenstes Angstnässen. Dabei hält er mich nicht einmal am Ärmel fest, vertritt mir nicht den Weg.Warum ergreife ich eigentlich nicht die Flucht, die ich doch schon vorhatte, bevor der da mich stellte.
"Du bist der letzte, an den ich mich wenden kann, Bruder."
Das muss einer sein von der Branche Wir-helfen-Ihnen-Ihre-Seele-retten. Gleich wird er säuseln Der Kontakt-Bus unserer Erweckungs-Gemeinschaft steht gleich um die Ecke, Bruder. Aber aus seinem Mund, aus dem kein Dampf entweicht, lässt er etwas ganz anderes hören :
"Streck die Finger deiner rechten Hand aus und zähl daran ab : wieviele sind dir je begegnet,die deinen Namen tragen ?"
"Bis heute keiner außer mir".
Das hätte ich nicht zugeben dürfen. Jetzt hat er mich in seiner Falle.
"Siehst du,Bruder ! Uns vereint der Vorname."
Der will mich fangen mit einer Art Sippenlasso. Der will auf ein Anpum-pen hinaus, zweifellos.Auf eine Zur-Aderlassung irgendeiner gehobenen, besonders kostspieligen Art.Eine Patenschaft für einen bedrohten Berg-stamm in den Anden, den Erwerb von dreihundert Morgen in einem äthiopischen Wildpark.Warum hat er sich , warum hat Greenpeace ihn wohl sonst so exotisch ausstaffiert ? Oder die Gesellschaft für bedrohte Völker ? Golddrahtstickerei, edelst gestichelt.In einem Leder, das einmal einen Büffel im Karakorum umspannt haben könnte oder im Hohen Atlas. Lass diese Träumereien, schreit es in mir, lass ab von diesen ethnologischen Verstiegenheiten, mach dich dalli davon.
"Du bist der Einzige, dem ich mich offenbaren kann. Melchior !"
Und dabei legt er seinen Kopf, sein kupferhäutiges ( ich kanns in diesem Augenblick nicht anders nennen ) Haupt schief, fast waagrecht legt er es nieder auf seine rechte Schulter. Flehend auf seine rechte Schulter.
"Wir dürfen einander nicht im Stich lassen, wir...“
Wie stellt er das nur an. Scharniergelenke muss der haben, und ich versuche es ihm gleich zu tun, reflexartig, meinen Schädel ebenso auf eine meiner Schultern niederklappen zu lassen. Es will mir nicht auch nur annähernd glücken, weder nach rechts noch nach links.
„ Wir Könige des Lichts ."
Und sinkt mir in die Arme.Und ist sich dabei völlig sicher, dass ich ihn auffange.Und ich fange ihn auf .Wie leichtgewichtig der ist ! Unvergleichlich leichtgewichtiger als der Hund des Stadtstreichers. Sein Atem weht mir nun von unten nah in die Nasenlöcher. Dünn wie ein Windhauch, der durch Seidenpapier streift. Was hat er gleich gewispert ?
„Wir Könige des Lichts !“
Erst jetzt, da er auf meinen Armen liegt, schießen mir mit einem Mal die Warnungen in den Kopf, die allen Weihnachts-märkten vorausgellen, allen Jahrmärkten überhaupt, allen Menschenansammlungen vermeide sorgsamst Körper-Kontakte mit Fremden ! Vorrangig mit Individiuen, die erkennbar aus dem Südosten eingesickert sind. Aus allen Regionen die hinter Wien liegen, Wolhynien, Walachei, Levante. Wo sich Kunstgriffe vererben, die dich und deine Besitztümer unwiderruflich voneinander zu trennen. Ausgetüftelt und ausprobiert am nächtlichen Lagerfeuer, während ihre Sippe Igel röstet und sündteure Rassekatzen und sich im voraus belustigt über die Dalb-rigkeit, mit der einer wie du in ihre Fallen tappt. Du König des Lichts ! Du selbst hast vergessen gehabt, was dieses befremdliche Hauptwort bedeutet. Sogar Natalie mit ihrer Reporter-Neugier, die stets auf dem Sprung ist, hat sich damit zufrieden gegeben, das sei halt Hebräisch und hat nie nach der Bedeutung gefragt. Und mit diesem Köder König des Lichts hat der da dich nun bezirzt, und schon trägst du ihn gehorsam auf Händen wie eine Geburtstagstorte. Auf dass diese deine Hände nicht mehr nach Portmonnaie und Geldkarte fassen, die nun wehrlos sind. Seinen Komplizen ausgeliefert, seinem Clan, seinen levantinischen Gesäßtaschenaufschlitzern. Lass ihn fallen, wirf schon, und dann schneller Abgang !
Alleluja alleeeeeeeeeelujaaaaaa von Jeeeesus singt und Mariiiiiaa-aaaaaaaa -
Aber du kannst ihn jetzt nicht mehr fallen lassen, das hast du dir verscherzt, du würdest nur das letzte i-Tüpfelchen setzen auf seine Spitzbubenstrategie mit den weiter folgenden Darbietungen : er wird sich im Schneematsch winden, er wird seinen Bart raufen und er wird dazu spitze Schreie ausstoßen, die weithin über den Weihnachtsmarkt gel-len.Und du kannst noch von Glück sagen, wenn er’s bei diesen Repertoire-Proben belässt und dich nicht auch noch mit gerecktem Finger anklagt als seinen Totschläger und dazu Blut spuckt. Und in sein Gekreisch hinein wir sogleich ein anderes Gekreisch gellen: O Gott sieh mal was geht denn da vor ! Denn nun brechen die Töpferinnen hervor hinter ihrenWällen aus Dinkelkissen : Der da hat ihn niedergestoßen“. Und den sie mit der da meinen, das bist du, nun rettungslos eingekreist. Aufs Pflaster hat er ihn krachen lassen mit aller Kraft. Ich habs ganz deutlich gesehen ! Wir habens alle deutlich gesehen, und dann hat er den Alten auch noch getreten !
Und schon gelangen Töpferinnenfäuste zum Einsatz. Mit den festen Griffen, die sonst nur der rohe Töpferton zu spüren be-kommt oder ihre Anthroposophensäuglinge, wenn sie auf den Wickeltisch geschleudert werden, nehmen sie jetzt mein Schriftsteller-Genick gefangen mit der Rechten ( und drücken mir die Nase in den Schneematsch dabei ) und mit der Linken fischen sie aus den Weiten ihrer weitwollenen Röcke Handys hervor – nicht etwa solche aus Holz geschnitzt und grün gebeizt , sondern sol-che mit Tasten aus Plastik , und mit denen kreischen sie im Nu Einsatzwagen herbei, denen breitbeinige Polizistinnen entsteigen, die meine Nase abermals in den Schneematsch drücken , und Na-talie wird ob alledem nicht wissen , wo ich abgeblieben bin.
AllelujaalleeeeeeeeeelujuaaaaaaavonJeeeeeeesussingtund Mariiiiiaaaaaaaaaaaaaaaa -

Bedachtsam jetzt vorgehen, unaufgeregt. Dich umsehen und wahr-nehmen , dass hier auf dem Weihnachtsmarkt ja allenthalben Kuriositäten hin und her geschleppt werden : da Din-kelwärmekissen mit weitaus krauseren Mustern als sie das Leder des Uralten aufweist, dort Leb-kuchenriesen in weitaus grellerem Rauschgold als die Stickerei meines Uralten, da drüben sogar Salamiwürste, als Silberengel verkleidet, da-gegen schau dir meinen Alten an ! Mit seinem verschrumpelten Kaftan ist er von alldem das unauffälligste Schleppgut. Derart von mir selbst mit beruhigenden Ratschlägen versorgt , gelingts mir , mit ihm in den Kreis der Ponys einzudringen – linksrum, ewig linksrum - und in die mannshohe Krippenszene , und ihn sacht an einen der drei Könige zu lehnen.
Zurücktretend, betrachte ich die Vierergruppe, die ich damit erschaf-fen habe : Wie jeder weiß, der je in einem Krippenspiel mitgewirkt hat, sind die Könige die begehrtesten Rollen, denn sie kommen erst zum Finale hin aufs Podium, wenn die Zuschauer sich ohnehin schon freuen, dass das Geleiere gleich zu Ende ist . Just da haben sie ihren Auftritt, und das in den prunkvollsten Kostümen, wie man sie die ganze Aufführung lang bisher vermisst hat und dazu haben sie keine einzige Zeile Text lernen müssen, weil zu ihrem Einzug Musik vom Band eingespielt wird oder gar von einer leibhaftigen Blaskapelle mit reichlichem Blech-Gerassel und metallischem Geklingel, und in der Kulisse steht die Gemeindeschwester oder die Gattin des Pfarrgemeinderatsvorsitzenden , die das Krippenspiel einstudiert hat, und schüttelt noch zusätzlich das Tamburin. Alle Hirten, alle Krippenspielhirten, seit eh und je in Sackleinen, seit eh und je in Textnot und Stichwortnot, weil sie bei der Verkündigung und beim Huldigen an der Krippe so viel auswendig herzusagen haben – nicht zu reden von den Engeln und dem Wirt bei der Herbergssuche - alle Mitwirkenden eines Krippenspiels beneiden diese drei Spätauftreter. Jeder Hirt Engel oder Herbergswirt möchte einer von den Königen sein, textlos stumm und dabei noch prächtig. Wenn die Gattin des Pfarrgemeinderatsvorsi-tzenden alle diese Wünsche berück-sichtigte, gäbs im Handumdrehen keine Hirten mehr in der Weih-nachtslegende, dafür aber fünf Könige oder zwölf oder sieben-unddreißig.
Alleluja alleeeeeeeeeelujaaaaaa -
Ich stehe, die Schuhe auf einmal nicht mehr voller Eiswasser , und betrachte , was ich da angerichtet habe. Die drei, denen ich meinen Leichten beigestellt habe, stieren mit ihren Glasaugen ganz und gar unweise an ihm vorbei ins Leere und Blöde. Mit der steifen Contenance von Schaufensterpuppen eines Bekleidungshauses in einer verstaubten Mittelstadt, das schon vor vierzig Jahre in Konkurs gegangen ist.
Von Jeeeeeeeeesus singt und Mariaaaaaaaaaaaaaaaaa -
Drapiert sind sie dabei mit Faschingsseide, verblichener schlissiger Faschingsseide, und wo die ausgefranst ist in den vielen Dienstjahren auf dem Weihnachtsmarkt , hat man sie not-dürftig ausgestopft mit Plastiktüten.IHR SCHUH JENSEN FÜR SIE IMMER IN DER STADTMITTE lese ich auf den Rücken der drei. Zweimal. PENNY. Dreimal. DER BAUMARKT MIT DEN SAGENHAFTEN RABATTEN. Fünfmal. Keiner von den Krippenspielhirten hätte den mindesten Anlass, einen von denen zu beneiden. Wie konnte ich den Edlen, Alten, Ehrwürdigen an diese Vogelscheuchen ausliefern ! Jetzt, wo ich ihm zum ersten-mal von Weitem erblicke : er ist nicht nur das Alter in Person, er ist auch die Würde in Person. Diese Gesichtszüge ! Dieser Bart ! Dieser Schädel ! Diese Stickerei …Ich bin auf einmal stolz darauf dass ich ihn habe tragen dürfen, und wärs hierher, in diese unwürdige Runde. Ein Elternpaar hat seine Kinder grade von den Ponys gepflückt, die Kinder riechen noch danach, auch wenn sie nun türkischen Honig lecken.
„Kuckma, Papa ! Vier Könige ! Nicht bloß drei wie im Krippenspiel, wo wir immer mitspielen müssen !“
„Also Uwe, das lohnt doch echt ne Aufnahme“ rät Mama.
Und Uwe reicht Mama die eingekauften Dinkelkissen, hängt sich die Salami um den Hals und drapiert um die Könige herum seine Kinder. Die lassen nicht nach, ihren türkischen Honig zu schlecken und der Kleinste läßt einen reichlichen Schlieren davon gar auf sein edles Leder tropfen .Das einmal einen Büffel im Karakorum umspannt haben könnte oder im Hohen Atlas. Ich bin der letzte, hat er mir zugehaucht, an den er sich wenden kann . Ich dränge mich zwischen den Eltern durch ( der Vater mit Kamera im Anschlag ) , dränge die Kinder beiseite und raffe den König des Lichts an mich .
„Siehste Uwe, der Zirkusdirektor ist sauer“ höre ich im Davoneilen.Die meint mich, König des Lichts !
„Du hättest ihn fragen sollen, ob er nich mit will aufs Bild. Gib ihm ein Trinkgeld, damit er uns den vierten König da lässt !“
Der Fotografierkerl setzt tatsächlich hinter mir her : „Hej sie da…Tschuldigung …“
Entschhuldigung ! Woher einer wie er, salamibehangen, nur ein solches Wort der verwichenen Höflichkeitssprache hat.
“Tschuldigung , ob Sie wohl so nett wären und mit Ihrer Puppe zwischen die Kinder …“
Ich renne. Die Kinder johlen mir Protest nach. Und von Jeeeeeeeeeesus singt und Mariaaaaaaaaaaaaaa gellts noch hinter mir her über den weiten Weihnachtsmarktplatz. Dann Stille, denn ich suche Zuflucht in einer stillgelegten Telefonzelle in ders nach Pennerpisse stinkt und verschnaufe. Der Uralte verhält sich schweigend in seiner Verfaltetheit, als sei da gar keine Person mehr in den vielen Falten.
Die Flucht hat mich fast zu seinem Komplicen gemacht, und dabei sollte es doch eine Flucht vor ihm sein. Und als ich ihn, den Leichten, nun sorgsam von meinen Armen umlade in meinen Einkaufskorb und ihn mit meinem Wollschal umwickle gegen die feuchten Schneeflocken da draußen, aber auch gegen Gefrage, gegen Blicke, gegen Töpferinnen - erst da wird mir bewusst, dass meine Hysterie mir diesmal einen Streich gespielt hat. Einen freundlichen. Habe ich doch ganz vergessen, mir saure Nässe in den Schuhen einzubilden.

Stille Nacht heilige Nacht -
Es war eine Weile lang still gewesen , die Lautsprecher haben verschnauft, ich hatte es nicht bemerkt. Wie ich auch die Nässe in meinen Schuhen nicht bemerkt hatte.
Alles schlääääääft einsam waaaaaaaaaaacht -
Warum lärmen sie ausgerechnet jetzt wieder los, als ich die Telefonzelle verlassen will, ohrenschikanierender als zuvor, und mir zum Hohn ?
Nur das traute hochheiiiiiiiiilige Paaaaaaaaaaar -
Als Auftrittsmusik für einen, den ich schon kenne. Den Stadtstreicher, der sich in die Zelle schiebt, an seinen Hut stippst als Gruß für mich, den er nun schon als alten Kumpel erachtet, und zur gleichen Zeit eine mächtig spritzende Fontäne dorthin entlässt, wo einmal die Telefonbücher gehangen haben. Und mich angrinst mich dabei, mit halbem Rülpser. Sein Hund, das Geschöpf vom lieben Gott, springt freundschaftlich an mir hoch, meint aber nicht mich, sondern den, den ich grade im Korb ver-sorgt habe. Mir ist, Kumpan Hund, da auch wer zugelaufen, wie du deinem Herrchen Stadtstreicher. Zugelaufen wie ein südländischer Straßenköter einem Touristen, und dem hilft gegen die Adoptionsgelüste des Zugelaufenen kein Pfui verpiss dich und kein Steinewerfen mehr. Zu Hause in Hannover wohl , aber nicht auf dem Berge Athos. Und schon gar nicht auf dem Weihnachtsmarkt. Ich ertappe mich dabei, dass ich dem im Körbchen soeben ein ( wie heißt es doch gleich ) Hausrecht eingeräumt habe. Ein befristetes, wie ich mir sofort versichere. Ein Man-wird-dann-später-schon-noch-sehen-Hausrecht. Mit allen Rücktrittsrechten meiner-seits ?
Mit allen Rücktrittsrechten, versichere ich mir.
Hirten erst kuuuuundgemacht
durch der Eeeeengel Haleeeelujaaaaaaaaaaaaaaaa -
Beim Hinuntersteigen in die U-Bahnstation lerne ich darauf zu achten, dass mir der Korb von Stufe zu Stufe nicht ins Schaukeln gerät und die absonderliche Fracht darin in einen Schwindel. Wenn ich in der U-Bahn sitze, lüfte ich den Schal und sehe : kein Geschaukel kann einem etwas anhaben, der so genüsslich schläft. Ein Duft von Leder steigt von ihm auf, aber es ist auch Zimt darin. Dazu ein Aroma von Nelken und Büffeln, reimt sich meine Nase zurecht. Dabei habe ich nie an Büffeln gerochen, nicht einmal im Zoo. Ich beuge mich dicht über ihn, das Ohr dicht an sei-nem Gesicht. Wo ist der Hauch, der wie durch Seidenpapier streift ? Ist da überhaupt noch ein Haauch oder ein Atem ? Als ob er keine Bronchien hätte, keine Nebenhöhlen, all diese Installationen, wie sie jeder von uns in sich herumträgt, ohne sich ihrer bewusst zu sein, so lange er nicht vergrippt ist. Aber dieser Fremde, den ich grade aus der Kälte geborgen habe, scheint ohne all das auszukommen. Ich ertappe mich bei der Angst-frage : wenn er sich nun in meinen Einkaufskorb hat packen lassen, um dort seinen Geist aufzugeben ?
„Ihren Fahrschein bitte .“
Als ich nach meinem Portmonnaie fassen will, entdecke ich eine blutige Schramme an meinem Handrücken.
„Sehn Sie nur “ ich halte sie dem Kontrolleur hin, das ist ja eine richtige Wunde“.
„Mein Mitgefühl ham Sie. Aber wenn ich trotzdem Ihren Fahrschein bitte -“.
Erst jetzt wird mir bewusst, dass etwas Scharfkantiges mich geritzt hat, als ich den Unbekannten im Korb verstaute, etwas Metallenes in seinem linken Ohr, das jetzt von mir abgewandt ist. Ich erinnere mich, dass ich ein sanftes Geklingel wahrgenommen habe als er mich ansprach, wie von kleinen Glöckchen. Ich drehe den Kopf des Schläfers um, und tatsächlich : da hängt Metall in seinem Ohr, über das Gesicht des Kontrolleurs zucken Lichtreflexe davon.
„Das ist doch ein Ohrring, oder nicht ?“ frage ich halb mich, halb den Mann von den Verkehrsbetrieben.“Ich komme nämlich grade vom Weihnachtsmarkt, müssen Sie wissen“.
„Das fällt nich unseren Zuständigkeitsbereich, was die Fahrgäste für Geschenke mit nach Hause tragen.“
„Und nun hat er mich geritzt…“
„Ihren Fahrschein…“ lächelt der Kontrolleur und übernimmt rücksichtsvoll meinen Korb, damit ich die Hände frei bekomme.
„Den kann ich aber nicht finden„ stammle ich, den Blick auf den Ohrring gerichtet.
„Sorry der Herr, aber in dem Fall sind wir befugt dass wir ein erhöhtes Beförderungsgeld abkassieren.“
Er fertigt etwas aus und drückts mir in die Hand.
„Macht vierzig Euro, der Herr“.
Ich wühle wieder. Aber auch mein Portmonnaie ist unauffindbar. Der Kontrolleur, ein Momument stadtverwalterlicher Geduld : “Sorry der Herr aber in dem Fall sind wir gezwungen dass wir die Personalien aufneh-men“
Ich füge mich und sage brav meinen Namen, König des Lichts.
„Sorry der Herr, aber wir müssen bestehen auf einem amtlichen Lichtbildausweis.“
Niemand führt so etwas mit sich auf dem Weihnachtsmarkt, bringe ich schwach vor.
“Führerschein vielleicht ?“
Zwei oder drei Jugendliche rücken näher.
“Ich besitze überhaupt keinen Führerschein“.
Die Jugendlichen grinsen. Kuckma, der Oldie da hat echt keinen Führerschein ! Ich bedecke die Fracht im Korb vor ihnen mit meinem Schal.
„Sonstwas, wo Ihre Identität draus hervorgeht ?“
„Den Mitgliedsausweis des Schriftstellerverbandes kann ich Ihnen bieten.“
Bei den Jugendlichen kommt das noch amüsierlicher an als der nicht vorhandene Führerschein.
„Immerhin“ vermerkt der Amtliche und streckt die Hand aus. Ver-gebens. Denn auch der Schriftstellerausweis läßt sich nicht finden. Ausgeraubt, ausgeräumt. Mein Verdacht hat sich also bestätigt. Ich bin einer balkanischen Bande anheim gefallen, abgelenkt von der exorbitanten Erscheinung des Uralten.
„Ich könnte mit einem Ohrring bezahlen“.
Soll doch die exorbitante Erscheinung, die zusammengeschnurrt in meinem Korb schlummert blechen für das, was ihre Sippschaft an mir verübt hat.
„Mit einem Ohrring, echt Gold“.
„Muss bedauern, der Herr. Von uns werden grundsätzlich nur amtlich anerkannte Zahlungsmittel akzeptiert.“
Verzieht keine Miene, telefoniert .Erst als er mich sachte aus dem Zug komplimentiert, der grade gehalten hat, bemerke ich dass seine beiden Ohren gepierct sind. Ist er deswegen so heikel mit seinen Vorschriften, weil er für seinen eigenen Zierrat fürchet ?

Auf dem Bahnsteig im Dunklen Polizei-Uniformen. Wie ich sie bereits vor-gefürchtet habe.
„Ist das der Betreffende ?“
In der Uniform eine Polizistin. Die mich beschwichtigt :
„Kein Grund zur Aufregung. Is nur eine Formalität .“
Sie lässt mich trotzdem vorausgehen.
„Ich komme“ sprudle ich „vom Weihnachtsmarkt, und da - „
„Jaja, alles schon bei uns angekommen.“
Sie haben sich über mich verständigt, ich bin im Fadenkreuz.
“Ich habe eine Anzeige zu machen. Ich bin ausgeraubt worden.“
„Ist jetzt nicht Sache. „
Und lotst mich zu einem Einsatzwagen.
„Isser das ?„
Der Kollege schaut nicht zu mir auf.
„Name ?“
Die Polizistin und ihr Kollege im Wagen sind zusammenge-nommen nicht so alt wie ich. Angespannt wie ein Schulanfänger gebe ich von mir was sie verlangen.
„Ist mir noch nicht untergekommen so’n Name.“
Auch der Polizist ist gepierct. Dem darf ich also auch nicht kommen mit Zweideutigkeiten, Ohrenschmuck betreffend.
“Buchstabieren Sie.“
„M – E – L – C – H – I – O – R. Das bedeutet übrigens König des Lichts.“
Das was der Polizistenjünglig da trägt sieht mir wie wie ein Fadenwurm aus, der ihm aus dem Gehörgang kriecht.Ich befühle unter dem Schal den anderen Ohrring und bin auf einmal sicher, dass ich keine Anzeige erstatten werde. Sie tuscheln, über einen Bildschirm gebeugt. Perso-nenfeststellung ergibt : ordnungsgemäß gemeldet lassen sie mich halblaut mithören und tuscheln, als blätterten sie ratlos in Vorschriftenbüchlein, die sie nicht bei sich haben. Es springt die Verpflichtung für mich heraus, morgen unverzüglich auf dem Revier zu erscheinen, dann aber mit aner-kannt amtlichen Zahlungsmitteln gefälligst. Die Polizistin rutscht auf ihren Beifahrersitz, der Gepiercte fährt an -
„Ach, Sie ham doch die Einlassung gemacht, Sie sind ausgeraubt, sind Sie nich ?“
„Alle Schwarzfahrer sagen das, wenn sie ertappt werden“ sage ich.“Stimmt doch, oder ?“
Die beiden grinsen einverständig. So jung noch und schon durch-schauen sie alle Ausflüchte.
Schönen Abend noch kriege ich aufgekratzt zu hören zum Dank dafür, dass sie nicht noch ein weiteres Mal amtlich tätig werden mussten. Und nun da die Obrigkeit sich entfernt ( und ihre Rücklichter mir rot zublinken Ciao Schwarzfahrerlump ! ) schießt mir durch Kopf : wenn der da im Korb als Köder gedient hat, warum setzt du ihn nicht selber als Köder
ein ? Und stiehlst dir zurück, mit gutem Recht, was dir gestohlen worden ist ? Wenn schon nicht zielgenau den Mitgliederausweis des Schrift-stellerverbandes, dann doch annähernd die Geldsumme, die sie mir aus den Taschen gehext haben, während ich den König des Lichts auffing. Aber das Eiswasser in den Schuhen beißt mich nun heftig : untersteh dich, polizeibekannt wie du nun bereits bist ! Der Schriftsteller Melchior X wird Natalie dann lesen müssen, wurde auf frischer Tat ertappt als er einer 42-jährigen Passantin die Handtasche raubte. Beihilfe dabei lei-stete ein noch nicht identifzierter Komplize in exotischer Verklei-dung, der zur Ablenkung des Opfers...
Ich ertappe mich dabei, dass ich den Königsköder, den Köderkönig einfach in den Schneematsch kippen will. Da regt er sich im Schlaf, lässt sein feines Metallsirren klingeln, und schon sehe ich mich ängstlich um ( hats wer gehört ? da klingelt immerhin echtes Gold ) und mache mich auf den Nachhauseweg, den Korb reglos im Griff. Zu Fuß. In dem ich eigentlich Geschenke für Natalie nach Hause tragen wollte. Ja sollte, denn ihre Mutter hat mir liebevoll und geheimnistuerisch aufgetragen, mich nach exquisiten Geschenken umzusehen exquisiten, du weißt doch, Natalie ist immer für das Ausgefallene .Und ich hatte mich willig einspannen lassen in diese Sondermission und als Natalie ihr spöttisch aufstäubendes Lachen hören ließ : Duuuu ! Du auf dem Weihnachtsmarkt ?!!! schnell dienstfertig erfunden, ich hätte da Milieustudien zu betreiben, sei auf Stoffsuche für das Du-weißt-doch Projekt. Ich habe immer grade ein Du-weißt-doch-Projekt, zu dem sie mich ermutigt. Zumindest mit einem Kuss und dem Rat, auf jeden Fall einen Einkaufskorb nicht zu vergessen. Als ließen sich Stoffe und Milieus kiloweise nach Hause schleppen. Diesmal freilich war weder ein Stoff aufzutreiben noch ein Geschenk. Dafür viel Milieu, das Stille Nacht dröhnt mir als End-losschraube noch immer im Ohr und zu schleppen habe ich - nein, ich habe nichts zu schleppen, der Korb ist so leicht als wäre er leer, und erst als ich ihn ( nach einigen Kilometern Fußmarsch ) mir wegen des immer dichteren Schneefalls über Kopf stülpen will, tritt mir der wieder ins Bewusstsein : kipp nicht den aus, der dich um alles gebracht hat, sogar um die Mitgliedskarte des Schriftstellerverbandes. Aber würde sich tat-sächlich – und nun nehme ich bei der drallen Logik Anleihe, die Natalie eigen ist - würde sich das Oberhaupt einer Räuberbande wohl tatsächlich schlafen legen in einem Korb und sich blindselig werweißwohin verladen lassen ?

Erst als ich unsere Wohnungstür aufschließe, rauscht es mir durchs Gehirn : und ob er würde ! Als Vorausabteilung seiner Räubersippe, die ihm in meinem Rücken unbemerkt hinterher gewuselt ist, mich niederstreckt auf der Fussmatte und auch noch das letzte ausräumt, schleckrig geworden durch das reichlichen Münzegeld in der Börse. Aber da ist es schon zu spät -
„Melchior - ?“
Natalie ruft aus ihrem Arbeitszimmer, wie lautlos ich mich auch herein zu mogeln versucht habe. Wo lade ich nun bloß schnell meine Last ab, die keine ist.
„Melchior !„
Wo ! Ohne stich haltige Erklärung, wie dieses Knitterwesen über mich gekommen ist. Schon gar einer Journalistin wie Natalie gegenüber, bei der Nachgefrage zum Berufsbesteck gehört. Und die jetzt auf dem ihr zustehenden Nachhausekommkuss besteht.
„Melchioooooooooooooooor - !“
Ich lade ihn fürs erste im Schlafzimmer ab, wo ich den Tiefschläfer sanft auf die Steppdecke lege.Wohin denn sonst mit ihm. Dabei ist unsere Steppdecke nicht irgendein ein Zudeck, es ist ein Patchwork. Natalie, die Vielgereiste, hat sie von den Amischen aus Pennsylvania mitgebracht. Sein zierliches und doch eigentlich musterloses Muster ist reine Geometrie in klarem keu-schem Rot, klarem himmelsblauem Blau, die Nadeln der Jungfern, die es mit vielen, eng aneinander gereihten Stichen appli-ziert haben, meint man immer noch durch den Stoff fahren zu hören. Diese zierliche Farbsinfonie umfängt mich bei jedem mor-gendlichen Erwachen.Und nun liegt er, der ganz Andere, ebenso zierlich darauf, er fügt sich harmonisch – ja, er fügt sich harmo-nisch ein in das Muster, er liegt just so gekrümmt da wie um das Muster zu erfüllen und erst zur rechten Wirkung kommen zu lassen. Als wüsste er in seinem fremden Schlaf von der Choreografie der Ornamente um ihn herum.Ich schlage einen Zipfel davon über ihn.
„Melchiooooooor !“
Der Hund stößt mir aufgekratzt die Schnauze in die Kniekeh-len und ich weiß sogleich, was er er damit ausdrücken will : eine feine Abwechs-lung, Herrchen, hast du uns da angeschleppt ! Die Katze springt aufs Bett und leitet eine ausführliche Beschauung und Beschnupperung meines Gastes ein, wobei sie sich die Füße zuerst vornimmt. Sie beäugt ihn da drunten, ich beäuge ihn hier oben, und das Goldene an seinem linken Ohr, auch wenn dieses Ohr samt seinem ledrigen Kopf tief in die amische Decke gesunken ist. Eingewachsen ins Fleisch.Soweit sich bei ihm überhaupt von Fleisch reden lässt.
„Melchiiiiiooooooooooooor !“
Ich entdecke noch schnell und hastig, dass das Goldene nicht eins, sondern ein verzwicktes Mehreres ist mit scharfen Zacken. Die mir die Hand verletzt haben. Etwas wie ein Dreigestirn. Ich hauche es an, und schon schlagen die Plättchen aneinander und geben diese seltsame Musik frei.Ein Musikchen nur, ein Sirren, aber doch so etwas wie ein kleines
( entferntes ) Glockenspiel.
„Was treibst du denn da so lang im Schlafzimmer ?“
Natalie entgeht nichts. Über den Uralten gebeugt, komme ich mir wie ein Einschleichdieb vor, und das in den eigenen vier Wänden. Jetzt muss ich zu ihr, sonst stürmt sie noch hier herein und stellt mich, unvor-bereitet. Aber warum hols der Geier, bin ich eigentlich unvorbereitet ?
„Melchiiiiiiooooooooooooooooooooooooooooor !!!!!!!! „
Ich muss die Weitererkundungen an dem Fremden der Katze überlassen und haste in Natalies Zimmer. Verzeih mir, werde ich mich rauszulügen versuchen aber ich musste erst Geschenke bergen. Und das hab ich doch auch. Ein unglaubliches Mitbringsel, wie es nicht einmal meine Liebste erwarten würde. Wie es freilich auch niemand sonst entgegen nähme. Sie sitzt vor dem Laptop und streckt mir, ohne sich umzuwenden, verlangend die Arme entgegen. Eine Geste, die nur sie beherrscht : ihre Arme drücken Sehnsucht aus, ihre Rückwärtsbeuge die Libido.Ihr Verstand aber bleibt bei den Sätzen, die sie grade der Tastatur anvertraut.
„Dein Frauchen braucht dich“.
Ich weiß was Natalie braucht : heute war Deadline in ihrer Redaktion, und Deadline ist immer die Hölle. Du ahnst nicht was sich da wieder abgespielt hat wird sie gleich losbrechen . Deadline ist schlicht die Hölle. Dantes Inferno alle vier Wochen, und ich bin Natalies Schreckensdeponie, in dem sie die dort stattge-habten Fürchterlichkeiten ablagert. Mein Kuss auf ihre Stirn trifft nicht .
„Massier mir den Nacken.“
Der fühlt sich verspannt an. Immer wenn Deadline ist, fühlt er sich verspannt an. Die Schwulen in der Redaktion, die sind ja ( ich knete ) echt ritterlich sind die werde ich gleich zu hören kriegen. Und ich repetiere schon mal die Namen , die ich aus Natalies Schlachtberichten kenne, damit ich sie richtig zuteilen kann, wenn die neuesten Schrecknisse dazu geliefert werden : Sven ist der vom Ressort Dessous und Schlankmachmode, René der vom Ressort Frisuren. Karlheinz, obwohl er aus Emden stammt vom Ressort Kulturtipps, Filme und angesagte Frauen-literatur.Und knete. Die sind die letzten Gentlemen, auch bei Deadline. Ich knete lange, Natalie entspannt sich. Aber die Kolleginnen ! Bei dem Thema weiß ich schon : ich muss weiter kneten. Grade bei Deadline zeigen sie ihr wahres Gesicht.Eine Furie grausiger als die andre. Dass der einen vierzehn Anschläge beim Umbruch hops gehen - ich bitte dich, vierzehn ! - dass bei der andern eine Anzeige in den Text geklotzt ist, lässt sie zu reißen- den Hyänen werden. Ich spreche es ( knetend ) schon vorwegnehmend aus :
„Wieder die Megären aus dem vierten Hinterhof ?“
Und knete weiter. Als Überleitung zu dem, was gleich kom-men wird. Aber sie hört nicht, hält meine Hände fest, die eben ihren Hals und Nacken massiert haben, und schweigt. Ich sehe, dass sie ihre nassen Galoschen aufs Geratewohl ins Zimmer geschleudert hat und die um sich herum auf dem Teppich zwei Seen haben auslaufen lassen. Die zwar längst getrocknet sind, aber der saure Schnee hat Ränder gefressen, die sich nun aus-nehmen wie Kreidekreise um eine Leiche im Fernsehkrimi. Sie muss also, wie aus den getrockneten Seen zu folgern, schon seit Stunden zuhause sein. Als ich, um die Galoschen in der Badewanne zu versorgen, durchs Schlafzimmer eile, sehe ich dass Hund und Katz aufgeregt auf dem Bett zugange sind. Auf unserem amischen Zudeck. Ich stülpe den Einkaufskorb schützend über meinen Unbekannten und scheuche die Tiere vor mir her in die Küche. Dort finde ich Natalie am Esstisch sitzen.
„Jetzt mußt du mich füttern.“
Das klingt nicht nach großem Essverlangen, das klingt nach Küken-not. Wenn sie so dran ist, könnte ich ihr auch aufgetaute Fischstäbchen vorsetzen und als Chateaubriand ausgeben. Dabei habe ich heute Lammragout für sie vorbereitet. Hund und Katz zeigen keine Anteilnahme. Sonst, wenn ich Fleisch köchle, halten die beiden Ge-lüstigen die Raubtiere in sich nicht zurück.
„Warum kommst du eigentlich so spät ?“
Ich bringe den Weihnachtsmarkt ins Spiel.
„Du hasst doch Weihnachtsmärkte.“
Wie recht sie hat. Aber sie selbst hat mich dort hingeschickt. Auch sie. Um nach etwas Exquisitem Ausschau zu halten. Für ihre Mutter. Exquisit, das ist reinster Damenzeitschriftenjargon , der frühen 50er Jahren, das ist "film und frau".
„Bleib mir bloß weg mit Damenzeitschriften.“
Ihre Gabel fuchtelt über meinem Lammragout, sticht aber nicht hinein.
“Wenn da die eine Tarantel fürs Februarheft Priorität reklamiert für Backwaren Locker und mild in den Frühling mit baskischen Nuss-Törtchen und die andere Tarantel muss sie niedermachen, von wegen das wär verantwortungslos, und zwar extremst, gegenüber dem Lese-rinnenstamm weil achtundsechzig Prozent von denen wären notorisch übergewichtig, woher sie das bloß nimmt so ne Statistik, und zwar aufgrund der Rezept-Politik von gewissen Kolleginnen hier, dann überfällts dich siedend heiß : alles Stellvertreterkriege. Weil die eine einen Macker sitzen hat bei der Commerzbank und die andre bei Lichtwitz und Co, was die Hausbank von der Konkurrenz ist.“
Ich habe dem Lammragout reichlich Knoblauch zugesetzt. Wo bleibt mein Lob ? Meine gourmandise Erwähnung ? Stellvertreterkriege, muss ich stattdessen hören, flackern ja nur deswegen so so krass auf weil Verkaufsgerüchte durch die Redaktion wabern das setzt bei denen die innere Bestie frei. Wo es doch mit Händen zu greifen ist, die Taranteln haben die Gerüchte nur erfunden, damit sie sich selber aufpumpen. Das Konkurrentenfeld bereinigen und alle denken sollen, sie hätten einen ganz ganz speziellen Draht nach oben zur Konzernleitung, bettmäßig irgendwie, und da fällt der Macker bei der Commerzbank eben doch wieder ins Gewicht weil das Hausbank ist und die Taranteln sind da klar im Vorteil gegenüber den schwulen Kollegen.
Den letzten Gentlemen.
„Ach Melchior sei froh, dass du ein freier Autor bist und dir den Tag einteilen kannst wie du willst.“
Nach vielem Gefuchtel isst sie nun endlich. Abwesend.Wann solls ich’s ihr gestehen, wie ich meinen Tag tatsächlich eingeteilt habe, wenn nicht jetzt. Meinen Besuch auf dem Weihnachtsmarkt ihr schildern und seine Folgen du ,da ist mir etwas Seltsames widerfahren, da hat mich einer angesprochen, der behauptet...
„Das ist so was Kostbares, dass du frei bist.Halt das fest mit beiden Händen. Sowas von kostbar“.
Wie leicht der Fremde ist, gilt es ihr zu schildern, wie ein Bündel Luft hat er in dem Korb gelegen.
„Wenn ich doch das Glück hätte und so frei wäre und wieder mein eigener Herr…“
Dabei hatte Natalie mir doch den Korb eigens mitgegeben, damit ich Weihnachtsgeschenke ausfindig mache, und wärens Dinkelkissen.Oder ökologisches Pflaumenbrot, das sich bis weit nach Weihnachten hält.Hör Natalie, hör doch zu : der Fremde ist zielgerichtet auf mich zugekommen inmitten einer großen Menschenmenge hat er ausgerechnet mich ausgesucht mich allein -
Aber sie ist eingeschlafen, einfach weggeschlummert am Küchentisch. Vor meiner Erzählung, noch ehe ich sie begonnen habe.Die Wange halb auf dem Teller, von dem sie mein Lammragout gegessen hat. Ich küsse den Rest der Soße von ihrer Haut, der da wie eine dunkle Mondsichel haftet, und siehe da, die Soße schmeckt mir jetzt viel leckerer als nachmittags beim Zubereiten. Und ich trage Natalie, noch immer an ihr leckend, hinüber ins Schlafzimmer. Wobei es mir nicht mehr gelingt, im Türrahmen Hund und Katze mit dem Fuß vor die Schnauzen zu sto-ßen.Sie überholen mich und sind schon wieder aufs Bett gesprungen, wenn ich Natalie auf unsere Steppdecke lege. Auf das amische Patchwork neben ihm. Respektlos hechten sie über ihr Frauchen hinweg, das unwirsch im Schlaf knurrt, sie mit schlafschlaffer Hand wegscheucht, um Natalie dann in die andere Bett-hälfte sinken zu lassen.Wo sie mich weiß.
Aber da liege ich diesmal ja gar nicht, da liegt der Uralte und sie greift ihm mitten ins Gesicht.Ich kann sie grade noch wegrollen und ihn ah wie leicht er doch ist,das reine Tara ja,wohin nur mit ihm, während der Hund an mir hochspringt, die Katze die Hosenbeine herauf klettert und mir dabei ihre Krallen in die Schenkel hackt.Ich erwehre mich mit einer Hand der Angriffe des Tierreichs, schiebe mit dieser selben Hand ganz oben ein Fach im Wäscheschrank auf, erwehre mich wieder, balanziere den Uralten auf dem andern Arm, erwehre mich und hebe den Uralten ( mit einer gemurmelten Entschuldigung ) zwischen die gefaltete und geschichtete Bettwäsche. Erwehre mich abermals, und decke ihn sorglich zu mit einer Schicht Frottiertücher.
Das sei‘s einstweilen, Bruder. Wir dürfen einander nicht im Stich lassen, hast du dunkel geraunt, Bruder. Ich habe immerhin unter Beweis gestellt, dass ich dich nicht im Stich lasse, auch wenn ich ebenso dunkel nicht einmal ahne, wer du eigentlich bist.
Ein kleines Blutschmierchen zeichnet die weiße Schiebetür des Wäscheschranks. Die Goldsterne in seinem Ohr haben mir schon wieder den Handballen geritzt. Diesmal den anderen, den rechten. Der Arm, der dazu gehört ist gerade von der Katze erklommen worden. Ich schleudere die Bestie hinaus auf den Flur und jage den Hund hinterher.Und zu die Tür.
Natalie, im Schlaf :"Komm,komm zu mir."
Werd ich mich lange bitten lassen. Kaum bin ich bei ihr, umschlingt sie mich.
"Melchior..."
Ich, bei dieser letzten, aber endlich-doch-Gelegenheit : "Heute ist mir der begegnet, der als allererster so geheißen hat wie ich. Er behauptet jedenfalls, dass er’s ist"
Sie holt tief Atem.
“Wie schön für dich, Melchior…“
Und krault mir das rechte Ohrläppchen. Aber es kommt nicht zu weiterem.Der Schlaf, im Gerangel mit ihrer Sinnlichkeit, obsiegt. Höre ich es sirren aus dem Wäscheschrank, wie von leichten Glöckchen ?
Sie sirren mich in den Schlaf.

„Melchior - ?“
Das ist nun schon der nächste Morgen.
“Melchioooooooor ?“
Und Natalie schon wieder am Computer.Und Hund und Katz ( denn Natalie hat die Schlafzimmertür nichts ahnend offen gelassen ) halten Wache vor dem Wäscheschrank. Ätsch, die Schranktüren sind zu glatt für die Attacken, nach denen es euch schon wieder gelüstet.Warum einigt ihr euch nicht auf eine Räuberleiter, der Hund als Kavalier und Untermann, und die Katze schiebt das Türchen auf ? Einen Spalt weit schiebe ich es selber auf, unter den missgünstigen Blicken der Tiere, damit der Schläfer da drin zu seiner Atemluft kommt.
„Melchiooooooooooooooooooooooooor !“
Ich haste zu Natalie.Sie wird mal wieder wissen wollen, ob man Osnabrück mit scharfem ß schreibt oder ohne.
„Melchior,du…“ sie unterbricht ihr Tippen nicht – „es hat dermaßen nach Orient gerochen in unserem Schlafzimmer heut nacht. Nach Wärme, so einer bestimmten ockerfarbenen Wärme, irgendwie nach Wüste, und nach Weihrauch – „
Und nach Myrrhen ?
„Ich weiß nicht, was Myrrhen sind, aber nach denen hats auch gerochen.“
Sie lacht ihr aufstäubendes Lachen. Und tippt dabei weiter.
„Halt mich nur nicht für durchgeknallt, wenn ich dir sage : so-gar nach Kamelmist hat es gerochen, nein : geduftet.Das war dermaßen sinnlich alles, atmospäremäßig, wie lang nicht mehr in unserem Schlafzimmer.“
Und wieder ihr aufstäubendes Lachen.Tippend. Jetzt ist es an der Zeit.Wann soll es sonst an der Zeit sein. Schön, Natalie, dass du das Thema anschneidest, also : da hat sich gestern in der Abenddämmerung ein Wildfremder in meine Arme fallen lassen und gesprochen, nein gehaucht zu mir -
„Streck die Finger der rechten Hand aus hat er gehaucht und zähl daran ab, wie viele dir je begegnet sind, die den Namen Melchior tra-
gen .'"
Sie tippt.Hingegeben.Konzentriert.
“Vergiss nicht, was du mir sagen willst. Aber vorher noch : schreibt man Osnabrück mit scharfem ß schreibt oder ohne.?“
Kein Gehör. Ich mache einen resignierten Abgang.
„Aber Melchior, tapp doch nicht einfach so davon !“
Diese Wendung plötzlich bei ihr ! Sie schwingt in ihrem Drehsessel herum und schaut mir geradewegs in die Augen.
"Ich hab dich ja überhaupt nur wegen deinem Vornamen genommen.“
Ich kriege sogar einen Kuss. Diesmal gezielt auf die Lippen.
"Nur wegen dem - ?"
"Der Vorname ist die Gallionsfigur der ganzen Persönlichkeit.Was glaubst du, wieviele Günter mir mal den Hof gemacht haben."
Das erfahre ich jetzt.
"Als ich siebzehn war, hats in jeder Handballmannschaft an unserer Schule mindestens sechs oder acht davon gegeben, gar nicht erst zu reden von den Ersatzleuten. Und in jedem Bus von der Linie fünf, auch wenn er nicht überfüllt war - mit einem war er bestimmt überfüllt - ".
Mit Günters.
"Mit lauter Nullnamen.“
Nullnamen ?
„Wie sollt ich da meinen GünterGerdWerner, jetzt mal nur hypothetisch für den Fall, ich hätte ihn denn überhaupt auserwählt – wie sollte ich da den Meinigen denn je heraus finden ? Du rufst : Bernd, Schätzchen, wo bist du ? Und siebenunddreißig Burschis spurten auf dich zu.“
Lauter Bernds.
„Das ist doch ein Albtraum für eine Pubertierende. Und dann erst die mit den Schaukelnamen !"
Schaukelnamen ?
"Wie sollt ich mich als Zwanzigjährige zum Lebensbund für einen entscheiden bei dem sich schon seine Eltern nicht haben entscheiden können, ob ihr Sohn nu Hü oder Hott ist.Und sie ihn bei der Taufe schon zum lebenslangen Bindestrich-Schemen erklärt haben statt zu einer Persönlichkeit."
Spricht sie jetzt etwa von einem Modell Karl-Heinz ?
"Oder einem Gerd-Dieter ".
Oder Rolf-Jürgen.Der trägt Gürtel und Hosenträger zugleich.
"Oder ein Uwe-Torsten."Weil er nicht einmal seinen eigenen Hosen traut. „
„Oder Wolf-Carsten.“
Sie grast die Namen fast aller unserer Freunde und Party-Gäste ab.
"Oder im haarigsten Fall ein Klaus-Detlef. So einer kriegt doch ein Leben lang die Ecken seines Ichs nicht aufs Gerade. Klaus-Detlef ! Wer is er nu, der vordere Kamelhöcker oder der hintere Kamelhöcker ?“
Sie umschlingt mich, den Wüstengeruch der letzten Nacht in den Nüstern.Sinnlich.Sehr sinnlich für früh vormittags.
„Dagegen aber du !"
Ich ?
"Sogar mit deinem wackeligen Einkommen bist du doch immer, auch wenn die Pfändung droht, mein König des Lichts."

In der Tat.Das bin ich, standesamtlich beglaubigt, allen Niedrigkeiten und Widrigkeiten zum Trotz. Auch wenn die Verpflichtungen, die mir aus diesem Namen erwachsen, schwer zu bestimmen sind. Auch wenn mein, einem König doch wohl zustehendes Herrschaftsgebiet noch schwerer einzugrenzen ist. Ich bin es nun einmal. Auch noch auf Hebräisch, einer erhabenen steinalten Sprache, nur von wenigen Gelehrten und entlegenen Rabbinern gesprochen : Melek -Or. Mein König des Lichts.
Natalie schenkt mir König des Lichts noch einen Nun-lass-mich-aber-wieder-arbeiten-Kuss und wendet sich mit einem resoluten Dreh ihres Stuhls ihrem Tippen zu : Bildschirmschoner aus, Pensum an. Der Hund und die Katze haben von mir abgelassen.So stehe also ich mit mir allein da, ratlos.Und sage so gedämpft, als ob ich gar nicht gehört werden wollte, ins Tippen Natalies hinein :
"Du übrigens, ich habe ihn mitgebracht.Den echten König des Lichts."
Sie tippt, wie um die durch den Kuss verlorene Zeit wieder aufzu-holen.Und ich bleibe so ratlos wie geistesschlicht daneben stehen. Und wiederhole leise für mich selber, was ich eben echolos gemeldet habe, wie um mich zu vergewissern, ob ichs mir denn auch selber glaube.Ob es nicht dermaßen unwahrscheinlich klingt, dass alle Welt sich brüsk von mir abwendet wie eben Natalie :
“Ich habe ihn mitgebracht, den König des Lichts.Er liegt drüben im Wäscheschrank.“
"Wer bitte liegt im Wäscheschrank ?"
Sie ist mit allen Sinnen bei ihrer Arbeit, das höre ich daran, wie wieselig sie auf zehn Tasten gleichzeitig klimpert, währenddessen sie dabei nur ein Wort über die Lippen bringt.
"Der der zu mir gesagt hat : Du bist der letzte an den ich mich wenden kann, Bruder.Wirklich, der hat mich Bruder genannt !"
Jetzt klimpert sie schon so wieslig, dass zwanzig Tastenschläge auf ein einzelnes Wort kommen.
"Tu mir das Liebe, ja ? und stell mir deinen Freund hinterher vor, ja ? Wenn ich mein Skript fertig habe…merde ! jetzt hab ich mich schon wieder vertippt."
Ich bin entlassen, heißt das. Und sie klimpert. Und klimpert. Statt mich anzuhören.Ich reime mir zusammen, dass sie da gar Satzketten erschafft, die ( von links nach rechts gelesen ) eine Mitteilung ergeben an die Person, die das lesen soll, sondern : sie rattert gegen etwas an. Der Anschlag ihrer zarten Finger auf die kaum weniger zarten Tasten ist ein Kampf. Sie trägt einen Kampf gegen die Furien in der Redaktion aus, der dort nicht stattfinden konnte, weil der nächste Andruck immer schon wieder ansteht und das böse Blut trotzdem wallt und schäumt. Jetzt bewirft Natalie ( ich hörs an ihrem Hämmern ) ihre Feindinnen nicht nur mit ihren Worten, sondern auch mit dem lang und überlang Angestauten, mit den Ayurverda-Tipps aus dem Juliheft, den unverantwortlichen Sofabezügen aus dem Februarheft, dem Gegifte um das Editorial der Chefin vom Mai, angereichert mit einem Foto aus deren Jugendtagen. Und hat nicht der Capuccino aus der redaktionellen Kaffeemaschine nach dem Stunk wegen der Frühjahrskollektion merkwürdig salzsäureartig geschmeckt ?
Zumindest nach Abflussreiniger Klimperhachachackhämmer.
Ich trolle mich ins Schlafzimmer. Der Hund und die Katze halten Wache am Wäscheschrank. Ich entferne drei, vier Lagen Bettbezüge, Laken, Handtücher. Ich erinnere mich nicht, gestern so viel Textiles hineingestaucht zu haben. Beim sechsten Stapel bin ich sicher : hinter diesem kann sich nichts mehr verbergen, bis -
Ganz hinten ein uraltes runzliges Gesicht lächelt. Zufrieden.Ein dünner Atem, dünner als irgendeines Wesens, das ich je im Schlaf überrascht habe.Wie eine Fledermaus, die überwintert. Wie einer, der sich vor Äonen mit Luft gefüllt hat und auf der flachen Brise durch die Zeiten schwebt ohne ein weiteres Atemholen seither. Wie die Mumie eines Vogels, der noch nicht erfahren hat,dass seine Art lang schon ausgestorben ist und leicht dabei wie dessen Flaumfedern.
"Melchior !"
An Natalies Stimmlage höre ich : ihre Füße stecken bereits in den Galoschen. Hastig knuddle ich meinen Namensvetter wieder in den Schrank zurück, nehme mir nicht Zeit, die Wäsche wie zuvor säuberlich Schicht um Schicht wieder über ihn zu breiten. Sondern stopfe drauflos, so dass die Wäsche mir wieder entgegengesplustert, mir ins Gesicht, und sich über Hund und Katz stülpt.
"Melchioooooooooooooooooooooor !"
Ich wünsche einmal mehr, Karlheinz zu heißen oder Günter, weil die keinen oboenartigen Konsonanten am Namensende zu schleppen haben, den man so schicksalsdunkel durch die Wohnung heulen lassen kann.
"Was um Himmels Willen treibt ihr da ?"
Natalie steht im Schlafzimmer. Hund und Katze arbeiten sich unter den Wäsche-Wirrnissen hervor und sehen aus als ob sie dabei seien, Be-duinen-Kostüme für den Karneval anzuprobieren. Ich ringe um eine Erklärung, aber Natalie steigt über das Tohuwabohu hinweg als spielte es sich gar nicht ab und vertraut mir so leise an, als sollten Hund und Katz es nicht hören :
„Stell dir vor, ich hab heut nacht von Sternen geträumt. Du warst so
zärtlich wie lang nicht mehr. Deswegen hab ich von einem Siebengestirn geträumt …nachdem wir… “
Ihr aufstäubendes Gelächter.
“Von einem Siebengestirn…von einem wunderwunderschö-nen Siebengestirn !"
Erst jetzt es schießt mir wieder in die Erinnerung : auch ich habe von einem Siebengestirn geträumt.Drei Lichter oben, zwei rechts unten.
„Dabei sollte ich längst auf meinem Posten sein.“
Und nun versetzt sie mir doch noch einen realen Kuss, in dem etwas wie Wüste nachduftet.Sie fegt noch einmal herein :
"Und toi toi toi für deine Lesung heute !"
Meine Lesung.Sie denkt an alles.

Meine Gemeinde

"Stille Nacht,Heilige Nacht."
Wie ich diese Weihnachtsmärkte liebe ! Wie ich sie ins Herz geschlossen habe.Ins Herz geschlossen haben ist gar kein Ausdruck.Sie sind ein Teil von mir.Ich misse sie das ganze Jahr über und lebe erst wieder auf, wenn ich einen von ihnen betreten darf. Meine Schuhsohlen sogar tragen mich beschwingter dahin…
Ich lese vor sieben alten Damen.
Mich wärmt wie jedes Jahr das Herz die Wiederbegegnung mit all den Gesichtern aus dem letzten Advent, mit den Töpferinnen, die wie alljährlich hier sich wieder einfinden. Mit ihren unverwechselbaren selbstgefertigten Häkelmützen, die ein jegliches ihr unverwechselbares Gesicht überdachen : dort das ist Solveig ! Die mit dem selbstgestrickten Schal, der ohne irgendeine Farbe auskommt und ihr rotbackiges Gesicht umrahmt. Solveig, du mein Adventsgärtlein ! Wie bist du durchs Jahr gekommen, im Sommer, lächle ich in mich hinein, im Sommer kann ich mir dich gar nicht vorstellen, außerhalb unserer besinnlichen Ge-meinschaft und ohne deinen Schal. In die nun auch wieder einkehrt Astrid hier und Gudula dort mit ihren selbst getöpferten Honigtöpfen und zudem begrüße ich in unserer Mitte ein neues Mitglied unseres Bundes – ein frisch geborenes Adventskindchen, geborgen und gestillt in den Armen unserer Erdmuthe.
Die zwei der alten Damen, die mir noch nicht weggeschlummert sind, begleiten jeden meiner Sätze mit einem freundlichen Nicken, wie etwas längst Bekanntem. Als hätten sie, was ich vorlese, in früher Jugend schon auswendig lernen müssen. Nein : dürfen.Wie die Bürgschaft etwa,von Schiller, Zu Dionys, dem Tyrannen schlich Daimon/den Dolch im Gewande oder das andre, das sich sich in ihren greisen violettfrisurigen Köpfchen ebenso getreulich abgelagert hat bis auf den heutigen späten Tag Ich hab es getragen sieben Jahr. Von wem nur gleich wieder ? Und ich kann es nicht tragen mehr. Sie nicken jedenfalls mit.
Es ist aber nicht von Schiller und nicht von Fontane, ihr Alterchen ! Ohren gespitzt, Schläferchen, es ist von mir -
Und sie umfassen mich zwischen ihren Räucher-Töpfchen hindurch ins Auge mit diesem bestimmten liebenden Blick, mit diesem Christkindl-Blick,mit dieser Advents-Verklärung,wie sie in kein Menschen-Antlitz gleiten will von Januar bis November,den dem Adventshauch entrückten Monaten. Aber hier, auf dem adventlichen Weihnachtsmarkt , erleuchtet er ein jegliches Gesicht von innen heraus. Ich hoffe so geschieht es auch mit dem meinigen.
Die alten Damen benicken‘s wie Altvertrautes. Dabei habe ich es eben erst niedergeschrieben. Allein für sie. Ich schreibe jedes Jahr zum Advent ein paar Sätze nieder, allein um sie vor dieser meiner Gemeinde zu verlesen.
Und schenkt uns nicht auch das Pony, das seinen mit silbernen Girlanden geschmückten Wagen durch den Weihnachtsmarkt zieht, diesen adventlichen Blick, aus seinen warmfeuchten Augen ?
Meine Gemeinde, silberviolettfrisurig, durchweg Damen, steifbeinig und schwerhörig, um mich geschart wie jeden Advent in der Bücherstube des Herrn Buttgereit, der seit Jahrzehnten schon so aussieht, als bediene er just heute das unwiderruflich letzte Mal einen Kunden ( der, versteht sich, eine Kundin ist ) und in dessen bücherliebende Milde sich eben deshalb, seit Jahrzehnten schon, Melancholie eingeschlichen hat. Versonnen, aber Melancholie. Mit einem Zug ins Bittere.
Und auch die Kinder, die da in den Ponywagen dahin gleiten dürfen, schenken uns diesen Blick, den adventlichen. Und es tut dem keinen Abbruch, dass ihre Zungen dabei mit türkischem Honig beschäftigt sind.
Wenn ich zu Ende gelesen haben werde, wird die sanfte Regie des Herrn Buttgereit meine steifbeinige Gemeinde in eine Reihe auffädeln, jede Weißviolettfrisurige wird eins meiner Bücher in den Händen halten, vor mir ausbreiten, mich um meinen Namenszug in dasselbe ersuchen. Und ich werde mich zieren, wie jeden Advent.
Und auch die holzgeschnitzen, sich bäumenden Hotte-Hotte- Pferdchen in jenem Karussell das dort um eine Weihnachts-Krippe kreist, schenken uns diesen Blick. Und erst recht die Krippenfiguren in eben dieser Krippe, Maria und Josef und die Hirten.Sie lächeln so beseligt wie da drüben unsere Astrid, die so gar nicht aus Holz geschnitzte, unter ihrer selbstgestrickten Wollmütze hervor, die gänzlich auf Farbe verzichten kann, weil sie ja Astrid apfelbäckiges Gesicht beschirmen darf. Ebenso Gudula und Erdmuthe in ihren selbst gefertigten Wollschals, behütend um ihre ihre Säuglinge geschlungen - allesamt Mitglieder eines verschwo-renen Bundes der adventlichen Erwartung.
Meine behutsame Gemeinde ist auch darin behutsam, dass sie mir nicht auf die Schreibfinger schaut und darum nicht wahr nimmt, dass seit Jahren keine Zeile mehr von mir gedruckt wurde. Die behutsame Regie des behutsamen Herrn Buttgereit wird am Ende meiner Lesung meine Gemeinde zu einer Reihe auffädeln, in der jede Weißviolettene eins meiner Bücher vor sich her trägt.
"Bruder..."
Ein alter Mann steht vor mir.Ein uralter. Das Alter in Person.
"Ich gebe grundsätzlich nichts".
Und er, umso sanfter :"Melchior..."
Ich erschrecke, meinen Namen hören zu müssen.Von einem Wildfremden.
"Ich wiederhole : Melchior !"
Der, der meinen Namen im Mund führt, stößt keinen Atemdampf aus, trotz der Kälte.Ich erschrecke noch einmal.
"Ich bin am Ende."
Und dabei flattert um ihn her etwas wie das Sirren leichter Glöckchen.
"Bruder Melchior..." beharrt der Uralte und läßt mir kein Schlupfloch offen, nicht einmal in meine ureigensten Betrachtungen.Dabei hält er mich nicht einmal am Ärmel fest, vertritt mir auch nicht den Weg.
"Du bist der letzte,an den ich mich wenden kann, Bruder.Du bist der einzige, dem ich mich offenbaren kann."
Und dabei legt er den Kopf schief und setzt eine Pause, in der hallen zweieinhalb Jahrtausende gnadenlos wider.
Meine Gemeinde vollzählig im Schlummer. Nicht mitgeschlummert hat nur Herr Buttgereit.
"Wir danken unserem Dichter für seine Lesung."
Und klatscht zwei-dreimal in die Hände. Der knappe Applaus ist der Weckruf, der meine Weißvioletten, rosiges Staunen in den Schlum-meraugen, wieder zu sich und in eine Reihe bringt. Jede Dame hält je ein Buch, bei jeder ziere ich mich, von jeder nehme ich ein nachdrücklich-bescheidenes Anflehen entgegen, jede breitet mir die aufgeschlagene Titelseite hin. Jeder male ich mein Melchior hinein, wobei ich ein paar Seiten vor oder zurück schlage, denn die vorderen Blätter sind bereits voll mit dem Melchior der vergangenen Advente.
Ich kann fest bauen auf das von Mal zu Mal abnehmende Augenlicht meiner Gemeinde. Und im nächsten Jahr wird ich’s bei denen, die von heute abend überlebt haben, ebenso halten. Herr Buttgereit hat ein weites Herz. Jetzt läßt er den Rollladen herunter, ich bin mit dem Finis meiner Lesestunde gerade noch der einbrechenden Dämmerung zuvor ge-kommen. Nichts beklagen alte Damen so inbrünstig, scherzt Herr Buttgereit während er den Laden abschließt, wie einen Nachhauseweg in der Finsternis und bei Glatteis.Sie beklagen es mit Vorliebe dann am meisten, wenn es gar nicht vorhanden ist Huch, ich falle ! kreischt er komödiantisch und hält sich taprig an mir fest.
„Die Damen haben immerhin meine Bücher nach Hause zu verfrachten“ lasse ich mich auf sein Witzeln ein “wenn da eins in Scherben geht, können Sie nicht nachliefern.“
Herr Buttgereit belachts artig, den linken Handschuh überziehend : “Eins will mir allerdings nicht in den Kopf“.
Jetzt wird er mich milde schelten, dass ich alte Bücher mehrfach signiert habe.
„Nämlich ?“
„Diese Begegnung quasi mit sich selbst. Das war doch Surrealismus, oder was ?“
„Surrealismus ist das was ich derzeit selbst erlebe“.
Aber aber wiegt er den Kopf und kramt aus seinem Buchhändler-Gedächtnis Verweise auf die deutsche Romantik hervor, bei E.T. A. Hoffmann begegnet doch auch hin und wieder einer sich selbst.
„Wenn mir recht ist…“
Ich genieße das altväterliche wenn mir recht ist. Als ob er Gotthold Ephraim Lessing wäre. Buttgereit führt mir, als Zugabe zum schmalen Honorar, nun auch noch den Urenkel der Aufklärung vor.
„- dann meine ich mich zu erinnern, dass das später psychoanalytisch gedeutet worden ist. Und Sie greifen das also wieder auf, diese Traumerzählungen vom Anfang des 19.Jahrhunderts. Intressant, mächtig intressant an was Sie da wagen…“
Jetzt wird er mich einladen zu einem Gläschen, er muss mich einladen. Bundesritual der Bücherbruderschaft, ein Gläschen Rotspon für mich und den jungen Dichterspund hier wird er in Kröbers Weinhaus mir zu-zwinkernd rufen, als wären wir in Auerbachs Keller und ich ein Erstlingsschreiber, und Buttgereits Leipzigerisch wird um den Dichter-schpund herum einen feinen Goldrand legen. Und vom zweiten Glas an - nochmal denselben Roten für mich und den Herrn ! – vom zweiten Glas muss ich die Rechnung übernehmen und wenn ich danach rotweinhitzig nach Hause komme, wird der König des Lichts mich leibhaftig erwarten. Nicht in einem verflossenen Jahrhundert, dem E.T.A. Hoffmanns oder dem der Scheherazade, sondern mitten in unserer Gegenwart, lieber Butt-gereit.
Und Sie sinds, wer denn sonst, bei dem ich Rat suche.
Da steht auf einmal Hans-Detlef Hoffmann-Nauke zwischen uns.
„Salü, Melchior. Ich war in deiner Lesung.“
Hoffmann-Nauke ist der Sekretär des Schriftstellerverbandes. Und schon schweigt er wieder. Er schweigt eigentlich stets, er trägt schwer und vorwurfsvoll an den Zumutungen der Verbandsmitglieder und an seinen Jute-Taschen, die ihm stets links und rechts von den Schultern hängen.
„Ich wollte echt nicht stören.“
Abgerissen die Aussicht, mich Buttgereit zu offenbaren. Die Zeche für uns alle drei wird er nicht riskieren wollen, ich auch nicht, und Hoffmann-Nauke als Gewerkschaftler ist zu knausrig für derlei, zumal nicht er der Verdiener ist sondern seine Frau, die eine Strickwarenkette besitzt. Seine Taschen zerren an seinen Schultern, als schleppe er die Manuskripte aller seiner Mitglieder mit sich herum. Dennoch bleibt er bei uns stehen. Um, wie stets, zu schweigen.
„Tja, da will ich -“ Buttgereit zieht sich nun auch den rechten Handschuh über - „die Herren Kollegen mal nich weiter abhalten von ihrer Fachsimpelei“.
Doch, halt mich ab, Buttgereit. Kein Kollege hat je etwas Schriftstellerisches von Hoffmann-Nauke lesen dürfen, aber alle müssen seine Sitzungsprotokolle lesen, die er aufsetzt in dem Bewussstein, ja in dem festen Vorsatz, dass kein Kollege sie je liest. Lass mich nicht allein mit dem, Buttgereit !
Der erspart sich einen Händedruck für uns beide, aber nicht ein Und einen besonderen Gruß an die Gattin jedenfalls.
Dass er nicht die mit der Strickwarenkette grüßen lässt erweist sich, als er auf sein hell erleuchtetes Schaufenster weist :
„Alles Licht auf sie - wie sie da prangt !“
Und meint damit nicht Natalie, sondern ihre Zeitschrift, die er gleich neben dem Eingang ausgestellt hat.
“Verkauft sich bestens. Sicherlich anregend für Sie noch und noch, die Ehe mit einer so betriebsamen Redakteurin.“
Dabei legt er mir die behandschuhte Rechte auf die Schulter, wispernd, als müsse er ein Geheimnis vor Hoffmann-Nauke wahren, dem Strickwa-renkettengatten.
„Und notabene die Kontakte die da draus erwachsen, wenn man wie Sie mitten in der haute volée rumpaddelt. Verleger… Medien… Fern-sehgrößen… Und notabene : die Leserinnen von Damenzeitschriften sind ja überhaupt das allerletzte Leser-Reservoir heutzutage. Adieu !“
Und davon ist er. Vorsichtig die Schritte aufs Glatteis setzend obwohl da gar kein Glatteis ist. Hoffmann-Nauke steht immer noch neben mir. Und schweigt.
„Ich hab dich gar nicht wahrgenommen, Hans-Detlef, bei der Lesung.“
Fast hätte ich hinzu gefügt : unter den anderen alten Damen. Da fällt er überraschend mir und seinem Schweigen ins Wort : „Ich bin froh, dass mir Herr Buttgereit mein Thema aus dem Mund genommen hat.“
„Welches Thema ?“
„Deine privilegierte Stellung im Sozialgefüge. Weil die schlägt ja voll durch auf deine Erzählweise.“
Pause, vorwurfsvoll.
„Also was du da heute dem Publikum zugemutet hast, dieses Affirmative…“
Pause, vorwurfsvoll.
“Das gehört in aller Breite mal komplex diskutiert. Nicht hier. Im Verband.“
Erst jetzt fällt mir ein, dass er der Mann ist der zuständig wäre für meinen Mitgliedsausweis, der mich so rätselhaft verlassen hat.
„Und übrigens. Du hast mir meine Lesung weggenommen. Weil das wäre eigentlich mein Termin gewesen heute. Aber das nur ganz am Rande“.
Und geht davon, so vorwurfsvoll wie grußlos.
Einer der sich selbst zurückstellt hinter seinen Ämtern, die er auch um meinetwillen schultert. Und zu meinem Besten. Der fleischgewordene Schaukelnamen : schleppt da nun Hans Hoffmann und schweigt Detlef Nauke oder umgekehrt ? Oder schleppt Detlef Hoffmann und Hans Nauke macht ihm Vorwürfe ? Zwei zwiefache Schaukelnamen, und die jeweiligen Verbindungsstriche zwischen allen vieren nutzen sie um Traglasten dran aufzuhängen, sodass seine Person nirgends mehr Platz findet.

Die grauen Hanfstränge des Wirklichen

Sie greift hinter sich und umarmt mich quasi kopfüber.Die betriebsame Redakteurin am Laptop.
"Und ?“ Sie tippt.“Wie“ - sie tippt - “war denn nu deine Lesung ?"
Wundervoll war sie.Und dabei diese Eingestimmtheit des Hörer-kreises. Mit Jugend wohltuend durchsetzt, der eine und andere Studienrat an der Spitze seines Deutschleistungskurs. Und diese Intimität in diesem familiär vertrauten Zirkel, der mir gleichwohl keine Schludrigkeit und kein falsches Bild durchgehen läßt. Inspirierend auf der ganzen Linie. Mit einem Gewimmel frischer Ideen im Kopf kehre ich zurück. Gleich werde ich sie in den PC hämmern, so wie du.Was ich verlesen habe, spare ich aus und erst recht, dass zur selben Stunde die Hauptdarstellerin dieser Serie wie heißt sie-doch-gleich-ich-muss-mir-das-nicht-merken in diesem Privatsender, den muss ich mir auch nicht merken.
( Natalie merkt ihn sich natürlich, seine Anzeigen in ihrem Heft nehmen sich mehr Platz heraus als ihr Redaktionelles ) dass die also in der Stadthalle aus ihrem neuesten Kochbuch gelesen hat, Mein Weih-nachtsmenü. Ich male dafür breit aus, wie ich meinen Namen wieder und wieder schreiben durfte in die weit aufgerissenen Schlünde meiner Bücher, die Herr Buttgereit reichlich verkauft hat Königdes-lichtskönig-deslichtskönigdes ging das bis kurz vor dem Schreibkrampf und ich verknappe meine Schilderung erst da, wo die Bezifferung dran wäre, in wieviele Bücher.
Sie wird mir nicht abverlangt.
"Bring Hund und Katz endlich weg vom Wäscheschrank, Melchior.“
Natalie tippt.
“Ich krieg noch Zustände."


Ich wühle den König des Lichts heraus zwischen den Laken. Wie lange werde ich es ihm noch durchgehen lassen, dass er sich bei mir einquartiert, und mir, seinem Herbergsvater nichts anderes bietet als dieses Geschlafe ? Ich verfrachte ihn in mein Arbeitszimmer. Diesmal gelingt es mir, Hund und sogar Katz abzuhängen, worauf ich mir nicht wenig einbilde. Auch wenn ich meinen Gast hoch über meinem Kopf balancieren und dabei rundum Tritte austeilen muss wie ein Libero beim Abstiegsspiel.In meinem Zimmer angekommen, bugsiere ich ihn unter meinen linken Arm und drehe den Schlüssel zweimal um. Jetzt hab ich ihn endlich ganz für mich allein, in meiner Zelle. Ich setze ihn aufrecht in meinen Schreibtischstuhl.
"Aufwachen !“
Das ist schon geradezu befehlshaberisch. Das bin gar nicht ich. Ob seiner Nichtachtung verirre ich mich in ausgeliehenen Wachtmei-stertönen.
„Aufwachen habe ich gesagt !“
Mit einem Quergriff zur Stuhllehne verhindere ich, dass er schon wieder hinsinkt. Ich sitze vor ihm auf dem Tisch, ihn grob überragend wie der Kommsissar vor dem dem Schluss-Geständnis, in dem der Überführte gleich alles gestehen wird. Sein Kopf liegt an meinem Handgelenk, das Gehänge in seinem linken Ohr baumelt an meinen Pulsadern und lässt sein Sirr-sirr erklingen. Ich spüre die Lichtreflexe golden über mein Gesicht flackern, aber ist das wirklich Gold, was da flackert ? Kann Gold singen, gar sirren ? Ich fingere an seinem Ohrgehänge herum, vorsichtig, um mich nicht ein drittes Mal ritzen zu lassen, ich zerre sogar daran - kein Zweifel, das Metallene ist darin fest gewachsen, verknorpelt, mit seiner Physis untrennbar verbunden wie sein Knochengerüst. So er denn eins hat.Und wenn er keins hat, ist sein Inneres mit Silberdrähten verspreizt.
Sein anderes Ohrläppchen aber ist leer und in Fetzen. Lose ledrige Enden hängen schrumplig.Ich zupfe daran, und setze damit seinen Kopf in Bewegung. Ich getraue mich sogar daran zu zerren wie an einem Glockenstrang in der Erwartung, ihn damit endlich wach zu kriegen. Erschrocken halte ich inne : er schaut mich an.
Aber nein, er schaut gar nicht, er hat keinen Blick, es ist keine Iris zu sehen, ich bilde mir nur ein, dass er mich ansieht. Als er sich im Stuhl jäh aufrichtet, erschrecke ich schon wieder und stammle wie ertappt :
"Ich hatte noch nicht einmal die Gelegenheit, Ihnen etwas anzu-bieten.Ich meine, eine Speisung"
Aber was meine ich damit ? Affenbrot, Malvasia, frisches Kamelblut ? Er ist schon wieder in sich zusammengesunken.
"Meine Bedürfnisse gehen nicht in diese Richtung".
So tonlos, dass ich mich frage : hat er das wirklich gesprochen zu mir, oder hab ichs mir nur eingebildet ? Dann hätte ich mir ja auch eingebildet, dass er auf dem Weihnachtsmarkt zu mir gesprochen hat. ich bin am Ende.
Hat er doch gesprochen, und es ist kein Atemhauch aus seinem Munde gekommen dabei. Du bist der letzte, an den ich mich wenden kann. Nun werd schon deutlicher, rücks raus, rück irgendwas raus, Fremder ! Endlich.
"Sie haben exzessiv geschlafen.Ich war in Sorge, bereits... "
„Sprich's doch aus : der ist schon tot. Der hat sich ausgerechnet bei dir, hast du gedacht, im Wäscheschrank zum Sterben niedergelegt."
"Ich befürchtete in der Tat etwas in dieser Richtung."
"Dabei ich habe schon ganze Jahrhunderte verschlafen.Mich hat der Tod schon mehrfach überholt."
Und dabei rauscht wieder das alte Leder. Es rauscht gar nicht, es ist etwas von weither, und knarzen tut es schon gar nicht, ich muss ein neues Wort dafür erfinden. Und es duftet.Ich sauge den Duft ein, Zimt, Nelken, Büffel, und er macht mich auf eine woh-lige Weise benommen. Nun, da er mir so nahe ist, auf dem Platz auf dem Drehstuhl sitzt auf dem sonst ich sitze, betrachte ich ihn nun ohne Scheu, als mein eigenes Gegenüber.

Und muss mir gestehen : wenn ich den Blick abwendete, könnte ich schon nicht mehr beschreiben, was ich gesehen habe. Als wären mehrere Versionen seines Anblicks übereinander gelegt. Es ist deutlich, dass er schlank ist, das schon. Hoch aufragend bei aller Zierlichkeit. Es ist ein Bart zu sehen, jedenfalls Flusen eines Bartes, auch wenn die Haare darin sich ausnehmen wie Luftwurzeln. Es ist erlesene Goldstickerei zu sehen. Aber schon bei seinen Gesichtszügen versagt mein Wahrnehmungs-vermögen. Es ist gut einsehbar und dennoch nicht zu sehen. So lässt sich auch nicht kühn feststellen : es ist runzlig, wiewohl es sich runzlig anfühlt. Zerschrundet ? Zerklüftet ?
Wo versteckt ihr euch, Metaphern ! Ich muss neue Begriffe bilden, um ihn mir zu beschreiben, der doch so eng bei mir sitzt. Und wie halte ich es mit seinen Augen, unter ledrigen Lidern ? Er schaut unter sich, immerzu schaut er unter sich, aber was sieht er da ? Er schaut in sich hinein lege ich mir zurecht. Und sogleich verbiete ich mir solche sprachlichen Behelfe, ich darf mich nicht mit dem begnügen, was ich mir über ihn zurechtlege – ich muss ihn selber aufnehmen. Als Person. Als Individuum. Oder auch nur als Phänomen. Ihn vermessen. Beschreiben. Recognoszieren. Ein altertümlicher Begriff, aber er ist doch selbst altertümlich. Er ist das Altertümlichste, das mir je begegnet ist.
Ich muss zu Gewissheiten kommen und von da ins Klare.
„Sie schenkten also“ rede ich ihn an, um meine Forschungen wieder aufzunehmen“Sie schenkten dem Kind Gold, Weihrauch und Myrrhen. Schreibt Matthäus.“
"Wer ist dieser Matthäus ?"
"Ein Evangelist.Er berichtet so zuverlässig, als wäre er dabei gewesen."
Ich hole eine Bibel vom Regal, Abteilung Nachschlagewerke, Synonym- und Reim-Lexika.
„Hier ! Kapitel zwei, Vers eins. Da Jesus geboren war zu Bethlehem im jüdischen Lande zur Zeit des Königs Herodis -
Ich lege die geöffnete Bibel vor ihn hin. Er begrüßt sie mit einer Geste, die ich als rituelle deute und eine feierliche Dekla-mation erwarten lässt. Mir ist, als müsste ich Kerzen aufstellen. Aber dann -
„Verzeih, Bruder, aber ich bin der lateinischen Schrift nicht mächtig.“
Also lese ich ihm vor : Siehe da kamen die Weisen vom Morgen-lande.“
"Ich bin diesem Menschen Matthäus nie begegnet."
"Verlieren wir uns nicht ins Kleinliche. Wir haben einen Stern gesehen im Morgenland haben Sie in Jerusalem dem König Herodes bekannt gegeben.“
Schweigen. Er schläft doch nicht schon wieder ? Er schläft nicht, er hört mir zu mit tief hängenden Lidern. Für die Augen dahinter, so denn dort welche sind, gibt es nichts mehr wahr zu nehmen, er hat alles schon gesehen.
"Es erquickt mich, dir zu lauschen, Bruder.“
„Mir wäre wohler, es wäre anders herum.“
Ich lasse ihm eine lange Pause, damit er sich einfädelt in das, was ich ihm vorgebe.Damit er widerspricht, damit er den biblischen Bericht zurecht rückt.Oder, am glücklichsten : damit endlich, endlich seine eigene Erinnerung anspringt. Aber er schweigt sich aus. Und ich baue seinem Gedächtnis noch mal einen Steg : Und siehe der Stern den sie im Morgenland gesehen hatten ging vor ihnen hin her.
„Wo genau war das im Morgenland ? Von wo sind Sie gekommen ?“
“Aber Bruder ! Du bist doch der Schreiber, der Kundige.So wie dieser Matthäus. Dem es aufgetragen ist, die grauen Hanfstränge des Wirklichen zu einem Fabelgewebe zu verknüpfen aus Blau und Gold. Ich bitte dich, fahr fort. "
Plötzlich wurde die Nacht zerrissen von Getrappel, Gewusel, Geschäftigkeit,.Bei jedem von den Geschäftigen, den Trapplern, den Wuslern sah man’s an der Flattrigkeit, mit der er seine Satteltaschen festzurrte, mit der er seine Mamelucken antrieb, dass ihn der Anblick eines Sternbilds aus dem Schlaf gerissen hatte, wie es noch nie am Himmel zu sehen war.Keiner gestand es dem andern ein, aber alle überstürzten sich, schleunigst vor den anderen zum Tor hinaus zu sein. Denn das Sternbild forderte und drängte.Es begnügte sich nicht damit , am Himmel still zu stehen, es wies wie ein ausgestreckter Finger nach Westen.
Jetzt lächelt er nicht mehr.Jetzt gründelt er in den Untiefen seiner Erinnerung.
„Wie kommst du auf den Einfall mit dem Sternbild, Bruder ?“
„Weil die einschlägige Bibelstelle lautet :`Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland’.“
"Ist das schon wieder dieser Matthäus ?"
Und jetzt lächelt er doch wieder.Wie tiefgründig er lächeln kann. Als zerdehnten sich die hundert Falten, die er dabei in sein Gesicht schneidet zu den tausend die schon darin sind, und dabei würden neue Gerüche hervortreten.Wie der Geruch von Kamelen, die geschirrt wurden.Wie der Duft der Kinder, die an die Hälse ihrer Väter geklammert weiterschliefen.
Ich ziehe alle diese Gerüche durch beide Nasenlöcher ein.
Dahnadur-ben-Artaban hatte sich noch nie mehr als zwölf Schritte von seiner Behausung entfernt.Keiner konnte ahnen bis zu diesem Morgen, dass er so viele Kamele besaß, wie er nun satteln ließ.Und Zara-wandad-ben-War-dad mußte in aller Eile noch seinen gesamten Harem verkaufen, um für den Erlös ein Dromedar und einen angezahlten Packesel zu erstehen. Arihu der Gichtbrüchige hinwiederum war gewillt, seinen gesamten Harem auf die Reise mitzunehmen.
"Es ist die Rede hier von deutlich mehr als drei Reisenden“ ver-wundere ich mich.
"Warum versteifst du dich auf ganze drei ?"
"Weil es bei Matthäus heißt : sie schenkten Gold, Weihrauch, Myrrhen. Drei Geschenke.Drei Reisende.Vollkommen einleuchtend."
"Aber ich sage dir doch , dieser Matthäus ist nicht dabei gewesen.Es ritten noch viel mehr mit.“
Jetzt habe ich ihn !
„Darf ich um die Namen bitten ?“
Gathaspar, der später zu Kaspar wurde. Die Brüder Behamed und Zud-amed, auf weißen Hengsten, und der Salbenkrämer Durust-amed, ihr Onkel, mit seinem Ochsengespann, und Bithisarea –
"Den wir als Balthasar kennen ?"
Der mit den siebzehn Lustknaben auf einem eigenen Elefanten, die er als seine Fußnägelbeschneider ausgab, und dann waren da die Drillinge Melimavak, Melimigur und Melidagig. Aber die nannte man mit Spitz-namen ohnehin nur die drei Melchiors.
"Drei Melchiors ? Und wo sind die anderen beiden geblieben ?"
"Ach Bruder...es ist so unendlich lange her...so unendlich lange…"
Sein Kopf sinkt vornüber, er ist drauf und dran, wieder einen Schlum-mer einzulegen.Hat er doch schon ganze Jahrhunderte verschlafen. Aber ich gestehe ihm kein Wegschlummern zu.
Jetzt nicht, da ich mich dem Kern seiner Geschichte so nah sehe.
"Die letzte Wegstrecke bis hin zum Stall muss das Licht Sie geführt haben, war es so ?“
„Welches Licht ?“
Die letzte Wegstrecke, in stockfinsterer Nacht, denn da hat nicht mehr das Sternbild geleuchtet, denn es war ausgebrannt von der Beschwernis der langen Wegstrecke - da hat das Gesicht des Kindes sein Licht leuchten lassen aus dem Stall heraus, den Reisenden entgegen.
Es muss goldfarben gewesen sein.Sag, dass es goldfarben war.Sag, dass es geleuchtet hat wie von innen heraus Sag es schon !
"Du bist zu ungeduldig mit mir… "
Sehen es seine Augen ? Sehen sie es, die nicht mehr aufblicken, die er auf nichts mehr richtet, weil sie alles schon gesehen haben ? Weil sie das eine gesehen haben, dem nichts später Gesehenes mehr gleich kommt ?
Er sinkt in sich zusammen.

Der Tod hat ihn schon mehrfach überholt. Wenn er im Gerippe eines verdursteten Pferdes Zuflucht gesucht hat vor den Hyänen, die ihn anfletschten durch die Rippen hindurch wie durch Gitterstäbe, bis die vergessen haben, dass er ein jagbares Stück Fleisch war, und von ihm abließen. Bis er vergessen hat, dass er überhaupt Fleisch war, bedürftig nach Speis und Trank.Was ihm wiederum zupass kam in Zeiten, da Fleisch in Massen dahingerafft wurde durch Pest-Epidemien und Cholera-Epidemien und die Massaker der einfallenden Barbaren: Westgoten, Hunnen, Ostgoten, Mongolen und er sich anders nicht entziehen konnte, als dadurch, sein ohnehin schon entfleischtes Gesicht den Mauerseglern hin zu halten, damit sie ein Nest darin bauten - und so, gesalbt von den Passat- Regen und gegerbt von Vogeldung, hat er das Unüberlebbare überlebt.
Er lehnt an meiner Schulter, ohne Atem.Und seine Finger liegen auf der Tastatur meines Laptops. Ich räume sie sacht wieder herunter, und wenn ich das vollbracht habe, hebe ich meine eignen Finger zur Nase : Moschus und Ambra zieht nun aus ihnen heraus, Wüste und Safran und Weihrauch und Kamelmist und dahinter noch viel weiteres, das meine Geruchsnerven nicht orten können, weil die Geruchsmarken dafür lang schon dahin gesunken sind. Unterdessen hat er, der Schläfer, seine Finger schon wieder liegen auf meiner, einen Schreibenden erwartenden Tastatur.Und ich schiebe sie aufs neue weg –
Warum eigentlich schiebe ich sie weg ? Aus wessen Fingern wohl wird die Geschichte die er in sich aufbewahrt in die Festplatte fließen ? Aus meinen oder aus seinen ? Und ich ordne ihm seine Finger wieder auf die Tasten, sorgfältig einen neben dem andern. Er hat mir so viel Uner-klärliches zugemutet, dass es eines der minderen Geheimnisse wäre, wenn er sich selber nun ans Tippen machte.
Ich betrachte seine Finger genauer. Sie sind mit Handschuhen aus fremdartigem Leder überzogen, am Ring- und Mittelfinger der Rechten freilich sind sie zerschlissen und ausgefranst wie ein mürber Socken. Und jetzt erkenne ich, dass der Handschuh leer ist. Was ich für den Überzug hielt, sind die Finger selbst, und die sind frisch angefressen.
„Das hat deine Katze verübt“ murmelt er, schlafend.

Mount Palomar

Als das römische Reich in Blüte stand und als es zerfiel, da war er bereits unterwegs. Das Reich Karls des Großen erwuchs und fiel auseinander, und er war unterwegs. Das Eis schmolz ab , das Delta teilte sich, die Mongolen eroberten, das Eis türmte sich auf, Erik der Rote entdeckte, Columbus entdeckte, und er war immer noch unterwegs. Zu mir ? Wie aber wenn ich nur einer unter vielen bin, vielen Melchiors viele Jahrhunderte hindurch : anno 908 ein Gewürzkrämer in Alexandria, anno 1589 ein finnischer Grobschmied, 1682 ein französischer Kartograf, 1777 ein calvinistischer Tuchhändler in Amsterdam.

Einmal angenommen, er hat sie alle aufgesucht, und noch andere : was erhofft er von mir, ausgerechnet von mir, was all die anderen Namensvettern ihm schuldig geblieben sind ?


Natalie hämmert gegen meine Tür.
„Melchior ! Du wirst mich doch nicht etwa aussperren !“
Ich sperre Natalie alles andere als aus. Ich brauche sie gerade jetzt. Sie muss doch wahrnehmen, auf ihrer Seite der Tür, was da vorgeht. Eine Belagerung . Die Katze arbeitet sich kratzend am Türholz ab, der Hund hat seine Schnauze grimmig schnüffelnd in die Spalte zwischen Tür und Schwelle gepresst. Nun, da sie Natalie auf ihrer Seite haben, steigert sich die Katze in drohendes Fauchen und der Hund verlegt sich aufs Kratzen und untermalt es mit Geknurr.
„Warte“ rufe ich, „ich erklär dir alles.“
Und hebe das Oberlicht über der Tür aus dem Scharnier.
„Wenn du mir Zicken machst wegen nichts und wieder nichts, wo du genau weißt, dass die Furien in der Redaktion mich…“
Ich klettere mühsam zu ihr hinunter und umarme sie.
„Es ist…du weißt Doch…man hat so seine vorweihnachtlichen Geheimnisse.“
Sie ist leidlich besänftigt, aber übertönt von Hund und Katz, die sie lauthals um Beistand angehen.
„Das Fernsehen hat eben für dich angerufen.“
Mich ? Das Fernsehen ?
„Die von dem Sender Wieheißerdochgleich.“
Weil sie Studio-Publikum für eine Nachmittagsshow brauchen. Das kenn ich.Ein paar Gestalten, die im Studio weit hinten sitzen und gehorsam klatschen, wenn eine rote Signallampe es ihnen befiehlt.
„Weil sie dein Exposé gelesen haben.“
Meine Vergesslichkeit ! Ich habe, es muss im Spätsommer gewesen sein, ein paar Privatsendern, ich kann mich nicht mehr drauf besinnen welchen, auf gut Glück verzweifelt eine Kriminalstory geschickt, die zuvor achtzehn Buch-Verlage abgelehnt hatten.Und diesen Happen in einem Genre, das mir gar nicht liegt, der macht denen nun Appetit ?
„Sie haben nicht gesagt, dass sie ihn nehmen. Sondern sie suchen so Autoren wie dich.“
Wie mich. Solche denen das Genre nicht liegt.
„Weil sie planen eine neue Serie. Im Februar soll sie in Produktion gehn.Und handeln soll sie von -“
Hund und Katz bedrängen mich gierig mit ihren Nasen, als sei ich ein Räucherschinken, nur eben noch eingeschweißt.
„Also wenigstens Hund und Katze hättest du füttern können ! Du siehst doch, wie ausgehungert die Armen sind.“
Ich setze den Armen Futter vor. Natalie sieht zu, mit hängenden Armen.
„Melchior, du bist glänzend im Geschäft.“
„Aber aber ! Nur weil dieser Privatsender, wie heißt er nur gleich, weil der sich mal bequemt zu einer Anfrage, unverbindlichst ?“
„Du kannst es dir leisten aus dem Vollen zu schlemmen. So wie die da.“
Dabei nippen die da, Hund und Katz, nur ungnädig und wenden immer wieder ihre Köpfe nach meinem Arbeitszimmer hin, wo ihnen etwas ganz Gewisses weitaus besser munden würde als das alltägliche Dosenfutter. Ich nehme Natalie in die Arme, bereit die alltäglichen Schlachtberichte entgegen zu nehmen und löse ein Schluchzen aus. Wie Natalie auf-stäubend lachen kann, so kann sie auch aufstäubend schluchzen. Noch hat sie keinen Andruck des neuen Heftes gezeigt, wie sonst stets nach den Martern der Deadline, nicht den Umbruch ihres Aufsatzes über die Gartenkunst in Cinqueterre, nicht den über Rolfing, nicht die Anlagetipps für allein erziehende Mütter.So viele Schlachten, und kein Sieg ? Oder haben sie es aufgegeben zu kämpfen in der Redaktion, weil die Verkaufsgerüchte sie stracks zusammenschmieden, sogar die Schwulen mit den Furien ?
Sie macht sich los und läßt mich allein mit dem Getier, das den reichlichen Rest des Futters verschmäht und wieder Posten vor meiner Zimmertür bezieht.
„Melchior - ?!?!“
Das ist Natalie aus dem Schlafzimmer. Ich drehe den Schlüs-sel in meiner Tür um, ich ziehe ihn sogar ab und setze das Oberlicht wieder ein. Als ob die Tiere doch noch eine Räuberleiter bilden könnten, kaum dass ich ihnen den Rücken kehre.
„Melchior….“
Und warum keine Räuberleiter, wenn’s doch auch möglich ist dass einer wie der Uralte sich bei mir einlogiert ? Dem Unglaublichen sind keine Grenzen gesetzt neuerdings. Ich schlüpfe zu Natalie unter die amische Decke.
„Du - ? „
Sie überrascht mich nun wieder mit ihrem aufstäubenden Lachen.
„Ich möchte heut nacht wieder von den Sternen träumen.“
Es hängt ein Duft im Raum. Nach Büffeln, Zimt, Büffeln, nach gänzlich Unbestimmbarem.
Auch nach Weihrauch und Myrrhen ?
„Melchior ! Was du für ein himmlisches Odeur an dir hast.“
„Das bin nicht ich. Das ist der König des Lichts“.
Der, von dem ich den Namen habe. Der unserem Schlafzimmer hier nur eine Nacht lang die Ehre gegeben hat.
„Aber !“
Ihr aufstäubendes Gelächter.Ihre Lippen ruckeln an meinen Ohrläpp-chen.
“ Jetzt holt dich deine katholische Kindheit aber in vollen Zügen ein. Du hast dir zu viele Krippenfiguren angesehn auf dem Weihnachtsmarkt.“
Jetzt ist die Gelegenheit da, sie einzuweihen.
„Ich werd dir auf der Stelle zeigen, was für ein besonderes Geschenk ich da aufgegabelt habe.“
„Nicht doch – meine Mutter kann warten.“
„Nicht für deine Mutter. Für mich, für uns beide.“
„ Jetzt ist die Tochter dran.“
Plötzlich wurde die Nacht zerrissen von Getrappel, Gewusel, Geschäftigkeit. Keiner gestand es dem andern ein, aber alle überstürzten sich, schleunigst vor den anderen zum Tor hinaus zu sein.
Wir führen uns auf wie in der Hochzeitsnacht. Nein, heftiger. Damals haben unsere Körper noch gefremdelt.

Weg vom Nachtlager mit der Gefährtin erhoben sie sich, weit vor Sonnenaufgang .Getrappel, Geschäftigkeit , Gewusel auf den Lehmböden aller Gassen: sogar Dahnadur-ben-Artaban, der sich nie weiter als zwölf Schritte von seiner Behausung entfernt hatte ( keiner hatte geahnt bis zu diesem Morgen,dass er so viele Kamele besaß wie er nun satteln ließ ) und Zara-wandad-War-dad der erst noch in aller Eile seinen gesamten Harem ver-kaufte um für den Erlös ein Dromedar und einen angezahlten Packesel zu erstehen.Arihu der Gichtbrüchige, der wiederum gewillt war seinen gesam-ten Harem auf die Reise mitzunehmen. Und da ritten auch noch die Brüder Beh-amed und und Zud-am-ed mit, auf Araber-Hengsten, und der Salbenkrämer Durust-amed, ihr Onkel, mit seinem Ochsen-gespann und Bithisarea, der vielleicht Balthasar war, mit seinen siebzehn Lustknaben ( die er als seine Fußnägelbeschneider ausgab) auf einem eigenen Elefanten.Und dann waren da die Drillinge Melimavak, Mel-imigur und Melidag. Die Drillinge hatten, mit gespült vom allgemeinen Aufbruch, ihre Maultiere im Stall vergessen. Dennoch machten sie ihren Weg nicht zu Fuss – sie hängten sich bald bei diesem bald bei jenem Reisegefährten ein. Am Riemenzeug der Kamele des Dahna-dur-ben-Artaban, am Elefantengeschirr des Bithisarea.Dem mit den siebzehn Lustknaben, der vielleicht Bal-thasar war.Oder schaukelten eine Strecke weit an den Quasten der Kissen von Arihus Harem mit. Den höre ich kreischen und kichern, den ganzen Haufen,den ganzen Harem höre ich schnau-fen ,röhren ,keifen, röcheln ,auch Schweine dabei, einen reichli-chen mitrennenden Mundvorrat, ausreichend für die Strecke bis nach Damaskus.Und Hunde sowieso, Frauen, Kinder,Ziegen. Und mitgeschleift der Reitknechte-Haufen ( ich hör ihn fluchen ) und von diesem der Küchen-Haufen ( ich höre ihn scheppern ) und von diesem wiederum der Mägde-Haufen ( ich höre ihn zanken ) und von diesem der Hammel-Haufen ( ich höre ihn blöken) und der Hühner-Haufen ( ich höre ihn gackern ) und noch ein Haufen und noch ein Haufen ( ich höre sie alle ).
Und das alles furcht sich nun durch Dürrländer und Wüsteneien und stöbert vielbeinig und vielhufig den Straßenstaub auf und ermuntert den Staub auf mit zu wandern und so staubt es sich ( Frauen , Ziegen, Kinder, Hammel, Lustknaben, Reitknechte ) und so staubt es sich hin bis nach Ninive und weiter hinter den Euphrat nach Babylon.


Am Morgen, erwache ich allein. Und siehe der Stern den sie im Morgenlande gesehen hatten ging vor ihnen hin.
Natalie hat mir auf den Küchentisch einen Zettel gelegt, auf den hat sie ein Sternbild aufgemalt. Unser Sternbild, das Sternbild : drei Sterne rechts oben, vier Sterne links unten gestrichelt. Nicht mit Blei- oder Lippenstift, sie hat eigens einen gelben Filzer hervorgekramt auf dass ich das golden Gemeinte auch als Gold erkenne, das Porträt ihres Traumes dieser Nacht. Die Katze hält immer noch Wache, seit gestern Abend. Ich turne durchs Oberlicht zurück in mein Zimmer. Weil ich einen Schemel dabei benutze, mustert sie mich abschätzig, mit leiser Verachtung wie einen kläglichen Artisten in der Fussgängerzone.
Ich turne in mein Privatissimum, aber ich finde es fremd vor, nicht just umgestülpt, aber kraus verändert, um und um gerückt. Da liegt noch die Bibel wie gestern, aufgeschlagen beim ersten Matthäus-Kapitel, aber nun auf dem Bauch. Gespreizt liegt sie da, bildet ein Satteldach, auf dessen First andere Bücher getürmt sind, die zusammen mit weiteren Büchern Brücken bilden, abgestützt durch andere, hinaufführend zu aus Büchern aufgeschich-teten Türmen, von denen Wendeltreppen aus Büchern jäh hinunterführen in Abgründe, Grüfte, Kasematten aus Büchern.
Er, der Gast, ist nirgends zu sehen. Was mag er gesucht haben, als er meine Bibliothek um und um grub und sie dabei zu fanta-stischen Archi-tekturen neu ordnete ? Wollte er sich kundig machen in all den Fragen die ich ihm gestellt habe ? Hat er geforscht nach Belegen in der Literatur, die ihn bestätigen ? Auf ihn verweisen von ihm handeln, und damit letztlich auch von mir ? Oder hat er nach Abbildungen gesucht, von sich, seiner Zeit oder Himmelsatlanten ? Hat er hat doch bekannt, er sei der latei-nischen Schrift gar nicht mächtig – hat er also nach aramäischen Aufzeichnungen geforscht, nach Hebräischem, Sanskrit , nach Doku-menten in Sprachen, die ich gar nicht kennen kann, weil sie längst schon erloschen sind ?
Das mit dem früheren Jahrtausend habe ich noch gar nicht gebührend bedacht. Ich bin ihm mit dem Apostel Matthäus gekommen, das macht erstes, zweites Jahrhundert post, während seine Wurzeln doch logischerweise im ersten Jahrhundert ante zu suchen sind, frühestens . Ich habe ihn gekränkt , ich muss ihn gekränkt haben indem ich auf das Protokoll eines Nachgeborenen pochte wie ein Untersuchungsrichter, der die Ankla-geschrift schon fertig im Kopf hat , während noch nicht einmal ein Delikt sichtbar geworden ist.
Ich sitze mitten im Büchergebirge und beauftrage mich, das Alte wie das Neue Testament klein-klein zu durchforschen, um ihn einzukreisen. Samt sämtlichen Apokryphen, dazu die Sonnengesänge des Echnathon, ratzweg alle schriftlichen Hinterlassenschaften des alten Orients zurück bis zu Gilgamesch und Engidu, die Weisheitsbücher des Amenemope und des Amenemhét, die Mahabharata, die Upanischaden, die Rigweden. Ich krieche durch Tunnelgebilde, die er in dieser Nacht errichtet hat, gefüllt alle mit seinem Duft, in denen ich ihn aber nicht aufspüre. Ich arbeite mich auf Ellenbogen und Knien voran, sammle dabei Bücher auf, die er aufgeschlagen und durchforscht hat, oder auch nur als unergiebig beiseite geworfen und studiere sie aufmerksam : findet sich darin eine gedruckte Spur zu seiner Herkunft oder finde ich ihn gar selbst ?
Gar manche die sich auf den Weg gemacht hatten irrten ab von ihm, blieben verschollen hinter Akkad, verirrten sich in den Steppen der Skythen und Sarmaten, suchten Unterschlupf vor Raubtieren und Sandstürmen in fremden Tempeln und verfielen der Anbetung fremder Gottheiten, durchwateten, vor Wegelagerern fliehend, den Amardes und Araxes, gerieten in die Täler von Baktrien, verwehten in ewiger Ver-gessenheit und erstanden wieder auf in den Balladen der Einwohner des Hohen Atlas in denen sie umgeformt wurden zu Fabelwesen, Ungeheuern und Irrwischen oder gründeten neue Stämme in Transaxanien, wo sie unter gewandelten Sternbildern ihre ursprüngliche Wegweisung ver-gaßen, die sie hierher geführt hatte .
Ich ertappe mich dabei, dass ich ihm gestern kein Nachtlager bereitet habe, dass ich Natalies Lockruf ins Bett vorschnell gefolgt bin, ihn unversorgt sich selbst überlassen habe in meiner Bücherzelle.
Ihn, der mir ins Gewissen gekerbt hat Wir dürfen einander nicht im Stich lassen, wir Könige des Lichts.Nun hat er, von mir im Stich gelassen, für sich selber gesorgt, sich irgendwo verkrochen zwischen Brockhaus und Uwe Johnson, verbuddelt wie ein wildlebendes Tier, das man aus seiner natürlichen Umgebung verschleppt hat in eine Etagenwohnung. Du bist der letzte an den ich mich wenden kann. Als mein Haustier sich eine Höhle gegraben hat wie ein Goldhamster zwischen festen Buchdeckeln, der lieblos hineingestopften Knüll-Existenz im Wäscheschrank leid.
Andere wurden als Sklaven verkauft bis in die Reiche an Indus und im Emodusgebirge, wo sie früh verstarben mit dem Sternbild das sie geführt hatte vor Augen oder heirateten in fremde Stämme ein und begründeten neue befremdliche Abstammungsmythen oder flohen und trafen auf versprengte Mitreisende von ehedem und setzten ihre Reise fort.
„Melchior !“
Natalie, die ich längst in der Redaktion wähnte, hämmert gegen die Tür. Schon wieder.
“Warum schließt du mich denn dauernd aus ? „
Ich sperre ihr auf. Noch vor ihr wischt die Katze herein, danach der Hund, der Natalie an der Leine hinter sich her zerrt.
"Aaaaah...du hast Weihrauch angezündet."
Nein ich habe keinen Weihrauch entzündet, will ich ihr ausdeuten, das ist sein Duft, Liebste, erinnerst du dich denn nicht an die vergangene Nacht ( und ob sie sich erinnert, ich seh ‘s ihr an ) . Das ist das edle Duft-gemisch, das aus seinen Gewandfalten strömt.
Ich komme nicht dazu. Denn während sie den zerrenden Hund von der Leine losgibt, nimmt sie die Auftürmungen meiner Bücher wahr. Ich sehe ihr an, dass sie sich zusammenreimt : deswegen also hat er sich einge-schlossen ! Mit ratlosem Blick , aber lustgewissen Fingern umfasst sie meinen Hals.
„Deine katholische Kindheit ! Immerzu baust du Altärchen neuerdings.“
„Aber das hab doch gar nicht ich gebaut, das war – „
"Das war der kleine Junge in dir. In der Vorweihnachtszeit nimmt er Reißaus vor dem Erwachsenen in dir und baut Krippenlandschaften.“
Dabei ist Natalie die Weihnachtshörige von uns beiden. Hat sie mich doch auf den Weihnachtsmarkt geschickt, um nach einem Geschenk aber einem exquisiten bitte für ihre Mutter zu fahnden. Und diese ihre protestantische Mutter hat mich mit dem nämlichen Geheimauftrag ins Vertrauen gezogen einem exquisiten bitte für Natalie als Doppelagent protestantischer Advents-Sentimentalität.
„Immer dieses Symmetrische bei dir !“ würdigt Natalie die akkurat aufgeschichteten Doppeltürme aus Büchern und Broschüren.
„ Seit Anbeginn unserer Beziehung diese zwanghafte Ausrichterei bei dir auf Mitte hin. Sogar Bleistiften tust du das an, sogar Löffeln, sogar Nagelscheren.“
Ihr aufstäubendes Lachen.
„Immerzu haben bei dir die banalsten Gerätschaften akkurat spiegel-gleich da zu liegen als stünde gleich irgendeine Messfeier an. Du bist ein Pendant-Pedant ".
Und Natalie dagegen eine Großmeisterin der Wirrnis. Aber mache ich dafür Martin Luther verantwortlich ?
„Und dieser Duft schon wieder…unwiderstehlich“
Sie zieht ihn in ihre Nüstern
„ Zimt ist darin, Büffel ist darin, und…“
Sie zählt nicht auf, was noch alles darin ist , ihre Zähne beißen es mir lüstern ins linke Ohrläppchen. Ihre Lippen saugen sich daran fest -
„Komm.“
Unter das amische Zudeck.
“Wo es ist noch nicht mal Mittag ist.“
„Bei diesem Duft ist jede Tagesstunde wie Mitternacht.“
Und knöpft mir mit ihren zärtlichen protestantischen Fingern das Hemd auf.
"Die Ritualordnung schleppst du mit dir eingebaut herum schon ein Leben lang. Mein Pendant-Pedant du".
Dabei ist sie es, die gerade gehorsam die Symmetrie von Knopflöchern und Knöpfen mit ihren Fingern bestätigt, bis sie den letzten offen hat.Symmetrie, meine evangelische Natalie, ist doch nun wahrhaft über-konfessionell, siehe, der weibliche Körper, ist ein lebendes Exempel dafür. Dein Hals ist wie ein Turm von Elfenbein. Ich bringe das naheliegenderweise vor, weil ich ihr den Pullover und dann den Unterrock ausziehe. Deine beiden Brüste sind wie junge Zwillinge von Gazellen. Und sind sie etwa schlampig diagonal angeordnet quer über dem Bauch ? Ich pflücke sie mit den Lippen und den Duft deines Atems wie Äpfel Sie schenkt mir ihr aufstäubendes Lachen. Dein Schoß ist wie ein runder Becher dem nimmer Getränk mangelt. Dir gehöre ich und nach dir steht mein Verlangen Komm lass uns unter Zyperblumen die Nacht verbringen.
Auch wenn wir uns diesmal nicht unter der amischen Decke kuscheln, sondern auf mein Kanapee: der Duft des Fremden umgibt uns und befeuert uns. Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz wie ein Siegel auf deinen Arm. Denn die Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich.
In den Büchergebäuden bricht etwas polternd zusammen.Die Katze springt übelnehmerisch fauchend daraus hervor. Es müssen ihre Nachfor-schungen gewesen sein, die da etwas zum Einsturz gebracht haben.
„Was sucht die Katze bloß da drin ?“
Natalies Aufmerksamkeit wendet sich brüsk von mir ab und der Katze zu, die sich beleidigt vor die Bücherwand gesetzt hat.
“Du mußt da drin zu viel Lebkuchen versteckt haben.“
Ehe sie sich doch wieder mir zuwendet, rumpelt ein erneutes Gestürze. Diesmal hat es den Hund getroffen, der prompt bei seinem Frauchen Tröstung erheischt und bekommt. Er wird von ihr gekrault, ich nicht mehr, ich sehe ihr an, dass sie überlegt, ob ich nicht auch noch Salami und Schinken zwischen den Büchern gehortet habe. Ich versuche Natalie dem Hund abspenstig zu machen, indem ich sie umfasse. So entdeckt sie die Schramme an meiner Hand.
„ O mein Ärmster .“
Wenn sie mir ihr Mitleid zuwendet, revanchiere ich mich und werde endlich los, was mir widerfahren ist :
„Das stammt von dem Metallnen an seinem Ohr…“
"Aber Liebster..."
Immer, wenn sie sich anschickt mich zu belehren, nennt sie mich Liebster.
"Das sieht doch eher danach aus, dass die Katze dich attackiert hat“.
Dieser reißende Tiger. Der sich schon wieder anschickt, in den Bücherbergen auf die Pirsch zu gehen. Ich werfe mit einem Buch nach ihr. Natalie nimmts an ihrer Statt übel :
„Wie roh du sein kannst ! Und das ausgerechnet, wo wir doch grade…Da gehe ich lieber wieder von den Sternen träumen“.
Allein.Und rafft ihre Kleider, verrollt sich ins Schlafzimmer, unters amische Zudeck. Ich scheuche ihr Hund und Katz hinterher und drehe zweimal den Schlüssel um.

Nun aber war dieses Sternbild, das sie im Traum zu Aufbruch verlockt hatte, im Laufe der Wanderung, nur noch in ihrer Erinnerung an die Aufbruchsnacht zugegen. Es verbarg sich hinter gewaltigen Gebirgen, in den Sandstürmen und den Wolkenballen des Monsunregens. So blieb eine Sternkarte ihre einzige Wegweisung, eintätowiert in die Haut der drei Melchiors. Die waren vordem Zuhälter in Assur gewesen , und nach Zuhälterart reichlich bebildert, nicht freilich trugen sie Szenen auf ihren Leibern mit sich herum wie sie in dieser Branche gang und gäbe sind, sondern nach dem Willen ihres Vaters Himmelsatlanten, war dieser doch Astronom am Hofe der Könige von Assur gewesen. Und obgleich er sie in jungen Jahren verstoßen hatte, waren, sobald sie ihre nackten Körper dicht aneinander rückten, diese Himmelsatlanten darauf aufs präziseste ablesbar.
Derart geleiteten sie uns in klaren Nächten durch Chaldäa hindurch und an Armenien vorbei. Dreimal freilich auch durch den Tigris, fern jeder Furt. Das letztemal bei Hochwasser, in dem das Küchenvolk ertrank, darauf verquer durch den Kaukasus, in dem auch noch die Reitknechte ersoffen. Was ist noch verläßlich an einer Sternkarte, die einen derart missführt, wurde geschrien, und der frühere Beruf der drei Melchiors missgünstig ins Spiel gebracht. Den Sternkarten auf ihren Zuhälter-Schwarten, wurde ausgestreut, seien längst bei den Messer-stechereien mit Kunden und Rivalen jede Verlässlichkeit abhanden gekommen, und die edelen Wege der Vorsehung zersäbelt. Luden-Landkarten ! Schlepper-Navigationen !
Als nach der neunten Mißweisung, welche die Karawane bis in den Sudan abirren ließ, die Sternkarten samt den Melchiors abhanden kamen, wurde von einem Racheakt gemunkelt. Bithisarea nämlich – wir erinnern uns dieses Inhabers der siebzehn Lustknaben, den manche Balthasar nannten – Bithi sarea also überkam zur Unzeit das Verlangen, sich von den siebzehn nicht nur die Fußnägel polieren zu lassen und wies die drei Melchiors an, mitten auf dem Marsch und das Gastrecht vorübergehend suspendierend, vom Elefanten zu steigen und neben diesem einher zu traben. Die angemessene Zeit für die Bearbeitung der Fussnägel bei weitem überdehnend, wurden weder Balthasar noch seine siebzehn Knaben gewahr, dass Melchior, Melchior und Melchior bei der unge-wohnten Fortbewegung per pedes suorum täppischerweise in ein Schlangennest traten und von einer erzürnten Vipern-Familie vom Leben zum Tode befördert wurden. Wobei dies nicht durch Bisse in Sohlen oder Zehen geschah, sondern durch Zerbeißung ihrer drei Gemächte. Welchen mithin eine höchst standesgemäß würdige Todesart zuteil wurde, zumal eben diese Gemächte gewaltig blauviolett anschwollen, mithin in der Wüste eine weitum sichtbare starkfarbige Gruppe bildeten, selbst von den aasfresserischen Hyänen nicht angetastet, die mit den Rümpfen und damit freilich auch den darauf verzeichneten Himmelsatlanten vorlieb nahmen.Ohne welche die Reisegesellschaft verloren und aufgeschmissen schien, wäre da nicht das Gold in den Ohren des Königs des Lichts gewesen, der hiermit zu seinem Namen kam.


Muss ich nun etwa Buch um Buch abtragen wie Mauersteine, um ihn aufzustöbern, der sich da drin irgendwo verschanzt hat ? Panisch verbuddelt wie ein Kaninchen, ein Erdmännchen vor seinen heißhung-rigen Verfolgern, Mitgliedern meines Hausstands. Wie Steine einer einge-stürzten Kathedrale, die einmal meine Bibliothek war ? Du bist der Einzige dem ich mich offenbaren kann und welche Offenbarung wurde ihm von mir zuteil ? Halbherzig, ohnmächtig bin ich Zeuge geblieben und eben nichts als Zeuge, wie in meinem domestiziert geglaubten Hausraubtieren blutige Urinstinkte aufbrechen, die ihn, den Sanftmütigen und Hinfälligen, vielleicht den Hinfälligsten schlechthin zum Opferwild werden lassen. Und obwohl die eigene Gattin mir die Stichworte geliefert hat mit zuviel Lebkuchen ! verschärft gar durch Salami !! und Schinken !!!, habe ich mich als verantwortungsloser Gastgeber erwiesen und bin die ganze Zeit lang nicht darauf gekommen, meinen Gast zu bewirten. Meine Bedürfnisse gehen nicht in diese Richtung hat er bekannt, gewiss,aber wenn’s nun orientalische Höflichkeit war ? Bekräftigte Selbstverpflich-tung eines sich Kasteienden.Noch alle Entsagungsheiligen und sich Kasteienden da unten wo er herkommt haben verkündet Meine Be-dürfnisse gehen nicht in diese Richtung, und alles Bauchliche von sich gewiesen von einem hohen kahlen Felsen herab, damits auch weithin vernehmbar war. Wie Johannes der Täufer etwa, aber grade er muss besonders nährstoffreiche Heuschrecken verzehrt haben und sorgfältig zerkaut, damit ihm aus-reichend Muskelkraft erwuchs, um den halben Fluss Jordan über Jesus von Nazareth aus Kopfhöhe hinab zu schütten, so dass sogar Jahwe es hörte und sich in die Taufzeremonie einschaltete mit seinem aus dem Himmel herabgedonnerten Siehe das ist mein eingebo-rener Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe. Oder Simon der Stylit, der allerfrüheste aller Mönche. Dreißig oder gar sechzig Jahre hat er in der syrischen Wüste auf einer Säule gestanden ohne jedes Geländer tagaus tagein in der Sonnenglut, und niemals haben diejenigen, die zu Füßen der Säule durch ihn und für ihn beteten, einen noch so geringen Speiserest auf seiner Kutte wahrgenommen, sechzig Jahre hindurch. Ein Überlebens-wunder, das nur eintreten konnte, weil Ungenannte ( Dorfmaiden wie zu vermuten ) des Nachts Leitern an den schwindelnd hohen Säulenschaft anlegten, um den frommen Mann zu atzen, der ohne diese Atzung nicht eine Woche seine Frommheit hätte durchstehen können.
Ich werde Natalie ins Vertrauen ziehen, die nüchtern-praktische Protestantische. Als Frau. Als Mutter, die sie zwar nicht ist, die aber dennoch in jedem Weibe schlummert und nur wachgerufen zu werden braucht, wenn es um Triebstillung geht. Sie träumt drüben unter der amischen Decke von den Sternen, unserem Sternbild, dem Hohen. Und mir bleibt hier das Niedere, die Atzung meines Namensvetters, Erd-männchen in meinen Bücherhöhlen. Ich mache mich auf den Weg hinüber ins Schlafzimmer mit dem unumstößlichen Vorsatz, sie unwiderruflich einzuweihen. Hör Liebste, werde ich ihr ins Ohr hauchen, mir ist da ein Gast zugelaufen, der nun schon ein Mitmieter, jedenfalls allem Anschein nach zweitausend Jah-re alt ist oder auch etwas drüber, und der gehört auf der Stelle dringlichst verköstigt.Und wenn wir dem König des Lichts dann unser improvisiertes Menü in den Mund schieben, der hinter seinen Bartsträhnen so seltsam verborgen ist ( abwechselnd einen Happen sie, einen Happen ich ) werde ich mich erleichtern um den Bericht vom Korbschleppen und vom Polizei-Einsatz. Und der König des Lichts, dankbar wohlig aufstoßend, wird sich für den Imbiss revanchieren und das Seine berichten über das Sternbild und das Kind von Bethlehem und -
Ich drücke die Klinke der Schlafzimmertür nieder. Nun ist es Natalie, die mich ausgeperrt hat. Von ihrem Sternentraum. Ich durchstöbere den Kühlschrank, sortiere ( abermals bedrängt von Hund und Katz ) dieses und jenes zweifelnd auf ein Tablett. Im Flur steht plötzlich Natalie vor mir, aufgeweckt von meinem Klinken-Gerüttel. Die Arme nach mir ausgestreckt, stößt sie gegen das Tablett und läßt ihre Arme wieder sinken.Dass ihr dabei ( angesichts von Essiggurken und H-Milch ) die Tränen ausbrechen, wird mir erst bewusst als ich ( nach nun schon routiniertem Sieg über Hund und Katz ) meine Zimmertür hinter mir absper-re. Mit einer Hand, und folglich laut. Sie schluchzt draußen, dicht am Rahmen.
„Ach Melchior, was tust du mir denn da an…“
Keine Beziehungsoper jetzt. Das Gastmahl hat Vorrang.Ich arrangiere das Mitgebrachte : Joghurt, Bier, Pumpernickel, Aufschnitt und rufe gedämpft zur Bücherwand hin :
“Es gibt was zu futtern !“
Gedämpft, wegen Natalie, die sicherlich draußen lauscht, um mich sogleich ( ihretwegen ? ) sprachlich zu läutern :
“Es ist angerichtet !“
Wird’s ihm bekommen ? Verträglich sein, seine ur- und aberalten Magengebilde und Gedärme schadlos durchwandern ? Was seinerzeit beim Styliten hinterwärts herauskam aus dem heiligen Mann und den schwindelnd hohen Säulenschaft hinab kullerte, wurde pfleglich aufgesammelt von den Dorfmaiden und in der nächstbesten Sanddüne verscharrt, damit die Gläubigen ( die zu dem unentwegt Fastenden beteten, dabei selber fastend ) unbeirrt blieben. Wenn mir aber keine syrische Dorfmaid zur Hand geht, wie verhalte ich mich zu dem, was diese in den Dünen vergruben und was nun in meinen Büchern landen wird ? Mein König des Lichts, wird des Gebrauchs von Wasserspülung nicht kundig sein, die von den Briten erfunden wurde, als er bereits eintausendachthundert Jahre ohne solche unterwegs war. Auch der Evangelist Matthäus, der Redselige, schweigt sich ja vielsagend darüber aus, wie viel Jesus seinerzeit ins Krippenstroh geschissen hat, hierin typisch Mann und typisch Theologe. Während Frauen, sinniere ich während ich stundenlang wartend auf die Büchergebäude starre, von Natur aus geborene Koprologinnen sind. Windelmadonnen, mit Erban-lagen ausgestattet, die es ihnen erlauben ihren Sprößlingen liebevollst mechanisch Kilo-Portionen davon fortzuwischen und sie gleichzeitig wie Engel zu herzen.
„Such such…“
Ich entzünde eine Kerze und ertappe mich dabei, dass es nun bereits die dritte ist, die ich brennen habe und dass drei eine heilige Zahl ist. Und wenn ich schon drei aufstelle, warum soll ich nicht sieben aufstellen. Symmetrisch, und streng axial auf den Teppichboden gesetzt habet so wie Natalie es immer ironisiert hat und mir nun nicht verbieten kann, weil sie sich selber weggesperrt hat.
Und ertappe ich mich dabei , dass ich nun schon zwölf Kerzen entzündet habe wie ein eifriger Messbube zwölf steht für die zwölf Apostel steht für die zwölf Söhne Jakobs steht für die zwölf Stämme Israels steht für… sechs rechts, sechs links, und sie bilden alle zwölf eine Gasse, eine Perspektive ins Tiefe, aus der er hervortreten könnte oder hervorwehen oder hervorgleiten wie es immer ihm beliebt aus den Büchergebirgen. Advenias, adveniat. Und ich entkorke ihm zu Ehren eine Flasche Wein. Keinen aus der Toscana halte ich für angemessen oder aus Burgund, sondern einen Roten aus Trabezon.
Und warte wieder, und harre weiter. Und finde es gehörig, zwei Gläser einzuschenken, eins für den Gast, eins für den Gastgeber und proste ihm zu. Advenias doch endlich ! Und schlafe darüber ein. Ich träume, dass ich mit Handfeger und Schaufel durch die Bücherberge krieche, um seine Knöllerchen weg zu fegen.In einer Linkskurve bleibe ich stecken, offene Bibelseiten klaffen mir entgegen, viertes Buch Moses, und aus allen rollt mir Elefantenmist in alttestamentarischen Massen entgegen.

Als ich wieder erwache, ist es stockfinstre Nacht.Die Kerzen nur noch Strünke, ihr Wachs auf dem Teppich ausgelaufen. Ich schütte den Rest des Flascheninhaltes in mich hinein. Mein Steiß ist verrenkt vom vielstündigen Schneidersitz-Hocken auf dem Teppichboden, die Speisen vor mir unberührt, Natalie ist mir abhold, meine Schriftstellerei zum Erliegen gekommen. Und ich ertappe mich dabei, dass ich seit Tagen – „such such!“ – den Hanswurst gebe.
Streck die Finger deiner rechten Hand aus und zähl daran ab : wieviele sind dir je begegnet,die deinen Namen tragen hat er gesagt zu mir und mich eingefangen damit, und ich habe überrumpelt geantwortet bis heute keiner außer mir.Wenn ich nicht für mich fürchten soll, muss ich mich zu anderen Trägern meines Namens durchfragen, anderen Königen des Lichts. Beschließe ich und kaue an dem verschmähten Pumpernickel. Sollen sie ihn doch mit mir teilen ! Ihn mir abnehmen, sich seinetwegen ihre Ehefrauen abspenstig machen, ihre Bücher durcheinander werfen, ihre Haustiere auswildern lassen.
Uns vereint der Vorname.
Dabei sind wir doch ( und trinke die verschmähte Milch ) alles andere als wabblige Milch in einem Ozean von Günters, Helmuts Günter-Helmuts und Gerds, Gerds, Gerds. Moritz August Clemens Wenzeslaus Kraft Hieronymus Trutz Konrad IX. Das hatte noch Kanten und un-verwechselbares Profil ! Das war noch Feudalismus vom Schlimm-besten.So einer trug die Allonge-Perücke mit Fug, auch wenn sich etwas tiefer im Schädel sonst nichts befand. Wenzeslaus hieß er natürlich wegen der böhmischen Erbfolge. Und Kraft wegen dem Versipptsein mit dem Hause Schleitz-Greitz-Düppelhausen-Sappenfurt, welche Dynastie zwar bereits 1692 erloschen war, laut Familienvertrag von 1508 aber nach wie vor Anspruch darauf hatte, fort zu leben im fünften Vornamen des jeweils Zweitgeborenen. Und dabei handelte es sich bei dieser Kavalkade von Namen nur um eine einzige Person ! Eine erlauchte, und sei’s nur durch die Namen. Eine durchlauchtige, hochwohlgeborene, degenierte von mir aus, in Inzucht Gezeugte, ihrerseits zeugungsunfähige von mir aus, gleichwohl bis ins 107. Lebensjahr in Verblödung dahingepäppelte, supra alldem aber herrscherliche Einzelperson.Deren sammetliche Vornamen jedes Landeskind am Untertanen vorbei ratterten wie ein Trupp Gefolge, ein Rudel Pagen, eine Kompanie Hartschiere, ein ganzer Hofstaat. Deren sammetliche Vornamen jedes Landeskind bei Leibesstrafe auswendig zu wissen hatte. Und erst die Geschichte sollte posthumus entscheiden, unter welchem der vorbeipreschenden Namen die Biografen inskünftig einen Strich zu ziehen haben würden : als Hieronymus der XI. hat er das Herzogtum unverwechselbar geprägt. Welch ein Abgrund trennt dies von Als Filialleiter hat Herr Günter L. die Firma unverwechselbar geprägt. Und wäre selbst dabei noch austauschbar gewesen gegen einen Werner, einen Gerd, einen Helmut. Das Helmutische ist das Gerdische im Werner. Wenn man sie Werner nennt, sind alle Gerds vernichtet , weil das Günterische in ihnen ( den zutiefstinneren Helmuts ) dann sogar das Karl-heinzige zerwernert .Und es treibt sie jeden Morgen vor den Spiegel : ist mein wahres Selbst immer noch Günter oder doch nicht eigentlich Gerd ? Oder Werner ? Mit einem Verdacht auf Günter ? Beides treibt ihr Geschick Siemens in die Arme - nein der Kreis-Sparkasse, dem wahren Topos alles Günterigen, nein doch zu Siemens. Dort vollenden die Günters das karlheinzische Zeitalter.
Aber wir Melchiors, sinniere ich beim Aufschnitt, wir sind ein Orden, wir müssen ein Orden sein. Meinen antisemitischen Eltern gönne ich es, dass sie mich unwissend mit einem solchen Namen ausgestattet ha-ben. Nur weil ein Sägewerksbesitzer, den sie als Taufpaten ( auch er ein Antisemit ) ausersehen hatten, so hieß , wie auch schon dessen Groß- und Urgroßvater.
Heute, wo die Urenkelinnen des erzgermanischen Urvaters Adolf, sobald sie die Leibesfrucht strampeln spüren in den Bäuchen seiner, Adolfs Ur-Enkelinnen ( in den Bauchgewölben all der Saskias, Sandras, Tamaras und Tatjanas ) das Alte Testament plündern, die Thora, in der sie nie gelesen haben, die sie nur durchraffeln wie leeres Gestrüpp auf der Suche nach den verwichensten Propheten im ersten Buch der Richter und im zweiten Buch der Könige und dann wieder hervorkommen mit Sa-muel und Rebecca, Jonathan und Judith als Ausbeute, wie ihre Vorväter, all die Baldurs und Giselhers und Kraft-Heinrichs und all die ewig wabernden Karlheinze wieder hervorkamen aus den geplünderten Wohnungen der Rebeccas und Jonathans und Judiths von 1938 mit Tafelsilber und Teppichen und Porzellan unterm Arm.
Aaron , komm Klavier üben ! ruft Oma Gerhild.Und ruft doch dabei einen ganz anderen Aaron, der keine Finger mehr auf Tasten legen kann, Aaron Silberstein hat er geheißen, Kürschner zwei Häuser weiter ist er gewesen, ein begabter Klavierspieler nebenbei, durch Genickschuss hinter Kaunas ist er gestor ben, seine Habe ist aufgeteilt unter seinen Mördern und Nachbarn, hinterblieben ist allein die Konsoluhr über Oma Gerhilds Klavier, an dem Aaron nun übt, über sich Aaron Silbersteins Uhr.
Hände waschen Sara, Essen steht aufm Tisch ! Sara ist der Zwangsname gewesen für nichtarische Mädchen so wie Israel für die Jungs, Saras Großmutter hat noch Kriemhild geheißen und war Gebietsmädelführerin beim Bund Deutscher Mädel, die anderen Saras liegen in einem Massen-grab, zusammen mit achthundert dreiundachtzig anderen, die einst Bürger dieser Stadt gewesen sind.
David, nimm dem andern Jungen nich die Sandformen weg ! ermahnt Grossmutter Hadumut von ihrem Balkon herab den Enkel, der in den Anlagen vor dem Haus buddelt. Eine fabelhafte Aussicht genießt man hier, beste Lage in der Stadt, vererbt in der Familie seit Familien-gedenken.Vom Balkon herab hat man die SA paradieren sehen mit Fackeln, in der Reichskristallnacht hat sie den David Teitelboim ins KZ geprügelt, seine Habe und sein Kristall, nun schutz- und herrenlos fiel an den Ortsgruppenleiter der NSDAP, der zugleich Hadumuts Vater war und seinen Enkel David noch auf den Knien halten durfte, ehe er als verdienter Ehrenbürger verstorben ist.
Ich lasse den Computer an und forsche nach Melchiors.Im Internet finde ich ein Autohaus, zwei Advokaten, einen Bierbrauer im Vogelsberg das Unternehmen stellt seine Biere vor und informiert über Firmen-philosophie. Familiennamen alles, keine Individualitäten werden fassbar, keine Profile, bei denen habe ich keine hilfreiche Solidarität zu gewär-tigen. Wo bist du Bruder, der so einsam heißt wie ich ! Trau dich heraus aus dem Dunkeln, tritt ans Licht, du bist dessen König ob du willst oder nicht ! will ich eintippen, und schreite sogleich ein gegen mich selbst : verkneif dir Pathos, du suchst doch nur eine Stecknadel im Heuhaufen der Vornamen, mit dem du dich austauschen kannst in einem vertraulichen tète-á-tète. So wie einer Gleichbetroffene sucht, der Piranhas hält im Aquarium seiner Mietwohnung und dass ja die Nachbarn es nicht erfahren oder einer dessen Kind unter Mukoviszidose leidet. Mein Fall liegt just dazwischen.
Nicht doch, mein Fall liegt im Mythologischen. Freiem Schriftsteller ist widerfahren Besuch eines geheimnisvollen Na-mensvetters der mehr Fragen aufwirft als ein freier Autor alleine lösen kann. Untersteh dich, ein solches Privatissimum hinaus zu schreien in die unvorbereitete Welt-öffentlichkeit ! Wo Hoffmann-Nauke es ausweidet, zahllose Hoffmann-Naukes es höhnisch zerkauen oder gar die Furien in Natalies Redaktion. Also tipp sachlich knapp : Kennwort MELCHIOR gesucht werden Träger dieses Vornamens zwecks Erfahrungsaustausch. Uns vereint der Vor-name.
Nein, diesen zweiten Satz, Zitat desjenigen welchen, lasse ich mir nicht durchgehen. Aber warum nicht ? Hat ihn doch einer gesprochen, der aus der Tiefe der Zeiten heraus auf mich zugekommen ist und nur auf mich.

Als ich ein halbes dutzend Melchiors endlich ausfindig gemacht habe, ist es früher Morgen geworden. Erschöpft fällt mein Blick auf die zer-knüllte Verpackung des Aufschnitts, den ich aufgegessen habe und nicht er. Das Essiggurkenglas, das ich geleert habe und nicht er, die Pumper-nickelkrümel. Und ich schäme mich, dass ich ihm keine Nahrung heran zu schaffen in der Lage war, die ihm gemäss ist. Ihm und seiner fern-fernen Lebenszeit. Ich schäme mich vor mir, dem Schriftsteller. Die frühe Sonne leuchtet in die Bücherburgen, sie werden auf einmal durchsichtig, als ob sie Torbögen und Fensteröffnungen hätten wie seinerzeit die Paläste seines Herkunftslandes sie gehabt haben. Und in den Törbögen und Fensteröffnungen wimmelt es ( wo habe ich denn nur wieder meine Brille verlegt ! ), man rennt trappel treppab und treppauf in den Gebirgen meiner Bücher. Die frühe Morgensonne, die in sie hineinschleckt ist die des Auf-bruchstages vor zweitausend Jahren. Und ist das dort nicht er selber, der König des Lichts in Person, der da sich als Schattenriss aus einem hellen Lichtgeviert lehnt
( gebildet von einem Martin-Walser-Roman und einer Erziehungslehre ) und zum Morgenhimmel aufschaut, an dem die Sternbilder fast schon am Verglimmen sind ? Wenn ich meine Brille endlich gefunden habe, ist er längst wieder fort, in einen anderen Flügel des Palastes geeilt oder zum Tor hinaus.
An seinen, Melchiors Ohren hing die einzige Sternkarte, die nun, nach dem Ende der drei Melchiors, noch Gültigkeit beanspruchen konnte.Sie hing da und schwankte im Rhythmus der Kamelschritte.Und ließ ihr Sirr-sirr vernehmen, und jedes Aneinanderschlagen seiner Goldplättchen galt der Wandergesell-schaft als Sternenmusik und ließ sie die Hälse recken hinauf zum Nachthimmel. Sirr-sirr zum Großen Bären. Sirr-sirr zum Schwan, der Leier und der Cassiopaia. Sirr-sirr.
Das schönste Sternbild am Himmelsbogen aber war ihrs. Dasjenige dem sie folgten, und es gehörte nur ihnen allein. Sie heiligten es allein dafür dass es sie weggelockt hatte aus ihrem Festgepflocktsein an lehmigen Stätten in Persien, Assyrien, im Karakorum. Es führte sie nicht nur zum Geheimnis und zum Wunder, es war selbst das Geheimnis und das Wunder. Drei große Glühsterne in der Mitte, und dann schwingts aus in eine Spirale. Als ob das Gesicht einer unbekannten Gottheit aus neun Augen auf einen Kosmos herab lächelt, den sie erst noch erschaffen wird. Aber in den neun Sternenaugen spiegeln sich die Wunder bereits wider, die es noch gar nicht gibt.
Die Reisenden waren indes zu Umherrirrenden geworden, und gelangten zu keinem Ziel, sie gelangten ins Nirgendwo. Bithisora, der Balthasar genannte wurde, geriet unter die Kannibalen und mußte mit ansehen, wie seine siebzehn Lustknaben einer nach dem andern zubereitet wurden bei lebendigen Leibe, und geröstet, und erhielt keinen Bissen ab.
Gathaspar, derKaspar genannt wurde, fand sein Nirgendwo in seinem eigenen Palast, als er unverrichteter Dinge zurück kehrte. gelangte. Aus-gezogen war er, einen Thronerben zu erflehen. Nun fand er seinen Thron besetzt von seinem Stallmeister, der all seine Töchter geschwängert und sämtlche Astrologen des Reiches als Scharlatane hatte enthaupten lassen. Über dem engsten und baufälligsten Einlass in die Hauptstadt, genannt das Eselstor, fand sich noch ein Platz für Kaspars auf eine Stange gespie-ßten Kopf.
Allein dem König des Lichts war es vergönnt, die Reise fortzusetzen. Aber eine Reise wohin ? Gleichviel, in seinem Ohr trug er das schwan-kende Gehänge des Sternbilds als einen Ausriss aus einem Himmelsatlas .So gerüstet , hätte er den Erdkreis mehrfach umrunden können. Orien-tiert, aber orientierungslos, gegen die Zeit.
"Hast du mich erschreckt.“
Das geht auf mich.
“Stehst du schon lange da ?"
Durchaus nicht .Ich komme abgehetzt aus der Stadt zurück und finde ihn sitzend vor meinem PC.
"Sie bedienen sich meines Computers ja erstaunlich kundig. "
"O das ist gering gegen alles was ich zu erlernen hatte auf meinen Reisen an Fertigkeiten, Sprachen, fremden Sitten, Umgangsregeln..."
Dabei hat er mir doch versichert, er sei der lateinischen Schrift nicht mächtig. Auf dem Bildschirm, auf meinem Bildschirm hat er die Website von Mount Palomar stehen.
"Eine hoch rühmenswert gelehrsame Sternwarte in den Vereinigten Staaten. Aber trotz ihrer Gelehrsamkeit vermögen sie das Sternbild in meinen Ohren nicht am Himmel auszumachen.“
"Weil es Ihr Sternbild nicht mehr gibt. Nur die Astrologen hantieren noch mit den Himmelskonstellationen von vor zweitausend Jahren.“
"Das hat mir Mount Palomar auch schon dargelegt. Darum habe ich versucht mich bei der NASA kundig zu machen."
Diese Erscheinung ist voller Geheimnisse.
„Die befugteste Instanz in diesem Sonnensystem. Aber in meinem Fall wollte sie sich nicht vorschnell festlegen. Dieses und jenes scheint im Unausgesprochenen bleiben zu müssen aus miltärstrategischen Rück-sichten heraus. Folglich verwies man mich ans Pentagon. Abteilung Welt-raumaufklärung.“
Und alles über meinen PC.
"Im allgemeinen wird einem da keine Kunde als Nicht-Befugter.Ich konnte sie aber überzeugen von meinem besonderen Rang."
Jetzt reichts mir.Ich platze los : was ihm da bitte einfiele bei allem Respekt vor seinem Alter und diesem gewissen Geheimnisvollen um ihn von dem ich allerdings bis dato nichts Greifbares auch nur erahne, aber selbst wenn ich das beiseite lasse obwohl es meine gesamte Lebens-führung umgestülpt hat : ein ausladendes Palaver mit den weltmäch-tigsten Behörden übersteigt ja nun wahrhaftig jeden tolerierbaren Rah-men, notabene hinter meinem Rücken, und ob ihm denn ( von den Kosten einmal ganz abgesehen ) nicht schwant, wie sie da drüben jeden noch so kleinen Hacker erkennungsdienstlich behandeln, ja registrieren, ja ihm nachforschen. Aber je mehr ich mich in Rage schimpfe, desto mehr verfältelt er sich ins Graubraunknüllige, ins Seidenpapierhafte, und während mein Zorn anfängt sich aus sich selbst zu speisen, dröhne ich vor Verstörung weiter und weiter : sprich auf der Stelle einen altorientali-schen Zauber über mich, Namensvetter, der mir den Mund verschließt !
Aber er spricht keinen Zauber, ich donnerwettere am König des Lichts zwei Jahrtausende weit vorbei. Er zieht sich zurück in sein Schweigen, das sich grade erst zu lichten begonnen hatte, namenlose Traurigkeit rinnt ihm in die tausend Runzeln, er bedeckt sein Gesicht das vollends ins Undeutliche zerflattert ist, mit beiden Händen und lässt dabei Arterien sehen, die wie erzene Raupen über deren Rücken kriechen. Erz auf Leder.
Erz auf Leder ! Was unterläuft dir denn da für eine Metapher, denke ich. Das endlich macht mich stumm, wie von einem altorientalischer Zauber.
Erst als ich meinen Laptop ausschalten will ( Gott allein weiß, wie er den angekriegt hat ) ertappe ich mich dabei, dass ich die ganze Zeit über den Einkaufskorb festgehalten habe, gefüllt mit syrischen Feigen, Affenbrot, Ziegenkäse aus Anatolien, ungesäuerten Matzen , Hammel-sülze und Dörrfleisch vom Dromedar. Speisen seiner Zeit, der Antike, mühsam und kostspielig von mir aufgetrieben im unserem 21.Jahrhundert.

Er schlief zwischen den Hufen seiner Pferde. Schakale heulten. Aber nicht nah genug, um die drei Strauchdiebe abzuschre-cken, die seit vielen Nächten schon seiner Spur gefolgt waren.
"Wie arglos er daliegt, wie ein frisch geworfnes Kalb."
Das Mondlicht ließ seine goldnen Ohrgehänge funkeln.
"Du säbelst ihm das rechte Ohr ab,und ich ihm das linke."
„Davon wacht er auf, und wir sind die Verladnen."
"Wir donnern ihm einen Felsbrocken über."
"Woher einen Felsbrocken nehmen, mitten im Wüstensand !"
„Wir machen selber den Felsbrocken und springen ihm alle drei zugleich auf den Schädel. Zugleich !"
"Zuuugleiiiiich!!!“ Unter Gelächter.
"Und jetzt ihm die Ohren abhacken ,und fort."
Nun hatten sie ihm aber den Kopf so tief in den Sand gerammt mit ihrer Springerei dass ihnen die Sterne im andern Ohr unerreichbar geworden waren.So zogen sie davon mit nur einem Ohr, und dem nur noch halben Sternbild daran.
"Wir müssen ihn vergraben, sonst zeugt der Kadaver gegen uns."
"Die Arbeit nehmen uns die Geier ab und die Schakale."
So lag er nun, König des Lichts, dem Kadaverwerden preisgebenen, und bedachte bitter den,nie mehr wettzumachenden, Vor sprung der drei Räuber, die seine Pferde mit sich genommen hatten und die Hälfte seines Sternbilds.Und wie er so lag, über-holte ihn auch der Tod. Die drei Räuber aber wurden eingeholt von ihrer Missetat und gekreuzigt. Dermaßen erhöht, hingen sie als weithin sichtbare Wegzeichen .Als der König sich heraus-gegraben hatte aus seinem vorzeitigen Grab im Sand und sich fortschleppte auf seiner Wanderschaft und an ihnen vorbei, da spuckte der erste Räuber „Päh !“ auf ihn „Päh !"spuckte der zweite,und „Päh !“ der dritte, obwohl er keine Spucke mehr zu verspeien hatte,nur hartes Salz aus seinem Rachen.
„Was verflucht ihr mich“ fragte der König an den Kreuzesstämmen hinauf , selber harten Sand im Rachen.
„Dafürdass du immer noch auf deinen Beinen zuwege bist“ schrie der Erste „wo wir dich doch rechtschaffen totgetreten haben und dafür hier müssen in Qualen hängen.“
"Verfluchst seist du“schrie der Zweite, dass du die Fliegen um dein Aas betrogen hast, die dafür uns verspeisen bei lebendigem Leib, und keiner hat eine Hand frei zum Wegscheuchen."
Der Dritte aber krächzte :
"Geh nicht vorbei."
Er ging nicht vorbei.Er ließ sich vom dritten Räuber näher an dessen Kreuz nötigen, um sich anzuhören :
"Die Henker...sie haben dein Ohr -"
"Kaum der Rede wert.Ich komme zurecht auch mit nur einem Ohr“.
"Ich rede nicht von deinem Ohr, das wir dir abgeschlagen haben. Ich rede von dem Sternbild, das daran gehangen hat. Die Henker haben es achtlos in den Sand fallen lassen, mit samt dem Ohr,weil sie grade blind waren von meinem Blut, das ihnen in die Augen gespritzt ist, beim Mich-Festnageln hier. Und dabei war es doch das schönste Sternbild gewe-
sen -"
"- das schönste Sternbild am Himmelsbogen ! Wie sonst hätte es uns alle fortgelockt in die Fremde. So schön, als ob das Ge-sicht einer unbekannten Gottheit“-
“ - aus neun Augen auf einen Kosmos herablächelt, den sie erst erschaffen will“ wusste der Dritte, der da in Qualen hing -
"- aber in den neun Sternenaugen spiegeln sich die Wunder bereits wider, die es noch gar nicht gibt.“
„Es war mein Talisman, der mir den Weg ins ewige Feuer erspart.Bis zuletzt habs mit den Fingern umkrallt.Leist mir den letzten Dienst der Barmherzigkeit, und scharr mir das Sternbild aus dem Sand.Ich wills noch einmal sehen, eh ich zur Hölle fahre."
Eine Handbreit vom Kreuzesstamm.Zwei Handbreit, rund um das Kreuz, an dem der andere sich dem Sterben hingab, wühlte er auf mit den Händen.Aber da war nichts als die Knochen vordem Hingerichteter.
"Scharr tiefer" schrie der am Kreuz"ich machs nicht mehr lang."
Und der König des Lichts grub tiefer, in dem Schlamm, ge-panscht aus dem Blut des Sterbenden und seiner Scheiße.
"Du hast das Sternbild unterschlagen !"schrie der und spuckte nach ihm, soweit ers mit trockener Kehle eben vermochte.
"Du versteckst es unter deinen Händen ! Verflucht seist du dafür !"
Da rannte der König des Lichts auf und davon ,aber nach drei Tagreisen gellte es noch immer :
"Du sollst nie dort ankommen,wo du hin willst!"
Und auch nach fünf Tagemärschen noch :"Nie sollst du ankommen ! Nie ! Nie..."


In meiner Mailbox finde ich keine Rückmeldung von einem der spärlichen Namensvettern, die ich aus dem Internet geangelt habe.
Alle lassen sie mich mit ihm allein, auf ausgesetztem, vielleicht schon verlorenen Posten. Nicht aus den Augen lassen mich nur Hund und Katz. Der schnelle Zubiss ist ihnen nicht gelungen, aber sie rechnen so augenscheinlich wie zuversichtlich darauf , dass ihre Stunde kommen wird, da Sie ihr Wild reißen. Ich erkenne es an der unaufgeregten Art, wie sie Wache halten : sie scheinen sich darin sogar abzulösen in hinterhältiger, in ausdauernder dröger Routine, so beamtenhaft unauffällig , dass sie Na-talie damit über das Ungeheuerliche hinweg täuschen, das da in unserer Wohnung vorgeht. Mich gereizt aufgefordert hat, ihr gütigst zu verraten , was ich denn da für ein famoses Geschenk für ihre Mutter herbei geschleppt habe, das ich in meinem Zimmer so geheimnistuerisch ver-wahre. Dabei hat sie das gütigst so strafend-stachlig in den Mund ge-nommen, dass ich erkannte, nuancenkundig geworden in unseren Ehe-jahren : eine Antwort wird nicht mehr erwartet . Und damit hat sie sich für lange Tage in ihr Arbeitszimmer zurückgezogen.
Und damit jedem Versuch den Boden entzogen, sie doch noch ins Vertrauen zu ziehen. Ich drücke Ohren und Nase an ihre Tür : umgibt sie etwa da drin der Duft von Leder , Zimt und Steppe ? Sie hämmert und hämmert und hämmert…

Nach zehn , nach hundert, nach dreihundert Tagemärschen wurde er noch immer gehetzt von dem Fluch der Gekreuzigten ,die ihn verwünschten, in die Irre zu gehen bis ans Ende seiner Tage, bis ans Ende der Zeiten. Und da sie ihm die Hälfte seiner Wegweisung aus dem Ohr gerissen hatten, ging er die Hälfte seiner Wege in die Irre, während den Wegelagerern Fleisch und Sehnen von den Geiern weggenagt wurde, bis nur noch ihre Gerippe am Holz schwankten, von denen die Aasfliegen auch noch die allerletzten Knorpelreste abweideten und aus deren Röhrenschäften die Milben das allerletzte Mark süffelten. Die Schien-beine des Dritten, waren die ersten, die - aller Bänder ledig, die sie mit dem restlichen Gerüst seines früheren Herrn verbanden - in die Tiefe sausten. Ihm folgte das Fersenbein des Zweiten, das sich, mürbe gemehlt von der Wüstensonne, von dem Nagel löste der es durchbohrt hatte. Hierauf die Rippen des Dritten, und danach segelte abwärts eine vermischte Gesellschaft aus Röhrenknochen und Schlüsselbeinen, anmutig kreiselnd in einer abendlichen Westbrise, die ihnen Töne entlockte wie ein Flöten-spieler seinem Instrument, und die klangen wie bis ans Ende aller Tage. Hierauf plumpsten die Becken hinunter, hockten sich schwer und fauchend in den Sand, und nie sollst du ankommen fauchten sie. Dann die Schädel. Sie zersprangen im Abwärtsfallen, zertepperten beim Entlang-schrammen an den Skelettresten, die da und dort noch baumelten. Und die Musik ,die sich daraus ergab , klang wie in die Irre, Melchior, in die Irre ! Die Finger des Dritten waren die letzte Hinterlassenschaft der drei die die Reise nach unten antrat.Die Finger eben der Hand, die das goldmetallne Sternbild noch umklammert hielten, während der Henker schon am Werk war, als hätte dieses Geschmeide sie vor dem elendigen Verrecken bewahren können. Im Fallen sirrten die Knochen und Knöchelchen wie Insekten durch die Luft, beschrieben ein paar über-mütige Bahnen, als sei es noch zu zeitig zum Nieder- und Schlafenlegen und als sie dann nach vielen Pirouetten landeten, bohrten sie sich quersinnig in den Sand, vibrierten noch eine lange Weile nach, und nie nie nie war es,was sie dabei sangen.
Die bleiche Gesellschaft, die da aufeinander übereinander durch-einander gepurzelt war - die Rippen des Zweiten verhakt mit den Fersenbeinen des Ersten, die Kinnbacken des Dritten schmiegten sich unter die Kniescheiben des Ersten - gab sich nun dem Geschäft des Zugewehtwerdens und Versinkens im Sand hin. In den Schädeln logierten sich Vipern ein, die aus den Augenhöhlen hervor schossen , um Spring-mäuse zu jagen. Skorpione flanierten gravitätisch durch die Hirnschalen wie durch Festsäle, Eidechsenmännchen verfolgten Eidechsenmädchen durch die Röhrenknochen. Aber immer noch, tiefer und tiefer in den Sand sinkend, surrte es in den Knochen immer noch, tiefendumpfer und dumpftiefer nie nie nie nie !


Ich muss ihn bitter gekränkt haben. Er bleibt unsichtbar. Seit Tagen. Und hat nicht auch sein Duft abgenommen , der diesen Raum verzauber-te ? Ich schätze den Leibesumfang von Hund und Katz ab, weil ich mich bei dem Gedanken ertappe : dass er sich nicht mehr blicken lässt und dass sie ihre Futtertröge nicht anrühren, könnte dieselbe Ursache haben. Verschwunden in den Uhren, spurlos ? Er ist so filigran – ich verbiete mir vor mir selber auszusprechen gewesen - dass er in der Tat spurlos in die-sen beiden Verschlingern verschwinden könnte .

Kaiser Titus zerstörte Jerusalem und schleifte den Tempel und führte die Bewohner fort in die Slaverei.Die Orangenhaine und die Olivenbäume verdorrten , das Vieh verreckte, von niemand mehr gewartet, und die letzten Schafe wurden von den Hyänen gefressen. Die Überreste der gekreuzigten Räuber waren zu verkarsteten Knollen geworden. Als Bar Kochba mit ein paar Höhlenbewohnern, die noch nicht verhungert waren einen letzten Auftstand wagte, verbrannten die Römer die letzten Ölbäu-me. Die Knollen spaltete der nächtliche Frost auf zu Kieselartigem, der wiederum zu Sand, und der mischte sich mit dem Staub der Kreuze, der Nägel, der Hyänenkadaver. Und nachdem die Heere der Sassaniden übers Land gegangen, um das Zerstörte noch einmal zu zerstören und danach die Heere der Kreuzritter, rissen zwei lausige Gestalten mit Spitzhacken den Wüstenboden auf.
"Heilandsack" bekreuzigte sich der eine"ist das eine Quelle hier !"
"Wenn wir jetzt noch drei Schädel ausgraben, die einiger-maßen passen, treten wir als Großanbieter an, morgen auf der Reliquienbörse."
Aber aus den Knochen, die sie zutage förderten, da übelte es ihnen entgegen :
"Wenn wir schon nicht mehr spucken können : verflucht seist du noch immer."
Die Strolche, harthörig, ließen ihre Ausbeute in eine Kiste ras-seln.
"Auseinander sortiert wird später, und ab nach Jerusalem mit den Klapperjockels."
Denn die Kreuzfahrer dort, sie zahlen jeden Preis für heiliges Gebein.


Ich muss die Schlundprobe bei den Untieren machen.
Ich bins meinem Namensvetter schuldig so tief als irgendmöglich in ihren Inneren nach seinem Duft zu forschen.Der Hund duldet es, dass ich ihm die Kiefer auseinanderklappe und fährt mir nach vollbrachter Untersuchung mit der Zunge übers Gesicht, erwischt aber nur die Brillengläser. Ich tappe, nun mit besabbertem Ausblick, nach der Katze, die sich entschieden dagegen wehrt dass ich ihr das Gebiss aufsperre wie Samson dem Löwen und ritzt mir dafür mit ihren Krallen die Handballen. Als der Hund begeistert scheint von dem sich anbahnenden Kampf, und schon mal zwei drei Bellererer loslässt , um uns anzufeuern , schneit Natalie unversehens-unvermutet in die Küche herein. Ich schäme mich furchtbar und es fällt mir nichts Einleuchtendes zum Daherstammeln ein für die Absonder-lichkeit die ich da vollführe.
Während die Katze schmerzlich miauend weit von mir fort springt, als hätte ich sie fast gemeuchelt und der Hund grummelt, weil es nicht zu dem erhofften Gemetzel kam, schlendert Natalie angewiderten Gesichts zum Kühlschrank und entnimmt ihm eine Milchtüte. Beim Trinken wendet sie mir den Rücken zu und lässt mich an diesem ablesen, dass sie weit lieber die kahlen Ende-November-Bäume betrachtet als den Nichtstuer der sich seit vier Tagen und Nächten von ihr wegsperrt. Während sie ihre journalistische Fronarbeit herunter zu hacken hat, 1174 Anschläge über Diätsalate, Halstücher fürs Frühjahr, "Mach was aus deinem Typ".
Rotbackige Lebenshilfe, nach der ihre Leserinnen hungrig gieren jeden Donnerstag am Kiosk. Denn was Natalie hier in unserer Wohnung in den Computer hackt, setzt sich auf dem Königsweg über ihr Frauenblatt sogleich um in Lebenswirklichkeit, wird eins zu eins befolgt von ihren Damen Leserinnen.So gesehen ist unsere Wohnung eine Energie-Versende-Station, von der aus Handlungsanweisungen abge-strahlt werden hinaus in die Welt, zumindest in die Frauenwelt : nimm sie in den Arm befehle ich mir selber, und sag wir wie stolz du bist auf ein Eheweib , das jeden Freitag nach dem Erscheinen der neuesten Ausgabe an jedes Fenster dieser unserer Wohnung treten könnte um hinunter zu weisen auf die Passantinnen : schau, da hat sich eine das Chiffonkleid angezogen, das ich auf Seite 37 empfohlen habe , und die da hat sich die Trockenwelle drehen lassen , zu der ich riet auf Seite 52 , und die da hin-ten trägt Rhabarber nach Hause statt Schweineschnitzel und was bedeutet das ? Sie fängt die Diätkur an, die ich auf Seite 13 empfohlen habe. Zur Pflicht gemacht habe ! Respekt, Respekt.
Ich dagegen und meine Wirkungen ! Es gelingt mir gerade so eben, einen Namensvetter aus einem fernen Jahrhundert vor ihr zu verstecken, tatenlos meine Zeit verhockend, auf Büchergebirge starrend und und stets gewärtig dass Natalie mich über kurz oder lang fragt "sag mal, wie hat sich das eigentlich weiter entwickelt mit denen vom Fernsehen ?" Und wenn’s ganz schlimm kommt wird sie einbauen : "Liebster".

Als die Frage nun wirklich kommt ( in einem Weit-weg-Ton, dem ich anhören soll : sie ist mitten drin in einem Artikel, der morgen früh in Satz gehen soll ) und sie dabei durch mich hindurch schaut :
„Sag mal, Liebster, wie hat sich das eigentlich weiter entwickelt mit denen vom Fernsehen ?“
- da fällt mein Blick schon wieder auf unsere Untiere : haben die ihn sich etwa drei zu eins geteilt, damit man ihren Bäuchen nichts ansieht ? Und wer von ihnen hat das Sterngehänge verschluckt ?
„Melchior ! Krieg ich nicht mal ne Antwort ?“
Ja doch ja, ich hab da umgehend eine veritable Geschichte hingeschickt zu denen vom Fernsehen.
Mit aufquellendem Handlungsverlauf , nicht bloß diese Art von Storyline zum Ausfüllen für mindere Weiterschreiber wie sie sie sonst in die Finger kriegen , verstehst-du-Natalie-So-von-Kollege-zu-Kollegin-von-der-schreibenden-Zunft, sondern einen quicklebendigen Kern-Einfall, aus der im Hastenichgesehn eine pralle Komödie hervorpurzelt , oder eine Familiensaga , eine Lehrlingstragödie oder eine Zahnarztkomödie, je nachdem wie bereitwillig mir der Redakteur folgt; aber mir als väterlich-erfahrenen Routinier wird er doch wohl. In Wahrheit freilich, Natalie, habe ich nichts von alledem auch nur in meine Kladde gekritzelt. Sondern die windbeutelige Anfrage schlicht vergessen, hab mein Tagwerk nicht verrichtet ( wie du, Natalie ) über den Nachtwachen vor den Bücherbergen, Affenbrot dabei knabbernd, Ziegenkäse und das Matzenbrot das der ungnädige Unsichtbare verschmäht hat.
Nur die Hammelsülze und das Dörrfleisch der Dromedare habe ich für Hund und Katz aufgespart, die es ihrerseits verschmähten. Weswegen ich es in den Müll kippen musste, liebe Natalie, sündteuer wie es war. Sie erhofft einen Satz von mir, ein Sätzchen nur, obwohl sie sich Mühe gibt so zu tun, als betrachte sie die dürren Äste da draußen weit lieber als mich, ihren dünnen Ast hier drinnen.
Ich weiß, welcher Text in ihr herumgrollt : "so behandelst du mich obwohl…." ja doch, ich weiß.
Obwohl Natalie es ist in diesem Hausstand, die das Geld verdient. Mit ihrem Gehacke über Diät-Empfehlungen und Chiffonkleidern in Größen, die ihr selbst niemals passen würden. Geh hin zu ihr endlich, du Dussel, umschlinge sie und gib ihr eine deftige Kostprobe aus deinem Fernsehdrehbuch, erfinde wenigstens für sie, was du zu erfinden versäumt hast, wie da der Bäckermeister zu Ernestine sagt…
Ehe noch dem Bäckermeister, den es noch gar nicht gibt, ihr zuliebe etwas Scherzhaftes in den Mund legen kann, dreht sie sich zu mir um :
„Aber den Hund , Liebster , den wirst du doch wenigstens ausführen können !“
Und ist samt Milchtüte schon wieder in ihrem Zimmer, bei ihren Diät-Rezepten und Chiffonkleidern.

Auf dem Tisch des Klosters stand eine große hölzerne Lade.
"Benedictus qui venit in nomine Domini."
“Gepriesen seien die da kommen im Namen des Herrn“
respondierte ein Chor aus hohen, süßherben Stimmen der Äbtissin.
“Gepriesen, und Amen.“
„Gepriesen und Amen.“
Von allen Seiten war die Lade bewehrt mit schweren eisernen Bändern gegen die Seeräuber und gegen die Reliquiendiebe.


Ich lege dem Hund das Halsband um, der dabei ebenso betont an mir vorbei schaut wie vorhin Natalie. Ich habe den Respekt sogar unserer Tiere eingebüßt, seitdem er eingekehrt ist. Immer wieder dieses seitdem. Die Zeit gliedert sich nicht mehr in seit Christi Geburt, seit dem Fall der Mauer; seit meinem ersten Beischlaf mit Natalie, sondern in : seitdem ER mir zugestoßen ist.
Unterwegs draußen auf der Straße untersuche ich, was der Hund hervordrückt. Finden sich darin Überbleibsel meines verschwundenen Gastes, Reste von uraltem Leder, Steppenstickerei oder gar Splitter von zerkauten goldenen Sternen ? Einen ernsthaften Herrn der bereits zehn Schritte weit an mir vorbei gestrebt war, drängt es zu mahnen, wenn mein Hausgenosse den Fuchsbandwurm in seinem Gedärm herumtrage, gelte es schleunigst den Tierarzt aufzusuchen, denn dessen Keime überfallen heimtückisch auch den Menschen, der noch wehrloser ist als das Tier. Mit Todesfolge ! Schmerzhaft, und sämtliche Mitbewohner unwissentlich infiziert obendrein ebenfalls mit Todesfolge, verstehen Sie, Todesfolge! Er hält die Hand vor den Mund, aus dem er um Himmels Willen um Himmels Willen sprudelt, während eine Dame quer über die Straße zu uns stößt, einen Setter an der Leine : sie hat den nämlichen Fall erleben müssen bei diesem ihrem Setter, und eine Olivenölkur angewandt, und zwar per Einlauf ich betone Einlauf ! auf den Ratschlag hin einer ihrer Töchter, Biolandwirtin auf dem Peloponnes, und wie Sie sehen, Maxim ist wieder wohlauf.
Ach Mitfühlende ihr, mich errettet kein Tierarzt und keine Olivenkur.
Es steht zu befürchten, dass meine Töle den König des Lichts verdrückt hat. Dessen irdische Vorhandenheit so flusig erschien , dass ich sie nicht einmal der Frau mitzuteilen wagte, die Tisch und Bett mit mir teilt . Zweitausend Jahre war er auf Wanderschaft gewesen, bis er schluss-endlich in einem Einkaufskorb von mir geborgen wurde. Und nun auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist, der tierischsten Art von Ver-senkung, wie das Sprichwort sie im Munde führt, und zwar zur Zwei-drittel-Hälfte in einem Hundemagen und mit dem restlichen Drittel in einem Katzenmagen.

Zeremoniös legte die Äbtissin ihre Hände, weißhäutigen Nonnenfinger, auf das dunkle Zedernholz der Truhe.
„Ich sehs euch an an euren Nasen : da ist keine unter euch, die auch nur erahnt, was dieses Holzgehäus birgt.“
„Es ist wie Ehrwürdige Mutter sagen. Die Schwesternschaft hat ein Geklapper vernommen wie von Kindermurmeln und Kastenfallen für Mäuse“ getraute sich eine mit üppigen Barthaaren auf Oberlippe und Kinn zu erwidern, „aber sich keinen Reim drauf machen können, woher das wohl rühren mag.“
„Oh oh ihr Närrinnen“ lächelte da die Äbtissin, schlug das Kreuzeszeichen zuerst über sich, sodann über die Truhe, und alle tatens ihr nach.


War es nicht eine Notariatskanzlei ?
Doch, es muss so etwas gewesen sein wie eine Notariatskanzlei, für das sie ein Treatment gewollt haben. Ein lockungsloser Ort, aber von der Konkurrenz noch nicht so abgegrast ist bis zum Gehtnichtmehr wie – na wer sprichts denn aus – Tier-arztpraxen , Wohnküchen, Pfarrhöfe, Notaufnahmen. einer Location verstehn Sie wo ständig die Post am Abgehn is. Hauptsache eine mit vielen Türen, aus denen ständig jemand hereinwirbelt, der Handlung eine neue Wendung beschert, mit Espressotassen aus dem Gemeinschafts-automaten in den Händen. Ich muss meine Fantasie niederlassen unter Leuten, die mich noch nie etwas angegangen sind. Denn ich habe den Auftrag von diesem Privatsender Wieheißterdochgleich. Eigentlich noch nicht einmal den Auftrag selbst, nächste Woche, gell, da hören wir hoffentlich von einander, eigentlich erst seine Verheißung, aber schon verbiete ich mir abermals in dieses bibeltonartige Geblase zu versinken. Verheißung ! Dieser Zwangsausflug in die Kommerzglotze wird dir schon die Mythenschatten von der Seele waschen.
Ich habe mich schon viel zu weit fortschwemmen lassen von der fabula obscura die in mir umgeht. Die mit mir umgeht. Hinein also kopfüber in die platte Welt diesseits biblischer Legende ! Dieser platten Welt geben, was dieser Welt gemäß ist , das Alltägliche den Alltäglichen bei egal-wege eisern zuversichtlicher Grundstimmung, wenn Erben so erfahren dass sie nichts erben und Grundbesitzer , dass ihre sündteure Immobilie gar nicht im Grundbuch steht. Ich befehle mich zurück zu Schnurr-pfeifereien mit apokalypsefreiem Verlauf und der Gewähr, sich in Honorare zu transformieren. Erfinde also Lahmsack !

Erfinde Hermine, die Mutter des Mutterwitzes. Den Lachsack,die durch nichts zu erschütternde Chefsekretärin in der KANZLEI BESELE. INNEN. TAG.

Unser Erstgeborener

„Also wenn Sie sich Herr Melchior da drauf nun versteifen was hier letzte Woche angesagt war also das ja nich mal mehr die selbe Crew die die Stellung hält hier ( kichert ) also von wegen ner Serie die was in einer ( kichert ) Notarkanzlei spielen soll is hier echt nix im Busch also schönen Tag noch Herr Melchior haltma die Kollegin hier will wissen als was wollten Sie sich denn bewerben eigentlich ? Ach so als Autor hej das is ja ne total neue Situation, haltma ! Sind Sie noch dran Herr Melchior also ich höre grade von der Kollegin es sind zwei Autoren ausgefallen kurzfristig was ja nu ne echte Chance ergibt für Sie an sich isses ja vertraulich die Personalverschiebung bei uns aber in dem Fall steigt der eine ein in ein Praktikum bei soner Online-Zeitung und der andere tritt seinen Ersatzdienst an da können Sie mal ablesen dran das Altersprofil“- kichert – „an unserem Sender was fürn Jahrgang sind Sie denn ? Na nichts für ungut, Herr Melchior, wir müssen Schluss machen unsere Serie is ja gleich auf Sendung da wolln wir Sie nich abhalten vom Kucken…also dann bis…wieso nächste Woche ? In vier Tagen sagt die Kollegin muss Sie Ihr Skript hier ham aufm Tisch ich hab doch gesagt flexibel oder hab ich noch nich na dann sag ich’s jetzt flexibel flexibel flexibel bei uns immer flexibel .„“
Und gluckst belustigt.Und ich habe ihr nicht zu gestehen getraut, dass es bei uns gar keinen Fernseher gibt. Wird in einer Zahnarztpraxis über-haupt gesprochen, frage ich den Dialogschreiber in mir, der vor dem leeren weißen Bildschirm sitzt. Ich sehe da nur offene Schlünde vor mir, triefend und darin Absaugeschläuche aus Plastik. Offene Schlünde wie die von Hund und Katz, als ich sie ihnen gewaltsam aufsperrte, um nach demjenigen welchen zu forschen, den du jetzt aus deinen Sinnen ver-bannen wirst . Gib dir die Sporen, Faulsack, und tipp ! Wenn schon die Patienten nicht reden dann gib der Mittelpunktfigur das Wort : Hermine dem Lachsack, Mutter des Mutterwitzes, durch nichts zu erschütternde Sprechstundenhilfe in der PRAXIS DR. BESELE . INNEN.TAG.

Natalie wird bereits nach vier Zeilen zu raten imstande sein, ob das Weiterschreiben aussichsreich ist. Hat sie doch schon hochnoble Prosa-isten zusammengestrichen, gnadenlos. Und sie, die für ihre Ausuferungen andernorts Preisgekrönten, passgenau zurechtgesägt auf 1567 Zeichen zwischen dem Reiseteil und Er geht fremd mit meiner besten Freundin ! Betroffene Frauen berichten.
Und siehe da, die Prosaisten wussten ihr stets Dank dafür : seitdem Sie mich gekürzt haben gnädige Frau , gewinnt meine Prosa erst an neuer Geschmeidigkeit, ja Stringenz,wie auch mein Lektor sogleich bemerkte anhand jüngster Texte, die entstanden waren nach unserer Begegnung, verehrte Natalie. Aber was Martin Walser und Bodo Kirchhoff genießen durften, bleibt mir für erste versagt. Natalie ist nicht in ihrem Zimmer. Ich ringe mich dazu durch, mit meinem nun auf immerhin vier Seiten ange-wachsenen Konzept den Rat einer anderen Expertin einzuholen, einer Expertin in Sachen Volkstümlichkeit.
Und den Hund, das muss es mir wert sein, ein paar Straßen weiter zu führen als gewöhnlich. Wie gelenkig das Tier vor mir her schreitet, ja : schreitet, da es den erweiterten Ausgang ahnt. Wie ein Dromedar, das sich und seinen Schrittrhythmus einpendelt für eine lange Reise durch die Wüste…Einspruch ! Ich reiße mich los aus solchem Assoziations-geschlinge, ein Hund ist ein Canide und Stubengefährte, ein Kamel aber ein Fremdling aus den ungesunden Fantastereien, die du doch verbannen wolltest aus deinem Gemüt !
Also reiss, also verbann, und übersieh wohlgemut das Beinchenheben des Hundes ; mit diesem Strahl schießt gewiss kein Überrestchen deines zweifelhaften Spielgefährten hervor. Natalies Mutter obliegt schon am hellen Nachmittag ihrem Schaudienst. Ich wedle mit meinen vier Seiten zu ihrer Sitzgruppe hin. Nicht mich auszanken bitte, Schwiegermama, dass ich so plixplax herein schneie. Es kommt mir entscheidend viel drauf an, dass ich was Frisches auf der Stelle an dir ausprobiere. Ich darfs dir vorlesen -
„Legs da drüben hin.“
Damit die Kerzen auf dem Adventskranz das Manuskript bewachen wie vier Lanzen einen Bestatteten. Das Fernsehbild wabert als bläulicher Widerschein über ihre Witwennase, ihre Witwenbrillengläser, ihre penibel geplättete Witwenbluse. Ich rücke den Stuhl, den sie mir nicht angeboten hat, an ihre Seite vor den Bildschirm und bekomme etwas Lustspiel-quirrliges zu sehen, das in einem Waschsalon vor sich geht. Das nennt man Seifenoper, gell, Schwiegermamachen ? Ich Neuling höre mich ein, wie sie die Dialoge gezimmert haben, sortiere die Figuren, taxiere die Charaktere, und alles bleibt mir tierparkfremd.
Urplötzlich kein blauer Schein mehr auf Schwiegermamas Gesicht. Mit einem Druck auf die Fernbedienung hat sie die Busenfreunde ihrer Witweneinsamkeit ins Nichts geschickt. In ihren Brillengläsern spiegelt sich nicht mehr der Waschsalon, sondern ich, der Schwiegerseohn.
„Du weißt hoffentlich, wem du den Auftrag vom Fernsehen verdankst.“
Selbstredend haben sie sie einen routinierten Spezialisten in mir gefunden, nach dem sie angemessen lange gefahndet haben.
„Weil Natalie in ihrer Zeitschrift eine Serie von denen empfohlen hat in ihrer Rubrik TV zum Ausspannen, und im Gegenzug hat sie dich empfohlen. Sie ahnen nicht einmal, dass sie es mit dem Ehemann zu tun haben“.
Und wie überhaupt riecht denn bloß euer Hund das ist doch nicht artgerecht dass auch schon der Hund riecht nach diesem gewissen Gedufte was da ausgebrochen ist in eurer Wohnung über das Natalie sich ausge-weint hat drüber jeden Tag ja jeden Tag hier auf dem Sofa dass ihr Gatte seine Persönlichkeitsstruktur ja so hat sie sich ausgedrückt, seine Persönlichkeitsstruktur und einfach alles was einem vertraut gewesen ist durch die Jahre dass sich das derart rasant verändert von einer Stunde zur andern um hundertachtzig Grad dabei seh ich sie immer noch vor mir im Konfirmationskleidchen meine Kleine so voller Elan so voller Zuversicht und Zukunft und im deutschen Aufsatz immer eine eins schon in der Grundschule und nun mit einem Ehepartner geschlagen der mit Ha-schischrauchen anfängt aus heiterem Himmel in einem Alter wo es gar nicht mehr zu gewärtigen ist wie ein Pubertätslausejunge dabei ist er doch immerhin mal vom Goethe-Institut auf Lesereise geschickt worden nach Südostasien wo ihr euch ja kennengelernt habt das hat doch zu allerhand Hoffnungen berechtigt aber Melchior ich sag dir eins ein Schwiegersohn der seiner Frau nicht nach drei Jahren spätestens ein eigenes Haus hin-zubauen in der Lage ist der stellt eine Fehl-investitution dar für die gesamte Familie.Und sie weist auf meine Bücher, die hinter Glas aufge-reiht sind wie Schneewittchen, neben Ernst Wiechert und Sudermann, den ererbten. Ich, der Schmalrückige in Broschur neben Dickleibigen in Leinen.
„Und wenn die Drogenfahndung nicht klingelt bei euch nächstlich können wir alle von Glück sagen“.
Ich will unauffällig mein Manuskript greifen und mich davon machen.
„Du bleibst.“
Der Blick, mit dem sie die von mir getippten Buchstaben visitiert, lässt in mir die Gewissheit wachsen, dass eben doch Eiswasser in meinen Schuhen glitscht.Und der Blick, mit dem sie die Examinierung meiner Sätze aufnimmt, läßt mich ans Oberleder greifen : von außen fühlen sie trocken an, gewiss, aber innendrinnen..ich ertappe mich dabei, dass ich beide Zeigefinger prüfend in die Socken gesteckt habe, als sie das Manuskript von sich fortschiebt. Ich reiße die Finger heraus, um meine Seiten vor ihr zu retten.
„Wann hast du gesagt, musst du abliefern ?“
„In drei Tagen.“
Das eine könne sie mir schriftlich geben mit Brief und Siegel : in eine Zahnarztpraxis hätte ich offensichtlich noch nie hineingerochen. Dabei steckt ihr in einem Engpass, enger geht’s nicht. Sie, die Schwiegermama, muss da Hand anlegen damit der Herr Schwiegersohn endlich was voranbringt, was die Menschen auch sehen wollen draußen im Lande, mit anderen Worten : da gehört ein Zahnarzt her, der ist noch Junggeselle. Und warum ist er Junggeselle, dami er seine Arztkittel in den Waschsalon tragen kann, und da stellt er sich sowas von an der Maschine, wirft das Rote zum Weißen…
„Einer muss dir ja endlich Bescheid stoßen, Natalie ist arbeitslos seit dem ersten Dezember.“
Aber er ist nicht verratzt, der junge Zahnarzt, weil die Nachbarin an der nächsten Maschine von ihrem Journal aufschaut und da bemerkt sie seine Kalamität –
„Arbeitslos, wieso denn arbeitslos, sie hat doch sowas von hektisch ge-schrieben immerzu in der letzten Zeit“.
„Damit du denken sollst, sie hat ihre Stelle noch in der Redaktion“. Schweif nicht ab gerade jetzt wo es sich zuspitzt - nämlich die mit dem Journal räumt ihm seine Wäsche sogar in die Maschine, fein getrennt versteht sich und es stellt sich heraus, sie is noch am Studieren, und was studiert sie ? Zahnmedizin.
Sogar der Hund scheint dankbar und leckt Schwiegermama die weiße Witwenhand. Die ihn dafür hinter den Ohren krault. Achtlos ( aber auch kein Befremden mehr wegen des fremdartigenen Orientgeruchs in seinem Fell ) weil ihre Vorstellungskraft sich in den Waschsalon verströmt, wo sie die beiden Zahnmediziner beseligt das Rotieren der Wäsche betrachten lässt als wäre diese bereits ihre zu Fernsehbildern zentrifugierte Liebes-geschichte, die sich freilich erst in der nächsten Folge wird entfalten dürfen.
„Und Natalie, das geb ich dir noch mit aufn Weg, ist jetzt gerade auf dem Arbeitsamt.“

"Benedictus qui venit in nomine Domini."
Von allen Seiten war die Lade bewehrt mit schweren eisernen Bändern gegen die Seeräuber und gegen die Reliquiendiebe.
„In diesem hölzernen Gehäus, meine Schwestern, liegen die
Gebeine der weisen Könige Kaspar, Melchior und Balthasar leibhaftig."
"Hosianna !"


Als ich meinem Laptop eingebe, was Schwiegermama mir diktiert hat, legen sich mir zwei Hände auf die Schultern.
Kein Wort von mir über den Besuch bei ihrer Mutter, dafür viele Worte über meinen Besuch beim Sender Wieheißterdochgleich und wie ich mich ins Studio geschlichen habe heute nachmittag wo sie grade abgedreht haben, was ich ihnen gestern geliefert habe das ist ein Erfüllungsgefühl kannst du dir gar nicht vorstellen wenn du miterleben darfst wie sich dein Text da umsetzt in Fleisch und Leben und Äktschn.
„Versteh schon. Und jetzt brauchen sie Futter für morgen.“
Kuss in den Nacken.
„Ich bin ja so stolz auf dich. Die haben da bis dato rumgewerkelt mit dem hinterletzten Schrott, und jetzt kommt mein König des Lichts und steckt ihnen ein Licht auf, sein Licht ! Und liefert ihnen Hochkarätiges und wir brauchen uns keinen Kopf machen mehr machen über unser Auskommen.“
Wir umarmen uns und halten uns lange umklammert. Oder umschlungen ? Nein, umklammert ist schon das richtige Wort, denn darin enthalten ist diese gewisse Angstschwingung von Schimpansen- und anderen Tierkindern. Einschränken aufs Nötigste. Das Auto steht zur Disposition, ist schon so gut wie abgemeldet.Und unsere Wohnung, schau dich doch bloß um, ist viel zu überdimensional. Und schaukeln uns dabei. Gehören nun nicht auch noch Tränen zu einer solchen Szene ?
Tränen, sowas von unangebracht ( trotzdem rinnen sie bei Natalie, ich tupfe sie ab ) ! Bei uns heißt es ab sofort kühl nüchtern kalkulieren und Schwiegermama wohnt ohnehin viel zu großräumig, erinnre dich bloß wie sie immer lamentiert wer da noch durchkommen soll mit dem Reine-machen. Wir doch, wir ! wenn wir uns bei ihr einlogieren. Vorüber-gehend. Ganz vorübergehend. Es gibt, Natalie, doch auch ein Leben jen-seits von Chiffon und Wellness-Farmen. Denn siehe, fortan trägt mein Schreibwerk uns bergan und wenn die Serie erst sich verkauft ins Ausland und Zweit- und Drittrechte auflaufen und eine vierte, fünfte Staffel spruchreif wird…
Sie schenkt mir ihr aufstäubendes Lachen. A conto gewissermaßen.
A conto auf das Durchmustern unseres Hausstands, zu dem Natalie so-gleich aufruft. Das abgegriffene Wort von der Chance des Neuanfangs via Wegschmeißen nimmt sie kühn in den Mund, aber schon beim ersten Durchgang stoßen die nach Abfallkandidaten suchenden Hände auf lauter Dinge, auf denen unsichtbarer Zettel kleben DAVON TRENNE ICH MICH AUF KEINEN FALL und schon zucken die Hände zurück und weiter zum nächsten Wusthaufen AUF KEINEN FALL.

Ich beobachte bei Natalie die selbe gespaltene Gestik.Wir lachen uns beide ( sie aufstäubend ) in gemeinsame Tapferkeit. Sie geht darin voran und gibt sämtliche Jahrgänge ihrer Zeitschrift preis. Sämtliche ! Sich dabei in Angriffswut schnatternd mit weißt du Frauenjournale sind sowieso das flüchstigste, was sich denken lässt wenn du ein halbes Jahr nach Erscheinen ein Heft aufschlägt ist alles verweht wie von vor-vorgestern egal ob Frisuren ob Handtaschen und zwei Jahre später erregts bloß noch Lachreiz. Frauenjournale sind die hohe Schule der Vergänglichkeit - nein hohe kann wieder weg, das ergibt sich einfach zwingend aus der Zielgruppe an die Natalie sich da vergeuden musste. Des Weibes Blüte ist flüchtiger denn Staub auf den Flügeln des Tagfalters. Wer hat das gleich wieder gesagt, Mallarmé oder Li-Taipeh ? Du dagegen du machst mit deinen kompletten Jahrgängen von THEATER HEUTE dem Antiquar garantiert eine Riesenfreude ( die betrachtet sie also auch schon als aussortiert ) Widerrede ? Bei jedem von den Ge-schäftigen, den Trapplern, den Wuslern sah mans an der Flattrigkeit, mit der er seine Satteltaschen festzurrte, mit der er seine Mamelucken antrieb, dass es ihn fort trieb aus der Behausung in der er schon zu lange Zeit seines Lebens hingebracht hatte.
Keine Widerrede.
So springt die Razzia weiter zu den Venylplatten sieh dir an wie viel laufende Meter die abgeben und dann überschlag mal wie viel Gewicht da rauskommt erinnerst du noch wie bleischwer die schon waren wie wir eingezogen sind. Hinwiederum, Natalie : Venylplatten haben noch immer ihre Gemeinde. Erst letzte Woche hörte ich Nicolas Harnoncourt in einem Interview sagen, dass ihr seidiger Klang ein bewahrenswertes Mysterium.
Also doch Widerrede. Meinerseits.
Damit ist der Fall zur Chefsache geworden hast du vergessen Liebster wie die Dinger ständig aneinander geleimt waren von ihrer speckigen Zelluloid-Laminierung ? Die sich trotzdem überall zer-setzte und genau wie diese alberne Papier-Zwischentüte die schon beim ersten Auflegen immer abhanden kam. Und Natalie zieht, und die Folien kleben, um ihr recht zu geben,von jahrelanger Wärme verschmolzen zu einem Gallertwerk von fünfzigerjahre Plaste, Adenauer-Schlabber, und eine ganze Reihe Ver-gessener, nie mehr Gehörter poltert schwerge-wichtig herab, ihre Papp-Klappen weit aufreißend, die schwarzen Schei-ben rollen tückisch aus ihnen hervor und über den Spannteppich, ihre Rillen mit Staub füllend wie ehedem. Schau dir das an, Liebster ! Sich von dieser Sippschaft trennen, das ist Verjüngung, das ist Aufbruch !
Unter aufstäubendem Gelächter.
Keiner gestand es den andern ein, aber alle überstürzten sich, mit ihren Kamelen und Lasttieren schleunigst vor diesen anderen zum Tor hinaus zu sein. Ich trage die Venylplatten ab, Schicht um Schicht, wie Schiefer-platten aus einem Bergwerk. In den Stollen die ich freilege hängen sich mir immer dichtere Spinnwebschleier in den Weg, Vorhänge von girlan-dig schwabbelnden Spinnwebschleiern, und heften sich mir als graue Lianen an die Brillengläser.
Die ganze Zeit lang die wir hier hausten haben sie hinterrücks meine Besitztümer berankt, verfremdet bis zum Nichtwiedererkennen. So wie diese lederne Reisetasche, mehrfach gefaltet und gestaucht, ohne Trage-griffe. Welcher Urgroßvater hat sie wohl eben deshalb da oben vergessen, sinniere ich, während ich sie über die Trittleiter hinuntertrage, unterm anderen Arm einen Stoß Schallplatten. Ich lege sie auf den Teppichboden, um nach ihrem Schloß zu suchen.Als ich die mannigfachen Lagen Spinn-websträhnen von ihr abzupfe, entdecke ich, dass sie gar kein Schloß hat.
Denn sie ist keine Reisetasche. Sie ist der König des Lichts.
Unter den Spinnwebschichten, den Spinnwebgardinen, die ich ihm von Gesicht und Bart und Kaftan lese, strömt Vergessenes wieder hervor : der Duft von Leder, aber auch Zimt, das Aroma von Nelken und Büffeln.
„Ist der schön. Ist der würdig.“
Ich habe Natalie nicht kommen hören. Sie hat sich in ihrem Zimmer wie ich dem Aussortieren hingegeben.
„Ich hätte dir schon lange gestehen sollen …“
Sie zieht tief seinen Duft ein.
„Er hat mich überfallen mit der Begründung, ich wär sein Na-mens-vetter und der letzte an den er sich wenden kann“ souffliere ich von der Seite her wie in Fremdenführer, der sich damit abfinden muss, dass auf ihn nicht mehr gehört wird, weil sein Touristenhäuflein berauscht ganz anderen Zielen zustrebt als den vorher ausgesuchten.
Natalies Ohren sind zugeklappt für mich. Sie, die Aufmerksame, ist auf einmal jenseits der Ansprechbarkeit. Natalie – ich ertappe mich dabei , dass ich ein Wort aus dem Sprachschatz mittelmäßiger Autoren der 1920er Jahre denke das ich noch nie verwendet habe : Natalie ist verklärt.
"In dem da trittst du dir selber gegenüber. König des Lichts“.
"Ich trete mir - ? Nochmal."
"Du beugst dich über den Brunnenrand des Gegenwärtigen und darfst hinunter schauen in die Tiefe der Zeiten.“
Woher nimmt sie nur solche Sätze.In ihrer Frauenzeitschrift hätte sie die nie und nimmer unterbringen können zwischen Chiffon und Wellness. Und dabei streichelt sie ihn. Wie das Baby, das wir nie hatten.Und wenn sie ihn sich nun an ihre Brust legt, sehe ich ihn auf einmal neu : als unsern Erstgeborenen.
„Und von da unten“ – aus der Tiefe der Zeiten, meint sie doch wohl – „schaut dir etwas entgegen, das du nicht als dein eignes Gesicht zu erkennen vermagst."
Und kost seine ledrige Wange. Und Hund und Katz, die ihn vordem zerfleischen wollten ( obwohl er kein Fleisch mehr hat ) nehmen links und rechts von uns Platz wie Kerzenständer ( so symmetrisch, wie Natalie es mir immer verbietet ) und betrachten ebenfalls verklärten Blicks, wie sie ihn auf den Knien wiegt. Wird hier, anderthalb Wochen vorgezogen, bereits die Krippe von Bethlehem zelebriert ? Natalie, ausnüchtern! Der da ist doch nur eine Mumie, eine Vogelscheuche, ein Luftikus, der nicht zu fassen ist. Du kannst ihn mit Fug auch Scharlatan nen-nen. Bedenk allein die Chose mit seinem Alter, das sich nicht zusammenreimen läßt.
„Rechne doch bitte mal überschlagsweise nach.Wenn dieser angebliche Melchior ums Jahr eins, ich meine jetzt Christi Ge-burt, wenn er da, nur um mal von einer Zahl auszugehen, wenn er da fünfzig war, dann hat er doch spätestens im Jahr hundert schon keine Gleichaltrigen mehr um sich gehabt und keine Ver-trauten.Warum lässt er sich dann erst jetzt hier blicken ?“
„Bei dir, Liebster. Ausgesucht bei dir ! Weil die Melchiors so rar sind unter der heutigen Menschheit.“
„Warum nicht bei einem Balthasar ! Einem Kaspar. Die sind doch genauso mit dieser heiligen Anekdote verbandelt. Und von denen dürften doch einige mehr aufzutreiben sein unter der heutigen Menschheit“.
„Du bemerkst hoffentlich, wie du dich in Unlogischkeiten verstrickst, die alle weit an seinem eigentlichen Wesen vorbei zielen“.
Unlogischkeiten, Natalie, hätte dir die Schlussredaktion nicht durch-gehen lassen.Und erst das eigentliche Wesen ! Wie stellst du’s an das überhaupt zu erschmecken nach nur drei Minuten Bekanntschaft - dein ganzer Satz gehört gestrichen und durch den einzig hier angebrachten Fragesatz ersetzt : warum hat der da nicht einen schlichten Karlheinz unterwandert ? Einer mit einem so abgesicherten Allerweltsnamen läßt doch auch ein gesichertes Einkommen erwarten und dito Wohnver-hältnisse, damit er sich einen König des Lichts auch leisten kann.
“Es hat nie einen König Karlheinz gegeben, Liebster. Was von mit denen zu erwarten ist, das hab ich dir doch ein für allemal dargelegt.“
Immer wenn sie mich Liebster nennt…
“Er hat sich dir offenbart und keinem anderen auf dem Erdkreis, weil er ein Geheimnis trägt , das nur ausloten kann, wer selber ein König des Lichts ist.“
Eine wuchtige Aussage. Ich muss sie mehrfach in meinem Kopf hin- und herwenden.Aber -
„Dann soll er endlich rausrücken.Mit dem Geheimnis.“
Wenn es schon allein mir zugedacht, an mich quasi adressiert ist auf dem weiten Erdkreis. Stattdessen hat er mich kaltschnäuzig adoptiert.Mit der dickfelligen Rücksichtslosigkeit, wie sie sonst nur Straßenhunden eigen ist in vorteilhaft erwärmten, aber rechtsunsicheren Urlaubsländern. Heben ein Pfötchen zierlich angewinkelt hoch, die Straßenköter, und mimen sehen Sie doch Sahib wie aufgeschmissen auf mich allein gestellt ich bin. Sie sind der letzte an den ich mich wenden kann. Schleudre, tumber Tourist, auf einen solchen Schmierenkomödianten den dicksten erreichbaren Kieselstein und flieh.
Flieh !
„Du überanstrengst ihn auf der ganzen Linie. Du siehst doch, er ist am Ende.“
„Eben ! Das war sein erster Satz an mich ! Für einen, der am Ende ist, hat er aber meine Duldsamkeit schon denkbar robust in Anspruch genommen.“
„Du bist platt blasphemisch, Liebster.Wo er grade dich auserwählt hat, das bedenk mal, ausgerechnet dich ! Nach zwanzig Jahrhunderten, damit er endlich wo seinen Frieden findet.“
Ihn dabei mit dem Unterarm stützend wie einen Säugling. Dabei ist sie gar nicht säuglingskundig : drei Fehlgeburten, aber kein Baby hingebreitet auf ihre Oberschenkel, hat er nun auch noch die Gattin des Auserwählten vereinnahmt. Und auch den Hund, der dazu schweifwedelt mit der aufgeräumtesten Haustiermiene, als hätte er ihm niemals hechelnd nach-gestellt. Und auch die Katze macht ihm friedlichst die Aufwartung, schnurrt ihm was, dass es klingt als, als sängen in ihrem Inneren ostkirch-liche Mönche Choräle. Natalie läßt ihren Zeigefinger auf seinem Nasen-rücken entlang gleiten, haucht dazu sieh doch nur wie assyrisch, an seinen bronzegekerbten Stirnfalten, zieht eine Linie über seine geschlossenen Lider und sieh doch nur diese kunstreichen Stickereien an seinem Gewand. Sieh doch nur hier und sieh doch nur dort, sie macht alle Entdeckungen noch einmal, die ich bereits selber gemacht habe.
Aber eben allein für mich allein in aller verhuschten Heimlichkeit, immer gewärtig gestellt zu werden von Passanten, Hund, Katz, Natalie. Nun aber ertappe ich mich dabei, wie ich ( verlassen sogar von der Eifersucht , die mich eben noch zu überwältigen schien ) zwischen den Tieren auf dem Estrich hocke, staunender Zuschauer unter staunenden Zuschauern, Neben-Figur eines Thron-Rituals und begaffen darf, wie Natalie das Geheimnisumrauschte des Fremdlings in Szene setzt. Nun ist sie mit ihrem Finger an seinem rechten Ohr angelangt und dem abgeris-senen Ohrläppchen.Irritiert überprüft sie das andere Ohr und ertastet daran das goldenen Sterngehänge. Das Metall beliebt, zaubrisch zu klingeln.
„Warum hat er im anderen Ohr keins ? Warum hat er da nicht einmal ein Ohr ?“
„Weil Räuber es ihm abgeschnitten haben.“
„Woher du so was Grausiges bloß nimmst !“
Ich nehme es nicht, es schiebt sich von ich-weiß-nicht-woher in meinen Kopf. „Wir donnern ihm einen Felsbrocken über" hat der eine Räuber vorher noch zum anderen Räuber gesagt. Und "woher einen Felsbrocken nehmen, mitten im Wüstensand“ hat der erste den zweiten Räuber gefragt. „Wir machen selber den Felsbrocken und springen ihm alle drei zugleich auf den Schädel“ hat ein dritter Räuber sich eingemischt, denn als zünftige Wüstenräuber waren sie zu dritt, weil die Dreizahl geheiligt ist, und „zuuuugleich !" hat er dann gerufen.Und "Zuuugleiiiich!!!“ haben sie schließlich alle zusammen gebrüllt , unter Gelächter. Und dann sind sie auf ihn drauf gesprungen.
Bilde ich mirs ein, dass eben jetzt sein Schädel unter dem ledernen Burnus noch einmal davon erbebt ?
"Und jetzt ihm die Ohren abhacken ,und fort."
Es war aber nun an dem, dass sie mit ihrem „Zugleich !“-Sprung ihm den Kopf dermaßen tief in den Sandboden gerammt hatten, dass die Sterne im andern Ohr ihnen unerreichbar geworden waren. So mussten sie es dabei belassen, das erreichbare Ohr abzusäbeln und mit dieser Beute davon zu ziehen, in welcher das halbierte Sternbild glänzte und klingelte.
„Wie springst du mit ihm um in deiner blutrünstigen Fantasie , du Unhold !“
Meine Fantasie springt nicht , sie liegt ganz still wie die Katze neben mir, verwundert über das was sich da einstellt ohne dass sie sich zu regen braucht. Aber auch gehälftet verwies das Geschmeide auf das schönste Sternbild am Himmelsbogen und huldigte ihm in seiner Glorie, das Geteilte dem Ganzen. Es führte nicht nur zum Geheimnis hin und zum Wunder, es war selbst Teil des Geheimnisses und des Wunders. Drei große Glühsterne in der Mitte, die ausschwingen in einer Spirale. Als ob das Gesicht einer unbekannten Gottheit aus neun Augen auf einen Kos-mos herablächelte, den sie erst erschaffen will. Wie sonst hätte dieses Himmelsgebild es vermocht , die Bewohner erhabener Paläste in Persien, Assyrien, hinter dem Karakorum fort zu locken auf eine ungewisse Reise mit Hunger und Durst ?
Als hätte Natalie das gehört, betastet sie ihn, seinen Leib, fasst in die Falten : seit Urzeiten, ertastet sie, ist der unterernährt. Als ob sie das Baby, das wir nie hatten, abklopft nach Masern oder Darmverstopfung und instinktsicher zu einer Diagnose kommt und von da zur Abhilfe. Gleich wird sie wieder Anklage gegen mich erheben. Und ich, um ihr zuvor zu kommen, ertappe mich bei dem Ausruf :
„Aber ich hab mir doch die Mühe gemacht originale Speisen aufzutreiben für ihn ! Eins zu eins authentisch wie aus dem alten Orient.“
„Dann servier sie ihm gefälligst !“
„Aber hat sie doch verschmäht. Und ich wollte nicht mit ansehn, wie Hund und Katz sie ihm vor dem Mund – „
Falsches Zeugnis wider Hund und Katz ! Ich selbst wars doch, der Affenbrot und Matzen weggeknabbert hat – verloren in Gegrübel über ihn, gewiss, als könnte mich das Herumkauen auf dem Affenbrot in sein Geheimnis einführen.Aber weggeknabbert ist nun mal weggeknabbert. Umso eilfertiger bin ich nun zur Stelle mit Joghurt, Fleischsalat in der Folie, eingeschweißtem Edamer und tiefgefrorenen Erdbeeren. Natalie erwärmt die Beeren einzeln in ihrem Mund und schiebt sie ihm sorgsam, mit einem Joghurt-Häubchen versehen, in den Mund, den ich zwischen den Bartsträhnen bis jetzt nicht entdeckt habe.
„Na siehst du ! Er hat Appetit !“
Ihr aufstäubendes Lachen.
„Schau doch mit welchem Behagen er mümmelt !“
Lächelnd, mit geschlossenen Lidern schleckt er ihr von den Fingern. Wo verstaut er das nur bloß, was er da schleckt. Krempel doch mal einen Ärmel hoch, Natalie, fass in ihn rein - nur Mut, bis zum Ellenbogen ! Und deine Finger werden gewahr werden, er hat gar keine Innereien. Er ist ein leerer Koffer. Ein umhergeisterndes Vakuum.
„Dem sein Inneres birgt etwas Edleres als Speiseröhre und Mastdarm.“
Und nun, gegessen habend, abgefüttert, abgestillt, verzutzelt er zu einem ledernen Ornament, das an Natalie hinunter ringelt von den Wan-gen über den Hals zwischen ihren Brüsten und über die Schenkel ringelt bis zu den Zehen. Sogar Hund und Katz schmiegen sich zu ihrer beider Füße.
Nur ich sitze der erhabenen Gruppe allein gegenüber, ausgesperrt und suche nach Einreden gegen das, was sich da abspielt.
“Aber Natalie, wenn wir nun zu deiner Mutter ziehen – der ist er keinesfalls zumutbar – sie muss schon uns beide aufnehmen in ihre kleine Wohnung.Und dazu Hund und Katz !“
„Es ist doch keine Frage, dass wir uns nicht mehr von ihm trennen.“
Und nach einer Weile, in der sie ihn krault :“Nicht mehr von ihm trennen dürfen.“
Mir dämmert, warum ich ihn so zwanghaft wie ausdauernd versteckt habe vor Natalie.Um dieses Techtelmechtel nicht mit ansehen müssen, das sich jetzt entsponnen hat zwischen den beiden.
„Betrachten wir ihn vielmehr als unser edelstes Umzugsgut.“
Die Trickpuppe, die mir eine Diebesbande aus dem tiefsten Balkan in den Arm geworfen hat um mich auszurauben.Die gesamte Barschaft hat mich das gekostet, Natalie, und den Ausweis des Schriftstellerverbandes oben-drein. Sie beginnt, gedankenverloren aber stetig, ihn sachte zusammen zu legen, als hätte er Scharniere.
„Komm, wir verpacken ihn in eine würdige Umhüllung.“
„Am besten gleich in dein Hochzeitskleid.“
Es ist die bare Eifersucht ( nun also doch ) die mir das souffliert. Hat sie nicht eben gepredigt vom großherzigen Sich-Trennen von unnützem Plunder ? Von Theater heute und Schnittmusterbögen aus dem vorigen Jahrhundert. Das hat doch erst recht zu gelten ( setze ich dreist hinzu ) für leere Königshüllen aus dem vorvorigen Jahrtausend.
„Aber Liebster ! Schau, er lehrt uns doch gerade, wie man sich sinnvoll einschränkt.“
Und legt ihn ( behutsam ! wie behutsam ! ) in eine Hutschachtel, aus der sie vorher vergilbte Schnittmüsterbögen einer vergilbten Tante he-rausgeschaufelt hat.Die Katze lagert sich aufgeräumt schnurrend auf dem Deckel . Ein Weiberhaushalt, ein Weiberregiment. Aber auch der Hund, einziger Mann neben mir, platziert sich dienstbeflissen vor der Schachtel, als hätte er Order, den König des Lichts zu bewachen. Gegen mich ?
Die Stadt, in der er König gewesen, war lang schon verweht als er nach unzählungen Abirrungen in sie zurückkehrte. Den Palast, in dem er König gewesen, fand er von einer mächtigen Düne bedeckt und es gelang ihm nicht mehr, die Schritte zu zählen, Düne aufwärts und Düne abwärts die er einst gebraucht hatte, um geraden Wegs vom Schlafgemach in den Thronsaal zu gelangen und so seinen Palast wenigstens in der Erinnerung wieder erstehen zu lassen.
In dieser Nacht schlafen wir wieder miteinander. Unter dem amischen Quilt. Natalies Hände duften so heftig nach ihm, dass mir schwindelt und ich vorzeitig weggschlummere. Ehe ich mich von ihr löse, flüstert sie mir ins Ohr : “Er hat dich auserwählt und keinen anderen, um bei dir in Würde zu sterben.“
Und zupft mir dabei am Ohrläppchen, als trüge auch ich ein goldenes Sternengehänge.
“Wenn er sich jetzt am Ende fühlt, dann könnte das auch bedeuten : das Ende der Welt ist nahe.“
Von seiner Stadt ragte einzig noch das Westtor aus dem Sand, als wollte es ihn auffordern durch sie die verschwundene Kapitale seines Reiches wieder zu verlassen. Oder war es das Osttor, oder das Südtor das ihn einlud, sie erneut zu betreten und doch noch Spuren der Seinigen zu entdecken ?
Viele Leute mit gespreizten Zollstöcken gehen nun bei uns aus und ein.Wohnungssuchende nehmen Maß, Handwerker nehmen Maß, Makler nehmen Schäden auf, zur Nachmietung Unentschlossene nehmen noch einmal Maß, allesamt vom Hund verbellt und von der Katze verachtet. So gelingt es mir, die Hutschachtel unbemerkt vom obersten Regal herunter zu fingern. In der U-Bahn sitze ich mit der Schachtel auf den Knien, darauf den Fahrschein gelegt, und auf den Fahrschein den Finger. Nichts wird jetzt noch den Überrumplungen durch krause Schicksalszufälle überlassen.Als sich kein Kontrolleur zeigt, nehme ich es als günstiges Omen für das weitere Vorgehen. Ich werde den, der da drin hinter der alten Pappe schläft, nicht stillos aussetzen, sondern ihn endgültig zu den drei Königen der Weihnachtsmarktkrippe gesellen. Sollen die ihn mit-nehmen als Reisegepäck wenn sie weiterziehen, wohin auch immer. Geistern doch die Legenden von einem vierten König fast so lang schon durch die Zeiten wie er selber geistert. Die von einem handeln, der der ewige Zuspätkömmling war. Anfangs hat er die Abreise verpasst, weil sich eine Wolke vor das Sternbild schob, weil er seine sieben Töchter mit den Nachbar-Sultanen verheiraten musste, weil er den Stall von Beth-lehem erst erreichte als Josef den Esel mit Frau und Kind längst nach Ägypten getrieben hatte und den Ochsen geschlachtet, weil er der einzige war, der gehorsam zum Rapport bei Herodes zurück nach Jerusalem reiste und weil er dort angelangt, nichts zu berichten wußte, von Herodes ins Verlies geworfen und vergessen wurde bei steinernem Brot und Ratten-schwänzen. Was zur Folge hatte, dass er erst auf dem Hügel Golgatha wieder zur Stelle war und insofern zur rechten Zeit, als Jesus hier sollte gekreuzigt werden. Freilich um den Preis, dass er sich hier in der Rolle des linken Schächers wiederfand und damit immerhin zu guter Letzt noch in den Legendenkreis einging. Ich freilich werde mit dem meinigen, dem dritten König, glimpflicher verfahren, werde ihm zur Wegzehrung und ein kleines Anlauf-Kapital beigeben, nicht in Schekel oder Dinar, sondern in korrekt heutiger Währung. Dazu ein kurzangebundenes Ich hab getan für Sie was ich konnte. Glück auf den weiteren Weg und schon bin ich davon.
Abgewandten Gesichts.
Denn in einem letzten tränenunterstützten Sich-Umdrehen keimen all die verrufenen Überrumplungen, die ein Ende doch wieder zu einem Anfang werden lassen. Und danach werde ich nie, nie mehr einen Weih-nachtsmarkt betreten. Und nie mehr hören müssen dieses krächzige -
Vom Himmel hoch ihr Englein kommt !
Eia eia, susanni, susanni, susanni !“
Die Krippe ist nicht mehr da. Und mit ihr die drei Könige in den Ornaten aus Faschingsseide. Die Ponys traben ( linksherum, ewig links-herum ) jetzt um drei lebendige Könige in Ornaten aus Samtvorhän-gen. Du hast es lediglich mit einem Wechsel der Besetzung zu tun, nicht des Personals. Befehl an mich selber : bleib also bei dem, was du mit dir verabredet hast. Stell die Schachtel ins grüngrüne Kunstgras, und ab mit dir.
Kommt singt und springt kommt pfeift und trombt !
Alleluja allelujah. Von Jesus singt und Maria.
Ich gehorche mir, aber ertappe mich bei dem Gedanken : in der geschlossenen Schachtel wird er ersticken. Ersticken ? widerlege ich mich selbst, er, der schon seit zweitausend Jahren keinen Atem ausstößt ? Dass ich den Deckel abnehme ( begütige ich mich ) ist das mindeste, was sich ziemt. Und ihn ( handle ich mir noch ab ) dann wenigstens ein klein wenig auseinander falten, damit die anderen wahrnehmen als ihnen zugedacht und nicht bloß als Knautschbalg.
Bringt Lauten, Harfen, Geigen mit.
Alleluja allelujua. Von Jesus singt und Maria.
Als ich den Deckel lüfte, schaut er mir hellwach entgegen. Mit einem funkelnden scharfen Blick, wie er ihn bislang noch nicht auf mich gerichtet hat.
„Du setzt mich also jetzt aus, Bruder ?“
Ich habe mir keine Ausrede zurechtgelegt, an dieser Stelle weist meine Planung ein Loch auf. Um so bockiger führe ich aus , was ich mir befoh-len habe, nehme ihn aus der Schachtel wie einen alten Wintermantel und falte ihn auseinander .
„Du verstößt mich ?“
„Ihre Anwesenheit ist zu kräftezehrend. Sie zermürbt meine Existenz.“
„Weil es die falsche ist.“
„Ich bin recht gut darin zurecht gekommen bevor Sie aufgetaucht
sind .“
„Wenn du mich von dir tust, werden andere erstehen die dir offen-baren, welche Wege dir künftig bestimmt sind.“
Wie dunkel er sich ausdrückt, immer noch, schon wieder.In meinem Kopf knülle ich Wörter zurecht wie Suspektbold, Obskurantling, Okkult-morchel. Knülle wie nassen schweren Schnee zu Wurfgeschossen. Aber ich werfe nicht. Ich bin müde geworden.
Ich bin seiner zu müde geworden und belasse es bei einer knappen Gegenfrage :
„Was denn für andre ?“
„Tiere.Auch ihnen ist Sprache gegeben.“
„In meinem Haushalt gibt es weder Elefanten noch Schakale.“
„Aber einen Hund.“
„Schnauzerbastarde kommen in der Bibel nicht vor.“
Und als ich ihm einen Schein als Wegzehrung zwischen die Finger stecke, die leicht fransig sind, weil die Katze sie benagt hat, wird geschrien :
„Hej, kuckt mal den da !“
Die drei leibhaftigen Könige haben uns umringt.
„Hej, der hat doch genau die richtig taffen Klamotten an für uns !"
Diskante junge Stimmen, denen man die Pickel anhört, die mit brauner und schwarzer Schminke zugeschmiert sind.
„Hej, der soll bei uns mitmachen !“
Schlecht und recht Kostümierte. Da ein kariertes Kissen als Turban, da ein Fransenschal als Bauchbinde sind noch die ed leren Stücke.
„Schämt ihr euch nicht für den Mummenschanz den ihr da veran-staltet.“
Sie kennen das Wort nicht, sie kennen vielleicht überhaupt so lange Hauptwörter nicht, sie kauen fremdelnd darauf herum und spucken es mit einem hej ! wieder aus : Muhmenschwanz , hej, wasndas. Jeder ihrer kärglichen Sätze hält sich an einem hej fest , als ob sie mit diesem Signal ihre Meerschweinchen anfeuern wollten, im Kreis zu rennen. Ich bin gesonnen, ihnen nicht das Meerschweinchen zu machen.
„Hej Mann, wir sinn Sternsinger ! Sieht doch jeder, hej.“
Sternsinger vierzehn Tage vor Heiligabend. Ich bin lange schon kein Kirchensteuerzahler mehr, aber dennoch bleibt in meinem inneren Ritenkalender notiert, dass ein zünftiger Sternsinger erst nach Epiphanias erscheint, wonach das Fest ja auch benannt ist, und nicht schon in der Vorweihnachtszeit umher streunt.
„Hej Leute, der ist vonner Kirche. Das is son Weihrauchbeamter, hej.“
Und das mir.
„Ich will den König Melchior sprechen ! Wirds bald“.
Nicht einmal ein hej! bringen sie mehr heraus. Sie erfassen nicht, nach wem ich gefragt habe, brummeln betreten etwas wie Milchohrwassolln-dassein, und ich schaue mit einem Was-sagst-du-dazu-Blick den König des Lichts an und nehme wahr, dass in seiner Hand nicht mehr mein Geldschein liegt.
Dicht um ihn gedrängt die HejSinger.
„Welcher von euch hat mein Geld genommen ?“
Nun stehen sie noch enger. Er verschwindet schier zwischen ihnen. Ihre Bischofsstäbe halten sie wie Lanzen gefasst. Es wird mir bewusst, dass es silbern bronzierte Prügel sind, zum Nahkampf geeignet. Mit einem abschließenden Falsche Fuffziger seid ihr greife ich mir den König des Lichts, will ihn wieder falten, ihn wieder versorgen in seiner Hut-schachtel.
„Hej, habt ihr trouble mit dem da?“
Das gemeinschaftsstiftende hej !
Es kommt von einem ,der eben dazu getreten ist. Sein Hund trägt noch immer das rote Tuch um den Hals, daran erkenne ich sie beide.
„Der, das isn total Abgepiefter.“
Das geht auf mich.
“Der is einer von denen ohne Herz ! Ohne Herz, hej, vorm Christfest. Wasn Fest is von Menschenliebe“.
Der König windet sich in meiner Hand. Zum erstenmal spüre ich, dass er nicht nur ledrig sein kann, sondern dass sich in ihm etwas wie Sehnen spreizen, die sich gegen mich wehren.
„Den kenn ich ewig und drei Tage schon, den. Wenns nach dem geht können wir alle übern Jordan gehen und erfrieren, hej.“
"Lass mich“ herrscht der König des Lichts mich an „du hast dich doch von mir losgesagt."
Und dann zu den Verkleideten, kalt bestimmt : „Ich will mit euch ziehen."
Ihr grelles hej ! kippt um in Triumphgelächter.Und der Obdachlose leistet sich noch einen Extraspaß und hetzt sein Geschöpf Gottes hinter mir her, das sich ein pflichtschuldiges Kläffen abzwingt.
Ich bemühe mich, nicht zu spurten, aber einen würdevollen Abgang habe ich nicht .
Singt Fried den Menschen weit und breit
Eia eia, susanni, susanni, susanni !
Ich registriere noch, wie sie sich zu einem Zug formieren und ihn an die Spitze stellen. Sie haben nicht einmal einen Stern gehabt bis jetzt, nun steht ihnen gar das Sternbild in seinem Ohr zu Gebot. Soll es ihnen doch. Solls doch. Er ist mir zugelaufen, jetzt ist er denen da zugelaufen Er hat mir nicht gehört und ich nicht ihm. Erleichtert steigte ich die Stufen zur U-Bahnstation hinunter.
Aber mit Eiswasser in den Schuhen.

Die Reisenden

Plötzlich wurde die Nacht zerrissen von Getrappel, Gewusel, Geschäftigkeit. Keiner gestand es dem andern ein, aber alle überstürzten sich, schleunigst vor den anderen zum Tor hinaus zu sein. Wer kommt mit, wer bleibt da ? Du Wesir bleibst da mit deinem Mundgeruch den ich nur ertrug weil ich dich von meinem Vater geerbt habe der ihn auch schon nicht ertragen hat, aber du Wasserpfeife kommst mit. Du fetter Hofdichter kommst mit weil ich dich zum Stallknecht ernenne und du deine schlechten Verse an den Pferdeäpfeln abbüßen wirst, aber du Armsessel bleibst da…
Fortgehen ist immer auch das erleichternde Beenden von Verträgen, bei denen einen erstaunt dass sie überhaupt noch eingehalten worden sind, ohne dass mans bemerkte. Abreise bedeutet das beglückende Adieu an alte Verranntheiten, ans Überzählige, in dem man festgewachsen wie in einer verhockt, viel zu zahlreichen Verwandtschaft. Die nun, da man beim Einpacken ist, dumpfbeutlig um einen herumsteht und beobachtet, wie die Eisenbahnwaggons sich nach und nach füllen ohne zu begreifen, dass diese abfahren werden, bevor die Verwandten eingestiegen sind.
Keiner von denen, die die Reise nicht mit angetreten hatten , kam sich benachteiligt vor. Sie verstanden sich als die, welche die Beschwer des Fortge-hens nicht auf sich nehmen mussten, und nicht als Zurück-gelassene und Verlassene, sie hatten nur schlichtweg das Sternbild nicht gesehen. Am Abend, nach dem Vollzug all der Aufkündigungen und Trennungen, treffen wir uns in der Küche, auf neutralem Boden und jeder zieht lachend eine Bilanz seiner heute vollbrachten Wegwerftaten dass ich das über mich gebracht habe ! Dass ich nicht lange schon…
„Aber du wirst es erleben, Natalie : jedes Buch, das ich entsorge entsteht in meinem Kopf neu. Ich werfe drei Broschüren weg und zehn Leinenbände rattern mir dafür aus der Schreibmaschine, wenn wir erst eine neue Wohnung haben.“
Ihr aufstäubendes Lachen.
Die Leerflächen welche die Fortgereisten gerissen hatten,war in den ersten Tagen eine Wunde, in der Woche darauf nur noch ein Stuhl oder ein Bett, in auf dem sich niemand befand und nach wenigen Wochen hatten Hausgenossen, Nachbarn und Mägde, sogar die Konkubinen vergessen dass da jemand fehlte in ihrer Mitte. Neue Alltäglichkeiten, neue Hammelpreise, neue Missernten füllten die Gedächtnisse, neu begründete Feindschaften, Liebesromanzen und Umstürze stellten alles bisher Durchgestandene auf den Kopf und das hierauf allfällige Abschla-gen der Köpfe machte die Vergesser noch vergesslicher als sie es vordem schon waren.


„Du hast ihn doch“ forscht Natalie, als ihr aufstäubendes Gelächter für heute müde geworden ist „bestimmt sorgfältig für den Umzug vorbereitet ?“
Ihn, unser edelstes Umzugsgut.
Diese Frage war fällig, seitdem der Umzug uns umtreibt. Und ob ich habe ! Ich führe sie zu einem Behältnis das sie kennt seitdem sie mich kennt, denn ich habe es ihr in unserer allerersten Kennlernzeit vorgeführt, um mit dem Kind zu charmieren, das ich einmal gewesen bin ich beweise Ihnen, Fräulein Natalie, ich bin noch immer eins.
Und sie hat es mir geglaubt. Ein eislaufendes Mädchen ist darauf gedruckt, die Kanten sind brüchig und lassen viel Luft hinein und heraus.
„Wie schön, dass gerade deine Schlittschuhe dein Ausmisten überstan-den haben.“
Es waren nie Schlittschuhe da drin. Meine Eltern haben mir die Verpa-ckung als Gutschein auf den Geburtstagstisch gelegt, und danach das Füllen und Einlösen völlig vergessen. Ich bin trotzdem zum Eisläufer geworden, ich hab mich in die Kufen gelegt um dem aufgedruckten Mädchen zu imponieren. Mit den selben roten Fäustlingen, mit demselben Strickmützchen auf dem Kopf hab ich sie umkreist, und mit meinen Pirouetten und doppelten Rittbergers alle anderen Knaben ausgestochen.
Nicht nur die, die keine so roten Fäustlinge zu bieten hatten wie auf der Verpackung aufgedruckt.
„Und jetzt“ sie küßt mich „ hast du also ihn da drin gebettet.“
Sie klopft mit ihren Fingerspitzen auf den alten Karton. Grüßt sie damit den, den sie darinnen wähnt oder meine eingebildete Kindheit, oder beide ? Ich deute ihr mit der Handkante an : bis hierher, schau, bis hierher habe ich den Boden für unsern Gast mit Styroporflocken aufgeschüttet, wie man sie zu verwenden pflegt bei empfindlichen Elektronikgeräten beispielsweise oder Glasgefäßen als federnde Untermasse und darauf hab ich dann Kissen geschichtet als Abpolsterung nach allen Seiten hin um ihn zusätzlich noch eingewindelt mit meinen besten Wollschals.Und auch noch einem von dir, ich durfte doch, du weißt schon dem grünen aus Cashmere. Sie belohnt mich mit einem weiteren Kuss aufs Ohr. Und wenn’s, Natalie, bei unserer Übersiedlung noch so taifunig zugehen mag und die eine oder andere Kiste gottweißwelche Treppen hinunter rasselt – der König des Lichts wird nicht den leisesten Rempler zu dulden haben.
Requiescat !
Wo er doch schon ganze Jahrhunderte unbeschadet verschlafen hat, auf seinen Reisen.
„Im Mittelalter, weißt du„ belehre ich sie siebengescheit, „im Mittel-alter da waren die Heiligen drei Könige Patrone der Um-zieher geradezu und der Reisenden“.
Und ob sie das weiß. Sie hat darüber einmal geschrieben im Reiseteil, gesponsert vom Winzerverband Niederrhein.
„Kein Nest am Rhein von Basel hinunter bis Köln oder Cleve und Rotterdam“ hat sie damals gesagt zu mir“das nicht mit einem Gasthof gesegnet ist, der nach dir heißt.“
Da der Stern dahingegangen war auf seiner vorbestimmten Bahn und der Himmelsbogen sich ihnen nunmehr entleert bot und weisungslos, so blieb ihnen doch das Licht erhalten welches vom Gesicht des Kindes ausgegangen war und das in der Dunkelheit bei ihnen blieb obwohl das Kind selbst entfernt war auf Geheiß des Engels, der zu Joseph gespro-chen : zieh du mit den Deinen ins Ägypterland.Und flieh !
Kahl ist das geworden, was wir viele Jahre lang bei uns genannt haben.Unsere treuen altgedienten Gehilfen durch all die Jahre, die Regale und Schränke und Klemmrahmen sind ausquartiert, ihre Staubkonturen an den Wänden schauen uns fremd und gespenstrig an, wenn wir jetzt wie Versprengte auf dem Boden lagern, auf unsrer amischen Decke.
„Du, es ist ein erregendes Gefühl für mich grade beim Weggehn“ so Natalie beim Verzehren des letzten gemeinsamen Joghurts, “ dass ich da eine mythische Persönlichkeit weiß in unsrem Gepäck.“
Allein der Katzenkäfig steht noch als vertrautes Möbel zwischen uns mit der umzugsfertigen Katze darin ( die nimmts würdevoll gefaßt ) und dient als Tisch für das allerletzte Picknick in unsrer Behausung.
„Weil, das bedeutet einen enormen Impuls für unsre Zukunft. Er wird sich dafür revanchieren bei uns für das Gastliche was wir ihm angedeihen lassen.“
Natalie schiebt sich versonnen die letzten Kürbisschnitze aus dem Einweckglas in den Mund.
Keiner der drei Reisenden vergaß je wieder Mariens Hände und wie sie das Jesuskind gehalten hatten. Eher noch vergaßen sie das Kind und seine noch undeutlichen Züge als das Licht, das auf ihre Finger fiel und ihre Heimreise beleuchtete.
“Ich hab sogar das Gefühl irgendwie, er wird sowas wie Ver-antwortung übernehmen für uns, irgendwie. So wie sein Stern ihn damals selber geführt hat zum Erlöser.“
„Sag mal Natalie, du wirst mir ja noch richtiggehend religiös“.
Ihr aufstäubendes Lachen.
“Weil ich die Marx-Engels-Ausgabe weggeworfen habe ! “
Ach Natalie, du wirst doch dein Geschick nicht an einen Windbeutel hängen, der sein eigenes nichts ins Reine gebracht hat. Und warum hat ers nichts ins Reine gebracht ? Weil er, und das sage ich dir als Schriftsteller, weil er zweitausend Jahre lang keinen gefunden hat, der sich seiner angenommen hätte. Wenn du willst erbarmt.
Und zwar als Erzähler.
"Wie meinstn jetzt das, als Erzähler ?"
Weil seine Geschichte als Torso herumhängt im wohlbestellten Legendenreich. Nach verheißungsvollem Beginn: Da Jesus geboren war zu Bethlehem im jüdischen Lande, siehe, da kamen Weise vom Mor-genland und sprachen : Wo ist der neugeborene König der Juden ? Wir haben einen Stern gesehen und sind gekommen, ihn anzubeten.
Großer Auftritt aus dem Geheimnisdüsteren heraus, mit dem großar-tigsten Vortrab der nur denkbar ist : sieh, der Stern, den sie im Morgen-land gesehen hatten, ging vor ihnen hin.
Aber danach kein Mittelteil und kein Schluß, keine Coda, verstehst du, nicht einmal eine Moral oder ein fabula docet.
"Aber sie schaffen es doch schließlich in den Stall."
Der Stall ! Frauen ist der Stall immer gleich die Zentralachse an der Erzählung, weil der stimmungsvoll ausgestattet ist mit Ochs, Esel und warmem Heu.
„Aber erzähl mal die selbe Story mit Bullen und Schweinen, oder gar Truthühnern.“
Und eben dieses bukolische Dekor verpatzen die Angereisten, indem sie die sinnlostesten aller denkbaren Geschenke auffahren : Gold, Weih-rauch und Myrrhe, um dann für immer verschwinden, als wären sie nie da gewesen. Nicht nur aus dem Bericht des Matthäus, der als einziger von ihnen gehört hat, sondern aus der ganzen Bibel, Apostelgeschichte und Apostelbriefe eingeschlossen. Stell dir vor, die Irrfahrten des Odysseus brächen schon nach dem allerersten Inseestechen ab, Othello machte sich davon bereits aus dem ersten Akt und das Publikum wäre geprellt um das Erwürgen der Desdemona. Als ich diese Überlegungen anstelle, räume ich bereits oben den Lift voll mit unseren letzten Kartons, Natalie räumt ihn unten leer. Kann einer ( sinniere ich in den Pausen zwischen Lift-voll-runter und Lift-leer-wieder-rauf ), der von einem Schreiber aus dem Tintenfass in die Zeilen gespritzt wird, sich damit abfinden ewig nur ein Klecks zu bleiben ? Wie soll er es verschmerzen, in seiner Vergessenheit und Abgelegtheit, all die anderen Schicksale an sich vorbei ziehen zu sehen, die, säuberlich zu Ende gebracht, ins Gedächtnis der Menschheit hinein erzählt wurden : das von Jesus zuvörderst samt seinen Aposteln, auch noch die beiden Schächer bekommen ihre in sich gerundeten Erzählpaketchen. Und sogar ( die Nachbarn packen am Lift mit an und beklagen unseren Wegzug ) um den kleinen Lazarus, ansonsten bloß an-gelegt als eckensteherischer Bruder zweier vorlauter Schwestern, wird eine herzanrührende Episode gesponnen Herr er stinkt schon denn er ist viertägig mit wundersamer Rückholung aus dem Totenreich und, weil das Erzählschiffchen nun einmal mirakulös in Fahrt geraten ist, wird dem Lazarus ( um mich bei den Nachbarn zu revanchieren, erfinde ich ein Ei-genheim, in dem wir uns nun ausbreiten werden ) eine nachbiblische Forsetzung draufgegeben von einem leibhaftigen Schiffchen, das ihn ohne Segel, Ruder und Steuermann übers Mittelmeer trägt in ein zweites und einem zweiten, nunmehr freilich unwiderruflichen Hinscheiden als Bischof in Gallien.
Als wir mit dem übervollen Auto ( Natalie hält den Katzenkäfig auf den Knien, der Hund murrt eingemauert im Kofferraum ) davonruckeln, ruckelt es auch in meinem Schreiberhirn. Das Auftauchen meines Königs des Lichts kann nur bedeuten : er vertraut mir an , daß ich seine Ge-schichte zu Ende bringen soll. Du bist der letzte an den ich mich wenden kann war doch die Botschaft, die einzige plausible Botschaft die von ihm kam, und die besagt : erzähl mich zu Ende.
Bring mich zum Finis und erlöse mich damit.
"Aber warum denn gleich erlösen !"

Das weiß ich nicht.Noch nicht.Wenn ich mich durchs Erstellen seiner Geschichte hindurch gearbeitet habe, werde ich es erfahren haben.Wenn wir unsere Siebensachen dem neuen Domizil entgegen befördern ( sechs Treppen hoch, kein Lift, keine hilfreichen Nachbarn ), bemerkt Natalie schon nicht mehr das Schlittschuhmädchen zwischen den Stehlampen, Hockern, Aktenordnern, Haartrocknern. Und sie wird ihn ( der nicht drin ist ) allmählich aus den Augen verlieren bis zum schließlichen Vergessen.
Erst habe ich seine Person fort geräumt, nun auch sein Phantom, er wird zerbröseln unter meinen Fingern zum Erzählstoff. Mein Namens-vetter wird der bloße Anlass für mich gewesen sein, ja nur der Vorwand, ein neues Licht in einem neuen König zu entzünden auf eigene Rechnung. Der Verschwundene wird das Objekt meines ersten Satzes sein, weiter nichts. Und schon vom zweiten Satz an werde ich selber zum Flößer meiner Rhapsodie, für die er mir ein paar Stämme in den Strom geworfen hat.
Ich klappe meinen Laptop auf einem Elektroherd auf, der nun nicht der unsrige ist, und mache mich ans Tippen.

Willkischken

Forst-Satan. Pieksige Bestie. Stachelscheusal.
Während des gesamten Umzugs hat sich kein Möbelstück derart wider-spenstig gebärdet wie dieses Monstrum, das ich nach endlich vollbrach-tem Wohnungswechsel nun noch als Zugabe treppauf zu expedieren habe. Dabei gehört es gar nicht zu unserem Hausstand, sondern zum Damenprogramm, und schon in der ersten Treppenkehre verspreizt es sich gehässig im Geländer wie ein Sträfling, der seine Verbringung auf die Galeere bis zum allerletzten hinaus zu zögern gewillt ist.
Und sich mir dabei überlegen zeigt , weil das Borstenscheusal mich mit seinem Meter achtzig oder neunzig hoch überragt und seiner reibeisernen Rinde gegen mei-nen Zugriff gewappnet ist.
Such ein recht stattliches Exemplar aus hat Natalie mir mit auf den Weg gegeben damits freundliche Stimmung erzeugt bei Mama zu unserm Einzug.
Sechs Treppen hoch Kampf, stachlige Gegenwehr, abgerissene Haut-fetzen. Im zweiten und dann noch mal im vierten Stock haben sich Be-wohner grimmig durch die Äste gearbeitet ohne die geringsten Hilfs-angebote, dafür mit einem vorwurfsvollen Sie führen sich vielleicht famos ein als neuer Mieter is ja total unfachmännisch was Sie da veranstalten.
Ich bin Schriftsteller, hören Sie, und kein Forstfacharbeiter ! Und endlich in der Schwie-germutterwohnung angelangt : kein weihnachts-friedlicher Empfang, kein Bestaunen des stattlichen Exemplars, kein mitleidsvolles Bepusten meiner lädierten Finger.Vielmehr beklagt die Hausherrin, dass ich ihren Flur, ja gar ihre sämtlichen Räume zuoberst-zuunterst vollgerammelt hätte ohne jedes erkennbare System mit deinen ! Siebensachen, als seien Möbel und Krimskrams ihrer Tochter nicht deren wesentlicher Bestandteil.
Aber die tritt nun zwischen uns wie ein Engel, gemalt von Filippino Lippi, und verkündet, nach langer allzu langer Zeit soll nun wieder ein Fest begangen werden mit allem was unverzichtbar dazu gehört. Mit der allzu langen Zeit sind unsere Ehejahre gemeint, in denen es uns gelungen war uns weihnachtsfrei und zur Tannen-Enthaltsamkeit zu erziehen wie alle unsere Freunde auch. Fast alle unsere Freunde jedenfalls. Natalie umarmt den Baum , als wäre ich es, der aber nur daneben steht ( freilich, sie streift vorher Handschuhe über ) und zieht ihn ins Schwiegermutter-wohnzimmer, das damit zum Schauplatz des künftigen Freudigen bestimmt ist.
Wie man an einem gusseisernen Baumständer erkennt, ausladend wie ein Rathausbrunnen. Herbei, herbei mit einer Leiter. Und wer erklimmt sie ? Ich, Melchior. Herbei herbei mit einer Dutzendschar Schachteln, beklebt mit verblichenen Scherenschnitten und denen man ansieht, dass sie lange zuhinterst verstaut waren. Geöffnet werden sie zu meinem Erstaunen nicht von Schwiegermama, sondern von Natalie. Und ich danke es meinem Posten hoch auf der Leiter, dass mir keine von beiden erklärt, welche von ihnen beiden diesen und jenen Scherenschnitt in welchem Alter des Noch-Zöpfchen-Tragens gefertigt hat. Schwiegermama nimmt auf dem Fauteuil Platz, ganz Feld-herrin, und bezeichnet ihrer Tochter
( halblaut wie aus einem anderen Jahrhundert ) an welchen Zweig sie sich dieses Glitzerwerk wünscht und an welchen Zweig jenes nein doch etwas tiefer, weiter nach vorne , ja ganz bis zur Zweigspitze, es voll doch voll zur Geltung kommen wo es so betrüblich lange nicht im Einsatz gewesen ist. Die allzu lange Zeit unserer Ehejahre hängt wie ein Vorwurf, wie eine unsichtbare Glaskugel mit im Geäst der Tanne.
„Sei achtsam, Liebster ! Das ist alles wertvollstes altes Glas aus Tilsit.“
Und Mamas Herz hängt mit allen Fasern an diesem Erbe. Den Pferden, dem Gesinde, den Dreschmaschinen, den unermesslichen Anbauflächen hinter Willkischken die in jeder Erzählung noch anwachsen samt der Zahl darauf werkelnden polnischen, kurländischen, ukrainischen Wander-arbeitern. So wie damals in Bebra, du kannst dich noch an Bebra erin-nern.
Und ob ich mich an Bebra erinnern kann und das Auffanglager aus den überbordenden Erzählungen, die meine und Natalies Brautzeit gefüllt haben und die meine Braut damals immer abzukürzen versuchte, immer vergeblich, denn wenn Bebra erst über dem Kaffeetisch schwebte, traten gnadenlos alle Gestalten auf, die das Lager bevölkert hatten der Reihe nach wieder auf.
Die Mutter und die Mutter der Mutter, die Schwestern beider, die Tanten, die getreuen Mägde, eine Brüderschaft ohne Brüder ein von den Männern im Stich gelassener, von Männern verfolgter Armseligkeits-bund von Rucksackschlepperinnen. Wir haben nichts mehr gehabt damals reinweg gar nichts mehr aber den Christbaumschmuck den haben wir noch retten gekonnt vor der Roten Armee. An dem Christbaum-schmuck ist es nun, seinen Glanz zu entfalten stellvertretend für alles Verlorene. Als ich mit Natalie noch allein war ( an den Heiligabenden die wir stillvergnügt keine sein ließen ) malte sie mir immer aus, unter aufstäubendem Gelächter : denk nur, der hat sich in der Familie vererbt und vererbt komplett wie seit 1883 mindestens, und ihr Lachen stäubte, und der Whisky schmeckte, und wir Glücklichen, dass wir uns das heut abend nicht antun müssen, Prösterchen ! und kriege nun, da unsere Zweisamkeit vorbei ist hoch oben auf der Leiter das Original zu hören :
„Und denkt euch nur, der hat sich in der Familie vererbt und vererbt, der ganze Satz komplett seit 1883 das mindeste gerechnet“.
Ich bin nun der litauische Wanderarbeiter, der Anweisungen entgegen nimmt :
„Und für den Baumwipfel als Bekrönung den Silberaufsatz mit dem Posaunenengel !"
Anweisungen von Mutter und Tochter zugleich.
„Wenn die Kerzen dann alle brennen“ – nun sind sie schon beim Wechselgesang angelangt - „dann steigt die Wärme hoch und der Engel „ – die eine nimmt der andern das Wort aus dem Mund - „der Engel der dreht sich dann um die eigene Achse. „
„ Und dieses Jahr, wie findest du das, Natalie, wollen wir auch wieder Lametta auflegen. Wie seinerzeit in Ostpreußen. Zur Feier, dass… ich meine zur Heimkehr meiner Tochter.“
Noch vor vierzehn Tagen Jahren hätte Natalie sich geniert einem stattli-chen Exemplar von einer Tanne eine solche Maskerade antun zu lassen. Wie seinerzeit als der Vater, oder wars der Großvater unter diesem Silberregen saß und jedes Weihnachten wieder erzählte von einem ganz anderen Weihnachten an der russischen Front.
Wo die Muschkotenfamilie an die hölzernen Wände gedrängt gestan-den hat und Tränen vergossen über die Geschenke die die Landser aus-packten aus der Heimat vor Anteilnahme und Mitfühlen da zeigt sich der slawische Mensch drin und wuppdich war der Großvater beim weich-willigen Wesen der Völkerschaften da hinten und wie ihm die polnischen Arbeiter die Hände geküsst schon als Siebzehnjährigem das gibt dir was mit fürs ganze Leben und der silberne Posaunenengel drehte sich hoch über ihm um sich selbst.
„Und denk dir nur, Natalie, dann hat er immer herausgestrichen was füreine seelische Befriedigung es bedeutet für ihn dass er eine Enkelin hat die an einem Heiligabend geboren ist. Was man gleich an ihrem Namen erkennt, Natascha, was ja russisch ist letztlich und was das Völkerschaft-liche versinnbildlicht da hinten in den verloren gegangenen Gebieten dass sich da drin alles in allem was Wundersames ausdrückt.“
„Oh ja was rein Wundersames.“
Tapp nicht in diese Gemütsfalle, Natalie.
Dein Geburtstag ist der 24.August, deswegen bist du doch mein Löw-chen, und diese Am-Weihnachtstag-Geborene ist genauso ein arglistiger Fake wie eine blonde Melanie oder eine zänkische Amanda oder eine ordinäre Adelheid. Es wäre dir und uns gemäßer, du würdest dich mit mir empören gegen diese Despotie der Taufnamen : ein wehrloser Säugling wird verdonnert, lebenslang eine Schwarzhaarige, eine Liebenswerte, ein Weihnachtskind darzustellen, wie ich ( der ich ein Dämmerknabe bin ) einen König des Lichts.
„O ja ,wirklich was Wundersames.“
Meine Natalie ! Sie wird zurück ins Kinderliche geschwemmt. Ange-landet im Schwiegermutter-Asyl, beginne ich zu begreifen auf was ich mich eingelassen habe. Mein Löwchen mit dem auf-stäubenden Lachen, meine Weitgereiste, meine Vielerfahrene, meine Lebenshilfemuhme für die Pickligen und Ungekämmten und Fettsüchtigen ist drauf und dran jener Siebenjährigen wieder Platz zu machen, die sie in dieser Wohnung schon einmal gewesen ist. Als ich noch in weiter Ferne war.
Und mir dämmert : wenn ich nicht entschieden etwas für mich unter-nehme, werde ich alsbald wieder in weiter Ferne für mein Löwchen sein. Als ich den Christbaum endlich vollends zugehängt habe und von der Leiter steigen darf sie ist doch meine Frau nicht nur die Tochter dieser Witwe ziehe ich sie hinter mir her unter den amischen Quilt.
„Hast du auch an das Geschenk für Mama gedacht ? Wie ich dich kenne, hast du das bestimmt in die allerunterste Kiste ge-stopft“.
Hör mir zu, Löwchen, malen wir uns aus, der amische Quilt wär unser Zelt, wir sind auf Tour, auf der Walz, wir sind in der Fremde, da findet man sich selbst, da finden wir uns.
„Du hast mir versprochen, du hast etwas ganz Exquisites be-sorgt für Mutti auf dem Weihnachtsmarkt.“
Lass uns so tun als wären wir siebzehn, just so jung und so twatsch wie dein Urgroßvater damals als ihm dieWanderarbeiter die Hände küssten. Aber du brauchst keine Wanderarbeiter, du hast mich, und ich küsse dir nicht nur die Hände.
„Wo sie uns doch so bereitwillig aufgenommen hat. Dafür gehört sich eine warmherzige Anerkennung.“
Lass uns so tun, als hätte der Chef der Jugendherberge dich und mich ganz allein in der entlegensten Kammer unterm Dach einquartiert, weil in den Mädchenschlafstuben schon alles belegt ist. Von mir aus soll er uns in den Fahrradkeller legen unter die Stinkereifen. Was zählt ist doch nur, ich bin mit dir allein. Das allererste Mal ! Wo bist du, und wo sind deine Brüste ?
„Halt dir doch auch vor Augen bitte, meine Mutter hat allerhand Einschränkung zu ertragen durch uns und erst die Tiere.
Wo sie doch Tiere überhaupt nicht gewohnt ist.“
Sie gleitet aus der Umklammerung meiner Beine.
“Die Tiere ! Mir fällt ein, der Hund ist noch nicht Gassi geführt.“
Der Hund kann warten. Ich nicht. Ich schlinge den amischen Quilt um sie, ziehe sie an mich im Schatten unserer aufeinander getürmten Möbeln, versuche ihr schön zu tun wie der Siebzehnjährige, der zu sein ich ( auf mich selbst gestellt ) mich entschlossen habe.
Welchen Kontrast ihr Körper bildet zu diesem puritanischen Textil, diese Regelhaftigkeit hier, dunkelblau und schwarz, und wie doch beides sich so erregend steigert : die Geometrie und die Rundung , das Abgezir-kelte und das flauschig Weiche, die gestrengen aufgesteppten Quadrate und die warmen Schamhaare. Ich balze mich redlich auf einen Beischlaf zu, aber sie –
“Du mit deinem romantischen Süßstoff ! Was ahnst du was das für eine Enge und Piefigkeit das war bei den Amischen da hinten in Pennsylvenia. Gebongt, edle Möbel und keine Army und keine Fernseher, aber alle noch geschrubbter als ihre Tischplatten, und die Frauen erst ! Am allerrecht-eckigsten. Ich war heilfroh als ich wieder in der Bronx war.“
Du Natalie gehörst zu den Frauen, von denen man gewiss nicht behaup-ten kann sie gehört zu den Rechteckigen. Du die Anschmiegsame, die Glitschzüngige, die Stöhnende, mit der ich mich gewälzt habe vor ein paar Nächten noch unter diesem Quilt.
Und huldige ihren Brustwarzen mit der Zungenspitze.
„Was bei dir da durchschleimt Liebster ist nicht Sinnlichkeit sondern diese heimliche Gelüstigkeit der Katholen auf die Evangelen.“
Und umgekehrt wende ich ein, aber sie ist schon bei Max Weber. Bei dem könnte ich ihn ja auch nachlesen, diesen Spannerblick – Perspektive der pubertierenden Jungs durch die Zaunlücke auf die flachen Nachbars-mädels.Als ob die eigene Schwester nicht viel mehr Holz vor der Hütte hätte.
Streng religiös betrachtet versteht sich.
„Aber das ist doch reine Inzucht, die du da predigst, religiös hin oder her“.
„Sieh dich vor, Liebster. Unter unseren Vorfahren wimmelte es von Mennoniten. Den hartleibigsten Orthodoxen, wie sie sich deine katho-lisch eingeschulte Fantasie nicht mal ausmalen kann.“
Ich lasse die Zunge von ihren Brüsten.
„Versteck dich bitte nicht hinter den Sektierern, nur weil du nicht mir bumsen willst. Es waren doch immerhin die Protestanten mit ihrer flach-ländischen Nüchternheit, die das Abendland in die Moderne bugsiert haben. Wittenberg – Industrialisierung – Wahlrecht. Ein lutherischer Drei-schritt !“
Mein Beischlafbegehren ist zum Religionsgespräch verkommen. Längst sitzen wir wieder aufrecht, die Arme antigemütlich um die eigenen Beine gewickelt statt um den Partner, das amische Quilt wie eine Regenplane über uns gezogen. Jeder hält einen Zipfel davon so fest umklammert wie seine Argumente.
„Und wo, Liebster würdest Du dich selber einsortieren ?“
Ehe ich herausprudle auf keinen Fall bei den Melchiors wechsle ich schnell den Namen aus, damit Natalie mir nicht auf der falschen Spur hellhörig wird und frisiere meine Rede um : auf keinen Fall bei den Nek-romanten und Obskuranten möchte ich einsortiert werden, bei den kabba-listischen Senilifixen, Gotteskanzlisten, Sophistenmumien, immerzu die gichtigen Zeigefinger gerichtet auf imponiergehaberische Kalligrafien : wie ehrwürdig ! wie erlaucht !
Aber was bedeuten sie ? Du sollst hingehen im Namen eineinzigen Gottes und den unter Ziffer XXXVI Verzeichneten den Schädel spalten. Und ob ein Lamm, ich bitte dich Natalie, notabene ein weibliches, nun bei abnehmendem Mond viereinviertel Stunden vor Sonnenuntergang geschächtet werden darf oder schon dreieinviertel, notabene mit dem Blick gen Osten, und das dann auch noch Theologie nennen !
Ich raune dir was andres ins Ohr, rundliche Gefährtin: lass uns den Geburtstag des Mithras feiern. Damit necke ich sie jedes Weihnachten, und jedes Mal fiel sie drauf rein. Und das gern, denn während ich sie auszog, pries ich des Mithras erotische Qualitäten, die ihn auszeichnen vor jenem andren, der ihn von seinem angestammten Geburtstag ver-drängt hat : ein fescher Jüngling war er, lendenstark, er steht für die Auf-erstehung, und mir steht er auch, Löwchen.
Aber die meinige ist eingeschlafen. Erschöpft von den Anstrengungen der letzten Tage. Träumt sie wieder von dem Sternbild ? Ich träume vom Hund, und dass er das Aussehen einer Hyäne hat und einen goldenen Knochen nach dem anderen ausgräbt und sie alle säuberlich neben-einanderlegt wie Buchstaben zu einer mir unbekannten Schrift. Ich soll sie
entziffern, befiehlt er mir.
Und als ichs nicht vermag, frisst er mich auf.

Die Sarkophage der Rührseligkeiten

Die Schwiegermutter hämmert gegen die Tür. Ganz wie ihre Tochter.
“Dein Hund wartet dringend drauf dass er endlich Gassi geführt wird.“
Mein Hund ! Im Morgengrauen, beim Vorbeitrotten am ich-weißnicht-wievielten knallhellen Schaufenster, das mir mit glimmerüberzogenen Tannenzweigen kommt, wird mir bewusst : heute schon überfällt uns ja Weihnachten !
Der Geburtstag des Mithras. Am Nachmittag sind Mutter und Tochter dabei, Moos unter der Tanne auszubreiten.Sie schieben mich beiseite, beide wie somnambul. In dieser Jahreszeit neigen die Gefühle dazu, selbst nüchterne Redakteurinnen blindlings zu übermannen und zu überweiben. Das hat mit diesen an- und abnehmenden Vitaminen zu tun, dem Licht-Entzug, dem Spitzbergen-Syndrom. Man zeige mir einen, der bei Es ist ein Ros entsprungen, von einer Kinderstimme gesungen, nicht schlucken muss, oder gleich ehrlich schluchzen, Kirchensteuerzahler wie Agnosti-ker.
Ja gerade Agnostiker.
„Und jetzt“ hauchen sie sich zu, traumwandlerisch“ die Krippe.“
Die haben wir, du erinnerst dich doch noch -
„Die haben wir, du erinnerst dich doch noch, von Tante Hildes Zweig der Familie zugeschickt gekriegt damals aus der Zone.“
Gestern die Kartons mit dem Christbaumschmuck, heute die Krippen-schachtel : kleine Sarkophage der Rührseligkeiten, einäugige Porzellan-puppen, vor Jahrzehnten im Hort laubgesägte Goldschwäne, Engel die nur im Weihnachtsschummer ihr Gehäuse verlassen. Zum Dank für die Pakete in der harten Zeit -
„Zum Dank für die Pakete in der harten Zeit wo bei uns längst wieder Strumpfhosen zu kaufen waren und Vanillinzucker bei denen drüben nur Kunstgewerbe.“
Die Notlage muss immens gewesen damals im Erzgebirge, entspre-chend schwoll der Zustrom von Paketen. Denn die Landschaft unter der Tanne, die Mutter und Tochter zuvor mit trockenen Moosfladen ausgelegt haben, wird nun von den beiden mit rohholzigen Gestalten besiedelt. Die Schwiegermutter angelt einen Statisten des weihnachtlichen Weihedramas nach dem an-deren aus dem moderalten Ostzonen-Karton, Natalie nimmt ihn ohne hinzusehen entgegen als hätte sie das ganze Jahr über nichts anderes gemacht. Und während ich staune, woher Natalie überhaupt weiß wohin sie die Figuren zu stellen hat und welcher Akteur zu welchem Kollegen gehört, verfällt die Mama über den Holzlingen aus dem östlichen Erzgebirgischen in noch östlichere Erinnerungen an Willkisch-ken weißt du noch nein du kannst es nicht wissen das war ja lange bevor du auf die Welt gekommen bist damals hat man sich noch Personal leisten können standesgemäß und reicht Natalie zeremoniell das Dreikönigs-gefolge Gesinde so hat man sich ausgedrückt seinerzeit und was soll ich dir sagen diese einfachen Leute die haben diese schönen klaren Gesten noch draufgehabt und reicht Natalie zwei Kamele wo Ehrfurcht noch drin enthaltenist so im Kniebeugen und reicht Natalie einen Elefanten wo sich erweist wer ist Patron und wer ist Erntehilfe. Eberhard ist ja letzten Sommer grade wieder in der alten Heimat gewesen und hat erleben dürfen das ist nicht untergegangen bei der masurischen Bevölkerung trotz allen Erfahrungen die die Leute haben machen müssen inzwischen nur halt bei uns im Westen isses den Bach runter deswegen hat Weih-nachten und Krippe seinen Stellenwert grade jetzt weil da wird dieses Einfache und menschlich Wertvolle doch wieder ins Klare gerückt. Zeichenhaft irgendwie.
„Und denk dir nur Natalie, die russischen Wanderarbeiter haben Eberhard wieder die Hand geküsst wie seinerzeit dem Urgroßvater, kann dir das Video zeigen hinterher.“
Soeben wird das Jesuskind in die Krippe gelegt.
Sein Gesicht war goldfarben.Es leuchtete von innen heraus.Da war sonst kein Licht im Stall außer ihm nicht einmal eine Ölfunzel, nicht einmal das Glimmen der Herdasche. Der Stern der sie geleitet hatte war verblasst und die letzte Wegstrecke führte die drei Reisenden allein das Licht welches aus dem Gesicht des Kindes hervorbrach obgleich es auf dem Mist geboren war. Denn es ist gekommen, das Niedrige zu erhöhen und die Erniedrigten zu erheben ins Helle.
Ein kärgliches Jesuskind, die darbende Hand des Schnitzers hat es nur darbend zu gestalten vermocht, und die winzigen Rippen gleichen den Strohhalmen in seiner Krippe. Und es waren Hirten in der selben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Natalie postiert sie zwischen die Moosfladen. Da sie erzgebirgisch gedrungen sind, könnten sie über das Moos nur hinaus lugen, wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellen. Aber die hat der darbende Schnitzer nicht vorge-sehen. So werden sie bei ihrer Wanderung zum Stall auf die Hilfe des Engels angewiesen sein.Und des Herrn Engel trat zu ihnen : Fürchtet euch nicht ! Siehe, ich verkündige euch eine grosse Freude, die allem Volk widerfahren wird. Und sie kamen eilend zum Stall und fanden beide, Maria und Joseph, dazu das Kind in der Krippe liegen.
„Auf unsre Art sind wir doch auch Unbehauste wie Maria und Josef. Damit isses unser ganz besonderes Fest, versteh das mal so, Melchior.“
Natalie, die an Weihnachten geborene, bläst mir ins Ohr. Sie weiß, dass mich das sinnlich macht.
„Und jetzt, ist es an der Zeit dass du deinen Namensvetter präsentierst“.
„Verlangst du etwa“ raune ich Natalie zu „dass der König des Lichts deiner Mutter auch die Hand küssen soll wie die masurischen Wander-arbeiter?“
Ich hätte gar nicht zu raunen brauchen. Die Schwiegermutter hat sich verzogen, um dem allseitigen Geschenke-Genestel Raum zu geben, wie an ostpreußischen Heiligenabenden. Natalie aber spricht so, als wärs just für Mamas Ohren.
„Also Liebster“ - ich reibe die Lippen vergebens an ihren Fin-gernägeln – „das war doch klar seitdem ich ihn das erste Mal gesehen habe dass er an Heiligabend seinen Auftritt haben würde ja haben muss als die fulminante Weihnachtsüberraschung für Mutti !“
Es klingelt an der Wohnungstür. Natalie legt den Finger auf den Mund und öffnet eilfertig. Zwei stämmige Burschen in orangenen Overalls stehen ihr gegenüber.
Mit einem erstickten „Melchior !!!!!“ holt sie mich dazu.
„Genau !“ sagt der eine.“Den Namen den Sie da gerufen haben eben, den hat der Patient auch andauernd gemurmelt.“
Der Patient ist kaum zu erkennen zwischen den beiden Stäm-migen.
„Und was von einem König des Lichts oder so haben wir dann auch noch verstanden. Und dass er dringend zu Ihnen hier muss“.
„Ich kenne den Menschen nicht.“
Kaum ist dieser Satz aus mir heraus, überfällt es mich ungut dass er bereits bei Matthäus vorkommt.
„Hej, er hat uns aber genau die Adresse hier angegeben.“
„Und dass es sechs Treppen hoch sind. Wir haben bloß noch brauchen im Stadtplan nachsehn“.
Aber jetzt greift Natalie ein.
“Willkommen der da kommen soll !„
Und greift den alten ledrigen Zausel zwischen den beiden Stäm-migen heraus, lädt ihn sich auf die Arme als sei er das Jesuskind. Ich ihr hinterher, in das uns von der Schwiegermutter zugewiesene Zimmer wo Natalie den Patienten weich auf wirres Umzugsgut bettet und mir mit den Augen winkt, ihren Mohairmantel unter ihm auszubreiten. Als er darauf liegt, sehe ich das goldene Sternbild noch immer in seinem Ohr – die Schwindelbürschcheen mit denen er sich einließ, haben es wohl für billi-ges Piercing gehalten.
"Sie glühen ja."
"Und seht was in dieser hochheiligen Nacht….“
Erst als ich mich tief über ihn beuge, erkenne ich dass dieses blecherne Schnarren aus den Tiefen seines Faltenreichtums herauf eine Melodie sein soll.
“ …der Vater im Himmel für Freude uns macht".
Der König singt !
"Aber doch nicht auch noch singen.In Ihrem Zustand !"
"Das haben die mich aber lassen die ganze Zeit über in der ich mit ihnen mitgezogen bin. Aus meinem Mund klingt es besonders ergreifend, haben sie gefunden."
Und das ist es ja auch. Wie der letzte Schrei eines sterbenden Geiers hört es sich an.
"Da liegt es das Kindlein auf Heu und auf Stroh..."
"Ich fleh Sie an ! Bei so hohem Fieber."
„’Stellt den Grufti ganz vorn hin’“ haben sie gesagt nach dem Klingeln an einer Haustür‚’weil der hat so ne traurige Schnute’. Und wenn die Tür aufgegangen ist, haben sie mich vor sich hergeschoben. Hinein in den Flur damit man die Tür nicht mehr zuschlagen kann. Die redlichen Hirten knien betend davor“.
Und die derart Heimgesuchten , denen unversehens der dritte König in die Mietwohnung geschoben war, entsetzten sich O Gott das darf ja nicht wahr sein wie der abgemagert ist ! Nu kommen Sie doch alle Mann hoch rein bitte wir haben sowieso gerade angefangen mit Abendbrot, deck doch noch drei Teller auf, nein vier, darf ich den mal im Arm halten, am Ende ist das noch gut gegen Rheuma das Leder da, lehn dich doch mal tüch-tig gegen, ist das ein Duft auf einmal der sich hier ausbreitet, mal sehen ob er auf Mangofruchtsalat anspricht nach dem Fleischsalat und Marzipan aber doch nicht so trocken gibt doch mal ein Bier rüber nein Bier ist zu ordinär, mach doch ne Flasche Wein auf oder am besten Likör, aber nicht auf die Stickerei kleckern die er vorn drauf hat, die is ja sowas von erlesen , erinnert echt an unsern Urlaub in Samarkand letztes Jahr.
Und die Schwindelbürschen haben ihm die Kleckereien weggeputzt für den nächsten Auftritt, den im Villenviertel Die machen erst auf zugeknöpft da draußen aber dann spendieren sie das zehnfache, kannste an den Wagen schon erkennen die davorstehen und dann noch im Kreiskrankenhaus auf der Privatstation, in der Sparkasse wo grade Weih-nachtsfeier war Mann, schafft uns der n' Umsatz ran !
„Und dann haben sie mich stehen gelassen, im Stich gelassen und mir im Weglaufen noch etwas von diesem Zeug in den Mund gestopft..."
Softeis und Zuckerwatte. Natalie zupft ihm weißlich klebrigen Schleim aus dem Bart, Schlieren von Softeis von den Lippen.
„Hoch oben schwebt jubelnd der Engelein Chor….'“
„So ersparen Sie uns das doch endlich“ fleht Natalie. “Sie sind doch nicht zum Betteln hierher gekommen“.
Aber er krächzt weiter, wie der Lautsprecherchor auf dem Weihnachts-markt, wie aufgezogen schnurrt er ab bis kein Ton mehr aus seinem Rachen heraus will, gerät ins klirrend Verjaulte, ins Pfeifende. Natalie schließt ihm sanft den Mund, aber er bringt dennoch, weitere Zuckerwatte ausstoßend, zwischen ihren Fingern hervor :
“Ich bin elend auf den Tod."
"Davon werde ich Sie energisch kurieren."
"Ich bin voller Zuversicht, dass das endlich mein Ende ist. Weil mein Namensvetter, dort steht er, mich ausgesetzt hat.“
„Ausgesetzt ? Du hast den König des Lichts ausgesetzt ? Rechen-
schaft !“
Draußen an der Tür höre ich den Hund hecheln.
„Auf künstlichem Gras hat er mich allein gelassen.“
Nun freilich ringelt er sich bereits recht erholt zwischen Natalies Knien. Mir bleibt nur hilflos dabei zu stehen wie Josef, ein entlassener über-zähliger Josef, dem nichts anderes zu seiner Verteidigung einfällt als :
"Dabei ist er doch, wenns hoch kommt, bloß ein Wiedergänger."
„Dass du zu so etwas fähig bist…“
"Unter Wiedergänger hat man im alten Volksglauben verstanden den ruhelosen Geist eines Untoten. Und willst du wissen,von wem der da der Wiedergänger ist,bestenfalls ?“
"Du überanstrengst deine ohnehin schon magere Phantasie."
Sie hörts nicht. Und ich bin nun schon einmal im Fluss meiner Häme.
„Der von irgend so einem blutrünstigen Kosaken-Hetman aus dem 14. Jahrhundert, genannt Wassili der Jungfernfresser. Ein Bastard aus einem Wüstenräuberstamm, der auf seiner Lanze erst den Sultan, seinen Halbbruder aufgespießt hat und dann den Halbbruder des Halbonkels, der grade auf der Halbbase ritt. In Astrachan sollen sie sie noch bis auf den heutigen Tag Messen stiften , damit er nicht wiederkehrt, als Untoter,und den Rest der Jungfrauen schändet und auffrisst."
Jede Rolle die ich da aufgezählt habe, hat der König mit einem Röcheln begleitet. Obwohl ihm Natalie die Ohren zuhält. Und mich abstraft :
"Du möchtest sie ja liebend gerne selber anziehen, diese ach so leere Hülle, wie du ihn immer nennst Gibs doch zu, und dich damit behängt vorm Spiegel plustern, und dich selber anhimmeln Ha ! Ich bin der König des Lichts ! Ich heiße wie er, also bin ich schon so König wie er. So unsterblich wie er !"
"Du bist unsäglich,Liebste."
„Und du versündigst dich. Mein Gott, wie du dich versündigst."
Aber an wem denn, Natalie. Wo ich doch gewiss bin, dass das Kno-chengerüst des heiligen Königs Nummer drei fein säuberlich verwahrt ist. Und zwar wie es sich gehört in einem Reliquienschrein, umwickelt mit Golddraht und Smaragden und derlei feinen Sachen. Und das, merk auf, seit dem 12.Jahrhundert, und zwar im Hohen Dom zu Köln ! Ich hab mich nämlich belesen inzwischen, mein kluges Recherche-Schätzchen, anders als du.
Aber ich bringe dies alles nicht vor. Nicht über die Lippen. Es wirbelt etwas in meinem Kopf, das mich zum Mundhalten zwingt. Ist es sein Duft schon wieder, der mich umwölkt ?
In die Stille hinein öffnet sich die Tür. Nur einen Spalt. Das genügt um feierliche Orgelmusik ins Zimmer dringen zu lassen, dicht gefolgt vom Hund. Der stürzt sich mit zwei Sätzen auf den König, den Natalie gerade in Beißhöhe vor sich ausgebreitet hat. Ich reiße ihn an mich und schlage den amischen Quilt um ihn. Die Schwiegermutter, die Orgelmusik ver-kündets, hat sich für festliche Gestimmtheit entschlossen und allein Augen für ihre Tochter und eine Nase für den Duft im Raum :
“Oh , du hast schon Weihrauch angesteckt. Komm, nun lass es uns endlich besinnlich haben, Kind.“
Und zieht ihre Tochter, die willenlos siebenjährig geworden ist, an der Hand hinter sich her hinüber zur Orgelmusik. Der Hund dagegen ist harthörig und springt an mir hoch.
„Ich werde mich jetzt ins Grab legen und du erzeigst mir die Barmherzigkeit und schaufelst mich zu" hör ich’s aus dem Quilt hauchen.
"Das scheitert schon im Vorfeld daran, dass die Erde zu dieser Jahreszeit gefroren zu sein pflegt."
"Dann lege ich mich in diesen Trog dort.Die Erde da ist verlockend locker."
"Das ist das Blumenfenster. Da ist höchstens eine Handbreit trockne Erde drin."
"Ich erinnere daran, wie gefügig ich mich in deinen Einkaufskorb geschmiegt habe. Wenn die warme Jahreszeit kommt, stehts dir ja immer noch frei, mich umzubetten in öffentliche Anlagen.“
Seine sterblichen Überreste zwischen Topfpflanzen.Vor Natalie werde ich das nicht vertreten können.
“Mehr erheische ich nicht von dir".
Wenn er’s denn selber vorschlägt. Also halte ich den Hund mit einem Bein auf Distanz und hebe den Patienten in den Trog am Blumenfenster. Ich lege ihn darin fein zurecht. Falte ihn säuberlich. Und bedecke ihn mit Spezialgärtnererde Typ L aus dem Plastiksack neben dem Fenster.
Nicht indem ich die Tüte über ihm ausleere, sondern den Humus portionsweise über ihn breite, mit beiden Händen. Ich verfahre äußerst einfühlsam. Zu einfühlsam fast, nach allem.
"Ein letztes Mal, Sie dreister König des Zwielichts : wie sah das Gesicht des Kindes aus ?"
Er ist mir die Antwort schuldig, seitdem er sich hier hat einschleppen lassen.
„Also, ich höre ?"
Nichts höre ich. Ich häufle.Das Gesicht des Kindes. Hat geleuchtet. Von innen heraus. Und wie Eure Karawane am Stall angekommen ist ? Noch eine Handvoll. Da hat das Goldfarbene vom Gesicht des Kindes durch die Ritzen geleuchtet und euch geführt die letzte Wegstrecke lang. Viele Handvoll. Über die Schultern auch. Den Bart. Und dabei hats nach feuchtem Stroh gerochen, und nach Eselsmist.
Ich häufle ihm die Brust zu.
"Und Sie haben sich die Füße gewärmt nach der kalten Reise, in einem warmen Kuhfladen.“
"Ich war marod vor Auszehrung und Frost.So wie jetzt...“
Er antwortet ! Jetzt dran bleiben.
"Und die Mutter Maria hat Sie auf ihre Knie genommen und Sie durch-gerubbelt.Wie vorhin meine Frau.“.
"Das hätte ich bestimmt nicht vergessen. Behauptet das schon wieder dieser Matthäus ?"
Da erwachte das Kind und richtete seine großen Augen auf den König des Lichts, und alle fielen nieder : der König und die anderen Könige, die Kameltreiber, die Sklaven mit den Weihrauchgefäßen, und die Dezem-berkälte wich der Wärme einer Maiennacht in einer Oase.
Ich mache eine Pause, damit er sich einklinken kann. Ich habe ihm zuliebe schon viel zu viele einladenden Pausen gemacht .Nun nutze sie schon, es ist mein letzter Versuch !
„Ich genieße, wie du den Humus auf mir ausbreitest. Du tust ein gutes Werk an mir“.
„Verzeihn, aber ich muss Ihnen jetzt auch den Mund zupacken.“
„Dank dir. Endlich umfängt mich Endlichkeit“.
Ich häufle die Sterne in seinem linken Ohr sorgsam zu. Aber die lassen nicht nach, durch die Erdschichten hindurch zu glimmen. Dies eben hat ihm den Namen König des Lichts eingetragen. Immer, wenn er drauf und dran war, sich zur ewigen Ruhe zu legen und schon metertief unter dem Mutterboden zu ruhen meinte, ward ihm dieser Streich gespielt, gegen seinen Willen wieder ist er wieder ans Licht gezerrt worden, exhumiert gar, zu einem weiteren wanderreichen Leben oder auch nur, um ihm den Schmuck aus den Ohren zu reißen. Aber nun ist er endgültig bestattet, seiner eigenen Forderung gemäß.
Ich lösche pietätvoll das Deckenlicht und taste mich durch das dunkle Zimmer hinaus, den Hund beim Halsband führend. Erst jetzt bemerke ich, dass auf der Kante des Blumenkastens reglos die Katze sitzt. Im Mittelalter galten Katzen als Personifizierung des Teufels. Ich ziehe die Tür hinter mir zu und höre feierliche Orgelmusik. Wenn es vorhin Händel gewesen ist, dann könnte es jetzt Gounod sein, gefolgt von den Regensburger Domspatzen. Ich stehe entschlusslos, die Beine schlafen mir ein. Der Hund, von mir losgelassen, stößt mit der Schnauze die Tür zum Weihnachtstannenzimmer auf. Ich habe soeben den König des Lichts bestattet nach zweitausend Jahren werde ich mit einer Stimme verkünden aus der ein langes Mit-mirzu-Rategehen herauszuhören ist.
Der Hund leckt mir die Hände.So brauche ich die Blumentopferde nicht selber abzuwaschen. Wo bleibt meine Rede ? Die Damen haben sich um die Schultern gefasst und bemerken mich nicht. Willkommen in Willkischken. Wie bei allen, die den Blick nach oben richten, ergeben sich bei Mutter und Tochter eindrucksvoll impressionistische Lichtreflexe auf den Augäpfeln.
Wie auch bei einem Feuerwerk im Juni, aber ist ein sommerliches Feuerwerk gleichrangig mit dem Weihnachtswunderwerk, zumal in den Wäldern von Willkischken? Und siehe : der Engel auf der Spitze dreht sich um sich selbst, wirklich und wahrhaftig ! Und klingelt leise und gläsern vor sich hin.
Sie steigen von ihren Reittieren. Haben sie die Reise im Eilschritt vollführt, so ist jetzt jede Hast von ihnen genommen. Wie das Sternbild über ihnen sind auch sie zur Ruhe gekommen. Wer aber wird nun als erster eintreten ? Soll einer des anderen Schleppe tragen oder es von der Dienerschaft besorgen lassen ? Erscheinen goldbestickte Mamelucken nicht grob unschicklich in einem Stall ? Ist es nicht weit schicklicher die schweren Ornate abzulegen an diesem Ort des Mistes und der Futter-raufen ?
Als sie von drinnen ein Greinen vernehmen, wird ihnen bewusst, dass sie zu einem Säugling wallfahrten. Wie aber einen Säugling anreden, der eine Gottheit ist ? Oder sollen sie weihevoll schweigend ihre Geschenke darbringen ? Zum erstenmal auf dieser Reise, da sie vor der Stalltür wispern, drinnen Tiere schnauben hören und das leise Quiemen des Säuglings, zum erstenmal beschleichen sie Zweifel. Die Domestiken aber, die zahlreich hinter ihnen nachdrängen, teils aus Diensteifer, vor allem aber aus Neugier und weil sie die schweren Geschenke endlich abladen wollen, drängen sie unaufhaltsam vor sich her zur Stalltür.
„Denk dir nur Melchior, Natalie hat von mir ein ganz exquisites Ge-schenk bekommen : den Schreibtisch…“
Sie haben die Zimbelspieler schon beim Absitzen angewiesen ihre Zimbeln zu spielen und die Beckenspieler, ihre Becken zu schlagen und die Weihrauchfassträger ihre Kohlenfässchen zu schwingen. Die Stalltür springt auf unter dem Druck der Geschenkkörbe. Ermutigt und gestützt vom Rhythmus der Zimbalisten und der Beckenspieler ziehen sie ein -
„Ich hab meinem Kind“ – Kuss auf die Stirn – „ mein ganzes Zimmer übereignet und ihr den Schreibtisch hinein stellen lassen als Bekrönung.“
„Den Schreibtisch von Opa selig.“
Dem Landgerichtsrat.
„Damit meine Natalie sich endlich verwirklichen kann.“

Die Besucher hatten sich entfernt. Der Klang derZimbeln und Becken in ihrem Tross, das Schnauben ihrer Reittiere war lange noch in der kalten Nachtluft gehangen. Der Ochs und der Esel kauten gleichmütig und unbeeindruckt.
„Was für eine Ehre, Frau !“ sprach Josef zu der Seinigen,“was für eine unfasslich große Ehre ist dies doch gewesen für uns Arme , die wir hausen in einem löchrigen Stall. Und sieh nur, Frau, was sie all uns gespendet haben, die hohen Herrschaften.“
Die Frau aber, also angeredet, versetzte kurz :“Sind Windeln dabei ?“
Josef indes konnte sich nicht genug tun mit dem Wundern und Staunen : „Und sieh nur, Frau, Weihrauch und Myrrhe haben sie uns dargebracht, die hohen Herrschaften.“
„Weihrauch und Myrrhe, Mann, was für Zeugs soll das wohl sein ?“
„Das kann ich dir nicht mehr sagen, Frau, weil es ist allbereits verschlungen.“
Hier greinte das Kind ungnädig und die Frau vermochte nicht es zu bezähmen.
„Sag an, Joseph, wer solls denn verschlungen haben in der Kürze der Zeit !“
„Unsere Stallgenossen habens verschlungen. Dieweil es ihnen an Stroh mangelt seitdem wir uns einlogiert haben dahier und es als Streu gelegt unter das Kind als Kissen“.
„Der Ochs und der Esel ?“
„Sieh, Frau, sie mampfen noch dran, an Weihrauch und Myrrhe“.
„So reiss es ihnen heraus, Mann, den Weihrauch und die Myrrhe, weil
es sind Geschenke für uns Kindseltern und nicht fürs tumbe Vieh.“
Doch dieses sprach sie zu spät, denn just verreckte der Ochs an dem ungewohnten Happen.
„Und jetzt auch noch der Esel“ sprach Joseph, und siehe so geschah es. Die Kadaver des umgestandenen Viehs bedeckten den Boden des Stalls und ihre üblen Darmwinde erfüllten denselben bis unters Dach.
„Da dafür, dass sein Vieh verreckt, wird der Stallbesitzer
mich lassen auf die Galeere schicken“.
„Lamentier nicht, Mann. Mustre weiter die Geschenke durch, ob nicht doch Windeln dabei sind.“
Joseph hub beseligt ein goldenes Behältnis der Frau vor Augen :
„Siehe Frau, dies ist eitel Gold und nun unser eigen.“
„So geh schon hin, Mann, und tausche den goldnen Pott gegen Windeln.“
„Aber so hör doch Frau, wer wird’s einem armen Mann glauben, dass er Gold rechtens unterm Umhang schleppt, wo er in einem Stall haust ?“
Da erhob der Säugling, ungewindelt und von den Strohhalmen zerstochen, dermaßen ungnädig ein Geschrei, dass die Ziegel sämtlich vom Dache fielen und Maria sich mit dem Kindlein unter der Krippe bergen musste, denn die Ziegel zerspellten beim Aufschlagen. Joseph aber barg das goldene Gefäss unter seinen Umhang und eilte hinaus in die mondlose Nacht, in welcher er alsgleich mit einem andern schmerzhaft aneinander stieß.
„Du trägst Gold unter deinem Umhang ich riechs an deinem Angstschweiß„ sprach der andre “welches dir nicht zusteht als Bewohner eines Viehstalls. Rücks heraus oder du kommst auf die Galeere.“
„Ich fleh Sie an, nicht die Galeere, denn wenn ich ausbleibe und dazu die Windeln, kommt die Strafe des Himmels über mich denn mein Weib ist geschwängert von einem Himmlischen und dieser verfährt mit solchen wie mir grausam nach Gottesart.“
Und erhob bittlich die Hände und konnte darum den goldenen Pott nicht mehr halten welcher darüber so grob zu Fall kam wie vordem die Dachziegel.
„Was verübst du Tölpeltrumm“ schrie da der Fremde “mit diesem Wunderwerk ! Jetzt hat die Amphore Dellen um und um und ist doch mit allergrößter Kunstfertigkeit gemacht, wurde sie doch für einen Gott in Auftrag gegeben, schau nur her !“
Allein, Joseph konnte nicht schauen. Zum einen weil stockfinstre Nacht herrschte, zum andern weil er als Zimmermann kein Auge hatte für feine Goldschmiedekunst und zum dritten, weil ihm der Sinn allein nach Windeln stand.
„Für einen Gott bestellt wehklagte der andere fort , mit welchem Joseph zusammengestoßen war,“und muss zu Bruch gehen in Mist und Missbrauch und Verkennung. O hätte ich dies verausgeahnt“ seufzte der Klagende und gab sich damit zu erkennen als der welcher das Gefäß geschmiedet hatte „ich, der ich nach Alexandria geliefert habe, nach Sagunt und nach Rom. Tafelgeschirr für den Cäsar habe ich gehämmert, und du machst mein Werk dalbrig zuschanden, Klotz von einem Bauern-trampel !“
„Bauerntrampel ?“ rief es da vielstimmig heraus aus dem Nachtfinstren als wären die Rufenden damit gemeint, und dies nicht von ungefähr, waren es doch die Hirten, die dem Kind im Stall ihre letzten Lämmer und Hammel dargebracht hatten, des Hungers in den folgenden Wochen ungeachtet und die nun den von ihnen beschenkten Joseph dabei ertappten, wie er Gold zum Pfandleiher schleppte mit Aussicht auf reichlichen Erlös.
Krude setzten sie darum ihre Hirtenstäbe wider ihn ein, freilich ihn allesamt verfehlend in der Nachtfinsternis, dafür umso heftiger prügelten sie das goldene Gefäß.
„Haltet ein ! Ihr seid umzingelt !“
Dieser Ruf nun rührte von den Lanzenreitern, ausgeschickt von der Obrigkeit, welcher war gemeldet worden, dass Fremdländer Goldgüter in einen Stall verbracht hatte was wider das Gesetz verstieß, denn Gold steht allein der Obrigkeit zu die Münzen prägt.
Weil die Hirten aber sich ins Gras verrollten das sie kannten wie keiner, durchbohrten die Lanzenreiter nicht diese, sondern das goldene Gefäß, das sie im Lichte des aufgehenden Mondes nun schimmern sahen an ihren stählernen Schäften.
„Fluch euch !“ schrie da der Goldschmied,“ich habe es als Weihgabe für eine Gottheit in Auftrag bekommen und nach höchster Kunst ge-schmiedet und ihr Vieh habt es hingeschlachtet !“
Die Reiter legten den Goldschmied in Fesseln und lieferten ihn auf die Galeere. Joseph aber bewahrte sich klüglich vor eben dieser, indem er sich verborgen hielt bis das Getümmel vorüber war und floh mit Weib und Kind eilends ins Ägypterland wie der Evangelist Lukas späterhin erfahren hat.
Denn dort, weiß man, ist ein Windelkind weit unbesorgter aufzuziehen denn in Galiliäa mit seinen Trockenebenen , holt man doch in Ägypten die Palmblätter vom Baum und schlägt sie um die Säuglinge und der Palmsaft geht ein in dieselben und sie gedeihen und wachsen zu sonnenbraunen Prachtlingen heran.
Auf der Galeere aber ward der Goldschmied festgeschmiedet zwischen einem Taubstummen, welcher des Pfandbetrugs überführt und einem Blinden der der Unzucht mit einer Ziege wegen verurteilt war und fuhr der Goldschmied nun auf See fort mit seiner Wehklage“Weh über meine Amphore, sie ist mein köstlichstes Werk gewesen !“
Bei jedem Ruderschlag.“Weh über meine Amphore, welche meine Auftraggeber an ein Bankert verschleudert !“ So stopften sie ihm, zumal sie nicht wussten was eine Amphore denn sei, das Maul mit Schiffstauen, sodaß er darüber nicht nur das Jammern um sein Kunstwerk versäumte, sondern auch das Essen und Trinken und in der Mitte seiner Ruder-genossen verschied .
Was von diesen freilich unbemerkt blieb, vollführten doch seine ab-gestorbenen ans Ruder geschmiedeten Arme weiterhin Schlag um Schlag.
Auf dem Achterdeck aber saßen unter einem Sonnensegel, den Blicken der Ruderer entrückt, die drei Weisen aus dem Morgenlande und erfreuten sich ihrer Heimreise.


Nur der Hund leistet mir Gesellschaft und stößt seine Schnauze in meine Kniekehle.
Ich werfe meinen Laptop an, durchstöbere meine Mailbox auf der Suche nach einem Gesprächspartner. Vielleicht gar einem anderen Melchior ? Einem der in der Nacht sitzt, die manche die heilige nennen, auf der Suche nach einem Namensvetter ?
Drei dutzend Broker suchen mich heim, sechzehn Penisverlängerer sogar am Heiligen Abend, drei freundliche lächelnde Herren, denen ich an den beigegebenen Gesichtszügen ablesen soll, dass sie mir die abgebildeten Anwesen in der Karibik auf Ehre zu einem Spott- und Freundschaftspreis überlassen wollen, aber kein Melchior. Nicht einmal ein Kaspar oder Gathaspar, ein Balthasar oder Bithisarea oder doch zur Not irgend ein Karlheinz, der zum Fest der allumfassenden Liebe das Wort an mich gerichtet hätte. Bis auf einen, den ich ( aber meint er mich denn ? ) fast auf den SPAM-Müll geräumt hätte weil er zwischen einen Broker und einen Pornoanbieter eingeklemmt ist. Betr.Ghostwriter ! Regisseur Spielfilm ! Sie sind mir empfohlen worden als einfühlsamer Verfasser. In den nächsten Tagen ein Gespraech über gemeinsames Projekt wäre angenehm. Freund-lichst Ihr Ihnen wahrscheinlich altbekannter Zatajewski.
Nein, Altbekannter, ich erfahre erst jetzt dass es dich gibt. Aber nicht zu spät für uns beide, wenn du bei mir ein Drehbuch in Auftrag geben willst. Und das scheinst du doch zu wollen. Abseits der Storyline-Aus-füllerei wie beim Fernsehen, ohne Zahnarztpraxen, Notariatskanzleien und Hermine, der Mutter des Mutterwitzes.
Doch noch ein Weihnachtsgeschenk also für mich Christkind-verweigerer. Komm her Hund, lass dich schmusen, Herrchen wird gefordert. Ich ringle mich unter den amischen Quilt. Kraule dem Hund die Ohren mit den Zehen. Der erwiderts indem er mir die Waden leckt. Um uns eine zerklüftete Mauer aus Umzugs-kisten, Aufdruck HUI HUI VON EINEM ORT ZUM ANDERN MIT KELLNER TRANSPORTE. Dazwi-schen, wo die elefantigen Lettern mir Platz ließen, mein Gekritzel Geschirr / CDs / Alte Manuskripte.
Unser Hausstand, die Kulissen unseres bisherigen Lebens, nun zusammengestaucht, über und durcheinander gekeilt HUI HUI VON EINEM ORT ZUM ANDERN.

„Schläft er endlich?“ höre ich ins erste Einschlafen hinein die Katze flüstern.
„Er atmet ruhig“ entgegnet der Hund. Ich bemühe mich, diesen Ein-druck zu bestätigen und schnaufe mit langen Intervallen.
„Überzeug dich lieber“ mahnt die Katze. Der Hund beobachtet mich eine Weile mit aufgestellten Ohren ( ich kanns nicht sehen, aber ich kenne doch meinen gewissenhaften Bonzo ) dann beschnüffelt er ausführlich meine Nase, meine geschlossenen Lider und zum Abschluss stößt er mir seine feuchte Schnauze zweimal ins Ohr.
Ich habe Mühe, nicht zu zucken wegen der tierischen Nässe in meiner Ohrmuschel, aber heute bin ich ein Meister der Verstellung. Die einzige Meisterleistung dieses Tages.
„Der ist im Tiefschlaf“meldet abschließend der Hund.
„Ausgezeichnet“ spricht die Katze “er braucht nicht zu wissen dass wir Tiere in der Christnacht sprechen können“
„Er ahnts vielleicht“ meint der Hund.“Zu was sonst ist er Schrift-steller.“
„Er ahnts nicht mal. Er hat sowas von null Fantasie, man schämt sich für ihn.“
“Er denkt ja sogar, er könnte den andern Melchior je wieder los werden“.
„Der so köstlich schmeckt“ schwärmt die Katze.
„Weil er eben auch nicht weiß“ - das ist wieder der Hund- “dass immer nur einmal in einer Generation der König des Lichts zu einem gewöhn-lichen Melchior kommt. Angeknabbert oder nicht.“
„Und der es dann ist, der weiterziehn muß ohne sterben zu dürfen.“
Ich kann mich nicht mehr schlafend stellen.
„Was redet ihr denn da !“ fahre ich dazwischen.
„Da haben wirs“ faucht die Katze.
“Ich hab gleich gewarnt : der hört mit !“
Und sie stellen sich schlafend wie ich vordem.O Wunder der Christnacht.
Herein Natalie. Licht an .
„Meine Mutter ruft gerade die Polizei.“
Hund und Katz bewachen den Blumenkasten, in dem ich den König des Lichts bestattet habe.
Aber der Blumenkasten ist leer. Leer bis auf den Grund. Ein paar Pflanzen hängen am Rand, ein paar sind auf den Estrich gefetzt, dazwi-schen Erdbrocken. Erde auch am Maul des Hundes. Jetzt bricht aus Natalie das große Heulen heraus.
„Wie elend…wie unwürdig…“.
Ich greife nach ihrem Arm.Sie stößt mich zurück. Mit dieser Natalie die da vor mir steht, ist kein Bündnis mehr zu schließen.
Er wird sich dereinst zu dem Kind durchschlagen und ihm berichten, wie ich mit ihm umgesprungen bin.Und alle Welt weiß was inzwischen aus diesem Kind geworden ist.
„Wie unwürdig. Du hast ihn nicht gewürdigt. Du hast ihn nicht in seiner Würde begriffen. Du hast ihn schäbig werden lassen, wie du selber bist, du König des Fahlgrauen du. Du hast ihn nicht geschmückt, ausgerechnet an diesem Abend, an dem er an die Krippe treten soll...“
Und jetzt ist der Christbaumschmuck weg.

Jesus

Das Getrappel des Aufbruchs im Ohr, folgte er diesem bis zur nächsten Karawanserei.
Suchte nach dem Lagerplatz der Satteltiere, fahndete nach den Kamelen mit dem Geruchssinn, fand keinen ihm wohlvertrauten Geruch von ihrem Dung in der Luft hängen. durchstreifte die abgestellten Fuhrwerke, mächtige Planwagen mit hoch aufgetürmter Fracht, tastete sich zwischen ihnen hindurch ohne sich zurecht zu finden, denn sie hatten seit seinem ersten Aufbruch beträchtlich an Größe gewonnen, auch konnte er an ihnen weder Deichseln noch Anspannbalken ausfindig machen. Und als er desgleichen auch keiner Fuhrleute gewahr wurde, die unter den hölzernen Vorderachsen schliefen noch auch hölzerne Vorderachsen, fahndete er nach dem Lager-feuer, um das die Karawanen-führer gelagert sein mussten zu dieser nächtlichen Stunde und fand keine Feuerstelle. Sein Gehör aber fing nunmehr Stimmen in einiger Entfernung auf, Fuhr-mannsstimmen und Fuhrmannsgelächter drang an sein Ohr und da er diesen sich näherte -
“Hej , kuckt euch das an - da steht ja ein Weihnachtsbaum in der Tür !“ schreit einer, und ein anderer „Klingelingeling zur Bescherung !“
In der Glastür eine ledrige Gestalt, um und um behangen mit Christ-baumkugeln und Lametta. Und schon klatschen alle.Warum, Klatschen ist was zu tun für die Hände, endlich Arbeit an diesem drögen Weinachts-abend für Pranken, die nichts zum Zupacken gehabt haben an dem langen Abend ( der nun schon hinüberschlemmt in Mitternacht ) als Biergläser umfassen statt klobigen Lenkrädern. Und sonst dämlich untätig rechts und links runtergebaumelt sind.
So zieht der König des Lichts ein unter Fernfahrerhändeklatschen, hält Einzug in der Karawanserei der Fernfahrer an der Autobahn-Auffahrt und die begrüßen ihn aufgeräumt wie einen, der Reklame läuft für den Zirkus, der grade da hinter der Waschanlage aufgeschlagen worden ist.
"Schalom Brüder“ flüstert er dabei mehr als er spricht „hier in der Karawanserei."
„Was meintn der mit Karawansei ?“
Das trockene Schnauben der Kamele in ihrem Geschirr meint er. Dieses ungeduldige Wechseln von einem Bein andere meint er, bei Menschen wie Dromedaren : wann brechen wir wieder auf zur Reise, in den Wind. Dieses gewisse staubige Knarren der aufgestapelten Waren-ballen meint er, auf denen die Eseltreiber nächtigen, im beizenden Aroma der Tierausscheidungen, die als einziges Lebendiges hinaus dünsten in die erhabene Geruchlosigkeit der Wüste und den Karawanen noch drei, vier Tagreisen lang voranwehen.
Die Huren erkennen hier schon an dem Schritt an mit dem du dich in ihr Zelt schiebst welche Fracht du führst und wieviel die Räuber davon übrig gelassen haben und melden es über ihre besonderen Signalsysteme den Räubern im nächstgelegenen Gebirge das du in zwei Tagreisen durch-queren wirst und deuten dir was die Sterne über der Oase ihnen über deine weitere Reise erzählen denn niemand kann am Himmel so lesen wie sie.
„Bienvenidos du Typ vom Zirkus, oder kannste auch noch andre Sprachen ?“
Die Wirtin, was freut sie sich über den Auftritt von so einer lächerigen Vogelscheuche, bekränzt mit Kugeln und Lametta. Weil die Stimmung ist lau bis miesepetrig gewesen bis jetzt, alle stehen sie solo, festgeschraubt an ihren Stehtischen beim sechsten bis achten Bier, stehen stehen stehen sich in den satten Suff.
Wo sie doch auch sonst nicht reden mit einem andern. Ausgenommen über Umleitungen. Und jeder von den Rumstehern hat seinen Tag, hat alle Tage bisher einsam verbracht in seiner Blechburg , jeder zwar mit einem feststehenden Messer oder Schlagring versehen für den Fall des Manweiß-janiewaskommt und der Fall kommt immer bei reichlich Alko.
Aber zugleich babyblind drauf sich verlassend dass Mamma schon alles schaukelt vor allem diesen Heiligabend, und Heiligabend is doch Mam-ma-Abend, oder nicht ? Aber keiner hat die Mamma bei sich, bloß stellvertetend ein Bier oder einen Brandy, eine Cola mit Rum. Mamma läßt ihn grade heute allein unter lauter Kerlen die solo sind.
.“Hier drin is jeder Gast is 'ne Karawane in seiner Art„ ruft die Wirtin. Jeder 'ne Karawane für sich, und hat seinen eignes Kamel draußen stehn.
Der König des Lichts schleift näher, unter dem Rauschen des Lametta und dem singenden Aneinanderschlagen der Christbaumkugeln, angelockt von dem Versprechen, das ihm die Wirtin gemacht hat ohne es zu bemer-ken : jeder sein eigenes Kamel ? Mit welchem davon wird er weiterziehen können ?
„Na mit Mirko zum Beispiel“ weiß die Wirtin. Mirko hat draußen einen Sattelzug stehen, mit Auflieger macht das allein schon an die tausend Tonnen ! Turbodiesel 420 PS ! Vierzig Meter hat der Mirko hinter sich, ein Kamel was vierzig Meter lang ist, muss sich einer mal vor Augen halten, bildlich und die Ladung is was haste aktuell geladen, Mirko ? achtundzwanzig Tonnen Baustahl. Hin zu hat der Mirko einunddreißig Tonnen Kies geladen gehabt, muss man sich auch mal vor Augen halten bildlich, ein ganzes Quetschwerk hat der Mirko im Rücken gehabt, wenn das ins Rutschen kommt, ist der Mirko selber zerquetscht wie eine Nackt-schnecke stimmts, Mirko ? und wenn erst der Stahl sich nach vorne spießt bei einer Vollbremsung, ins Führerhaus dann ist der Mirko voll übern Jordan. Aber schaut ihn euch an wie er dasteht, den durchbohrt so schnell nicht was , Mirko ist Herr über Leben und Tod und Kies und Kamel.
Und Pjotr ist auch so eine Nummer. Heb doch mal die Arme hoch Pjotr damit unser Gast dich auch sieht ! Und Pjotr stellt sich in Positur. Endlich ist Pjotr wer, leuchtet zwischen den anderen weil die Wirtin ihn aufge-rufen hat, herausgerufen aus den namenlosen Truckern, die Schweine-hälften transportieren genau wie er auch und mit denen allein sind in ihren Tausendtonnern. Dem Mirko sein Heimatstandort heißt Nowi Saad , fast weiß er schon selber nicht mehr genau wo das liegt, nur dass er in die Normandie muss mit verschnittenem dänischen Wodka, das weiß er.
“Antti, zeig dich !“ ruft die Wirtin.
Und Antti reißt die Arme hoch, rundum rotgrün tätowiert mit kopulie-renden Elchen herauf ja da staunt ihr, so was haben sie nur in Lappland oberhalb des Polarkreises und das herauf bis zu den Handrücken. Wenn seine beiden Hände auf dem Steuerrad liegen, springen sechs indigo-farbene Rentiere vom linken Daumen hinüber zu den sechs indigo-farbenen Rentieren auf dem rechten Daumen und zurück und von seinem heimische Lappland fährt er dreißigmal pro Jahr auf seiner ewigen Tour über Estland nach Portugal. Zuerst hat er Möbel geladen, die lädt er aus in Polen und nimmt etwas an Bord, von was er nichts weiß, weil er spricht ja kein Polnisch und sehen tut er’s auch nicht, denn es ist ja in Containern verschlossen und die kutschiert er dann in die Slowakei, da spricht er die Sprache schon gar nicht, nimmt stumm entgegen was sein Kamel dann nach Frankreich trägt , nach Belgien, nach Litauen.
Stumm.
Sie alle hier sind allein der Sprache der Verkehrszeichen mächtig : das mit dem roten Rand drum das ist das Verbotene, wozu also groß einen Wortschatz. Die Leitplanken sind die Zeilen auf denen sie schreiben was sie zu schreiben haben. Und der Abstand von Stoßstange zu Stoßstange und von Satz zu Satz hat immer fünfzig Meter zu betragen, egalweg fünfzig Meter in allem und jedem. Das prägt sich einem ein, das frisst sich sich ins Hirn, auch wenn sie mal in Ellbogennähe pinkeln müssen neben einem andren Trucker, der Abstand bleibt fünfzig kannste nix ändern dran.
Und nun also stehen sie hier in der Karawanserei, übernächtig alle, fünfundzwanzig Tonnen Altpapier vor einem Bier, und daneben vier-undzwanzig Tonnen Milchpulver vor einem Gin neben siebzehn Tonnen Pflastersteinen. Ein jeder hält sich verschüchtert an seinem Bierglas fest und seinem Ginglas und schweigt es an. Auf Dänisch, Baseldeutsch, Lettisch, Kölner Platt, Mecklenburger Platt, Ukrainisch. Und wartet auf ein Wunder. Über einer Karawanserei liegen Schleier von Treibsand bereit zum Auffliegen und fliegen doch auch wiederum nicht, weil jedes einzelne Sandkorn unrastig um sich selber kreist wie eine Heuschrecke, die im Sitzen bereits den Aufsprung probt um beim Davongleiten des Schwarms unter den ersten zu sein im Fluge wie auch die Erstan-gekommenen als Früheste sich niederlassen am Ziel, wo sie Schleier von Treibsand auf Schleier von Treibsand legen, bereit zum Auffliegen.
„Und was ist deine Fracht,Weihnachtsbaum ?“
"Weihrauch und Myrrhe."
Wow. Hört sich an wie Cannabis an oder Mohn oder Tschandu. Frachten der Sonderklasse, die in tief unten in der Federung einge-schweißt sind und mit Jesus- und Maria-Amuletten versiegelt und rauschhafte Gewinnspannen abwerfen, jedenfalls denen die nächtens den Truckern auf Rastplätzen winken mit Signallampen aber Sense isses dafür mit dem Sattelzug wenn die Hunde fündig werden im hinter-urntersten Werkzeugkasten trotz Jesus-Amulett und Maria-Amulett. Die Beamten-tölen sind so unchristlich die riechen nicht das Geweihte und du möchtest sie abstechen mit dem Feststehenden aber lass man bloß stecken Mann, weil dann is Waffenbesitz einschlägig.
Aber der Christbaum hier, der nimmt so‘n Risiko auf sich, und das in seinem Alter. Wirtin, ein Pils für den auf meine Rechnung!
"Seit wann bistn du unterwegs ?"
"Seit zweitausend Jahren.“
Krakatschej schtimnu, echt zwotausend Jahre auf Tour !
Das ist ein Zeitmass , das allen geläufig ist. In der Zeit fahren sie wart mal muss ich mal überschlagen so und so vielmal von zu Hause zum Nordpol wie nix. Aber was heißt zu Hause, wenn das Haus in Anatolien steht oder in der Estramadura und du dein Bett jahraus jahrein im Führer-häuschen hast. Drei Quadratmeter Heimat mitten in der Fremde, immer in der Fremde, hinter einem der Kühlschrank mit den Fertiggerichten drin und noch dahinter in der Schlafkoje die Sexpuppe aus Latex, als einziges Wesen das ohne Widerrede mit auf Tour geht.
Und wenn du sie rammelst, schlagen im Frachtraum die gefrorenen Schweinehälften aneinander und mahnen wir müssen in drei Wochen in Karelien sein, du weißt ja, sonst sind wir Eiter.
Und was ist dein eigen ? Bloß der Quadratdezimeter wo du grade drauf am Scheißen bist. Echt, den Haufen kannste mit dir nehmen als einziges Persönliches was von dir bleibt von Izmir bis Kiew und zurück. Zwotau-send Kilometer, fünfhundert Jahre. Viertausend Kilometer, tausend Jahre. Und wenn du ab fünftausend Kilometer drauf hast, vergeht dir das Gefühl für die Zeit, und wenn du über 14 000 Kilometer drauf hast dann bist du schon in einem andern Sonnensystem.
Zwotausend Jahre ! Der Alte ist einer von uns. Nochn Bier für den !
„Und wie du heißen , Weihnachtsbaum ?“
„König des Lichts."
Wasn Name. Passt voll hier rein, hier sind lauter komische Namen, das da ist der Özal. Das ist Janusz, Mirko, Antti, Sean, Turgüt…drei Turgüts und nun auch noch ein König des Lichts.
„Gebendeit sei der da kommt im Namen des Herrn !“
Jubelt die Wirtin und setzt den König des Lichts schwupp auf den Tresen, damit ihn alle sehen können, und alle sind eingeladen zum Umtrunk, alles geht aufs Haus. Sechs Mann wollen einen Klaren, acht wollen Bier.
Und Whisky will keiner ? Sogar von da hinten von den Spieltischen, die Sprachlosesten von allen wagen sich heran, die Messer weggesteckt und bedeuten mit Gesten : Fruchtsaft !
„Auf unsern besonderen Gast !“ ruft die Wirtin.
Prost allerseits Zum Wohlsein cherio skål a votre santé ! Ein besonderer ist er, belehrt die Wirtin weil er einer ist von den heiligen Drei. Sie hat ihn erkannt wie einen, der sich lange angemeldet hat, zurück gemeldet aus ihrer Kindheit.
„In meiner Kinderzeit hab ich immer im Krippenspiel mitgespielt. Aber nie haben wir einen Heiligdreikönig gehabt, der so was von edel herausgeputzt war wie der da.“
Sie schiebt Lametta und Christbaumschmuck beiseite und fährt mit vorsichtigen Fingern zärtlich an den Ornamenten entlang, die die Sticke-reien über seinen Kaftan spinnen. Die alle bestaunen und mit den Augen verfolgen, den Fingern der Wirtin folgend, und in respektvollem Abstand. Der König, wie hingeschüttet zwischen Zapfhähnen und Espresso-maschinen, läßt es mit sich geschehen, lässt sich hierhin und dorthin drehen der besseren Besichtigung wegen und nimmt die Bewunderung als Huldigung entgegen.
Reglos .
„Dabei schauen alle, wenn die Könige aufmarschieren, bloß immer nur auf einen, und das ist welcher ? „
Keiner weiß es. Keiner hat je ein Krippenspiel gesehen.
“Auf den Schwarzen. Obwohl der immer bloß angestrichen ist.“
„Fass mal an, ich bin nicht angestrichen“ grient ein Schwarzer, der in der zweiten Reihe steht.
„Deswegen machst du uns jetzt den zweiten König“ lacht die Wirtin und stellt dem König am Tresen den Schwarzen zur Seite. Der grient weiter, dass er eigentlich der Rüdiger aus Schweinfurt ist mit zwohun-dertfünfzig Polstersesseln draußen geparkt. Nichts da Rüdiger hier drin, kommandiert die Wirtin, er ist jetzt König und steht für das ganze große schwarze Afrika, auch wenn sein Großvater Sergeant in der US-Army gewesen ist und aus Tennessee gebürtig.
Und hängt dem Rüdiger eine Christbaumkugel ins linke Ohr und eine Christbaumkugel ins rechte als Zeichen seiner neuen Würde. Und alle beklatschen ihn, den König der Polstersessel, damit ihre Hände was zu tun haben und nicht müßig baumeln brauchen.
Auf der anderen Seite des Königs des Lichts fehlt noch ein ein dritter. Da gehört der Balthasar hin, einer mit einem langen Bart. Von ganz hinten wird einer von einem Russen und einem Portugiesen vor die Wirtin geschleppt, der wehrt sich, weil er nichts verstanden hat was hier vorgeht und aus Aserbeidschan kommt und Spanplatten geladen hat, aber hinreichend bärtig ist was neuen Applaus rechtfertigt, die müßigen Truckerhände haben abermals zu tun und dann schon wieder weil die Wirtin dem Spanplatten-Aserbeidschaner Lametta in diesen seinen Bart flicht. Und als er sich nicht mehr wehrt und grinst kriegt er noch oben-drauf auf seine Mütze den Silberengel gesetzt aus Wilkischken, der sich hier freilich nicht mehr um sich selbst drehen kann. Schon weil er keine Kerzen mehr unter sich hat aber Freude erregt er mehr als er je zuvor erregt hat.
Auch der restliche Weihnachtsschmuck wird nun vom König des Lichts gezupft und die vordem lose baumelnden Pranken haben nun damit zu tun die glitzernde Pracht zu verteilen über eigene wie fremde Köpfe, Nasen und Ohren. Da ein paar Glimmersterne, dort ein paar gläserne Engelchen, und ein Kerzenleuchter schwanken, auf Nasen festgeklemmt.Was früher nur Wilkischken gehörte, fließt ins Breite und gehört nun der Fernfah-rerbruderschaft der ganzen Welt.
„Und du, Wirtin, was hastn du gespielt ?“
Sie war immer der Engel der Verkündigung. Der Engel der was ? wird geschrien in sprachlosen Sprachen. Aber da ist die Wirtin schon eingeholt von ihren Erinnerungen, nie hat sie begriffen, was sie als Engel eigentlich zu verkünden hat, aber es ist super gewesen dass sie über allen hat schweben dürfen. Zwei Ministranten haben sie hoch gezogen mit Flügeln aus vergoldeter Pappe, der Gurt um Bauch und Arme hat schmerzhaft eingeschnitten ins Fleisch, aber es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde die hüteten des Nachts ihre Herde und sie fürch-teten sich sehr wenn sie dahergesegelt kam.
„Holla ho ho, mich deucht, da singet wer„ mussten die Hirten sagen“und das gar hoch aus den Lüften her.“
Die Lüfte, das war der Flaschenzug in der Mehrzweckhalle .Und damit die unten im Saal nicht gehört haben wie die Seilwinden quiet-schen, hat sie schon beim Hinaufgezogenwerden dagegen angesungen, glockenhell. Der Engel des Herrn sprach zu ihnen und steht nun auf dem Tresen und müht sich das Glockenhelle von damals wieder ihre Kehle zu bringen siehe, ich verkünde euch eine große Freude. Euch ist heute der Heiland geboren. Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.
Sie spürt wie das Glockenhelle von damals ihr in die Stimmbänder rinnt. Da erschien bei dem Engel die Menge der himmlischen Scharen, die lobten Gott und sangen
. Die Trucker begreifen, dass sie gemeint sind mit den himmlischen Scharen, sie jaulen und quieken drauflos, der Christbaumschmuck zuckt vor ihren roten Gesichtern Ehre sei Gott in der Höhe und den Menschen ein Wohlgefallen ein paar fassen die Arme, ein paar die Beine der Wirtin, stemmen sie hoch, andere unterfangen ihren Bauch, es tut ihr nicht mehr weh wie der Gurt in der Kinderzeit, es tut ihr wohl, die gepolsterten Truckerhände sind weichgeknetet vom Liebkosen ihrer Lenkräder.
Als sie pummelig und busig wurde und zu schwer zum Hochziehen, hat sie die Rolle des Engels abtreten müssen an einen leichteren Engel, aber nun ist sie der leichte Engel wieder selber, der leichteste Engel ihres Lebens und sie versteht auf einmal den Auftrag den sie in ihrer Kindheit nicht verstanden hat, sie muss drei verschlafene Priesterkönige herbei rufen aus dem hintersten Asien sie haben seinen Stern gesehen und sollen kommen das Jesuskind anzubeten.
Einen neuen, einen gütigen Gott, der die alten harten grausamen Götter mit ihren Opfergaben und Menschenopfern ablöst und beerbt, und sie, am Flaschenzug der Mehrzweckhalle, sie muss sie auf den Weg locken plötz-lich wurde die Nacht zerrissen von Getrappel, Gewusel, Geschäftig-keit. Bei jedem von den Geschäftigen, den Trapplern, den Wuslern sah man’s an der Flattrigkeit, mit der er seine Satteltaschen festzurrte, mit der er seine Mamelucken antrieb, dass ihn der Anblick eines Sternbilds aus dem Schlaf gerissen hatte, wie es noch nie am Himmel zu sehen war.Keiner gestand es dem andern ein, aber alle überstürzten sich, schleunigst vor den anderen zum Tor hinaus zu sein.Mit einem Mal sind alle in Bewegung, die herab hängenden Hände haben zu tun, schieben Tische aus dem Weg, räumen Schokoladenregale weg, alle ziehen sie durch die Kneipe, der Wirtin hinterher, die über dem Aserbeidschaner schwebt mit dem Lametta im Bart, und der schwarze König aus Schweinfurt hat den König des huckepack genommen und siehe, der Stern den sie im Morgenland gesehen hatten, ging vor ihnen hin bis dass er kam und stand oben über wo das Kindlein war.
Zwei, weit auseinander in dem Strom, stimmen ein heimatliches Weihnachtslied an und erkennen sich an ihrem Gesang als Sizilianer, auch wenn der eine Volvo fährt und der andere Iveco, pflügen sich aufjaulend durch die andern hindurch, fallen sich in die Arme, und singen insieme umso inbrünstiger, reißen nun auch die Stummen mit, holen aus den einen Fussballplatz-Jodler heraus und aus anderen sforzato und Anatolisches und animato und Kreolisches und agitato und Magyarisches, im Diskant und im Bass und wer seiner Singstimme nichts zutraut, greift sich ein Plastiktablett, klopft mit einem Löffel oder mit den Knöcheln, bläst auf leeren Colaflaschen, formt Pornohefte zu Tröten oder röhrt in Pappbecher.
Die verschwiegenen Gefährtinnen werden aus den Schlafkojen geholt, auch sie dürfen das Wunder der Christnacht schlürfen, latexwabblig reiten sie auf den Nacken ihrer Liebhaber wie der König des Lichts auf des Polstersesselkönigs.
Eine entfesselte Prozession dreimal herum um die Süßwarenvitrinen, um das Regal mit den Antigefriermitteln viermal herum, zwischen den Stellagen mit den Landkarten und denen mit den Teddybären fünfmal hindurch bis die Spitze des Zuges sich staut vor den Tiefkühltruhen, Die letzte Wegstrecke führte die Reisenden allein das Licht welches aus dem Gesicht des Kindes hervorbrach obgleich es auf dem Mist geboren war. Denn es ist gekommen, das Niedrige zu erhöhen und die Erniedrigten zu erheben ins Helle. Weißlich strahlt ihnen das Kühlgut in die heißen Gesichter, die Poularden werden ihnen zum Christkind da erwachte das Kind, und richtete seine großen Augen auf den König des Lichts, und alle fielen nieder : der König und die anderen Könige, die Kameltreiber, die Sklaven mit den Weihrauchgefäßen, und die Dezemberkälte wich mit einem mal der Wärme einer Maiennacht in einer Oase.
Die Wirtin flennt vor Glück und Verzückung. Nach einer dumpf anschwellenden Coda sinkt das Gesinge in sich zusammen, vergurgelt in tiefen Bäuchen, ertrinkt in dem Bier, das sich dort angesammelt hat. Übrig bleibt nur eine spitze Männerstimme, die eine Saeta singt.
Eine Saeta, ein Pfeil, ein arabisches Flehgeschrei, der Schrei rast zwi-schen Kopf und Zwerchfell, von den Hoden herauf zur Allerheilgsten Jungfrau Maria und wieder zurück in die Eingeweide ins unterste Männi-sche. Wenn die Stimme oben ist in den hellen Registern, schwingen unten die Eier mit, und wenn die Stimme nach unten sinkt, strahlt hoch oben die Kopfstimme. Ein Gesang jenseits des Singbaren, als ob ein silberglän-zender Damaszener Säbel in die Speiseröhre gerammt wird bis er aus dem After heraus wieder fährt.
Am entsetztesten über den Gesang ist der Singende selbst, er fühlt einen Dämon in sich rasen. Seinen Dämon. Die Wirtin ist erstarrt in Schrecken, ihre Gäste umklammern ihre feststehenden Messer. Und die Dezember-kälte wich mit einem Mal der Wärme einer Maiennacht in einer Oase.
Der die Saeta gesungen hat, schwitzt. Noch nie hat er sich eine Saeta zugetraut, nur immer hat er andere sie singen hören. Er reißt sich das trie-fende Hemd vom Leib.
Sein Name steht quer zwischen den Brustwarzen tätowiert. JESUS.
Jesus Lopez Sanchez aus Cádiz, Viehtransporter.
Draußen steht sein Zug mit sechsunddreißig Rindern und zwölf Schweinen. Der Schweiß rinnt über die Malereien auf seinem Fernfah-rerleib. Über das Herz das genau auf seinem eigenen Herzen sitzt eine Rose, aufgestülpt wie ein Mund, und darüber eine Dornenkrone. Der König des Lichts kniet vor ihm und legt zwei Finger in die klaffende Mundwunde. Reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig. Für diesen hier, JESUS hat der König des Lichts vor zweitausend Jahren seine Wanderreise angetreten, nun ist er ans Ziel gelangt.
Und du Kindlein wirst ein Prophet des Höchsten heißen. Auf dass er erscheine denen die da sitzen in der Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.


Damaskus

„Sie gehören zu den Puppenspielern, der Herr ?“
Nein, ich gehöre nicht zu den Puppenspielern, Fräulein. Ich gehöre zu den Schriftstellern. Und habe hier eine Lesung zu absolvieren, fünfzehn Uhr, Dichter lesen zur stillen Zeit. Programm des Kulturreferats für die langen Leertage nach dem Fest. Hilfreich dazu, dass die Bücher auch tatsächlich aufgeschlagen werden, die auf dem Gabentisch gelegen haben. Wenn ein leibhaftiger Schriftsteller das Lesen vormacht ( verspricht sich amtserzieherisch das Kulturreferat ) dann lesen ihm die Beschenkten fügsam hinterher. Darum ich bin als Dichter zur Stelle, der Dichter zur stillen Zeit.Wo steht bitte das Mikrofon ?
„Also wir sind eine öffentliche Bibliothek zum Ausleihen. Wenn Sie so ausdrücklich abheben auf Dichter lesen, also Vorträge finden grund-sätzlich da gegenüber statt in der Buchhandlung, wie heißt sie gleich…“
„Buttgereit“ helfe ich aus und weiß zugleich, dieser Name ist bereits ferne Vergangenheit, Herrn Buttgereits letzter Verkaufstag war Samstag, der Heilige Abend. Der Umsatz des Damenjournals hat ihm keinen Auf-schub mehr gebracht. Schon hat die bekannte Drogeriekette das Schau-fenster verhängt und mit ihren Siegeszeichen beklebt.
„Na sehen Sie, Sie wissen es ja. Melden Sie sich doch dort.“
Unter der ihrer Schädeldecke ist der Drogeriemarkt bereits eingezogen und hat in ihren Gehirnregalen seine Waren bereits aufgeschichtet, aus ihrem Schlund duftet jetzt schon der Kräutertee, den es da drüben erst ab nächster Woche zu kaufen geben wird. Ich weise ihr die amtliche Einla-dung vor. Unter dem Briefkopf des Kulturreferats.
„Das Schreiben ist vom letzten Jahr, der Herr.“
„Aber beachten Sie das Kleingedruckte hier unten rechts.“
Ich muss mich behaupten, gegen alle Wahrscheinlichkeiten. Meine Lebensumstände, Bibliotheksmamsell, sind nämlich derzeit reichlich verworren, einer wohlsortieren Person wie Ihnen kann ich das nie und nimmer schildern.Die meinige hat sich von mir entfernt ( was soll das Ihnen, Bibliotheksmamsell, die Sie in einem Motettenchor der siebziger Jahre ihre einzige und letzte Zweisamkeit erlebt haben mit dem angeschwärmten Dirigenten, der nun als Musiklehrer in Osnabrück verkümmert ) Die meinige hat sich entfernt, ist übersiedelt in ein Kinderreich, ein Kindheitsreich, ihr errichtet von ihrer Mutter in dem Jungmädchenzimmer, in dem sie Kind war und noch nicht belastet mit einem wie mir.Weit weg von mir, weit hinten in Willkischken. Und nun sitzt sie dort und schreibt Tag um Tag. Als wir noch zusammen itztn unserer früheren Wohnung waren, hat sie mir mit fliegenden Händen bedeutet sie dabei nicht zu unterbrechen. Jetzt übernimmt das ihre Mutter die als Engel vor dem Paradiese Wache hält das Kind kommt endlich zu eigenem ! Nu hab doch etwas Takt, ja ? und belästige sie nicht in einer Tour.
Und Strafanzeige hat Schwiegermamchen auch gestellt, gegen Un-bekannt einstweilen.Wegen des entwendeten Christbaumschmuckes. Und das alles, Bibliotheksmamsell, rührt daher, dass auf dem Weihnachtsmarkt ein Unbekannter auf mich zugetreten ist und –
„Ich verstehe nicht diesen Bürokratismus“ höre ich mich mit einer Entschiedenheit sagen, zu der ich mich selber beglückwünsche.
“Ich lese doch nun seit schon Jahren regelmäßig hier am ersten Wo-chentag nach Heiligabend.“.
Ich brauche nämlich das Geld, Bibliotheksmamsell. Zumal die Stadt-sparkasse noch ein Quentchen aufs Honorar drauflegt und der Umzug unerschwinglich war.
„Also wir sind hier im Haus personell echt unterbesetzt, gleich geht hier ein Puppentheater an in der Kinderabteilung...“
„Ich habe doch lediglich wissen wollen, wo das Mikrofon aufgebaut ist.“
Sie geht innerlich ihre Dienstanweisungen durch auf der Suche nach etwas Verwendbarem, mit dem sie mich abwimmeln könnte.
“Sie sind natürlich Mitglied des Schriftstellerverbandes, automa-tisch…“
Automatisch. Ich klopfe auf meine Brusttasche, in der ich den Mit-gliedsausweis mit mir herumtrage, weil mir bewusst wird dass er mir ja abhanden gekommen ist wie so vieles seit der Begegnung mit dem Betreffenden ( ich gönne ihm diese herabstufende Versachlichung, ich will ihn fortan nur noch den Betreffenden nennen ).
Das Bibliotheksfräulein aber versteht den Griff zum Herzen in einer Aufwallung von Gemüthaftigkeit als eine Art Treuegelöbnis.Wie bei den Amerikanern, die nach dem Herzen greifen, wenn star spangled banner erklingt und sie ist auf einmal von meiner Rechtschaffenheit überzeugt.
„Ich werde der Sache mit Ihrem Termin nachgehen.“
Ich stehe verloren da, mir und den vorbei strudelnden Kindern im Weg wie eine falsch abgestellte Umzugskiste. Ein paar alte Herren sitzen herum in der öffentlichen Bibliothekswärme, eingemauert hinter den Zeitungen von vorgestern, von vorletzter Woche. Allein auf diese Wärme sind sie erpicht, nicht auf den Sportteil und das Neueste aus aller Welt. Ich genauso, Fräulein Motettenchor, Fräulein Wärmestube. Meine Lesung ist nur ein Vorwand, um mich für eine Weile hier bei Ihnen einzunisten. Weil hier alle Wände heimelig zugestellt sind mit Büchern wie ich sie auch dereinst um mich hatte, und jetzt habe ich nichts als unausgepackte Umzugskisten um mich, und ich weiß nicht ob es sich überhaupt lohnt sie auszupacken und sie in einer Umgebung auszusetzen die mir so fremd ist wie die meinige es mir geworden ist in eben dieser Umgebung.
Die vom Typ Motettenchor kommt zurück.
„Ich habe Rücksprache genommen mit dem Schriftstellerverband. Ich musste erfahren, Sie sind gar nicht mehr Mitglied dort. Weil Sie haben Ihren Mitgliedsausweis zurück gegeben.“
Er ist mir entwendet worden auf dem Weihnachtsmarkt, Mamsell Wärmestube. Von einer Diebesbande, die lederne Popanze mit Gold-stickerei verwendet als Fallen für tölpelige Schriftsteller.
„Und zwar ohne Begründung. Diese Info habe ich von Herrn Hoffmann-Nauke persönlich.“
Sie blickt abstrafend. So abstrafend, dass sie mich nicht einmal mehr anschaut dabei. Immer mehr Kinderscharen strudeln um uns herum, dem Puppenspiel zu.
„Aber der Kollege Hoffmann-Nauke läßt Ihnen ausrichten, mit einem freundschaftlichen Gruß übrigens“- sie gibt ihn weiter wie ein Bonbon, das ein anderer im Mund gehabt hat - „er überlässt Ihnen diesen Lese-Termin jetzt bei hier uns trotzdem. Und zwar aus Solidarität, soll ich noch ausdrücklich versichern“.
Er überlässt ihn mir ?
„Es wäre nämlich eigentlich sein Termin gewesen laut Planung des Kulturreferats.“
Es ist kein Mikrofon zu finden. Ich lese trotzdem.
Da sie dahinritten trug ein jeder Reisende sein eigenes Bild mit sich von dem Gotteskind, dem sie zustrebten, je nach Gangart des Reittieres, auf dem er saß.
Hinter mir hat das Puppenspiel bekommen und mir alle Kinder abge-jagt. Der Kasper begrüßt sein Publikum und lässt es üben, ihm zünftig und lauthals zu antworten. Mit angestrengter Stimme versuche ich mich da-gegen zu behaupten.
Der auf einem Elefanten ritt, malte sich im gemächlichen Rhythmus des Elefantenganges einen behäbigen Knaben aus mit vollen Backen und Kinngrübchen, der ihm das Händchen auf den Arm legen würde wie einem, den er lange erwartet hat um nun viele Tage lang daüber zu disputieren, was in seinem Reich anstand, die Ernten und Missernten, die Priester und die Bewässerungsanlagen und die Steuern.
Zwei Herren sind sitzen geblieben. Keine Greise, die wegen der Frank-furter Allgemeinen gekommen sind und sich nun belästigt zeigen. Zu-hörer. Mein Publikum.
Der auf einem Kamel ritt, formte sich das Bild eines Neugeborenen, in Windeln aber weise, der ihm mit geschlossenen Augen zulächeln würde und ihn auffordern, ihm seine Wünsche und Ängste vorzutragen, seine Hoffnungen und Bängnisse. „Wenn ich heranwachse“, würde das Kind ihm zulächen, „ will ich sie dir alle erfüllen, du musst dich nur gedulden, bis ich sie verstanden habe“.
Die beiden verfolgen mit aufmerksamen Gesichtern, was ich vortrage. Zwei Literaturkenner. Zwei Feinschmecker.
Der auf dem Pferd ritt, sah in Schritt und Galopp das goldene Gesicht des Erlöserkindes das zu ihm sprach : entlass deinen Wesir, denn er betrügt dich, setze die Kornpreise herab ehe das Volk aufsteht wider dich, verbiete in meinem Namen die Vielgötterei -
Das Puppenspiel steigert sich in so schreierische Turbulenzen, dass ich nicht mehr dagegen ankämpfen mag. Kasper muss mehrere Krokodile besiegen, oder von mehreren Krokodilen gefressen werden. Stumm setze ich mich zu meinen beiden Zuhörern.
„Bemerkenwerte Kenntnisse haben Sie da verarbeitet über den Nahen Osten“ höflicht der eine.
„Sie sind da gereist, nicht wahr ?“
„Ich bitte Sie. Bei meinen Einkünften.“
„Dann stehen Sie mit jemand in Verbindung, der von dort kommt“.
„Aber meine Herren, ich bewege mich in einem historischen Rahmen. Historisch plus mythologisch“.
Sie lächeln sich zu.
“Mythologisch , oh oh“ lächelt der der noch nicht mit mir geredet hat. „Osama Bin Laden hat diesen Programmpunkt ja auch im Angebot.“
„Aber ich handle von einem antiken Sujet : den Weisen aus dem Morgenland.“
„Schauplatz vorderer Orient. Brisantes Revier.“
„Das ich bereise in Gedanken, und mit meinen Erfindungen.“
„Erfindungen, sehr interessant. Und wenn es nun Codes waren die Sie da vorgetragen haben ?“
Sie lassen mich flüchtig einen Ausweis sehen. Sehr flüchtig.Ich erfasse nicht, was darauf steht.
„Entschlüsseln Sie uns die Codes. Wir sind ganz Ohr“.
"Aber ich bin freier Schriftsteller...“
Das kommt so hilflos aus mir heraus wie neulich auf dem Weih-nachtsmarkt, als der Lederkönig mich das erste Mal ansprach.
"Freier Schriftsteller !“ lacht bitter der von den beiden, der das Wort immer noch nicht an mich gerichtet hat.
„Sieht ganz danach aus als wollt er uns drohen."
Wenn er schon per er über mich spricht, warum sagt er nicht gleich der da.
"Ich darf doch wohl erwarten…ich verlange dass…“
Ich amüsiere die Herren.
“Was liegt gegen mich vor ?“
„Sie haben eine Person aus dem Nahen Osten bei sich aufgenommen. Eine Person notabene die behördlichereits nicht fassbar ist.“
„Aber der Betreffende ist doch eine Figur aus dem Neuen Testament.“
Ich sehe es ihnen an, dass ich sie nun doch verblüfft habe. Neues Testament fällt nicht in ihren Amtsbereich.
„Seine Herkunft ist Matthäus, zweites Kapitel, Vers eins bis sechzehn."
„Mit Hilfe Ihres Computers hat sich die genannte Person jedenfalls Zugang zum Internet verschafft. “
Meines Computers ?
„Und sich Daten auf Ihre Festplatte heruntergeladen.“
Sie schweigen. Ich auch.
„Glücklicherweise hat sich Ihre Frau Schwiegermutter als sehr koope-rativ erwiesen. Sie sollten sich ihrem Beispiel anschließen.“
"Ich weiß zufällig ziemlich genau aus einem Krimi den ich ge-schrieben habe -"
"Ah sieh an, er ist selber Fachmann im Ermitteln.“
Der Kasper lärmt wieder. Beide grinsen. Über den Kasper im Puppen-spiel oder den, den ich hier abgebe?
„Dann hat er bestimmt schon mal ein Verhör wie dies hier vorkommen lassen in einem von seinen Krimis.“
Ich bleibe tapfer.Und bei der Wahrheit :
"Ich hab zumindest ein Exposé verfasst, das Fernsehen hats dann abgelehnt, aber trotzdem - "
Ich erhebe die Stimme ins Gelächter der beiden Herren hinein :
"Trotzdem weiß ich : die Polizei hat eine richterliche Erlaubnis vorzu-weisen,wenn sie eindringt in eine Privatwohnung."
Die Herren werden zwanzig Grad kühler.
„Etwas mehr Respekt bitten wir uns aus vor dem Begriff privat, ja ? Die Mutter Ihrer Gattin hat Sie nur vorübergehend aufgenommen, wie beide Damen ausdrücklich betonen.“
Was sollte ich dem noch entgegnen.Ich starre stumm unter mich.
„Ehe Sie ganz dicht machen, werden Sie uns jetzt ein wenig beglei-ten.“
„Ich bin festgenommen ?“
„Aber aber ! Ein Schriftsteller, ein Mann des Wortes, und vergreift sich so gravierend im Ausdruck“ hämt der, für den ich immer noch er bin.
„Wir ersuchen Sie lediglich einen Verwaltungsakt zu quittieren mit Ihrer werten Unterschrift. Sie sind doch auch ein Mann der Feder“.
„Was denn für einen Verwaltungsakt ?“
„Die Beschlagnahme Ihres Laptops.“
Meines Arbeitsgerätes ! In dem alles abgespeichert ist, was ich seit dem Auftreten des Irrlichterers niedergeschrieben habe, der sich als mein Doppelgänger bezeichnet. Oder bin ich sein Doppelgänger ?
„Wir dürfen bitten …“
Der mit mir nicht redet, weist so förmlich wie unmissverständlich zum Ausgang. Das Puppenspiel ist gerade zu Ende, lärmreich sind die Böse-wichter bezwungen, die Krokodile haben spielfrei, lärmreich hat der Kasper die Kinder verabschiedet. Meine Begleiter bahnen mir eine Gasse durch das Gewusel.Ich lasse mich mitzerren, als hätte ich Handschellen an. Oder stilisiere ich mich schon wieder ? Höre ich da nicht ein Gefrage Mutti, is dasn Gängster ? Sag, is der echt gefährlich ? Ja doch, ich stilisiere mich schon wieder.
„Da hast was, Onkel„ flüstert mir kleines Mädchen so ver-schwö-rerisch zu , dass meine beiden Begleiter sie nicht bemerken „wo du doch ins Gefängnis musst“.
Diesmal habe ich mich nicht verhört. Ins Gefängnis. Die Kleine hat mir einen Schokoriegel zwischen die Finger geschoben.
„Meine Tochter denkt nämlich“ schaltet die Mutter sich ein „Sie haben das Krokodil gespielt.“
Dort, wo sie mich hinbringen, sehe ich keinen Uniformierten. Ein Schreibtischmensch hat meinen Laptop vor sich stehen.
"Der hat hoch interessante Namen gespeichert : Dah-nadur-ben-Arta-ban…Zara-wandad-ben-War-dad …Beh-amed…“
„Kontaktpersonen ?“
„Oder Netzwerke.“
„Auch Ortsnamen ?“
„Damaskus.Wir sind noch am Auswerten.“
„Damaskus !“
Der Zweite pfeift und beugt sich dem ersten über die Schulter.
„Alles total stringent auf Westjordan focussiert, Syrien, Gazastreifen, Israel …“
„Israel !“ Der andere pfeift wieder.
„Natürlich alles verpackt in so Schwafeltexte mit jeder Menge Astro-logie, die man nicht verstehen soll. Aber das lassen wir decodieren.“
Meine beiden Begleiter haben mich diskret ins Zimmer geschoben und allein gelassen, ohne ein Wörtchen, und sind verschwunden. Der mit meinem Laptop dreht den Bürostuhl zu mir.
"Sie sind also der mit den Connections zu Al-Quaida ?“
Er sagt das mit der weichen Anteilnahme von Software-Leuten, die einem ein neues Viren-Schutzprogramm verkaufen wollen.
"Das alles ist mir doch zugestoßen ohne eigenes Zutun. Eines Abends, auf dem Weihnachtsmarkt –„
"Hisbollah ? Hamas ?“
„- da kommt ein Wildfremder auf mich zu –„
„Von der Islamischen Befreiungsfront ?"
„- ein Wildfremder und sagt Bruder Melchior, du bist der letzte, an den ich mich wenden kann."
"Bruder !“ Der Pfeifer pfeift schon wieder .
“Da ist konspirative Vereinigung einschlägig.“
„Und Melek-or ist der Kopf. Der Name taucht immer wieder auf. Selbstredend ein Tarnname.“
„Melek-Or ist kein Tarnname und kein Anführer sondern der König des Lichts."
"König ! Das riecht nach monarchistischem background.“
„Exilverschwörung. Ein Prinz, sagen wir mal als siebzehnter Thron-folger geboren von der dritten Nebenfrau, will schneller ran."
"Das deutet auf Saudi-Arabien."
„Oder Abu Davi.“
"Aber nein doch – „ ( ich muss mich als Mann des Wortes beweisen, wozu sonst bin ich als solcher angekündigt ) „verstehen Sie doch bitte, als Schriftsteller sammle ich - "
"Unter dem Deckmantel der Schriftstellerei sammeln Sie Daten über die Flugbewegungen innerhalb der NATO, Wanderungsbewegungen auf der arabischen Halbinsel, geheime Versuche der israelischen Streitkräfte mit Laserwaffen. Es leuchtete von innen heraus. Da war sonst kein Licht im Stall außer ihm taucht stereotyp immer wieder auf .“
„ Und das geben sie verschlüsselt weiter an diesen König des Lichts."
„Ich versichere Ihnen, es ist dasselbe wie Zeitungsschnipsel ausschnei-den. Ich kann es nicht lassen mir gewisse Bruchstücke zu notieren, Zufallsfunde..."
“Allmählich scheint er kooperativ zu werden."
"Epiphanien hat James Joyce solche Fetzchen genannt.Und nicht anders haben Arno Schmidt und Marcel Proust es auch auch betrieben."
"Notieren, die Namen ! Mutmasslich hängen die auch mit drin in der Nahost-Chose“.
Und der Pfeifer tippt.
„Tschoiss…Marzelpruhst..."
Denen ihre Behörde, wer immer sie sein mag, stellt offensichtlich nur vereinzelt studierte Philologen ein. Darum gebe ich mich leutselig :
“ Joyce bitte wie – ich buchstabiere – J wie Josef, O wie Otto,
Y wie …“um mich sogleich schwärmerisch zu unterbrechen : „Er war der genialste überhaupt von allen Schnipsel-Sammlern ! Er hat noch und noch dicke Ordner bei sich gestapelt, nichts war ihm zu gering um da nicht aufgenommen zu werden – und es hat sich ja auch ausgezahlt …“
„Geheimdienstlich ? Gehen Sie doch mal ins Detail“.
Den beiden schießt Gier in die Augen, da wischt der herein, der zuvor mit mir nicht geredet hat und flüstert mit ihnen.
"Besagter Illegaler, dem Sie gesetzwidrig Unterschlupf gewähren hat in einer Autobahnraststätte einen Polizei-Einsatz provoziert. Und acht-undvierzig Stück Mastvieh befreit aus einem Viehtransporter“.
Mein hinfälliger Faltenkönig, just in der Heiligen Nacht.
Respekt. Respekt trotz alledem, oder war ist ihm Mithras dabei zur Hand gegangen, anlässlich seines Geburtstagsfestes ? Ich ertappe mich dabei, dass ich in Gelächter ausbreche. Nicht aufstäubend, aber ge-nüsslich.
"Als Helfershelfer stehen Sie selbstredend für die genannten Schäden im vollen Umfang gerade."
Und die gehen in die zehntausende selbstredend, wenn nicht drüber. Erstens weil die verstörten Schweine auf die Autobahn gelaufen sind, zweitens weil sie dort Auffahrunfälle verursacht haben, drittens weil die Feuerwehr sie wieder einsammeln musste und das viertens bei Schein-werferlicht und Fahrbahnsperrung in beiden Richtungen und weil fünftens die vom König des Lichts aufgestachelten Fernfahrer in Volltrunkenheit die Beamten angriffen mit Bierflaschen, Stichwaffen sowie Schlagringen und sechstens Erregung öffentlichen Ärgernisses seitens der Wirtin
( Ausbruch Paranoia infolge Drogenmissbrauch plus Striptease ) was erforderlich machte siebtens Einsatz eines Spezialkommandos der Psychiatrie.Ergibt eine Bilanz von vierundzwanzig Festnahmen, diverse Notarzteinsätze und zertrümmertes Rasttättenmobiliar.
Positiv zu verbuchen im Sinne der Kriminalstatistik : sieben Dealer dingfest, vier Illegale unter dem Raststättenpersonal aufgegriffen zuzüglich drei Schleuser mit zwölf im LKW-Zwischenböden Geschleu-sten entdeckt.
„Summa summarum davon allein neun aus Ihrem Nahen Osten.“
Meinem Nahen Osten. Und wo ist der Verursacher all dessen geblie-ben ? Schweigen, Blicke von einem zum andern.
„Es versteht sich dass Einzelheiten über den Ermittlungsstand nicht an Beschuldigte weitergegeben werden.“
Zum Delinquenten hab ich’s nun also gebracht.Dabei brauch te ich den Buben doch nur anzuvertrauen der gegen den Sie den Staatsapparat kostenaufwendig in Gang setzen, der ist doch nur ein hohles Futteral, Sie würden lachen wie modrig, und da drin fänden Sie nichts, rein gar nichts zum Festnehmen und Unteranklagestellen. Sie täten mir einen Gegendienst für die Moleste die Sie mir bereitet haben wenn Sie untersuchen ließen in einem Ihrer kriminaltechnischen Labors wie alt dieser Lederbalg eigentlich nun wirklich ist, Halbwertzeit, Carbon-Analyse undwasweißich dann hätte ich endlich Gewissheit, wissen-schaftlich untermauert : er ist die Luft nicht wert die in ihm modert.
Aber ich brings nicht heraus. Ich brings nicht über mich, ihnen meinen König des Lichts auszuliefern.Und seis auch nur in Worten. Er rumort in mir, obwohl er fort ist.Er rumort in mir, weil er fort ist.Als wäre ich seine Hülle, sein Kaftan aus Kamelleder, und er meine Hülle ...nein das nun doch nicht, wohin lasse ich mich denn da treiben. Gleichviel, ich bins ihm schuldig, daß ich über ihn schweige.
Ob ich nun an ihn glaube oder nicht. So wie er bei mir immer nur geschwiegen hat und reinen Mund gehalten.
Die beiden klimpern auf meinem Laptop selig und entrückt herum, Halbwüchsige beim Computerspiel. Als wäre ich, dessen doch immerhin Besitzer gar nicht mehr anwesend. Sie gicksen, hauen sich gegenseitig begeistert auf die Rücken.
Was nur hab ich dem PC anvertraut, dass ich dermaßen Lustbarkeiten errege bei diesen Jungchens ? Soll ich mit Anteil nehmen, gar Applaus einfordern ? Ich beschließe zu meinen Gunsten, sie mit ihrem Spaß allein zu lassen und schon bin ich unbemerkt zur Tür hinaus. Wo ich mit dem zusammen pralle, für den ich vorhin immer nur er war.
„Wo wollen wir denn hin, Freund ?„
Welche Ehre, nun spricht er auf einmal mit mir. Ob ich mal telefonieren könnte, will ich von ihm wissen, ich würde doch sonst noch als spurlos verschwunden gemeldet von meiner Frau.
„Sie besitzen kein Handy ?“
Nicht doch, ich bin freier Schriftsteller und kein Teenager, der von der S-Bahn aus Mutti die Position durchgeben muss, damit sie die Gefrier-Pizza ins Rohr legt.
„Spricht für Sie. Ihr gegenwärtiger Aufenthaltsort hat keinen Anwalt was anzugehen.“
„Ich habe gar keinen Anwalt.“
„Weitblickend von Ihnen.“
Er hellt sich auf, tätschelt mir sogar den Oberarm.
“Einen Anwalt einschalten zum gegenwärtigen Zeitpunkt wäre auch ausgesprochen kontraproduktiv.“
Diese pedantischen Typen diese Anwälte ganz unter uns die leiden an sowas von einer verengten Weltsicht, formfuchserisch, die verkomp-lizieren zeitraubend simpelste Nachforschungen, bloß um ihre Gebühren aufzuschmalzen.Er mag sich gar nicht mehr trennen von dem Rechts-beistand, den ich gar nicht habe. Ich unterbreche ihn.
"Ich bekräftige, ich habe da lediglich und in bester Absicht jemand aufgenommen, der auf der Reise zum Jesuskind ist, wie er mir selbst versichert hat.“
Alle Achtung er lacht mich offen an dabei was Sie so erleben ! unsereins geht ja sonst mit einer stocktrocknen Materie um hier, und nun auf einmal ein Fall wie Sie ! Die Kollegen da drin ( ich höre die beiden Halbwüchsigen noch immer gicksen ) die erleben plötzlich suspence und echtes Abenteuer.
„Durch Sie ! Gratuliere.“
Das wohlwollende Lächeln in seinem Gesicht bleibt stehen als er mich wissen läßt, dass dieser König des Lichts sich anvertraut richtiggehend anvertraut hat, nicht uns, wer sind wir denn schon sondern einer Insti-tution ganz top oben in den Schaltzentralen der westlichen Hemisphäre, die auf ihn aufmerksam geworden ist weil er sich ins Netz der NASA eingehäckert hat und so eine Lawine ins Rutschen gebracht.
„Alles von Ihrem Laptop aus.“
Und jetzt also liegt ein Amtshilfeansuchen vor aus Washington D.C.
„Unter Berufung darauf, Sie hätten ihm das Knowhow beigebracht.“
Meine Hand krampft sich in meine Jackentasche. Ich fasse etwas eckig Hartes. Den Schokoriegel, den das Kind mir zugesteckt hat.Er ist bereits angebissen, aber grade das erregt mir jetzt Heißhunger. Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört, viel Klagens, Weinens und Heulens.

Balthasar

Wie anteilnehmde Vettern erscheinen sie mir nun, eben weil sie sich mir so lange verweigert haben und nun betrachten sie mich schon als ihren Schutzbefohlenen. Das Klima zwischen uns ist deutlich am Reifen, doch doch, und ohne gegenseitiges Vertrauen keine ersprießliche Zusam-menarbeit.Sie lassen es sich nicht nehmen mich zu chauffieren nicht der Rede wert, wir sind dienstlich sowieso egalweg auf Achse. Zu chauffieren zu einem Treffen, das für mich alles wenden wird.
Der Weg führt, für mich neu, für sie neu, in eine Villengegend.
“Sieh an, was Sie für Bekanntschaften haben…“
Dabei kenne ich hier gar niemand. Noch. Der Name, nach dem ich suche, ist der des Filmregisseurs, der sich mir übers Internet angepriesen hat. Sie sind mir empfohlen worden als einfühlsamer Verfasser. Ein Ge-spraech über gemeinsames Projekt waere angenehm.
Messingnes Schild an der Gartenpforte, das meine neuen Bekannten, die Wahrnehmer von Berufs wegen, schneller wahrgenommen haben als ich.
ALEXANDER VON ZATAJEWSKI .
„Wollen Sie sich nicht bemerkbar machen ?“
Aber eine banale Klingel gibt es hier nicht, dafür eine wuchtige aber elegante Metallfaust, gleichfalls aus Messing. Ehe ich nach ihr greifen kann, hat sie einer meiner Beschützer schon für mich niedersausen lassen. Dreimal lang, zweimal kurz. Es dauert lange, bis das Gittertor aufspringt und mit einem dezenten Klacken andeutet, dass der Besucher nun eintreten darf.
„Wir verlassen uns auf Sie.“
Sie bleiben zurück, als ich über den Kiesweg auf das Haus zu gehe. An der Haustür, bereits für mich geöffnet, keine Empfangsperson, kein Butler. Dahinter ein dunkler Flur.Keine Hausdame. Auch kein Hund, der sie ( begrüßend, beschnüffelnd ) verträte. Keine Weg- oder Einweisung, ob ich mich nun treppauf oder treppab wenden soll.
„Junger Mann - ?“
Ich gehe der Stimme nach. Ein Gelähmter ? Ein Bettlägeriger, in seiner Matratzengruft eingesargt, in einen seidenen Morgenmantel gehüllt, vor sich ein Wasserglas und eine Tagesration Tabletten, die ihm zu reichen er mich als erstes ersuchen wird ?
„Das machen Sie schon sehr gut bis jetzt. Jetzt noch zwei Stufen nach links, junger Mann.“
Die gesamte Donaumonarchie oszilliert aufs angenehmste in der nun nicht mehr fernen Stimme.
„Ja da schau her, Sie san ja goar kaa junger Mann mehr.“
Ein aufrecht Sitzender, adrett gescheitelt, mit roter Fliege und in Glen-check-Weste, einen Gamestick in der manikürten Hand.
„Sie haben einen jungen Mann bestellt ?“
„Aber erhofft“.
Er verübt einiges mit seinem Gamestick, was ich nicht sehen kann, was aber erschreckend knallende Auswirkungen hat, dramatische Wider-scheine auf seinem Gesicht verursacht, vielfarbig und missfarbig. Die Farbgewitter die davon über sein Gesicht zucken lassen mich nicht erkennen, wie alt er ist.
Er läßt mich stehen, wo ich stehe. Bin ich bereits wieder entlassen, weil ich nicht der Jüngling bin den er sich vorgestellt hat ? Er stöhnt. Er jauchzt geradezu, und stöhnt zugleich. Über ihm an allen Wänden und soweit ich das bei dem Dämmerlicht erkennen kann mehr Bücher als bei dem verwichenen Herrn Buttgereit oder in der Stadtbibliothek. Ich getraue mich zu fragen ob ich von eben diesem Herrn Buttgereit an ihn weiter-gereicht worden sei der Buchhandlung in der ich jüngst eine Lesung etc etc etc und halte die Partie damit für eröffnet.
„Ach junger Mensch“, nach langem Intervall, weiterhin in Anspruch genommen von seinem Videospiel „ich geh doch nie in Buchhand-lungen“.
Aber die unermessliche Bibliothek ?
„Alles ererbt ! Vor der fürcht ich mich, mit der bin ich aufgewachsen in Klosterneuburg, wenn Ihnen das was sagt. Der Vater hochrangig bei den Dragonern. Die Dragoner seinerzeit haben noch gelesen, Lektüre gepflegt, junger Mann, hommes des lettres aux cheveaux. Jahrhunderttraditionen blicken auf mich herab, wenn ich zu all dem Schweinsledernen da hinauf schau“.
Deswegen schaut er nicht hinauf, sondern auf die bunte Krachma-cherscheibe vor sich. Alles Irrweisungen da droben, Irrlehren, junger Mann, und Irrgärten. Gewiss, als Vierzehnjähriger hat er sich zwischen den Schwarten verkrochen, zwischen der kritischen Fontane-Gesamt-ausgabe und dem vollständigen Grillparzer letzter Hand, und hat mastur-biert. Heutigentags aber erlaubt er den Folianten nur noch stramm zu stehen wie zum Appell angetretene Dragoner als immerwährende Toten-wache für seine Vorväter und läßt sie ihr Sattelzeug präsentieren Buch-rücken sind doch auch Sättel aus dem selben ochsenhäutigen Material und mit der nämlichen Verzierung, oder ? und die ungelesenen Weishei-ten rumpeln in ihren Bäuchen während sie zuschauen müssen regardie-ren, verstehnS, wie er sein buchloses Leben lebt. Vor der Flimmerkisten, der verdammten.
Was aber soll dann ich, der Bücherschreiber, hier ?
„Meine Großnichte hat gestern erleben dürfen, junger Mensch, wie Sie in Handschellen abgeführt worden sind. Es soll sogar ein Intermezzo dabei gewesen sein mit Tränen Ihrerseits, es hat sie Ihnen bloß keiner abgewischt. Ja den schau an, hab ich mir denkt, eine schmerzensreiche Persönlichkeit geadelt von Verwundungen und mit einer gesunden Portion Dreck am Stecken.“
Und läßt mich weiter stehen, wo ich stehe.
“WissenS eigentlich, junger Mensch, wer die trefflichsten Memoiren aller Zeiten verfasst hat ?“
Jetzt beginnt er das Examen. Und schon bei der ersten habe ich keine Antwort.
„Giacomo Casanova.“
Und warum ?
„Wegen der selben Melange wie bei Ihnen, aus Dreck am Stecken, und schmerzensreich. Zuzüglich Genie.Sein erster Geniestreich war : er hat sich selber nobilitiert zu einem Chevalier de Seignalt und der zweite Geniestreich, er ist aus dem Hochsicherheitstrakt ausgebrochen, wo er vollkommen zu Recht drin eingekastelt war“.
Also auf einen Film über diesen Glücksritter will er hinaus. Ich stehe noch immer, aber nun schon selbstbewusster. Ich habe Erfahrung mit Hochstaplern, Herr von Zatajewski, ich bin grade selber einem aufgeses-sen. Halte aber mit dem Privaten noch hinter dem Berg und schwadro-niere :
“Das trifft sich günstig, ich bringe da einige Erfahrungen mit im Drehbuchschreiben.“
Warum mein Licht unter den Scheffel stellen, wenn ich nicht einmal ein Feuerzeug in der Tasche habe. Ich bin kundig im Ausfüllen von fremden Storylines, Herr Dragoner, auch wenn es mir derzeit nicht ge-lingt, die Storyline meiner eigenen Existenz zu kritzeln. Und Exposés für Vorabendserien entwerfe ich Ihnen aus der la main heraus, ob sie nun in Notarkanzleien spielen oder in Zahnarztpraxen. Warum dann nicht auch in den Bleikammern von Venedig.
„Ich verachte dieses Lohnfernsehen“ schreit er, “diese Bassener-Dramaturgie! Diesen elende Personnagen ! Zum Speihen .“
Ich weiß nicht, was Bassener sind und bin für alle Fälle erst einmal wieder still.
„Junger Mensch“ ( ich bin bestechlich , wenn ich zum wiederholten Mal so angeredet werde ) „schauen Sie . ich benötige doch bloß einen En-thusiasten. Und nur ein junger Mensch is noch imstand zum Enthu-siamus.“
Wieder eine Krachbummpause. Nun hat er mich bereits eingewöhnt.
„Deswegen werden Sie mich zuvörderst amal ab jetzt Balthasar nennen. Balthasar, das ist der Älteste.“
Von den drei Königen, der mit dem langen weißen Bart. Es geschieht mir zum ersten Mal seit den Zeiten meines Kommunionsunterrichtes, dass mir jemand von den drei Königen spricht.
„Der Kaspar, der ist der unruhige junge Spund in der Trias. Der Treib-auf. Der Balthasar is der Senex, der alte Taddl, der bloß noch auf seinen Nachruhm bedacht ist. Aber Sie als Melchior sind der Mittlere und damit der Wegemeister, der die anderen ins Ziel bringt.“
Er tätschelt mir die Hände, dem Wegemeister, und malt mir unsere Zusammenarbeit aus, als läge sie bereits glückhaft hinter uns und nicht vor uns im noch Unausgehandelten.
Herr Balthasar, will ich vorbringen, ich bin aber derzeit recht einge-schränkt was meine Arbeitsmittel betrifft, ich bin sogar gewissermassen bereits so gut wie obdachlos. Aber er, als hätte ich’s ausgesprochen :
„Sie logieren sich selbstverständlich zum Arbeiten hier bei mir ein. Sie bestimmen wann, Sie bestimmen wie oft.“
Plötzlich ist sein Gesicht dunkel. Ich kann wieder nicht erkennen, wie alt er ist.
„Über das leidige Kontraktmäßige tauschen wir uns le prochaine foix aus. Für heut noch einen letzten Liebesdienst.“
Ich höre heraus, dass die Audienz beendet ist.
„WennS mir die eine Kassette rausnehmen und die andere dafür hineinstecken…“
Die Flure und Treppen, durch die ich mich zurücktaste, sind noch finsterer geworden. Diesmal aber ist mir jemand behilflich. Es wird zwar mit elektrischem Licht gespart, aber nicht mit Lassen Sie sich führen Vorsicht Stufe und so werde ich bis zum Gartentor geleitet. Erst als dieses von außen zugezogen ist und der Domestik noch immer neben mir steht, erkenne ich dass er nicht zu Balthasars Entourage gehört sondern zu meiner : es ist der zweite von meinen Schatten, die sich an mich geheftet haben.
Ach Freunde, wenn Ihr wüsstet ! Ich darf mich ab sofort Drehbuchautor nennen, und mein Held ist der Seigneur de Seignalt, euch höchstens bekannt als Casanova. Das ist mehr als mir Natalie und die Schwieger-mutter mir je zugetraut hätten.
„Wir haben Ihnen etwas mitzuteilen.“
Ihre Limousine gleitet heran, sie komplimentieren mich auf den Bei-fahrersitz.
“Ihre Gattin ist verschwunden. Es deutet alles darauf hin, dass sie sich mit dem Unbekannten abgesetzt hat.“
Meinem König des Lichts.

Zarathustra

Die Frauen : bis zum Anbruch der Reise waren sie hinter Mauern verschlossen, wer sich keine leisten konnte, bekam keine zu Gesicht. Nun aber da man mit ihnen reiste, sind sie Tag und Nacht nah, nicht zum Greifen nah, aber zum Hören, hinter Tüchern,Vorhängen Planen. Durch die Zelte, die an den Rastplätzen aufgeschlagen werden, flattert unge-hindert ihr Gezwitscher, getrennt von den Luschern nur durch das Gewebe, durch das hindurch ihr Brodem, in dem ihre Formen sich abdrücken und jenseits als Relief erscheinen, über das sehnsüchtige Männerhände streichen.
Und wenn Männer und Kamele ihre Not durft in den Sand fallen und alle Welt dabei zusehen lassen, werden für die Frauen Teppiche über Stangen drapiert, von Sklaven gegen den Wind aufrecht gehalten höher als schulterhoch und doch nicht hoch genug für die Neugierigen die einen Blick riskieren obwohl die Schwertträger bereit stehen um den Kopf, in dem die Augen des Spanners sitzen mit gezieltem Hieb hinab zu der Was-ser lassenden Dame hinter dem Paravent zu befördern. Den Neugierigen gilt solche Art des spannerischen Todes als ein guter Tod, und der Geköpfte fährt ins Jenseitige auf, um Jungfrauen zu schauen von Ewigkeit zu schauen.
Wenn der Effendi zur Siesta-Zeit die eine oder andere oder gar mehrere seiner Frauen in sein Zelt winkt, erkennt niht er sie, sondern seine Nase. Ihr Leib-Parfüm eilt ihr voraus, dessen nur sie sich bedienen darf, das nur ihr eigen ist und der Effendi klopft, während der Duft sich ihm nähert, mit den Fingern im voraus den besonderen Rhythmus ihres Koitus, den er gleich mit ihr zelebrieren wird, mit geschlossenen Augen.
Und die Sklaven erkennen sie nicht minder, haben sie doch ihre leer fortgeworfenen Duftflaschen gemaust und versteckt, ihre Pimmel oftmals durch die Flaschenhälse gezwängt, bis ihre Unterregion heftiger nach ihr duftete als diejenige selbst, die der Effendi nun reitet.
Der Effendi stöhnt in der Duftenden, die Sklaven hinter der Zeltwand stöhnen in die Flaschen, hingesunken ans Segeltuch, abgestützt mit einem Arm gegen die Körper der drinnen Werkelnden, und das Gestöhn hier und das Quietschen da – der Gerittenenen, der gerubbelten Flaschen – locken die Schakale herbei. Und die haben leichten Fraß beim Kauen von den Düften benommen.


So wie sie da sitzt, verbittert richterlich, sehe ich meiner Schwiegermutter an, dass sie schon seit geraumer Zeit in dieser Positur verharrt hat, ja sie richtiggehend einstudiert haben muss. Das war ja erwarten der eine asozialer als der andere.
Es verdrießt sie, dass der Hund das Arragement stört indem er den Angeklagten freudig begrüßt. Vor ihr auf dem Couchtisch meine Werke. In dem ersten Satz, guter Hund, den sie an mich richtet, wird vorkommen du bist dir ja hoffentlich bewusst was du mir angetan hast mit dem Verschwinden meiner Tochter.
Aber es kommt nicht vor.
„Sie hat Jobs annnehmen müssen“ lautet ihr erster Satz.“ hast du das etwa auch nicht gewusst, nachdem sie gekündigt war bei der Zeitschrift. Damit sie wenigstens für Weihnachten ein bisschen Freude kaufen kann…“
Wenn du schon schwingt darin mit nichts nach Hause bringst. Ich weiß, was die Schwiegermutter alles im Ungesagten mitschwingen lassen kann. Weißt du was das bedeutet für eine Journalistin von ihrer Reputation schwingt da mit sich dermaßen erniedrigen nach all den großen Beiträ-gen die sie verfasst hat quer durch die Jahrgänge durch von ihrem Blatt schwingt da mit. Darum also hat Schwiegermama diesen Altar aufge-schichtet mit meinen Werken.
Alle bedeutsam hochgestellt mit der Frontseite nach vorn wie im Schaufenster von Herrn Buttgereit, der mir freilich nie die Freude bereitet hat sie dort zu präsentieren. Alles keine Hardcovers, die meisten karto-niert, manche auch nur broschiert.
„Ich brauche dir nicht hervorzuheben, wann die alle erschienen sind.“
Als Willy Brandt an der Regierung war. Da hatte mans gerne so schlicht. Nutzlektüre in der Faust des kleinen Mannes und der kämpfe-rischen Frau. Gesammeltes von Bürgerinitiativen, oral history, Stadtteil-historie, Aufrufe, Hausbesetzer-Dokumentationen, Lebensbeichten von Sicherheitsverwahrten.
Die meisten Nachworte sind von mir, die Herausgebermühe war stets die meine, die Vorworte freilich sind fast immer von Hoffmann-Nauke. Nun stehen sie aufgereiht vor mir als Zeugen der Anklage. Schwiegermamas Bücher, oben im Bücherschrank, die Wiecherts und Sudermanns, grinsen auf sie herab.
„Nu sag mir ob eine von diesen Veröffentlichungen rechtfertigt bitte dass du dich Schriftsteller nennst,“
Den Stimmlosen eine Stimme geben. Denen die Feder führen die schreibunkundig sind. Den unentdeckten Homers der Trabantenstädte. Und das eigene Oeuvre zurückstellen bis die Stunde der befreiten Literatur schlägt. Du Schwiegermamachen hast natürlich damals schon nur Illustriertenromane gelesen und die Damenzeitschrift deiner Tochter, und vor WETTEN DASS gesessen und nicht wahrgenommen wie es auf den Straßen und in den Hörsälen gebrodelt hat.
„Mein Opus magnum kommt noch.“
Dabei herze ich aufmunternd dem Hund den Kopf zwischen beiden Händen, aufmunternd als wäre der mein Schreibgehilfe, gell altes Haus ? Und ziehe ihn kumpelhaft an den Ohren, und er genießts. Aufgeräumtheit steht ihm zu, hat er doch seinen Beitrag bereits geleistet zu dem Werk das da entstehen soll durch sein nächtliches Zwiegespräch mit der Katze.
Diesen Dialog werde ich mir zu eigen machen. Oral history.
Die Schwiegermutter ist angewidert von unserem Geschmuse und wirft den Satz nach mir :
„Natalie hat auch eure Katze mitgenommen.“
Pause, wie um mir Zeit zu Gewissenerforschung und Reue zu geben.
„Wo hat Natalie eigentlich gejobbt ?“
In einem Reisebüro.Und nun frag schon nach, Melchior, warum ausgerechnet in einem Reisebüro hör ich es bei Schwiegermama schon wieder mitschwingen im Ungesagten. Warum hat meine kleine Natalie fremden Leuten Illusions-Meterware verkaufen müssen von irgend-welchen Korallenriffen oder Herbstwandern auf La Gomera das frag dich mal endlich ! Damit du in deinen Illusionen & Luftnummern weiterschaukeln kannst wo du doch selber eine Luftnummer bist als Schriftsteller der nicht schreibt, das ist doch so wie ein Fleischer der keine Wurst liefert oder ein Automechaniker der einem Sofakissen auf die Felgen montiert statt Winterreifen !
Anklagesättigte Witwenpause, in der ihre künstliche Oberzahnreihe auf ihrer künstlichen Unterzahnreihe mahlt als läge eins meiner Manuskripte dazwischen, das ich noch gar nicht geschrieben habe.
Der Hund schaut mich erwartungsvoll an, als wolle er mich auffordern dass ich zu meiner Rechtfertigung Casanova hervorhole oder doch wenigstens die Zahnarztpraxis mit dem jungen Doktor und seiner turteln-den Kollegin.
Deren weitere Geschicke freilich in dem PC eingeschlossen sind, der beschlagnahmt worden ist. Und plötzlich begreife ich, was den Beamten so innige Freude bereitet, dass es sich mir noch durch die Tür mitteilte : sie haben meine Zahnarzt-Entwürfe gelesen ! Ich freue mich ( wenn auch mit begrifsstutziger Zeitversetzung ) über meinen Erfolg, dass ich der Schwiegermutter davon wenigstens mimisch mitteilen will und sie an-lächle.
Erst als ich mein Lächeln weit geöffnet habe, erinnere ich mich : sie selbst hatte ja reichen Anteil daran ! Sie hat meine storyline ausgefüllt, mit ihrem reichen Wissen um Waschsalons und Zahnmedizin. Über ihre verstörte Maske angesichts meines Grinsens ( das Dankbarkeit aus-drücken soll ) muss ich nun laut losplatzen. Der Hund spürt, dass sich hier etwas gelöst hat, etwas in einen frohen Abschluss eingemündet ist nach Menschenart statt in einer Verbeißung nach Köterart, und stimmt dazu, fein temperiert, ein jubelndes Gebell an.
Die Schwiegermutter erhebt sich. Kein Text, nur noch Maske. Ich stelle mein Lächeln ein, der Hund seinen Jubel. Gemeinsam trollen wir uns zur Tür hinaus.

Einer von den beiden, die neuerdings die Obhut über mich beanspruchen lässt es sich nicht nehmen mich abermals hinaus zu Balthasar zu chauffieren versteht sich doch von selbst wir arbeiten zusammen auf der ganzen Linie. Er absolviert es nun schon wie eine fast liebe Gewohnheit wenigstens während der Fahrt können wir uns ganz privat geben und entspannt, ich darf sein Vertrauen schlürfen, das ist nämlich rasant am Zunehmen, ehrlich. Ich vermerke dankbar, dass er mich nun sogar den Türklopfer selbst betätigen lässt.
„Balthasar, ich komme !“ rufe ich wenn das schmiedeeiserne Tor aufgesprungen ist in das nun schon gewohnte Dunkel der nun schon gewohnten Treppen und Flure.
„Melchior kommt, der Wegmeister.“
Diesmal hat er kein Videospiel eingelegt. Diesmal sieht es nach ernster Arbeit aus, die er mir zugedacht hat. Sogar eine kleine Tischlampe finde ich in der rembrandtdunklen Bibliothek für mich aufgestellt, die sanft und grün bereitliegende Fotobün-del bescheint, Kino-Prospekte, Zeitungs-schnippel, zusammengeknuffte Plakate mit Gummibändchen drum he-rum.
„Auftakt zu unserem Casanova-Projekt.“
„Nennen wirs so, junger Mann.“
„Ich habe ich mir erlaubt, im Vorgriff ein paar Skizzen hinzu werfen.“
Erwartungsvoll sinken ihm die Augenlider.
„Quelle honneur für Ihren Balthasar.“
Segnendes Hochheben dreier Finger : Orchestereinsatz ! Und ich setze ein -

TAG. AUSSEN. TOTALE PIAZZA SAN MARCO.
Feierlicher Zug unter Baldachin.GROSS der Doge darunter im Schatten, weißhäutig. GROSS Casanova, der eine Stange des Baldachins trägt. Er ist auf gleicher Höhe mit dem Dogen. Auf seinem Gesicht Sonnenkringel, bringen das Spitzbübische zum Aufleuchten. Casanova grinst dem Dogen frech ins Gesicht. Der Doge, geblendet von den Lichtspielen auf dem Wasser, bemerkt es nicht. Casaonova ist soeben aus dem Staatsgefängnis entsprungen, wo hinein der Doge ihn hat werfen lassen. An Casanovas Füßen schlackern noch die Eisenringe, deren Verankerungen er in der Nacht durchgefeilt hat. Der Doge ist irritiert von dem Metallgeklingel in seiner Nähe, weiß es aber nicht zu deuten. Wohl aber weiß es zu deuten die Enkelin des Dogen. GROSS entsetzensgeweitete Augen der Enkelin. NAH Casanova der das Rauchfass ergreift das vor dem Dogen hin und her geschwungen wird und schwingt es nun im Takt seiner Fussfesseln.
GROSS das Gesicht der Enkelin das sich aufhellt.GROSS das weißhäu-tige Gesicht des Dogen das sich beruhigt. GROSS die nackten Zehen Casanovas, die die Füße der Enkelin umspielen. GROSS das beseligte Lächeln der Enkelin. Schwenk auf den Dogen, der von dem nun aus der Balance gebrachten Rauchfass gereizt wird. Heftiger Reizhusten.Eklat. Konfus lässt er sich von Casanova die Baldachinstange aufdrängen, die dieser bisher getragen hat. GROSS das entsetzte Gesicht des Dogen, der auf einmal auch das Rauchfass in der Hand hält. Aufschrei der Menge. Casanova ist mit der Enkelin im Arm über Bord gesprungen und schwimmt auf eine Galeere zu. Das Flaggschiff der Hl. drei Könige, die an der Reling stehen und Casanova anfeuern.
Sie sind auf dem Weg nach Byzanz -

Ich belasse es erst einmal dabei. Mein Balthasar schweigt. Ich setze nach, das Rauchfass solle die Brücke herstellen zu Casanovas Kindheit in der ich ihn Messdiener gewesen sein lasse, seine Dreistigkeit daraus entwickle dass Ministranten allen anderen Knaben in ihrer Sozialisation uneinholbar weit voraus sind. Sie haben Madonnenstatuen nackt gesehen, verstehen sich drauf wie man weggetrunkenen Meßwein mit Weihwasser nachfüllt und wie man Zwiesprache mit dem Göttlichen murmelt damit die Schritte von der Sakristei zur Altarkante zählt.
Alles das als hommage an ihn, Balthasar von Zatajewski, der gewiss ebenfalls Ministrant gewesen ist.
„Chapeau für mich selbst für das was ich so wachruf in Ihnen.“
Immer noch mit geschlossenen Lidern.
„Sie haben sich ja auch einen Enthusiasten ausbedungen, Balthasar“.
„Und nur ein Enthusiast ist imstande dem Abenteuer meines Lebens gerecht zu werden.“
Seines Lebens ! Und nicht dem des Giacomo Casanova, vorgeblichem Chevalier de Seingalt ?
„Ich blicke auf weit mehr Ausschweifungen zurück als wie dieser venezianische Hupfer.“
Nämlich in diesen seinen Lichtspielwerken hier auf dem Tisch.Wie segnend breitet er seine Hände über ihnen aus.
„Meine Vita liegt vor Ihnen als Ihr Rohmaterial. Schöpfen Sie aus diesem Reichtum, junger Mensch. Alles a votre service. Gestalt mich, ruft es, form mich !“
Seinen Werken widerfuhr die Ehre, in eigenen Lichtspielhäusern gezeigt zu werden, strictement separé von der gängigen Zelluloid-Produktion. Und heute noch meiner Seel sind sie millionenfach verbreitet auf Video und DVD in aller Herren Länder.
„Meine Zeit ist überhaupt erst jetzt angebrochen, wo diese anderen Leinwandbesudler dahingesunken sind ! Wie oft haben Sie Romy Schneider gezählt da auf den Fotos ?“
Sechsmal.
„Dann lassen Sie sie dreimal so oft auftreten in meiner Biografie. Ich meine in unserem Buch. Malen sie aus, wie sie mir von Klappe zu Klappe höriger geworden ist. Sexuell. Pinseln Sie’s aus ! Ich bin gespannt auf Ihre Valeurs und Finessen. O lala…“
Er kichert vor sich hin, und mir schwindelt. Als hörte er meine Skrupelchen in mir knirschen, zieht er mich freundschaftlich an der Nase.
„Jajaja, Ihr Balthasar hat Ihnen mit Bedacht den Casanova als Modellfigur ins Visier gerückt, schon weil der ein blendend fescher Bursch gewesen ist in seinen beachtlich lang andauernden Jünglingstagen. Aber jetzt sagenS doch amal selber„ - und fingert in das Häuflein Dokumenten vor ihm hinein – „der hier Abgebildete ist ihm doch weißgott in nichts nachgestanden. Ich erwarte, junger Mensch, dass Sie dem Erwähnung tun. Gebührend !“
Und hält mir einen vergilbten Ausweis hin. Den eines Beaus, gewiss, aber -
„Aber es handelt sich hier um einen gewissen Zsatajecz, Josef.“
„Wie Sie das schon aussprechen ! Aber grämenS Ihnen nicht , junger Mensch. Andere hättens auch nicht aussprechen können. Ein Name ist eben nur dann nur dann ein Schicksal, wenn Sie auf Pfummkitzl Alois getauft sind und dann dem Schicksal auch noch den Gefallen tun und ein Pfummmkitzl Alois werden. Also hab ich mir verordnet : Josef, über-siedle in eine andere personalité. Weil, wer nicht die Fantasie aufbringt, dass er seinem eigenen Ich als Gesellenstück ein neues Kostüm schneidert - no, der soll sich gefälligst fernhalten von jeglicher Kunstausübung. Oder hätt ich sollen dem Erich von Stroheim nachstehen, bloß weil dem sein Vater Schneider in Wien war und der meinige bloß in Mährisch-Ostrau ?“
Er fängt meinen Blick auf, der zu den ererbten Buchreihen irrt. Er grinst listig, aber durchaus k.u.kmäßig .
„Für was meinen Sie, hab ich grad Sie zum Mittler ernannt zwischen meiner Biografie und der Nachwelt. Damit Sie mich zu Papier bringen als einen Chevalier de Seingalt der Neuzeit , der sich aus den Bleikammern seines faden just milieus abgeseilt hat. Abseilen, junger Mensch ! Schrei-ben Sie dass ich kategorisch anempfehle das Abseilen als Weg zur Ich-Findung. Aber im Sinn haben dabei : diese seine Flucht hat dieser Filou Casa nova genauso erfunden wie den Chevalier. Und was lernt uns das ? Dass ihm grad deswegen a jeder seine Flucht glaubt.“
Und mit dem wohlig hingestöhnten Bemerken Jessas is das anstren-gend so ein Tete-a-tete mit so einem Biografen erhebt er sich, den Steiß reibend, durch und durch ein abgesessener k.u.k. Rittmeister.
„Auweh, eh ichs vergess, Ihr Honorar müssen wir ja auch noch fest-legen. Kulant ! Kulant ! Aber erst nach dem d’a-vant-déjeuner-Schlaferl, bitt ich mir aus.“
Und hatscht davon irgendwohin treppauf, von weit oben noch herunter rufend :
„Richten Sie sich drauf ein, junger Mensch, dass Sie Ihrer Arbeit wenn der Frühling kommt da draußen im Park nachgehn werden. Hinter Ihnen die Hängematte für die Kontemplation und über Ihnen die Singdrosseln für die lyrischen Passagen, und wenn dann der Sommer da ist, erwartet Sie der Swimming pool und dass er Ihnen mit seinen Gewässern den Schreibkrampf lindern darf.“
Wenn ich allzu beschwert sein werde von den Beschwernis-sen seines umwegig gradlinigen Lebensweges. Aber bei jedem Schwimmstoß seien Sie sich bewusst bittschön : hier haben schon O.W. Fischer und Lili Palmer rumgepritschelt. Geweihtes Wasser !
Und lässt mich allein mit der Bibliothek der Klosterneuburger Dra-goner, der Lesereiter, chevaliers de livre. Ihre sattelledrigen Buchrücken spitzen auf mich herab : was, Novize, kannst du denn schon daher fabulieren, was zwischen unseren Lederharnischen nicht längstens schon gedruckt steht ? Wag dich doch in den Sattel, sitz aufrecht, und den Rücken durchgedrückt ! Und Piaffe jetzt, du Stümperling, Piaffe und lass den Gaul von einem diagonalen Beinpaar auf das andere treten als obs fliegt !
Und ich steige auf, den Arroganzlingen da oben zum Trotz, obwohl ich keinen Schimmer habe was eine Piaffe ist. Unter meinem Hintern formt sich ein Sattel, das Pferd schnaubt erwartungsvoll, ich flüstre ihm in die aufgestellten Lauscher die Geschichte von Giuseppe Giacomo Catajeccia, der die Hosen der Fisch- und Gewürzhändler wendet und wendet , bis sie zu Mänteln der heiligen drei Könige werden, die mit ihren Messdienern weiland Klosterneuburgr Dragoner Kurs auf Byzanz nehmen.
TAG AUSSEN TOTALE.
Unhörbar, auf Katzensohlen sind zwei Weißgekleidete herein gerollt.
„Mahlzeit allerseits.“
„Mahlzeit.“
Zwischen ihnen rollt ein monumentaler Henkelmann, chromschim-mernd.
„Heute Broccoli-Ente, wie gestern bestellt“ murmeln sie diskret, während sie ebenso diskret meine Materialien beiseite räumen und eine Serviette ausbreiten.
“Mit Reiscroquetten in Dillsoße. Kochsalzlos versteht sich, mit Rück-sicht auf den Bluthochdruck bei Ihrem Herrn Papa.“
In ihren weißen Overalls und winzigen Schnurrbärtchen sehen sie eher wie Rohrschnellreiniger als nach Kurieren der haut cuisine und Ess-kultur.
„Herr von Zatajewski ist nicht mein Vater“.
Das Menü steht auf der Serviette.
„Zum Dessert Mandelpudding, auch wie gewünscht.“
Mit hängenden Armen bewachen sie das Erkalten der Broccoli-Ente.
„Wir müssen dann so allmählich weiter, nöch ?“
„Tja , allmählich.“
„Und der BMW draußen genau vor der Einfahrt das is doch wohl Ih-
rer ?“
„Selten, die Wagenklasse in der Villenkolonie. Was haben Sie ne Ahnung was für viele Klienten wir hier betreuen. Nach außen Protz und drin Hunger und Elend“.
Sie schieben sich, weil ihnen der schmale Redestoff ausgegangen ist, hinter mich und äugen mir über die Schulter.
„Kieck dir das mal an, was fürn Schweinkram.“
Und schon langen sie zu mit ihren rosigen Essenausgeberfingern, um sich den Schweinkram vor die Augen zu heben. Also meine Herren, ich darf doch bitten, es handelt sich um vertraulich zur Verfügung gestelltes biografisches Material.
„ Nu haben Sie sich man nich so, wenn Sie doch sowieso nich der Sohn sind…“
Der bloße Anblick abgebildeter Fleischlichkeit läßt den braven Buben Speichel in die Mundwinkel treten.
„Mann, der hat da ja echte Schocker rumliegen !“
Dabei könnten die Abgebildeten reichlich ihre Großmütter gewesen sein. Ich verteidige die Archivalien mit wedelnden Armen, wie eine Vogelmutter ihr Gelege.
„Scheissdiewandan, guck mal das hier.“
Ich sammle eilends zusammen, was vor mir aufgestapelt liegt. Sie reißen es mir dreist weg .
Hej, Streber ! Dafür machst du den Abwasch heute, klaro ? Der Oldie sabbert uns egalweg alles voll und spuckt die Hälfte aus, igitt ! zum Würgen. Aber jetzt wissen wir ja warum er sabbert der alte Geilbock ! Er ist doch mein Vater, unter diesen Umständen ist er dreimal mein Vater, gebt das her ! Ich sehe mich gezwungen, mir das Diebesgut aus den Taschen ihrer Overalls zurück zu holen. Aber die sind mit Reiß-verschlüssen gegen meinen Zugriff gesichert. Die Folge: Handgemenge. Einer gegen zwei.
Wenn jetzt doch eine würdige Matrone einträte, die Dame des Hauses, und die Keilerei schlichtete. Aber die beiden Geilbuben wissen besser als ich, dass es hier keine Dame des Hauses gibt. Der eine nimmt mich in den Schwitzkasten und der andere zupft sich heraus wonach es beide gelüstet. Beide kichernd. Glibbrig kichernd, und es ist ihr Schweiß und nicht meiner, der dabei übers Gesicht rinnt.
„Aber meine Herren !“
Ein Geistlicher klatscht in die Hände .
“ Dass Sie sich nicht schämen.“
Augenblicklich lassen sie von mir ab. So augenblicklich, dass ich mir das Kinn an einem Sessel aufschlage.
„Monsignore Habselmeyer wird über diesen Vorfall unterichtet werden, unverzüglich ! Und Sie wissen hoffentlich, er ist Syndikus in Ihrem Ver-ein“.
Der Geistliche streckt eine Hand aus, und die Geilbuben legen ihm gehorsam hinein, worum sie sich eben noch mit mir gebalgt haben. Mit der freien Hand deutet er zur Tür. Die beiden trotten mit gesenkten Köpfen hinaus.
„Wie komme ich bloß“, schlägt der Geistliche sich lachend gegen die Stirn „ ausgerechnet auf Habselmeyer?“
Zerrt dabei den weißen Stehkragen aus seinem Halsauschnitt und ist nun wieder derjenige von meinen Begleitern, der anfangs nicht mir reden wollte. Er reicht mir das konfiszierte Pornogut Balthasars, ohne es eines Blickes zu würdigen. Ganz wie ein wirklicher Geistlicher. Es ist wahrlich nicht sein Einsatzgebiet. Die Paketgummis, die sich um die Fotos schligen kommen mir nun vor wie gebrauchte Kondome.
Ich ertappe mich dabei, dass ich dankbar vermerke : er ist mein nächster Vertrauter geworden.. Nun wird er schon in meinen eigenen Angelegenheiten tätig. Schicksalgemeinschaft wider Erwarten. Freuen Sie sich mit mir wer soll es denn sonst wo Natalie über alle Berge ist im Sommer werde ich mich da hinten im Park verlustieren, ich werde den Auftrag verlängern und nochmal verlängern und in der Hängematte meditieren, wenn ich nicht Lili Palmer hinterher schwimme.
Er hat, rückt er nun heraus und wechselt deutlich den Ton dabei, er hat da unterderhand grade ein bisschen recherchiert. Während ich mit Balthasar unbelauscht zu plauschen meinte. Zu Ihrem Balthasar alias Zsatajecz Josef aus Mährisch-Ostrau. Vielschichtige Persönlichkeit. Und lacht nun doch wieder. Liegt ja auf unserer Ermittlungslinie : Kaspar Melchior Balthasar. Fahndungskomplex König des Lichts
„Und ? Sind Sie fündig geworden in Richtung Dreierclique aus dem Mittleren Osten ?“
Ich habs neckend gemeint, wo ich ihn doch nun schon fast zu meinem Beichtvater ernannt habe. Einen der so geschickt mit Priesterkragen hantiert. Aber er schaltet sein Lachen aus und und sagt diensternst und wie eingelernt auf :
„Damit das ein für allemal klar ist : es muss jedem noch so unerheb-lichen Verdacht nachgegangen werden. Wie steht der Innenminister sonst da vor dem Bundestag, wenn Ihre Nahost-Chose da eines Tages eben doch explodiert !“
Meine Nahost-Chose. Er schaut geniert an mir vorbei.
„Aber rein außerdienstlich möchte ich festhalten : es freut mich natürlich für Sie, dass Sie auf Ihrem Fachgebiet als Schriftsteller endlich mal gefordert sind, freut mich aufrichtig, zumal -“
Zumal ? Mein Balthasar war dermaßen umsatzstark da gehen einem die Augen über auch nach dreißig Jahren. Warum, sein Reich waren die Bahnhofskinos seligen Angedenkens. Genau dafür haben aber die von der Sparte hohe Filmkunst ihn verachtet, was das Zeug hielt.
„Gehasst ! Verfemt ! Ich habe da Schmähungen entdeckt von einem Kaliber, die überfordern so ein Sensibelchen wie Sie. Seien Sie dankbar dass er Ihnen die erspart hat.“
Auf dem Tisch zwischen uns erkaltet die Broccoli-Ente. Du musst mahnt mich der gerupfte Happen schleunigst das Schäfchen deines Honorars ins Trockne bringen. Ich werde meinen Balthasar mit der lauwarmen Ente atzen, und ihm dabei Gäbelchen um Gäbelchen einen Vertrag abschmeicheln, der sogar meiner Schwiegermutter Respekt abnötigt.
„Sie bleiben mir nicht ohne Aufsicht in diesem Haus. Noch in einem anderen. Ich erfahre eben, Sie haben unser Vertrauen missbraucht ! „
Ich schweige betreten. Zusätzlich spricht gegen mich, dass ich sofort weiß, was er meint.
„Ich bin doch nur in Natalies frühere Redaktion gegangen, weil-„
Wenn irgendwo, war dort ein Hinweis zu erhoffen. Ein Ondit, eine Mutmassung, ein Kantinengerücht über ihren Verbleib. Sie ham vielleicht Humor, die ist doch längst vorm Weihnachtsgeld abgewickelt, nicht mal ihren Arbeitsplatz hat sie einwandfrei hinterlassen, wer weiß wo die jetzt gratis relaxt auf welcher Wellness-Ranch, die sie früher im Reiseteil mit drei Sternchen hochgejubelt hat . Ich hab Sie mir übrigens ganz anders vorge-stellt aufgrund von Natalies Erzählungen mehr so als Dichter mit Mähne.
Ich begreife was Natalie immer mit den Furien aus dem dritten Hinterhof umschrieben hat. Wenn sie der Aufenthaltsort Ihrer werten Gattin echt intressiert begeben Sie sich doch in die Teeküche. Weil die Teeküche wie alle Teeküchen mit Ansichtskarten tapeziert ist. Teekü-chen beziehen ihre alleinige Bestimmung daraus, dass in ihnen von den Wänden lächelt in welchem fernen Glück die nahen, allzu nahen Kollegen in den Ferien gestrandet sind. Die Herrschaften Verleger, Investoren, Unternehmer brauchen nur diese Postkarten zu analysieren, um Schlüssi-ges über ihre Unternommenen zu erfahren. Mit welchen Worten jemand laut gibt von den Komoren, aus Dubai, von den Malediven, aus Samar-kand, ode gibt Aufschluss darüber, ob das betreffende Objekt die Übernahme lohnt.
„Und ?“
„Bei der letzten Übernahme hat es sich gelohnt. Nur dass eben das Damenjournal vorher verschlankt wurde. Um Ihre Gattin.“
„Erlauben Sie, es handelt sich um meine privateste Privat-Angelegen-heit !“
„Sie haben keine privaten Angelegenheiten mehr.“
Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehöret, viel Klagens, Weinens und Heulens.

In das nächste Büro, das ich aufsuche, gehen wir zu zweit. Er als mein Schatten.
„Welcher von Ihnen ist denn nun Herr Hoffmann-Nauke ?“
Fragt die blutjunge Pummelige vom Privatfernsehen .
“Also Ihre Exposés sind leider nicht das, was den leitenden Herren bei uns vorschwebt. Bezogen auf die geplante Serie. Trotzdem schönen Tag noch .“
Und lädt einen Packen Manuskripte auf meine Arme.
Halt doch ! Keiner von uns beiden ist Hoffmann-Nauke, Fräulein, aber ich bin ganz bestimmt der, den Ihre leitenden Herren für fünfzehn Uhr hierher bestellt haben.
„Und wie soll der Name sein ?“
„M-e-l-c-h-i-o-r“ raunt mein Begleiter hinter mir, als flüsterte er ein geheimes Passwort.
„Der mit der Serie, die Ihnen die Quote garantiert.“
Ihr eigenes Zitat ! Habe ich doch einfach eingereicht, was die Schwie-germutter mir diktiert hat.Vor Weihnachten, als ich deren Huld noch hatte, wenn auch nur auf Bewährung. Was ich Ihnen da vorgeschlagen habe, Fräulein,das hat Ihnen doch gefallen, davon wollten sie mehr.
Hier bring ichs Ihren leitenden Herren..
„ Die Leitenden Herren von vor Weihnachten sind nicht mehr die Leitenden Herren von jetzt.“
Sie lässt mich trotzdem vor, zu zweit. Erkalteter Zigarettenrauch beizt im Zimmer, das wir betreten ( mein Freund nun bereits dreist zwei Schritte vor mir ). Ich sehs an den gelben Fingern, wer den kalten Rauch verursacht hat. Es ist eigentlich nur einer, der jüngste von allen.Und der bleibt stumm. Wie sie alle stumm bleiben.
Und uns stehen lassen.
„Recht haben Sie und tausendmal recht“ überschütte ich die stummen Leitenden Herren „was Ihr Urteil angeht über diesem Hoffmann-Nauke.“
Und hebe die Manuskripte, mit denen man mich im Vorzimmer beladen hat, hoch wie missratene Eierkuchen.
“Ab einem gewissen Alter entwickelt man einfach nicht mehr die Dynamik, wie sie Ihnen hier unabdingbar ist“.
Der mit den Raucherfingern starrt unverwandt auf diese. Der ist es also, der Hoffmann-Naukes Manuskripte abgelehnt hat. Ich trete vor ihn hin. Nun starrt er schon auf seine Schuhe vor Verlegenheit, auf irgend etwas unterhalb der Absätze. Aber warte nur, Leitender, ich kreise dich ein.
„In puncto Dynamik verweise ich auf meinen Mitarbeiter hier.“
Den Geheimen.Er ist kaum älter als einer von denen.
„Ich habe ihn mit vollem Kalkül ausgewählt aus einer ganzen Reihe von Kandidaten.“
Ich schaue nicht hinter mich, aber ich gönne ihm das Gesicht, das er jetzt macht. Dieses Gesicht beschwingt meine Rede.
„Durch ihn bekomme ich Impulse, die einzigartig sind. Die mich die Dynamik der Zeit erleben lassen in einer Unmittelbarkeit, die nicht mal Sie sich vorstellen können.“
Er war es unter uns gesagt übrigens der mir ( verzeih mir Schwieger-mama ) das Exposé inspiriert hat, das bei Ihnen so heftig Anklang fand. Ja, er ist durch die Bank ein Garant für Dramatik ! Suspense ! Aktuali-tät ! Wer ihn an der Seite hat der hat das Authentische und wer mich hat der hat die Quote.
Sie schauen mir immer noch nicht in die Augen. Aber das nun immerhin mit dem Ausdruck von Viertklässlern, denen man für nächste Woche einen Unterrichtsgang in den Zoo versprochen hat. Halbhoch an mir herauf trauen sich ihre Blicke nun schon, auf meine Hände. Die immer noch die Werke von Hoffmann-Nauke halten. Die lasse ich jetzt fallen, mit erfreulich heftigem Knall.
Sie schrecken auf, ängstliche Mittelschüler. Ich ertappe mich dabei, dass ich meine beiden nun befreiten Hände hoch reiße zur großen Geste : ganz Prophet, ganz Moses nachdem er die Gesetzestafeln geschleudert hat. Die Leitenden werden nichts von Moses wissen, umso geruhsamer kann ich mich seiner Ausdrucksmittel bedienen Wahrlich ich sage euch verzagte Quotenkinder, ich und mein Mitarbeiter schleudern euch eine Serie über Sternsinger ins Programm, die sich gewaschen hat. Den Kaspar lassen wir einen echten Afro sein, und wegen der political correctness ist er bei uns der, der den Stern tragen darf. Mit ihm als Vormann malen sie ihr C + M + B an jede mittelständische Haustür und entdecken dahinter noch und noch Schicksale derer sie sich annehmen. Sie tragen hilfe in die Häuser, Zuspruch und Warmherzigkeit.Zu dritt schlichten sie Familienzwiste, lassen lang Getrennte wieder zusammenfinden, Balthasar der Lang-bärtige ist hinter seinem Bart Hermine, Mutter des Mutterwitzes, verein-samte Ehepaare wollen alle drei auf einmal adoptierten. Ihre Erlebnisse sind so überbordend, dass die Weihnachtszeit gar nicht genug Platz für sie hat, sie borden über in das beginnende Jahr hinein, es entwickeln sich aus Liebschaften Intrigen Skandale unter Pelzmützen neue Liebschaften Intri-gen Skandale wenn die Bade-Saison bereits begonnen hat, machen weitere Folgen notwendig und neue Pfiffigkeiten der drei.
Ich ziehe Willkischken heran und die Hände küssenden Wander-arbeiter, ich baue Casanova ein, der in ein Bahnhofskino flieht, und warum soll nicht auch der Doge -
Jetzt bin ich bereits mitten in der zweiten Staffel. Die leitenden Kinder bewispern meine Erzählungen, animiert soweit ich das von ihren immer noch unterwärts gerichteten Gesichtern ablesen kann. Sie scheinen begierig, dass Opa weiter erzählt. Den Auftrag habe ich in der Tasche ! lächle ich stumm meinem Schatten zu. Wenn ich erst allenthalben Honorare einstreiche, hier für die Serie und dort von Balthasar, kann ich auf eigene Kosten nach Natalie fahnden lassen.
„Und in der achtzehnten Folge dann lasse ich den Geheimdienst auftreten.“
Mein Freund wird blass. Die Kinder werden gelüstig.
„Weil der Geheimdienst glaubt, dass Melchior für die Islamisten spioniert“.
Jetzt verzeichne ich bereits deutliche Lacher bei den leitenden Kin-dern. Mein Freund zupft mich. Ist ja gut. Der Onkel erzählt erst weiter, wenn der Vertrag unterschrieben ist.
AUSSEN .NACHT. Die Sternsinger suchen nach Natalie.Schnee dringt ein in ihre Holzpantinen.Sie gehen TOTALE auf einen hell erleuchteten Stall zu über dem sich ein Christbaumengel um die eigene Achse dreht.

Am nächsten Tag bringt mein Spielkamerad von den Geheimen einen Neuen mit, den er mir nicht vorstellt.
„Der Wagen Ihrer Gattin ist aufgefunden worden. Verlassen.“
Im Tschad ? In Afghanistan ? Im Kosovo ?
„Ungünstiger könnte es gar nicht gelaufen sein.Ungünstiger für Sie. In der Nähe eines iranischen Konsulats.“
Nun dürfen die abwarten, was ich für ein Gesicht mache.
„Ihre Frau hat ja einen auffallend weiten Aktionsradius gehabt. Überdehnt kann man das geradezu nennen für eine Privatperson. Unsere Recherchen haben ergeben : wiederholt hat sie den Iran bereist, Syrien, Nicaragua, Pakistan.“
„Und das Allgäu. Warum erwähnen Sie nicht das Allgäu. Für den Reiseteil ihrer Frauenzeitschrift.“
„Und Sie haben nie mit gedurft ?“
Doch, einmal. Nach Isfahan. Aber privat bezahlt.
„Iran again ! Shit !“
Ich begreife, dass der andere Amerikaner ist.
„Weltgegenden, in denen es anschließend erheblichen Trouble gegeben hat, das fällt doch sofort ins Auge.“
„Wollen Sie damit sagen, meine Frau hat da überall Plastikbomben hinterlassen ?“
„Es sind Sie, der immerzu voreilige Hypothesen in die Welt setzt.“
Und er ist der, der mühselig die Faktenlage analysiert.Und seitdem Ihre Frau mit diesem Fahndungsobjekt aus dem Nahen Osten herumzieht das werden Sie ja wohl zugeben ist der Nahe Osten nicht gerade sicherer geworden .
Der Amerikaner nickt. Soll ich ihm den amischen Quilt zeigen und ihn fragen, ob sie bei ihm in Pennsylvenia auch schon Großfahndung aus-gelöst haben ?
„Wenn die Herren schon über alle denkbaren Kanäle verfügen, dann rücken Sie wenigstens damit raus, wo sie meine Frau vermuten. „
„Wenden Sie sich ans Auswärtige Amt. Die sind zu derlei Auskünften befugt.“
„Und wie soll ich das ? Ich hab ja nicht mal mehr einen Internet-Anschluss und keinen Computer. Von Ihnen eingezogen !“
„Wenn Sie kooperativ wären“ verlautbart er mir und übersetzt es sogleich dem Amerikaner, wenn ich kooperativ wäre, hätte ich mein Gerät längst mit Kusshand zurück.
Und so, dass der Amerikaner es nicht hört.
„Das sagt Ihnen ein Freund, der schon allerhand von Ihnen hat weg-stecken müssen.“

Der Nahe Osten, die mörderischste Gegend der Welt. Verwüstet von den Römern wegen der vielen, viel zu vielen Propheten und zänkischen Rabbiner und Aufrührer. Verwüstet abermals von den Kreuzfahrern wegen der Eiferer im Namen Mohammeds. Wieder aufgeforstet statt mit Äckern und Olivenbäumen mit Sektierern im Namen Christi. Gefleddert der Irak, ausgeplündert Mesopotamien, Ölbrände über den Palastruinen Harun als Raschids, Raketenkrater im Garten Eden. Die Region als Wunde der ganzen Welt.
Und dort ist nun Natalie.

Pilgrimage expeditions

Nun haben sie auch noch meinen Pass eingezogen. Dreimal wöchent-lich habe ich mich auf einer Polizeiwache zu melden.In der Boule-vardpresse nicht die Schlagzeile, die ich erwarte, die ich erhoffe 2000jäh-rige lebende Mumie von Hyänen gefressen. 2000jährige Mumie lebend im Nordirak von Rebellen getötet. Bekannte Redakteurin aus der Gewalt eines rätselhaftem Wiedergängers befreit.
Aber auch nicht die Schlagzeile, vor der ich mich fürchte Bekannte Redakteurin mit 2000jährigem Begleiter erfroren im Karakorum aufgefunden.
Nichts, nichts. Wohin hat er sie nur gezerrt, wo irren sie umher auf seiner Wahnsinnswallfahrt ohne Ende, zu der er sie gezwungen hat ? Sie setzte alles daran ihn heraus zu hauen unter Aufbietung sämtlicher Erklärungen und Notlügen derer sie mächtig war in sämtlichen Sprachen derer sie mächtig war. Aber die Soldaten lachten und stießen die beiden vor sich her. Und mochte sie auch fürs erste geschützt sein durch ihren Pass, den eines neutralen Land und versehen mit eindrucksvollen Visastempeln, die der Sergeant staunend durchblätterte – den Alten schützte nichts, gegen ihn zeugte alles : sein wirres Aussehen, das ihn verdächtig machte, das Oberhaupt subversiver Fanatiker zu sein, die schlackernde Hohlheit seiner scheinbar priesterlichen Gewandung, die wie gemacht zu sein schien zum Transport von Waffen und Sprengstoff.
Hatten die Soldaten zunächst nur in die Luft geschossen, um sich an seiner Angst zu weiden und waren enttäuscht von seiner stummen Gleichmut, so ließ dieser nun ihren Ingrimm wachsen. Sie stellten ihn an die Mauer und übten sich im Zielschießen auf seine weiten Ärmel und die Säume seines Kaftans. Belohnt und angestachelt durch die Schreie und Fürbitten der Frau, zielten die Soldaten nun auf Rumpf, Arme und Kopf des Uralten. Und wenn die Frau schrie bis zur Heiserkeit - der Alte ließ keinen Ton vernehmen, brach nicht zusammen wenn die Geschosse ihn durchschlugen und sah nur gleichmütig nieder auf die Löcher, die die Geschosse an ihm rissen. Durch die Einschusslöcher stob der Verputz der Mauer, vor die sie ihn gestellt hatten und färbte den Kaftan weiß von Kalkstaub statt rot von Blut.
Fluchend und gelangweilt sich die Soldaten nun an derFrau schadlos halten, der Sergeant jedoch hatte sie bereits in die Wachbaracke gezerrt und sich an ihr vergangen.
“Und was bleibt für die Mannschaften?“ brüllten die Soldaten und wandten sich wieder dem Uralten zu, um ihn mit ihren Stiefeln zu Tode zu trampeln, mit ihren Seitengewehren zu zerfetzen. Der aber war unbemerkt von den Palästinensern geborgen worden als einer der ihren, und als diese ihn nach seinem Woher fragten und seinen hebräischen Namen erfuhren, Melek-or was bedeutet König des Lichts, da übergossen sie ihn mit Benzin und steckten ihn in Brand.

Mir bleibt nur das Internet-Café. Ich sitze zwischen Jünglingen, die sich hier treffen mit Gleichaltrigen in den irrealen Spinn-web-Galaxien ihrer Chatrooms. Ich suche eine Person, die real gewesen und mir ent-schwunden ist. Sie sitzen einsam, ich sitze einsam. Die Tastatur ist pappig von Kaugummi, Schokoriegeln, verschütteter Cola, ungewaschenen Jungenfingern.
Aufs Geratewohl gebe ich Natalies Namen ein. Und erhalte Antwort.
„NATALIE’S PILGRIMAGE EXPEDITIONS WITH THE KING OF LIGHT ! Nicht mehr die Wüste mit dem Jeep durchrasen, sondern sie spirituell erfahren. Unter authentischer Führung erleben Sie exclusiv eine Wanderung, wie sie um Christi Geburt stattgefunden hat. Dahin ziehend unter dem Großen Bären gerät Ihnen kontemplativ ins Bewusstsein, wie weit der heutige Mensch sich entfernt hat von -“
Natürlich hat sie, der Profi, alles bestens logistisch organisiert.
„Tour A mit Vollpension ab € 2400 mit Flugreise nach Kairo oder Amman € 3600 – „
Bildschirm dunkel.
„Dass Sie immer noch keine Witterung entwickeln für Ihre Lage !“
Mein Geheimer.
„Erschreckend, dieses Maß an Uneinsichtigkeit bei Ihnen. Dabei zieht sich das Netz immer dichter zu um Sie.“

Mit einem bissig gezischelten ich verwarne Sie als Freund, aber das können Sie sich hiinter die Ohren schreiben dasses das allerletzte Mal war, ich mach mich ja noch selber strafbar wegen Ihnen hat mein Geheimer mich nach Hause geschickt. Aber was heißt nach Hause. Umschlossen, aber nicht geschützt von den Mauern aus Umzugskisten verkrieche ich mich zum amischen Quilt. Der Hund das einzige Lebe-wesen das mir Gesellschaft leistet. Mit staunendem Eifer verfolgt er, wie ich auf den quadratischen Mustern des Patchworks die Rundungen Natalies nachzeichne Schau Hund so hats ausgesehn wenn Frauchen hier drunter gelegen hat.
Ich schnuppere in diesem Umriss nach ihrem Geruch, der Hund tut es mir gleich und wühlt seine Schnauze in den Quilt, als wäre Natalie in den Untiefen des Stoffes versteckt. Gemeinschaftlich, zwei Kumpane, fahnden wir nach Echos ihrer Ausdünstungen, ihrer Haare, ihrer Schamhaare. Und weißt du noch, Bonzo, dass sie hinter ihren Ohren ein ganz besonderes Odeur trägt, honigartig und noch mit etwas Herbem drin wie Thymian ? Ich habe mich dran gelabt, Freund Hund ( du wirst es verstehen du bist ja selbst ein Nasenwesen so wie ich ) wenn ich am Einschlafen war, dicht an sie gekuschelt, um sie herum geringelt.
Und der Hund gibt sich heiße Mühe zu erschnuppern, was ich ihm bedeuten will und rückt dabei immer fellnaher zu mir mir auf den Pelz so dass sich wie vordem mit Natalie unsere Läufe verkreuzen. Der gebauschte Quilt wird mir zur Landschaft, zu Hügeln und Tälern und Dünen. Der König des Lichts zieht ihr voran, weht ihr voran durch die Dünen. Sein Kaftan braungrau und gestaltlos, der ihre blau und seidig, blau wie die Umhänge der Tuaregs. Ihre Füße im Sand, der Abdruck ihrer Fussballen und Zehen im Sand. Während sie durchzieht, stiftet sie Frieden zwischen zwei verfeindeten Bergstämmen, die seit dem 17.Jahrhundert in Fehde lagen, allein durch das Lä-cheln mit dem sie die einen um Wasser und die anderen um Oliven bittet. Wie ich das amische Patchwork über den Hund gebreitet sehe, der sich darunter hin und her wälzt, begreife ich es mit einem Mal als einen Atlas den zu entziffern meine Vor-stellungsgabe bislang zu faul gewesen ist. Jetzt rufe ich sie wach, jetzt wo ich gerade am Einschlafen bin, die Hand im Hundefell, ich werde sie als kabbalistische Weltkarte lesen ab morgen und seine applizierten Quadrate und gestickten Lineaturen befragen, ob sie mir Auskünfte erteilen wollen welche Weltgegend Natalie jetzt durchstreift.
An den Hund geschmiegt, ist mein letzter Gedanke vor dem Schlaf, ich möge zu den Auserkorenen gehören, die an ihrer Wanderung teilnehmen dürfen. Und sie predigen hören Hoch hinaus schauen, über sich und das Alltagskleinklein schauen hinauf ins Wesenhafte was der Kosmos uns vormacht wir haben bloß keine Augen mehr dafür über dem ganzen Klein-klein und Steuererklärung und TÜV und Krankenkasse.Und da setze ich nun die Botschaft gegen Ich sehe sie in ihrem blauen Tuareg-Umhang, seine weichen Linien umspielen und unter-stützen ihre Gestik so an-schmiegsam wie es hierzulande nie einem Ballkleid oder Strickpullover gelungen wäre, der Wüstenwind tut ein übriges und bläht ihr den blauen Schleier ins Gesicht, den sie nun beiseite schiebt wie eine Haarsträhne und da setze ich nun die Botschaft gegen ihr aufstäubendes Lachen leitets ein sich anverwandeln wieder, demütig, welche Wegweisungen uns die Sterne geben, die die Jetztzeit heruntergewürdigt hat zu flimmrigen Signallichtern die in der Galaxis Dienst tun aber nun Freunde Teilnehmer an dieser spirituellen Karawane haben wir uns heute hier hingelagert in den Wüstensand nach Mitternacht um den Kopf weit in den Nacken zu legen hinauf zu schauen und uns zu befragen : wie spricht zu uns der Orion ?
Er scheint so entfernt, aber schickte er nicht seine Lichtkraft zur Erde, wenn er uns nicht im Auge behielte, uns nichts mitzuteilen hätte ?

So steht es auf einem Bogen, der in meine alte mechanische Schreib-maschine eingespannt ist, die ich aus unserem Umzugsgut heraus wühle. Seit Jahr und Tag ist sie nicht mehr benützt worden, ich habe sie vergessen und ihr die jüngeren elektrischen und danach die weit jüngeren elektronischen Schwestern vorgezogen. Sie mit denen hintergangen. Hat sie sich gerächt, indem sie sich Fremden hingab ? Oder wie sonst ist dieser Text auf ihre Walze geraten ?
Ich reiße ihn heraus, zerknülle ihn. Nicht verirren jetzt, nicht verlieren in Mystikgässchen, alter Freund.
Du wirst dir jetzt schön die Sporen geben und mit deinem Pegasus in die Pflichtschreibe traben. Und was ist die Pflichtschreibe, alter Freund ? Das Manuskript für den Sender Wieheißterdochgleich. Du spannst also jetzt einen neuen weißen jungfräulichen Bogen ein. Die eingeräucherten TV-Kinder warten auf -
TAG. INNEN. Die drei Sternsinger treten in den Flur.
Ist das harte Arbeit für die Finger ! Als ob man Treppen erklömme die mannshoch sind und sich an jeder Kante die Haut verletzte treten in den Flur der Familie Posbischil, deren zwischenmenschliches Klima ( und das riechen unsere gewitzten Drei sofort ) von tiefer Zwietracht gekennzeichnet ist.
Die Schwiegermutter tobt herein.
„Du hast die Stirn und setzt dich an die Klapperkiste, als wäre überhaupt nichts vorgefallen“.
Ich überhöre sie.Ich versuche tippend bei meinen Sternsingern zu bleiben. Von tiefer Zwietracht gekennzeichnet was zur Folge hat dass sich niemand ihrer annimmt...
„Die dritte Haussuchung innerhalb von zwei Tagen ! Und es waren wieder ganz andere Beamte diesmal. Alles haben sie mir um und um gewendet“.
….ihrer annimmt. „Wir wollen hier keine Maskerade !“ ruft der Opa Posbischil aus seinem Zimmer und schließt sofort wieder die Tür.
„Ob ich einen Nachbarn als Zeugen wünsche, haben sie mich gefragt. Weil das Gesetz schreibt das vor. Ja werd ich auch noch Voyeure hier rein komplimentieren ! Damit das ganze Haus erfährt, was für eine Schande du über die Familie gebracht hast !“
Jetzt kann ich nicht mehr tippen. Ich muss meine Sternsinger verlassen just in dem Moment, wo sie Frieden in die Familie zu bringen sich anschicken.
„Aber ich bin doch völlig zu Unrecht beschuldigt.“
„Zu Unrecht ? Du hast einem Illegalen hier Unterschlupf verschafft.“
„Der Begriff Illegaler greift nicht im entferntesten in diesem Fall.“
„So rück doch nicht immerfort und immerfort zurecht, Melchior !“
So wie sie meinen Namen ausruft, klingt er wie ein Steckbrief.
„Sondern gib zu : du hast den Illegalen hier eingeschmuggelt in eine fremde Wohnung, wo du gutwillig aufgenommen warst drin als Gast.“
Und sie hat das alles nicht geahnt noch weniger sich träumen lassen und nun –
„Und ich hab das alles nicht geahnt und nun muß ich halsüberkopf eine Haussuchung nach der anderen über mich ergehen lassen. Deinetwegen !“
Sie schluckt.Ich muss ihr etwas Teilnehmendes sagen. Sie ist mein letzter und einziger Hort. Ich grüble, was meine Sternsinger wohl Friedendsstiftendes vorgebracht hätten. Aber sie hat mich ja unterbrochen, ehe ich es formulieren konnte. So geht sie eben leer aus.
„Es waren Uniformierte diesmal. Lauter Uniformierte. Vor dem Haus auf dem Gehsteig haben sie ihre Einsatzwagen geparkt. So viel Blaulicht hab ich mein Leben lang nicht gesehen. Und die Nachbarn haben dicht bei dicht im Treppenhaus gestanden.Ich hab gar nicht gewusst, dass das Haus überhaupt so viele Mieter hat. Und noch mehr haben in den Fenstern gelegen, sogar auf der Straßenseite gegenüber. Und anfangs habe ich ja noch gedacht, es ist die Polizei, die Blitzlicht-Aufnahmen macht ! Bis
ich einsehen musste, es sind die eigenen Nachbarn.“
Die Uniformierten haben derweil noch und noch Bücher ab-transportiert. Wie Arrestanten.
Ich höre es mit Behagen und hoffe darauf, dass sie diese ganze Riege von schwächelnden sozialpädagogischen Broschüren in Handschellen abgeführt haben, die sich schon auflösten, kaum dass man sie vom Ladentisch wegtrug.
„Sie haben sogar die Spezialbibliothek meines Mannes mitgenommen ! Und der war Einzelrichter beim Kammergericht…“
Man hat ein Geschrei gehört, viel Weinen und Heulen.
„Und damit nicht genug, sie haben noch und noch Proben genommen, mit Pinzetten und so kleinen Pflästerchen und ihren Spezialhund drauflos schnuppern lassen, an meinen Möbeln ! Es muss ein himmelschreiender Fall von Drogendelikt sein.“
Sie schluchzt. Ich reiche ihr zwei Papiertaschentücher. Sie verweigert. Ich starre hinaus ins Schneegestöber.
„Also von einem Drogendelikt kann man hier auf keinen Fall sprechen. Nicht im landläufigen Sinne.“
Sie schenkten ihm Weihrauch und Myrrhe steht geschrieben, und nicht sie schenkten im Haschisch.
„Eiskalt reitest du mich in deine Drogenverstrickung mit hinein und schaust eiskalt zu, wie meiner Tochter kein andrer Ausweg bleibt als Abtauchen, kopflos, in Panik, nur um ihrem Ehemann zu entkommen.“
Wieder Sturzbäche, wieder bleibt sie standhaft gegenüber meinen Taschentüchern. Das Schneegestöber führt mir fahrig vor, wie auch in meinem Kopf Ausreden mit Ausflüchten mit Auskünften fahrig durcheinander wirbeln.
“Im Kern handelt es sich ganz schlicht um einen abgedankten König.“
„Einen abgedankten König ! Und das nennst du schlicht ?“
Ihren nächsten Satz ahne ich schon voraus und der findet keine angemessenere Bleibe als…Und so kommt er auch :
„Und der findet keine angemessenere Bleibe als wie ausgerechnet bei mir hier in meiner Vierzimmerwohnung ?“
Sie kann sich abgedankte gekrönte Häupter nur am Lago Maggiore vorstellen oder an der Riviera, denen sie in ihren Buntpostillen begegnet, wenn sie unter der Trockenhaube nach ihrem Wochenhoroskop blättert.
„Er ist auf der Flucht.“
„Der Flucht ? Wer ist denn hinter ihm her ?“
Und ehe sie sich nun in Fantastereien verliert, wie da über kurz oder lang die vom Thronräuber gedungenen Mörder ihr die Wohnungstür eintreten, die Kalaschnikows im Anschlag und dazu die Krummsäbel schwingend oder was immer sie sich unter der Trockenhaube angelesen haben mag :
„Niemand ist hinter ihm her. Sondern er ist auf der Flucht zu mir.“
Das muss sie erst einmal für sich einsortieren. Sie bricht ihre Tränenproduktion ab und läßt sich sogar ein Papiertaschentuch reichen.
„O Gott, Melchior…“
Nun klingt mein Name auf einmal nicht mehr nach Steckbrief. Sie ist eben doch die Mutter meiner Natalie, überkommts mich mit einem Anflug von Rührung, sie ist ( zumal mit rotfeuchten Augen ) der letzte, der allerletzte Mensch in meinem Umkreis, mit dem ich mich austauschen kann.
Und wenn sie schluchzt, vibriert ihr Rücken dann nicht ebenso wie bei der schluchzenden Natalie ?
An der Wohnungstür wird geklingelt. Ich presse meiner Schwie-germutter mit beiden Händen die Schultern, versetze ihr sogar einen verwegenen Kuss auf die Nasenspitze. Es klingelt noch einmal. Hör dir das an, deine meine unsere Natalie kommt zurück. Von ihren Irrungen mit diesem falschen königlichen Fuffziger !
Als ich die Tür öffne, steht er vor mir, stehe ich mir selbst gegenüber. Umgeben von zwei anderen verkleideten Kindern. Er ist fünfzehn Jahre alt und ein Mädchen. Ich umarme ihn. Meinen Bruder ! Ich haben dich so lange gerufen, du anderer Melchior, und nun endlich bist du gekommen. Wir dürfen einander nicht im Stich lassen, wir Könige des Lichts.Die verkleideten Kinder begreifen nichts.
Oder etwas völlig anderes.
„Wir ham auch eine Bescheinigung mit, sehn Sie hier, vom zuständigen Pfarramt.“
Der so zu mir gesprochen hat, ein Windbruder und ein Scharlatan, ist mit meiner Gattin auf und davon.
„Sie haben recht, Herr. Es sind dermaßen viele falsche Sternsinger auf Tour, total illegal. Aber bei uns können Sie 'ne Spende von der Steuer absetzen. Wir haben alle Stempel dabei was da verlangt sind.“
Die Herrin der Stempel malt, einer Spende gewiss, ihr C + M + B auf die Wohnungstür meiner Schwiegermutter.
"Wie kannst du dich verkleiden, Kind, ausgerechnet als Melchior ! Ich spuck auf einen Bruder, der mich verrät."
Meine Schwiegermutter hats mitgehört. Mit rot geweinten Augen.
„Was bitte hast du da gesagt ?“
Die Kinder schauen von ihr zu mir wie beim Tennismatch.Be treten, aber neugierig welches Familiendrama da ausgestragen wird.
„Du spuckst auf einen König, der auf der Flucht ist ?“
Neue Tränenbäche, gegen die ganze Packungen Papiertaschentücher nichts mehr ausrichten. Der Kuss auf ihre Nasenspitze schlägt recht abträglich zu Buche, ich muss ihre Bilder vom flüchtigen Schah wachge-küsst haben.
Die Tür knallt zu. Drin die Sternsinger, ich draußen auf der Fußmatte. Aber nicht allein. Die Nachbarn stehen offenbar schon eine Weile neu-gierig in ihren Türen. N’Abend die Herrschaften, vollzählig schon wieder wie neulich, ja ? Reichlich Aufnahmen gemacht haben, ja ? Bei der letz-ten Veranstaltung ,ja ? Bedienen Sie sich ruhig wieder ! Ich stehe zur Verfügung. Darf ich Ihnen als Gaddafi gefällig sein oder als Osama Bin Laden ?
Hinter der Tür hebt ein Vorsänger an.
Drei König aus Morgenlande
kamen gen Jerusalem
sie fragten wo ist geboren
der König der Juden ?
Wir sahn im Oriente
den hellen Sternenschein
und kamen anzubeten das
süße Kindelein.
Ist es mein ahnungsloser Darsteller ? Der Gesang ist strophenreich. Sie singen amtlich und absetzbar und mit allen Stempeln versehen.
Der Stern tut sie hinleiten
Zur Krippen auf der Stell.
Allda sie lieblich finden
gelegt das Kindelein -
Mein Spott, gegen die Nachbarn ist hilflos leer geronnen. Einer folgt tatsächlich meiner grimmigen Aufforderung blitzt mich, wie ich auf der Fußmatte stehe. Sofort tuts ihm ein zweiter gleich. Ich wende mich ab und der Tür zu. Über mir am Türsturz das frische C + M + B. Christus haec mansionem benedicavit Christus hat dieses Haus gesegnet.
Die Schwiegermutter hat mir keinen Schlüssel zugeteilt. Mit der Wange an der Tür merke ich, das Tuscheln der Nachbarn im Rücken, wie ich selber eines Papiertaschentuchs bedürftig werde.
Ihr Schätz sie all aufschließen
schenken dem Kindlein hold
den Weihrauch und die Myrrhen
dazu auch rotes Gold .
Ich klopfe gegen die Tür, erst kraftlos, dann immer bestimmter. Es wird geöffnet. Meine Schwiegermutter überreicht mir meine Schreibmaschine.
„Du verschwindest auf der Stelle !“
Tür wieder zu. Die Nachbarn bewisperns. Weitere Aufnahmen, diesmal ohne Blitzlicht. Tür wieder auf.
„Und dein Köter geht auch mit.“
Die folgenden Aufnahmen nun wieder mit Blitzlicht. Der Hund scheint die allgemeine Aufmerksamkeit zu genießen und wedelt. Drinnen singen sie immer noch. Erst als ich mir mein altes Klapperchen unters Kinn geklemmt habe und, es mit beiden Händen haltend die Treppe hinunter tappe, sehe ich dicht vor meinen Augen : da ist ein neuer Bogen einge-spannt, und voll geschrieben. Dabei habe ich doch vorhin einen heraus gerissen und auf einem neuen erst drei Zeilen getippt. Im Schummerlicht beginne ich zu entziffern, was da steht, als mir ein Unbekannter entgegen steigt.
„Melchior - ?“ fragt er gedämpft.
Der König des Lichts ! Er hat seine Rückkehr wirkungsvoll in die Dämmerung gelegt wie vordem auf dem Weihnachtsmarkt, Dämmerung ist ihm gemäß. Mit Hut und Mantel hat er sich neu eingekleidet und der Moderne angepasst. Und wo ist sein Filzbart geblieben ?
„Sie erinnern sich, Sie haben mich per Internet…“
Der Unbekannte senkt die Stimme.
“Ich heiße selbst ebenfalls Melchior. Standesamtlich eingetragen. “
Er reicht mir die Hand, unbeholfen, ich reiche ihm noch unbeholfener einen Finger unter der Schreibmaschine heraus, von Melchior zu Mel-chior.
„Aber meine Umgebung kennt mich nur als Robert. Ich habe meinen zweiten Vornamen zum ersten aufgerückt…Sie verstehen.“
„Weil Ihnen in der Schule die anderen immer Milchohr nachgerufen haben.“
Die Sternsinger singen noch immer. Als ob sie mit ihren Strophen meine Spuren tilgen müssten.
„Sie entrinnen Ihrem Vornamen nicht.“
„Ich stamme aber aus dem Oldenburgischen.“
Genau so hilflos habe ich damals dem König des Lichts entgegen gehalten ich bin freier Schriftsteller.
„Ein König des Lichts ist auch im Oldenburgischen ein König des Lichts."
„Meine Großeltern waren gleich dagegen. Die wollten einen Dirk. So hat seinerzeit ein Fussballtrainer geheißen, der unsere Mannschaft in die Kreisliga geführt hat.“
„Du bist der letzte, an den ich mich wenden kann, Bruder.“
„Ich kann Ihnen nicht folgen“.
Weil ich dir die Krone weiterreichen möchte, Robert aus Oldenburg, die mir ungebeten aufgesetzt worden ist. Weil unser Namenspatron wie ein Buschbrand über mich gekommen ist. Weil du den Geheimdienst schultern sollst, weil ich meine Natalie wieder haben will, weil – wir dürfen einander nicht im Stich lassen, wir Könige des Lichts. Wenn wir schon eine mythologische Dynastie sind, müssen die anderen auch mal ran. Und während ich mir zurecht lege, wie ich ihm das beibringen soll
mit der mythologischen Dynastie, saust es in meinem Gehirn es ist ohnehin zu spät, aber schäume ihn nur zu, Redeflußmeister, ehe er wieder flüchtet ins Oldenburgische.
„Einmal Melchior, immer Melchior ! Tragen Sie Ihre Verantwortung !“
„Aber ich bitte Sie für was und für wen ? Dem Häuflein gegenüber, das das Pech hat, zufällig auch so zu heißen ?“
„Der Mythologie gegenüber.“
Ich habe den Satz mit der Verantwortung selber nicht verstan-den, obwohl er mir beim Aufsagen spontan eingeleuchtet hat.
„Jedenfalls wars sehr spaßig“ - er hält mir die Haustür auf – „einen zweiten solchen Sonderfall kennengelernt zu haben.“
Draußen Schneeregen.Er feuchtet auf die Maschine und den einge-spannten Bogen. Den ich zum letzter Hoffnungsanker mache, um den anderen Melchior doch noch für unsere gemeinsame Sache zu gewinnen.
„Lesen Sie das !“
Und er liest. Vorsicht, sprach die Katze, liest er, dass er nicht mithört. Er weiß nicht, dass in der Christnacht die Tiere sprechen. Er weiß, sprach da der Hund, noch mehr nicht. Unser Melchior denkt, er hätt den anderen Melchior ausgesperrt. Und wäre, mokierte sich die Katze, den anderen Melchior damit los ! Weil er eben, seufzte der Hund, auch nicht weiß, dass immer nur einmal in einer Generation der König des Lichts zu einem gewöhnlichen Melchior kommt und ihm überträgt, nun an dessen Statt durch die Zeiten zu wandern.
„Der Hund, der so gesprochen hat“, gebe ich noch hinzu “ist übrigens just der, der neben mir steht.“
Der andere Melchior macht sich davon so schnell er kann.
„Milchohr !“ rufe ich hinter ihm her, einen Tränenpropfen in der Kehle, und als würfe ich einen nassen Schneeball nach ihm, mit möglichst vielen tückischen Eiskristallen darin.
“Milchoooooooooooooooohr !!!“
Damit mache ich zwei Unformierte hellhörig, die gewärmt und pflichterfüllerisch in ihrem Einsatzwagen gesessen haben. Nun kommt der eine breitbeinig auf mich zu und setzt eigens seine Dienstmütze auf.
„Wer hat sich denn da so plötzlich verabschiedet ?“
Ich werde doch wohl noch, als erwachsener Mensch und Schriftsteller wem einen kinderlichen Spottnamen hinterher schmeißen dürfen.
„Das war doch was Konspiratives, hä ? Sonst wäre doch der andere nicht so hoppla hopp ausgebüxt.“
Der andere im Wagen wird emsig am Polizeifunk : „Verfolgung auf-nehmen“.
Folgt Personenbeschreibung, folgt Fluchtroute. Und ich stehe da, zu müde zu irgend einer Antwort, mit meiner Schreibmaschine unterm Kinn, den Hund neben mir. Ich frage meinen dienstbemützen Aufpasser ob er nicht eine Bleibe wisse für diese Nacht und wärs in der Arrestzelle, das müßte sich doch was deichseln lassen bei allem was gegen mich läuft. Er lässt mich stehen und erstattet seinem Kollegen im warmen Auto Bericht.
Ich sehe, wie sie sich beide an die Stirn tippen und sich grinsend nach mir umdrehen. Als ich mich dann zu Fuß auf den Weg mache, rollen sie im Dreimeterabstand hinter mir her. So schleicherisch, dass der Hund Gelegenheit findet, über ihrem Nummernschild das Bein zu heben. Möge die Hundepisse sich durchätzen bis in die Schaltzentralen der Geheim-dienste, die mir dieses Gefolge ver-schafft haben. Bis in ihre beamten-warmen Büros, während ich im Bahnhofs-Wartesaal nächtigen muss. Der Hund ist so freundlich, sich molig auf meine Füße zu legen. Vor mir auf der blechernen Wandbank ( kein anderer Schlafgast macht sie mir streitig aus Respekt vor meinem Haustier ) baue ich die Schreibmaschine auf. Geradezu traulich finde ich mich nun hier nach allem was mir jüngst zugestoßen ist : vor mir die wartenden Tasten meines Schreibgeräts, über den Füßen mein Teppichhund. Meine winzige Heimstatt.

Über die Hochebene Dasht-e-Kavir, dem Tarsus-Gebirges zu zog der Rauch des heiligen Feuers nach Osten, hinein nach Khorasan und Nimruz zog der Rauch des heiligen Feuers der sich zu einem sanften Fächeln herabgemildert hatte, so langsam, als wollte er selbst kosten vom heiligen Rauch , und wenn Mazdan der Allschöpfer es unterlassen haben sollte dem Wind Nasen und Sinnesorgane zu erschaffen , so erschuf er sie eben jetzt ,um den Wind schnuppern zu lassen am Rauch des heiligen Feuers, ent-zündet zur Heimkehr eines der sich lange von ihm entfernt hatte und nun wiederkehrte mit einer fremden Frau aus dem Reich Sonnen-untergang.
DENN SIEHE ICH BIN DER ALLSCHAFFENDE dachte bei sich Ahura der Herr, der Mazdan , denn er allein ist es gewesen der alles was ist in seinem Kopf erdacht hatte und dann zur Welt geboren so dass diese sie selbst geworden , zuvörderst die Ame-sa Spen¬tas, die Erzengel und hohen himmlischen Diener, sodann die Gebirge, die Flüsse, sodann die Yazatas, die niederen himmlischen Diener,die Bäume die Gewässer, das Glück und die Verhängnisse. Sie alle rannen aus dem Uterus seines Gehirns und seiner Vorstellungskraft und jeglichem war eingeschrie-ben Asha vahista , das Gesetz des Gebärers und Allwissenden.
DENN SIEHE ICH BIN DER ALLWISSENDE dachte bei sich Ahura der Herr, der Mazdan , der von Anbeginn der Zeiten sich verhüllt hatte vor seinen Menschengeschöpfen mit dem Asha vahista in seiner Weisheit bis der Weise Zarathustra ihn von Angesicht zu Angesicht erblickte und als sein Prophet die Men-schen- und Tiergeschöpfe fortan lehrte dass kein Gott sei neben und außer Bundohisn , dem gütigen Schöpfer, der keinen Vertrauten neben sich braucht mit dem er sein Wissen und keine Gott-Frau mit der er sein Lager teilt , er west seine Wesenheit allein auf sich gestellt in seinem Kosmos denn er ist der Kosmos.
ABER SIEHE ICH DER SELBSTERNANNTE UND ALLEINE dachte bei sich Ahura der Herr der Mazdan ich bin einsam in der Gloriole meiner Allwissenheit und da ich alle Geheimnis-se kenne wird mir die Zeit lang und nur ich weiß wie langlebig sie ist habe ich sie doch selber erschaffen. So will ich denn drei von meinen Karapanen, den Priestern , ausschicken und im Unbekannten forschen lassen ob sie mir nicht einen Erben auftreiben möchten oder einen Mitregenten.
Und da das Gewand des Ahura des Mazdan der Sternenhimmel ist und die Gestirne gleich Stickereien auf ihm, bewegte er eine Falte seines nachtschwarzen Mantels, und ein neues Sternbild schien auf und leuchtete drei sternenkundigen Priestern in den Schlaf.
SIEHE ICH BIN DER AUFBRUCH UND DIE MORGENRÖTE dachte bei sich Ahura der Herr, der Mazdan, und die Nacht wurde zerrissen von Getrappel, Gewusel und Geschäftigkeit. Bei jedem von den Geschäftigen, den Trapplern, den Wuslern sah man’s an an der Flatt-rigkeit, mit der er seine Satteltaschen festzurrte, mit der er seine Mamelucken antrieb, dass ihn der Anblick eines Sternbilds aus dem Schlaf gerissen hatte, wie es noch nie am Himmel zu sehen war.Keiner gestand es dem andern ein, aber alle überstürzten sich, schleunigst vor den anderen zum Tor hinaus zu sein. Denn das Sternbild forderte und drängte.
Es begnügte sich nicht damit, am Himmel still zu stehen, es wies wie ein ausgestreckter Finger nach Westen in die Länder jenseits des Anititaurus und des Zagros-Gebirges, westlich des Tigris , westlich von Chaldäa und Arabia deserta.

Drei Sterne rechts oben, da kann ich mitreden, vier Sterne links unten, das ist just das Sternbild wie Natalie es mir auf den Küchentisch gelegt hat, auf einen Zettel gestrichelt hat sie’s nicht mit Blei- oder Lippenstift, sie hat eigens einen gelben Marker hervorgekramt auf dass ich das golden Gemeinte auch als Gold erkenne, das Porträt des Traumes den sie geträumt hatte in jener unserer letzten Nacht.

SIEHE ICH BIN DER WEG dachte bei sich Ahura der Herr, der Mazdan, ich sehe meinen Priestergeschöpfen zu bei der Mühsal der Wanderschaft durch die Jahrhunderte und wenn mir die Mühsal des Zusehens selbst zu mühselig wird und ich meine Gewandfalte zuklappe, so sind ihre Leitsterne erloschen und sie tappen in die Irre.
SIEHE ICH BIN DIE RÜCKKEHR dachte bei sich Ahura der Herr, der Mazdan, ich habe drei meiner Karapan hingehen lassen auf For-schungsreise nach einem göttlichen Kronprinzen und nur einer ist zurück gekommen.

Natalie faltet ihn sorgsam auseinander, er kracht und knarzt, dabei rieselt Staub aus ihm heraus, auch das eine oder andere erschrockene Insekt, eine paar verirrte Spinnen, die in ihm genistet haben mögen seitdem er sich auf meinem obersten Bücherregal verrammelt hat. Nun also ist der Ledrige, an dem ich gezweifelt habe bis zur Leugnung, nun ist er endlich in der Umgebung angelangt an seinem Ursprungsort, dem Platz seiner Herkunft.
Ich habe versagt an ihm, alle seine Erwartungen bitter enttäuscht.
Aber Natalie, die mir Angetraute, Vertraute hat sich ihm angedient, ihn in die Hand genommen wortwörtlich. Eben schüttelt sich noch Krümel von Spekulatius aus ihm heraus, die bei seiner Tour mit den falschen Sternsingern in ihn hinein geraten sind. Sie tut es priesterlich, ich bin stolz auf sie. Ich bin mehr als stolz, ich bewundere sie wie ich sie immer bewundert habe. Wie sie diese unvertraute Rolle improvisiert, mein Löwchen ! Sie priestert einfach drauflos halb als Kundry und halb als Erzengel Gabriel. Eine günstige Melange, die alles offen lässt und dennoch dabei eindrucksvoll anzusehen ist. Besonders von weitem.
Denn natürlich hat sich viel Volk eingefunden.
Sie hält den Hauptdarsteller hoch über ihren Kopf mit gereckten Armen, durch das Dunkel seiner Gewandhülle hindurch sieht sie Risse als Wunden, die die Zeiten in IHN genagt haben durch diese Risse scheint der kaltblaue Himmel über der Hochebene herein. Sie dreht sich mit um um sich selbst, dreimal, sieben Mal, und bietet ihn den Gläu-bigen dar, die sich ringsum versammelt haben.
Was denn für Gläubige auf einmal ?
Warum soll ich die Schaulustigen nicht zu Gläubigen ernennen, eine so erhabene Zeremonie erfordert nun einmal Gläubige und nicht Gaffer, und dies hier ist eine Zeremonie, schon weil Natalie sie anführt. Ich weiß noch nicht, welcher Liturgie sie folgen wird, sie weiß es es selbst nicht. Die flattrigen Gewänder der Gläubigen leuchten ihr, alle haben sie Blumenkränze umgelegt, viele hunderte, sie erklettern die Felsplateaus ringsum, es müssen selbstverständlich Felsplateaus verfügbar sein, wie soll ich sie denn sonst alle unterbringen, es strömen immer mehr hinzu, werfen ihre Fackeln und Duftzweige in das heilige Feuer, es muss ein heiliges Feuer sein, denn Natalie hat es entzündet, sein Rauch weht mir bis hier herein in die Bahnhofshalle, woher soll der Rauch denn sonst kommen, seit Jahrzehnten fährt hier keine Dampflok mehr durch.
„Der verspätete Intercity mit Kurs Hamburg-Altona fährt ein auf Gleis sieben, sie haben auf dem selben Bahnsteig Anschluss nach…“
SIEHE ICH BIN DER ANFANG UND DAS ENDE dachte bei sich Ahura der Herr, der Mazdan , und ich hoffe und fürchte und weiß, seine Hände sind leer denn siehe es ist kein Gott aufzutreiben gewesen siehe ich muss an mir selbst genug haben und mich langweilen bis ans Ende der Zeiten.
Die Blumenbekränzten haben Haoma getrunken, den Todwehrer, Rauschtrank aus der heiligen Pflanze des Elburz-Gebirges, taumelig singen sie den König des Lichts an und Natalie, die beide eingenebelt sind vom Rauch des heiligen Feuers, seine Hitze bläht den Lederbalg auf in dem der König des Lichts zweitausend Jahre herumgewandert ist, zwanzig Jahrhunderte hat er sich in Falten gelegt, ist geschrumpft in den Kälten des Nordens, nun walken sich die Falten aus, schwellen im Gebläse des heiligen Feuers, die heilige heimische Wärme bläht den Lederbalg auf, der König des Lichts ist nun kein Lederbalg mehr, er wird zum Luftwesen, zum Ballon, verdreifacht, versiebenfacht sich an Umfang und Größe, wächst zu gigantischer Höhe, verhundertfacht, der Saum des Kaftans schlägt Luftwellen über dem Erdboden, trommelt den Staub wie ein Hund, wie viele Hunde zum Fangenspielen einladen, ermuntert damit die Kinder, auf ihn zu springen, sich an ihn zu hängen, sich dem Luftgefährt anzuvertrauen, der auf Gleis vier eingefahrene Regional-express endet hier bitte alles aussteigen, Vögel stoßen herunter um sich zu vergewissern wer ihnen da ihr Revier streitig macht, lassen sich auf dem Luftgefährt nieder um mit ihm ohne eigenen Flügelschlag zu segeln, die Lärmrasseln und Schellen der Kinder begleiten den Flug, die Kinder bejubeln den riesigen Schatten den ihr Gefährt auf den Erdboden wirft, unter Lachen und Gekicher steigt und steigt es hoch und höher, eine gutlaunige Brise schau-kelt das Flugwesen und zugleich die Kinder, die sich weiden sich am Mitgelaufe der Erwachsenen da unten und wie die vergebens zuzusteigen versuchen, einen Zipfel, einen Fussel des Ge-wandes zu fassen versuchen, aber schon ist das Gefährt unerreichbar für klammernde Hände, es gewinnt rasch an Fahrt als würde es voran und höher getrieben vom Jubel der Kinder, schon sehen die Dahinffliegenden fernere Ziele, die Mit-Stolpernden werden zu Zurückbleibenden, Zurück-gelassenen, sinken ins Gras und sehen wie eine Wolke den aufgeblähten König des Lichts sich in den Wind lehnen und davon ziehen.
„Umsteigen nach…“ bellt der Bahnhofslautsprecher dazwischen, aber plötzlich bellt er etwas anderes, das wie MELCHIOR klingt umsteigen MELCHIOR Aschaffenburg Aschaffenburg ! Ich ertappe mich bei dem Angsttraum, den eigenen Namen überfallartig hören zu müssen in aller Öffentlichkeit, wir unterbrechen das Umsteigen nach Aschaffenburg für eine dringende Durchsage bellt der Lautsprecher, der obdachlose Schriftsteller MELCHIOR der sich auf dem Bahnhofsgelände aufhalten soll, wird aufgefordert sich unverzüglich…
Sie haben mich gestellt. Wäre ich doch umgestiegen nach Aschaf-fenburg, Abfahrt auf Gleis drei.
„Ihre Frau ist umgekommen.“
Man hat ein Geschrei gehört, viel Weinen und Heulen.
„Es sieht haarig für Sie aus, alter Freund. Ihren privaten Kram können wir jetzt nicht auch noch händeln, Kondulation und so. Es kommen dermaßen viele um in Middle East …“
In Middle East ?
Ausgerechnet auch noch in middle east. Unter total dubiosen Umständen. Mein lieber Scholli, da werden Sie uns allerhand zu clearen haben, Sie angeblich freier Schriftsteller Sie, wieso Ihre Gattin so mirnichtsdirnichts in den Ost-Iran einsickert. Hart an der Grenze ausgerechnet zu Afghanistan. Was Sie da dem Auswärtigen Amt fürn Muffensausen damit machen, Mann. Alle neuralgischen Schnittlinien knallen da doch aufeinander, Pakistani, Taliban, Amerikaner, Russen, PKK, Israelis. Und wenn die Chinesen nich auch noch aufkreischen haben Sie Schwein gehabt.MannoMannoMann was haben Sie sich da bloß eingebrockt mit Ihrem Agenten Melek-Or und nu –
„Und nu sitzen Sie rum und tun so als ob Sie Ihre ganz private Trauer baumeln lassen.“
Es waren also die Abfackelbrände der Ölfelder und nicht die heiligen Feuer des Ahura Mazdan. Die Herren schauen sich an.
“Was haben Sie da eben im Mund geführt, das hat sich doch verdammt angehört wie Abu Mirma.“
Abu Mirma, nein Ahura Mazdan ist es gewesen der sich dreitausend Jahre verordnet hat, um seine Schöpfung im Auge zu behalten und nun ans Ende zu bringen. Ahura Mazda ist müde geworden, durch die Jahr-tausende stets nur zu beobachten was er selbst erdacht und geregelt hat, nun wird er die Gebirge schmelzen lassen und zusammenrinnen zu einem Ozean aus flüssigem Metall damit die Menschheit, die nicht an Ahura den Mazdan geglaubt hat brennend zugrunde geht und die Menschheit die an ihn ge-glaubt hat unbeschadet hindurch watet zu einem ewigen Leben in Stille und Harmonie, in dem endlich auch Ahura der Mazdan ausruhen darf.
„Nehmen Sie die Zähne auseinander, Mann. Es geht um allerhand für Sie ! Ahura und wie noch ?“
„Lassn doch, er hat doch schon Abu Mirma gesagt, eindeutig. Ende der Beweissicherung“.
Ich kenne niemand der so heißt, aber Handschellen kenne ich aus meiner Einbildung. Die wirklichen freilich fühlen sich viel scharfkantiger an als die eingebildeten und diesmal ist kein Kind da, das mir einen Schokoriegel zusteckte als Wegzehrung. Als sie mich ins Auto drängeln, darf der Hund im Kofferrraum neben der Schreibmaschine Platz nehmen, beide als Sonder-Delinquenten. Ehe sie mir den Kopf nach unten drücken, um mich ins Wageninnere zu packen nehme ich etwas wahr -
"Das Sternbild - !"
"Krakeelen Sie hier nicht rum, Mann, ohne Rücksicht auf unsere Bord-Mikrofone.“
Die sind schließlich hoch sensibel.
"Schauen Sie doch...beim Großen Bären ! Es ist auf einmal da..."
"Billige Ablenkerei."
Drei große Glühsterne in der Mitte, und dann schwingts aus in eine Spirale.
"Schnattern Sie bloß keinen falschen Zauber hier."
Und ob ich schnattere, ich muss mein Staunen aus mir heraus lassen. Was bisher nur in seinen Ohren hing, des Königs des Lichts, das hängt nun am Himmel ! Es spiegelt sich sogar im Dach eures Dienstfahrzeugs, Leute, Gold auf Polizeigrün. Als ob das Gesicht einer unbekannten Gottheit aus neun Augen auf einen Kosmos herab lächelt, den sie erst erschaffen will. In den neun Sternenaugen aber spiegeln sich die Wunder bereits wider, die es noch gar nicht gibt.Aber wenn es das Sternbild gibt,dann -
"Letzte Aufforderung !"
Dann gibt es auch den, auf den es hinführt, wer immer es auch sei, dann - ich schreie, denn jetzt packen sie mich zu zweit. Andere Autoren
( Hoffmann-Nauke, hörst du mich ? ) wären dankbar für derartig üppige Anregungen aus der Praxis. Ich beschließe, während der Wagen anfährt und ich aus dem Seitenfenster nach dem Sternbild spähe, nach diesem Abenteuer eine Kriminalgeschichte in Angriff zu nehmen.
Das Luftwesen segelt dem Sternbild hinterher das ihm den Heimweg verheißt. Jahrhunderte lang ist es abwesend gewesen am Firmament Ahuras des Mazdan –
„Abu Mirma. Ich hab schon wieder Abu Mirma verstanden.“
„ Keine langen Fisimatenten, der wird schon wissen, wie mans richtig ausspricht.“
Nun erstrahlt das Sternbild wieder da und leuchtet zur Heimfahrt.

„Melek-Or, Ahura Dingsda , Malchi-Or und und und und. Ziemlich viel Brüder aus dem Nahen Osten für einen Schreiberling . Bleiben Sie stehen wie wir Sie hingestellt haben! Hat keiner was von setzen gesagt. Wie war das denn nun mit Ihrem Freund, Deckname König des Lichts ?
"Er hat sich vollständig verflüchtigt."
"In einen Wäschesack vernäht huschhusch zurück in den Iran, eh ?"
"Es hat den Anschein, dass ich an seine Stelle geraten bin. Identi-fikationssprung,wenn die Herren verstehen."
„Umso übersichtlicher für uns - dann brauchen wir uns nur noch auf einen konzentrieren von der ganzen Near-east-Connection. Nämlich Sie. Bleiben Sie stehen."
"Aber.wie lang denn noch..."
"Bis wir die andern auch alle abgefischt haben.“
Nun erstrahlt das Sternbild wieder und leuchtet zur Heimfahrt.
„Da gabs also einen geheimen Sterncode. Intressant, intressant.“
Drei große Glühsterne in der Mitte, und dann schwingts aus in eine Spirale.
„ Funkt man das oder klopft man das ? Antwort ! Ist das Morse, ist das Funksignal, ist das Arabisch , ist das fürn toten Briefkasten ?“
„Lassen Sie sich ruhig Zeit zum Überlegen. Schön konzentrieren.“
„Aufrechte Mitarbeiter sind uns die liebsten. Also stehen Sie schön aufrecht.“
Und er wirft einen riesigen Schatten auf den Erdboden. Im Schatten des Luftwesens -
„Stehen ist sowas von gesund, stimmen alle Orthopäden drin überein, nichts zu danken ! Sie haben sowieso Übergewicht.“
Die Herren ziehen sich unter Entschuldigungen zum Mittagessen zurück. Oder ist es schon das Abendessen ? Oder das nähste Frühstück ? Und habe ich Ihnen angemessen Apptetit gewünscht oder habe ich nicht ? Ach, alles verschwimmt mir…

Die Großinquisitoren

Das Luftwesen wirft einen riesigen Schatten auf den Erdboden. Im Schatten des Luftwesens, das der fliegende König des Lichts ist, hält sich Angra Mainyu, seit Anbeginn hält er sich im Schatten, denn er ist die Verfinsterung jeglichen Lichts, der Dämon des Schmerzes. Zugleich mit Ahura Mazdan erschienen, ist er dessen Leugnung und Müllseite, durch ihn wird das Blanke zu Rost, die Flamme zu Ruß, der Körper des Menschen zum Schlachtfeld der Schmerzen, der Bosheit, des Wahns, das Leben-dige zersetzt sich durch ihn zu Aas auf dem sich die Fliegen niederlassen. Fliegen Fliegen woher kommen nur so viele Fliegen, sie nuckeln heißhungrig an meinem fetten Schweiß, seit Tagen bin ich ungewaschen. Ach sieh mal da an, unser Kunde steht ja immer noch an seinem Platz. Kerzengrade ! Allerhand Kondition, alle Achtung ! Seien Sie bloß froh dass Sie nicht sitzen mussten wie wir im Auto, die letzten Stunden waren der reine Horror, im Stau ! Und alles wegen Ihnen der Stress und Sie dürfen da stehen, ohne Stress, einfach so stehen und nachdenken, mein lieber Scholli, so gut möchts unsereiner es auch mal haben. Die Herren lassen sich Kaffee bringen.
„Ach übrigens“ während man den Kaffee kühl bläst, in den Tassen rührt „ es hat da eine Demonstration stattgefunden Ihretwegen.“
„Offensichtlich islamistisch inspiriert. In einem von Ihren Büchern sind ja auch zwei Mädchen abgebildet mit so Palästinensertüchern wie jetzt wieder.“
Aber das war doch beim Ostermarsch, 1984. Zwei Kellnerinnen aus der Künstlerkneipe, die eine hat später einen Stabsfeldwebel geheiratet. Wenn Sie sich ständig rauswinden überlassen wir Sie den Kollegen von der CIA, die haben nicht dauernd das Grundgesetz unterm Arm so wie wir. Da schält sich doch klar eine Linie raus bei Ihnen, Sie angeblich freier Schriftsteller Sie die läuft klar auf diese Dschihad-Gruppierungen zu Angra Mai-nyu lebt als Dämon in den Menschen, ihre Körper sind sein Schlachtfeld.Die haben Sie ausgekuckt weil Sie immer schon gewalt-orientiert waren in Ihren Büchern wir haben da ein Interview gefunden mit einem der ist später zur RAF gegangen und das mit der Blockade in Mutlangen gegen die Raketen das war doch auch reine Gewalt haben die Gerichte ja eindeutig festgeschrieben, oder ? Das ist ein einziger Mahl-strom hin zum Terrorismus ein unausweichlicher Weg in die weltweite Terror-gewalt und für die steht ein Name wie kein anderer : Abu Mirzda.
„Ahura Mazda“.
Über die Umschreibung streiten wir uns jetzt nicht, ausgerechnet mit Ihnen, ja ? Einzig und alleinig ein gewisser Hoffmann-Nauke hat sich positiv ausgelassen über Sie als Schriftsteller und diese Demo da angeleiert, aus Solidarität wie er sülzt in jedem zweiten Satz. Der hats ja auch nötig, wo er doch IM war. Sagen Sie bloß das wissen Sie auch nicht, so kommt eins zum andern. Mein lieber Scholli, Sie schnitzen Ihr Kerbholz voll bis zum Gehtnichmehr. Seit Anbeginn hält er sich im Schatten, denn er ist die Verfinsterung jeglichen Lichts, der Dämon des Schmerzes.
„Was reden Sie eigentlich fortwährend vor sich hin, mit wem reden Sie denn da wenn Sie so vor sich hin reden wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, Sie wollen mit allen möglichen anderen reden nur nicht mit uns.“
Die Fliegen nuckeln an meiner Kopfhaut.

Ich kniete vor dem Kind, es leuchtete, das Licht strömte aus den Augen des Kindes, aber warum war es so grell ? Ich kniete vor dem Kind in ewiger Anbetung, ich kniete, obwohl es mich anglotzte aus dem Gesicht einer haarlosen Puppe.
„Wieviel Dioptrin hat der Herr doch gleich ? Drei ? Sechs? Oder
mehr ? Dann ist ja Beleuchtung dringend angesagt, wenn einer so im Dunklen tappt .“
Kopfschmerzen. Kopfschmerzen.Kopfschmerzen.
„Tappen ? Da hat keiner was von Tappen gesagt. Da wird schön stehen geblieben. Da genau auf dem Punkt da.“
Hinter mir war die Karawane der beiden angekommen, ich hörte ihr Zaumzeug metallisch aneinander schlagen, ich hörte ihre Sporen klirren beim Absteigen. „Kaspar !“ rief ich, „Balthasar ! Kommt hierher an meine Seite, kniet an meiner Seite !
Hebt mich auf !“ Sie aber grinsten mich an mit Glasaugen, und ihre Roben waren geflickt mit ALDI-Tüten. Und ich kniete zwischen künstli-chem giftgelbem Stroh vor dem Kind, und sein Kopf war ein Schein-werfer,ein sich drehender Scheinwerfer, der mir Augen und Gesicht verbrannte, während mir die Schienbeine erstarrten und erfroren vom Knien vom Abend zum Morgen zum Abend und ich liege auf einem Betonfussboden. Zwei heben mich hoch und zerren mich aus der Helligkeit ins Dunkle, in einen Flur in ein Zimmer in einen Bürostuhl und lassen mich sinken. Die Sitzschalen sind so weich und anschmiegsam, dass sie mir dadurch weh tun und ich aufschreie.
Tür auf. Einer hinter dem Türblatt ruft ehe ich ihn noch sehe :
„Ist er das ?“
Der der gefragt hat, bekommt eine Antwort, die ich nicht verstehe. Er setzt sich mir gegenüber ohne sich vorzustellen.
„Also Sie sind das…“
Klingt wie oh was hab ich von Ihnen alles hören müssen . Was er hat hören müssen, steht in seinen Unterlagen. In seinen reichlichen Unterlagen, die er auf seinem Notebook verzeichnet hat, in dem offensichtlich mehr über mich steht als in als in meinem eigenen Gesicht denn er schaut mich nicht an.
Er lacht bitter auf hin und wieder. Aber was liest er da ? Über mich, über den König des Lichts, über beide ?
„Mein König des Lichts“ rekapituliert er murmelnd zur selben Zeit, da ich diesen Titel in meinen Gedanken umwälze.
„Ach du heiliges bisschen, wenn ich sowas schon höre…“
Er schüttelt den Kopf ob der Unglaublichkeiten, die ihm sein PC über mich mitteilt. Sein Handy klingelt .
„Ja ? Hier der Sektenbeauftragte…“
Der Großinquisitor, da hast du ihn vor dir. Der Großinquisitor war immer ein wachshäutiger Greis mit eingesunkenen Augen aus denen der Glanz wie von Feuerfunken leuchtet mit breitem violetten Hut und mit einem Silberkreuz stilgerecht vor der Brust, das ich küssen muss ehe er es mir ins Fleisch rammt. Aber er hat kein Kreuz umhängen, weil ich als Ketzer unwürdig bin es zu küssen. Er wird’s mir reichen im Taschen-messerformat und ich muss es mir selber in Zunge und Rachen rammen.
„Quimshan-Buddhisten ?“ fragt er in sein Handy hinein.
„An der Wirtschaftsaufbauschule ? Nicht schon wieder Quimshan-Buddhisten…“
Ein Torquemada mit Internetanschluss aber ohne Vollmacht zum Autodafé. Ein Inquisitor, groß nur noch dem Geschäftsbereich nach, und inquistorisch wie die Steuerfahnder, die ständig klagen , dass sie die Fülle der Fälle nicht mehr bewältigen.
„Der sechste Fall diese Woche, dabei ist heute erst Dienstag.“
Er steckt sein Handy grummelnd weg, bedeutet mir mit einer aus-wischenden Handbewegung, ich hätte auch weiterhin den Mund zu halten und vertieft sich wieder in sein Aktenstudium per PC.
„Da hat das Gesicht des Kindes sein Licht leuchten lassen aus dem Stall heraus ! Ich lach mir‘n Ast.“
Immerhin, ein Theologe. Der erste von diesem heiklen Fach, seitdem der mir zugestoßen ist, wegen dem ich hier sitze. Ich habe doch so viele Fragen, Hochwürden, Monsignore, Eure Heiligkeit, der König des Lichts ist eine Figur aus der Bibel, aber warum ist er dennoch in Person aufge-treten, jedenfalls für mich, obwohl mans leibhaftig auch wieder nicht so recht nennen kann. Und wie hat ers geschafft, so lange leben zu bleiben, obwohl mans leben auch wieder nicht nennen kann, jedenfalls länger als dieser Ahasver.Und Ihnen, Eminenz, muss ich nicht erst erklären wer Ashasver war.
Dieser Ahasver musste herum irren oder irrt immer noch herum, Sie werden das schon wieder besser wissen als ich , zur Strafe dafür, dass er Ihrem obersten Dienstherrn etwas verweigert ha , während der König des Lichts eben diesem Ihrem obersten Dienstherrn etwas geschenkt hat, nämlich Gold, Weihrauch und Myrrhen, wie Sie in Ihrer Handbibel bei Matthäus nachschlagen können, falls es Ihnen entfallen sein sollte.
Sein Handy lärmt schon wieder. Er schaltet es unter geknurrten Flüchen aus und legt es neben sich, versetzt ihm einen verwarnenden Klaps und liest weiter. Mir hat er bis jetzt keinen Blick gegönnt.
Und warum, Monsignore, musste er überhaupt mit den Seinen aufbre-chen zu diesem Kind, von dem doch alles Heil ausging, und es dann trotzdem zurück und sich selber überlassen ?
Der Großinquisitor klappt seinen PC zu und bollert in sein Handy:
„Fall König des Lichts. Aktenzeichen werden Sie ja haben. Also, der Mann ist ecclesiogen paranoid, idiosynkratisches Syndrom. I – dio – syn- kra…Kruzifix, ich diktiers Ihnen ja nochmal wenn ich wieder im Büro bin.“
Er ist fast schon zur Tür hinaus, als ihm einfällt Haltmastopp, die Überweisung.
Überweisung ?
Er reicht mir ein Blatt, wiederum ohne mich anzusehen, zumal sein Handy schon wieder in seiner Jackentasche schrillt und lässt etwas aus den Mundwinkeln fallen von einem betreuten Wohnheim der Steyler Mission.
„Das hört sich aber sehr katholisch an“ werde ich in eigener Sache vorstellig, “dabei bin ich doch schon längst ausgetreten bei Ihnen.“
Aber da ist er schon stantepede zur Tür hinaus, in sein Handy bollernd.
Momentchen doch noch, Großinquistor ! Ich schleppe noch einen ganzen Sack voller spiritueller Fragen mit mir herum. Warum haben die drei das Kind nicht frisch gewindelt, in ihre Satteltaschen verpackt und sind mit ihm davon geritten in ihre Reiche ? Wenn sie denn von Prophezeiungen gelenkt und geschickt waren, hätten sie auch wissen müssen, dass der angebetete Säugling die Karriere zum Staatsfeind und Rebell einschlagen würde, nicht zu reden vom Religionsstifter.
In ihre Reiche verpflanzt, wäre ihm die Kreuzigung erspart worden und Jerusalem die Zerstörung und Jupiter und Isis das Christentum. Wollte der König mir am Ende gar das alles mitteilen ? Warum aber hat er sich dann so langwierig ausgeschwiegen ? Weil ich fehlbesetzt, weil ich der falsche Melchior war ? Aber sich rücksichtslos in mein Leben hineindrängen, um sich ausgerechnet bei mir nach dem Verbleib eines Sternbildes zu er-kundigen, das ihm abhanden gekommen war seit zweitausend Jahren, und nun Chaos links und Chaos rechts hinterlassen. Dafür steht Ihr Berufsstand qua Ressort in der Verantwortung mir gegenüber, sind Sie doch der mit Steuergeldern gestützte Verwalter des Spirituellen, des Numinosen, der religiösen Tradition, Sie hetziger Handy-Inquisitor Sie !
Ich denke mich in Rage, rede ich mich auch in Rage ? Ich muss mit mir alleine vor mich hingebrüllt haben. Jedenfalls ertappe ich mich dabei, dass ich mit der flachen Hand auf den Tisch schlage. Denn die, die nun eintritt, sieht so verschüchtert drein, als hätte ich tatsächlich gebrüllt. Die Ver-schüchterte trägt zusammengefaltet vor sich her ein quadratisches Etwas, in lila Geschenkpapier verpackt.
Spitzfingrig, wie eine heiße Pizza.
„Dies hier ist Ihr Eigentum.“
Sie legt es auf den Tisch mit einer Geste, an der ich sogleich erkenne : schon wieder Kirche.
Ich fahre, nun einmal heißgeredet, mit dem Fragenkatalog fort, in dem ich erzürnt wate und selbst unterstellt, er war ein Betrüger, ein Luftikus, ein Scharlatan – wie, wenn er nur aufgetaucht ist, um mich einer Eignungsprüfung zu unterziehen ? Ob ich geeignet bin für das Amt, für das Königtum, für den wirklichen König des Lichts ? In Fleisch und Blut und nicht nur als verwitterter Lederbalg ?
Die Betretene sieht noch betretener drein.
„Also, was Sie da aufwerfen das sind hochdifferenzierte Problem-aufrisse, die…also die man wirklich…“
Ihr Satz, halblaut begonnen, rutscht in ihren Kehlkopf zurück. Noch betretener sinkt ihr Blick nieder und wird im Fallen von der Tischplatte aufgefangen, auf den sie das lila Eingewickelte gelegt hat. Mein Eigen-tum. Während sie mir weiterhin betreten zusieht, entferne ich das Papier, das mich an die Kirchentags-Halstücher der alten Damen bei den Ostermärschen erinnert.
Und habe Natalies amischen Quilt in der Hand.
Noch ehe ich nach dem Woher frage, vergräbt sich mein Gesicht darin. Eine Duft-Botschaft von Löwchen ! Meine beiden Hände streicheln den Stoff, wühlen sich hinein, gleiten darüber, um mit meinen Fingerkuppen unter der Seide aus Illinois Natalies Haut zu erspüren, die sich nun weiter von mir entfernt hat als Illinois es ist.
Die nun nicht mehr gar so Betretene lächelt einverständig, es scheinen tief in ihrem Inneren eben doch verborgene Weiblichkeiten verborgen zu sein. Wie ertappt hasple ich etwas über die ei-nerseits so gestrenge Geometrie des Quilts, andrerseits aufgenäht von weichsinnlichen Frauen-händen, und grabe meine Nase hinein. Die Betretene errötet und ist nun doch wieder betreten.
Und mich treibts ins Selbstbefragerische : wenn das hier der Reise- Atlas und die Wegweisung gewesen für Natalie, die Mennoniten-Nach-fahrin und Vielgereiste, warum hat sie den Quilt dann zurück gelassen beim Antritt ihrer allerletzten Reise ?
Die Betretene, da sie mich so in sich gekehrt sieht, ( den Blick auf den mennonitischen Mustern und nicht auf ihr ) traut sich nun doch einen Satz hervor zu bringen, ihren zweiten Satz an mich. Sie holt dazu den ersten , den verschluckten, aus ihrem Kehlkopf wieder herauf :
„Ja also, was Sie da alles so aufwerfen das sind also hochdifferenzierte Problemaufrisse, die beschäftigen inzwischen ja schon den Sicherheits-ausschuss bereits des Bundestages.“
Erschrocken, als säße der ganze Bundestag vor ihr, schweigt sie schon wieder. Betreten.
„Mein Fall erregt so viel Aufsehen ?“
Das haben meine Freunde die Geheimen mir gänzlich unterschlagen, aber wozu sonst sind sie geheim.
„Ja nun, also Aufsehen…“
Ein Begriff, zu groß für sie. Sie räuspert sich, ganze Aussage-Ketten verschluckend, durch zum nächsten Satz, der ( die Räusperer und betretenen Verschlucker einmal abgezogen ) beinhaltet dass sie …das wir…also einfach neugierig waren auf…auf…
„Ähäm…“
Auf mich ! Du stehst da in der offenen Tür und weißt nicht
dass einem der Dreikönigswind ins Haus bläst, wird drinnen alles umgestülpt, und nicht nur die Seelen.
Übrigens und außerdem, und ich möge das ähäm nicht miss-deuten, sei sie die Sektenbeauftragte der ähäm Landeskirche. Es wird mir also doch noch eine gottesgelehrte Person zuteil, vor der ich meinen Fragenkatalog aufblättern kann. Und da sie schon wieder schweigt und die Sätze, die sie sich nicht herauszubringen traut, nur in ihrem Kehlkopf herumkullern, lege ich wieder los, zweiter Durchgang : er ist eine Figur aus der Bibel , aber warum ist er dennoch so real geworden, jedenfalls für mich, obwohl mans leibhaftig nun auch wieder nicht nennen kann . Und wie hat ers bloß geschafft, so lange leben zu bleiben…und so fort und so fort, bis hin zu Ahura Mazda und Natalie, der Priesterin desselben. Den ganzen Sermon.
Noch nie habe ich das alles jemand vorgetragen. Und noch viel weniger hat mir jemand so ergeben zugehört.
Die Betretene ähämt, gewiss, das sei alles einmal gestreift worden in ihrem Studium, übrigens in Marburg genau genau. Marburger Schule wie schon der Großvater der Superintendent der hat auch bereits in dieser Tradition gestanden also da sei gestreift worden kursorisch kursorisch in einem Proseminar über Mythologeme des Mittelalters ähäm gewiss aber der Brückenschlag zum hic et nunc in der aufgeklärten Säkular-gesellschaft, also so ganz gnadenlos in die Gegenwart, der komme ihr doch so verblüffend –
„Dass also wirklich… also dass…verstehen Sie mich da bitte nicht falsch…“
- dass ihr das Ende ihres Gedankengangs ohne Punkt und Conclusio wiederum im Kehlkopf verkullert.
Aber hier sitze ich doch, der Brückenschlag zur Gegenwart in persona oder bin ich Ihnen etwa nicht gegenwärtig genug, Frau Gottesgelehrte, mit dem Fettschweiß auf der Stirn, an dem sich immer noch ein paar geheimdienstliche Fliegen laben ?
Und als sei ihr meine Gegenwart zu übermächtig und sie ängstige sich vor einem, der Umgang gehabt hat mit einer Gestalt, die sonst nur bei Matthäus 2, 1-12 vorkommt, fragt sie mich mit leisem Stimmchen ( und nun auch errötend ) ob sie mich ihrem Lebensgefährten zeigen dürfe ähäm, denn ich sei ja ein transreligiöser Fall von einem Volumen das nur multi-konfessionell evaluiert werden könne.
Und wie ein Kaninchen das aus dem Abendmahlskelch gezaubert wird
( er muss mit dem Ohr an der Tür gelauscht haben ) weist sie einen Bleichen vor, viel jünger als sie selbst, der mir in freundlichem Hessisch erklärt, er sei der Imam von Heddersheim.
„Achmed und ich sind erst seit kurzem zusammen. Mein Sohn Ernst-Jürgen hat das noch gar nicht so ganz verkraftet, entschuldigen Sie, als König des Lichts, wenn ich so überfallartig privat werde. Er nennt sich allerdings auch nicht mehr Ernst-Jürgen…“
Sie holt noch einen zweiten Bleichen herein, dem das gleiche schwarze Brillengestell auf der Nase sitzt wie dem Imam. Anders als dieser ( und zudem etwas älter ) hat er bereits ein Berufsleben hinter sich, nämlich als Werbekaufmann und eine so wundervolle Stimme wirft seine Mutter ein, unversehens ähäm-los, so wie Franz Werfel sie gehabt haben soll, das war ja auch ein sehr zum Religiösen hin Strebender.
Dem ihr Sohn äußerlich gleicht.
Gleiche Physiognomie, gebe ich recht, das soll häufig sein bei lyrischen Tenören, muss aber nicht gleich theologisch vereinnahmt werden sondern hat mit dem Sitz des Zwerchfells zu tun. Ich ermutige damit die Mutter in ihr so sehr, dass sie sich nun mutterstolz das Organ des Rabbiners zu rühmen traut als unendlich seidig, schwingend in den Tiefen, fast zu erotisch für den Tempel.
“Aber Mama, ich setze sie einzig im Gottesdienst ein.“
Der Rabiner ist rot geworden dabei. Man errötet schnell in dieser theologischen Familie.
Er ist beileibe nicht auf Brautschau, er ist Diener Jahwes, der ihm als Offerte zugestoßen ist ausgerechnet in Hannover. Ein anderer Junggeselle und Werbekollege hat ihn in seiner Eigenschaft als zweiter Tenor gebeten ihm abends zur Probe des Synagogenchores zu begleiten. Und siehe, es begab sich, dass er als tragfähiger Bassbariton erkannt wurde und der seinerzeitige Rabbiner ihn gleichsam gleich da behalten hat, vokal und theologisch in einem. Weswegen er sich - schalom Melek Or ! - nun vorstellen darf selber als soeben bestallter Rabbiner einer Gemeinde, mit der er freilich nur sehr umwegig zu kommunizieren in der Lage ist, besteht diese doch mehrheitlich aus zugewanderten Russen, allesamt seines des Hebräischen nicht mächtig. Das er selbst derzeit mühsam erlernt.
In solcher sprachlichen Kalamität zeigte sich dankenswerterweise sein wenn man so will Stiefpapa, der Imam hilfreich. Der hatte bei der Bundes-wehr Russisch lernen müssen, um vom Brocken im Harz aus den Funk-verkehr der Luftwaffe des Warschauer Paktes abzuhören, welcher bei seinem Dienstantritt freilich bereits zusammengebrochen war, so dass er sich vor die Sinnfrage gestellt sah statt vor den Beamtenstatus. Vor die Wahl gestellt, als gelernter Militär ( wie der eine Grossvater ) dessen Tradition fortzusetzen und ( als Deutschtürke ) dessen gebieterischem Ruf zurück in die Türkei zu folgen, entschied er sich ( wie sein anderer Grossvater, der Imam ) fürs Hierbleiben und ( unter dem Einfluss seiner Lebensgefährtin ) für die Seelsorge.
Und nun erröten sie alle drei.
Als die beamtete Monotheistenfamilie mit dem Erröten fertig ist, richten sich ihre Blicke auf mich wie auf das Präparat eines längst ausge-storbenen Quastenflossers, an den Gottvater ( Genesis 1,20 ) noch per-sönlich Hand angelegt hat. Ich bin der lebende Beleg, dass das Numinose, das Mythische, die Dunkel-Dramen der Apokryphen ( die sie in ihren amtlichen Büchern vor den Gläubigen mit der Hand abdecken müssen ) zischboing ins Alltägliche hüpfen können ohne Rücksicht aufs Pastoral-dienstliche, auf Gottesdienstordnungen und Synodalbeschlüsse.
Ich bin das Mirakel, von dem ihre Grundschriften voll sind und ihre Arbeitstage leer. Wenn ich mich ihnen überlasse, schleifen sich mich als ausgestopften Quastenflosser durch sämtliche evangelischen Akademien, interkonfessionellen Bildungseinrichtungen auf Tournee von einem Haus der Kulturen zum andren, von einem multi-kulturellen Dialog zum an-dern.
Ihre Münder formulieren schon ( unhörbar ) die Themennetze, unter denen ich einzufangen bin : Erlittene Theologie - Erfahrungsbericht eines Betroffenen. Dreitägig, die Einführung hält der Landesbischof. Teleo-logie und Selbstfindung. Eine Woche in Zusammenarbeit mit einem ge-staltpsychologischen Institut.. Zarathustrismus, Islam und Dreikönigs-mythos im Schnittpunkt von Astronomie und Monotheismus mit Auser-lesenen aus dem Zentralrat der Juden wie der Muslime auf der Referen-tenliste.
Und ich, immer Referent und Belegstück zugleich, werde mich eines amtskirchlich abgesicherten Einkommens erfreuen, jenseits des Rittmei-sters Balthasar und des Senders Wieheißterdochgleich.
Wieder versinkt meine Nase in dem Gebausche des amischen Quilts, als wollte ich darin Natalies Rat erwittern.

Flaschenpost

„Bei anderen Behörden haben sie so Stempel, da hauen sie ein rotes Q mit drauf auf einen Fall, wenn einer ihnen auf den Keks geht bis zum Erbrechen.“
Q steht für Querulant .
„Und so gedenken Sies auch mit mir zu halten ?“
„Wir sind keine x-beliebige Behörde, das sollten Sie sich doch endlich mal eingebimst haben. Also haben wir auch keine Stempel. Deswegen können wir auch kein rotes S draufklatschen auf Ihre Akte, auch wenn uns üppigst danach ist.“
Und für was steht das S?
„Für Spinner.“
„Der Vertreter der Amtskirche fasste sich da aber eleganter. Eccle-siogen paranoid, idionsynkratisches Syndrom hat er sich ausgedrückt in seinem Attest. Gezeichnet Monsignore Habselmeyer.“
„Mir kein Begriff.“
„Sie haben ihn doch selbst erfunden. Mithin ist es seine Pflicht, die von Ihnen angeforderten Urkunden zu unterzeichen.“
Nun schwingt er sich endlich ins Cholerische, mein stets so distin-guierter Amtsfreund, der kein Beamter sein will. Wertvollste Teile des Beamtenapparats, der gar keiner ist, hätte ich wochenlang gebunden ! Ausgerechnet ich, ein Literat,ein Literatchen, ein Einfallspinsel ein Tastenwürmchen nimmt es sich heraus eine hoch organisierte Behörde von der Sie nie gehört haben, da haben wir uns doch verstanden, gell mit ihm abgeben musste. Eine Zumutung waren Sie, eine Zumutung ! Wenn der Bundesrechnungshof sich das vornimmt wieviel Überstunden wir haben schieben müssen wegen Ihnen…
„Ich entnehme Ihren Ausführungen, mein Fall ist als unergiebig abgeblasen.“
„Regresspflichtig aber sind Sie allemal da kommt noch allerhand auf Sie zu mein lieber Scholli“.
Bitteres Beamtenlachen.
„Vergelts Gott wenigstens schon mal für Ihre Gefälligkeiten“.
Bei der Stofffülle die sich angesammelt hat aufgrund eben dieser Gefälligkeiten, sehe ich mich als Schriftsteller geradezu gezwungen, diese meine Abenteuer zwischen Buchdeckeln aufzuarbeiten.
„Ich lass ich Ihnen ein Exemplar zukommen, und zwar mit – „
Zu dem Begriff mit persönlicher Widmung gelange ich freilich nicht.
„Ihr Vorgang unterliegt selbstredend weiterhin unserer Kontrolle.“
Wie ein Dienstsiegel pappt sich dieser Satz auf mich. Es gibt mich am besten gar nicht. Ich werde mir doch nicht auch noch das Risiko einbrocken und mich bei der Presse anranzen oder beim SPIEGEL oder -
„Mein lieber Scholli, für den Fall garantier ich Ihnen – „
Was garantiert er mir denn ? Bitteres Beamtenschweigen. Werde ich ihrer eigenen Schnitzer wegen nachhaltig aus dem Verkehr gezogen, bekomme ich eine neue Identität, unter der mich kein König des Lichts mehr ausfindig macht, darf ich nun endlich Karlheinz sein, oder ein Günter, ein unauffälliger Karl-Heinz ? Ausgerechnet jetzt, wo die Behörde mit der Sie selbstverständlich nie was zu tun hatten, alter Freund ausgerechnet jetzt wo sie ihre alte klassische Aufgabenstellung verlieren soll und personell umstrukturiert werden weil diese Grünen da rein-pfuschen das macht ja einer wie Sie sich nicht klar so ein freier Rumhupfer aus der Kulturbranche was da für Entscheidungen dran hängen über Existenzperspektiven ausgerechnet da fallen sie auf einen Versager rein wie mich der ihnen nicht die Fährte zu Abu Mirma zeigt oder Mazda oder wie immer der sich grade nennt. Folglich werden, soll ich heraus hören, Pläne erwogen die um meine Auslöschung kreisen in etwas ( für sie ) sicherem Psy-chiatrischem.
Ich weise meine Überweisung vor, die der Großinquisitor christ-katholisch ausgefertigt hat. Ruhe sollst du finden unruhige Seele bei den stillen Brüdern auf dem Berge die dich das Schweigen lehren und die Einkehr. Das wirkt auf sie. Die eine Behörde auf die andere Behörde, die einen Sbirren auf die anderen, von Dunkeling zu Dunkeling. Sogar den Hund bekomme ich zurück, gegen Quittung. Wiedersehensfreude. Er ist fülliger geworden. Und was bin schuldig für das was er verzehrt hat ?
„Das kommt dann mit der Gesamtabrechnung“
Und dazu ein männerbündisches Kameradenlachen peace from now aber die allerletzte Kugel behalte ich im Lauf, Kumpel. Und eine letzte Fahrt als Zugabe. Zum Betreuten Wohnheim der Steyler Mission. Es liegt sehr außerhalb, eine letzte Überstunde weit ( der Bundesrechnungshof wird’s auszurechnen haben ), es steht auf einem Hügel der fast schon ein Berg ist. Umstanden von kahlen Birken, an deren überaus nackten Stäm-men das Regenwasser in silbrigen Linien herabrinnt.
Der Hund bekommt einen männerbündischen Klaps zum Abschied. Und ich meinen Laptop ? Der muss unter Amtssiegel verwahrt bleiben in der Asservatenkammer von unserer Behörde von der Sie nie gehört was haben. Dafür wird mir ein Stoß Papier heraus gereicht in den Nieselregen. Ich berge ihn unter dem amischen Quilt. Sie beachten mit diensthabenden Gesichtern wie ich, in den Quilt gehüllt, die Stufen hinauf tipple. Eiswasser in den Schuhen.
Über dem Portal steht in Messingbuchstaben TRITT EIN UNTER MEIN DACH SO WIRD DEINE SEELE GESUND.
„Hunde haben hier keinen Zutritt“.
Eine Mikrofonstimme. Also vertäue ich den Hund fürs erste draußen. Die Tür surrt auf. Der dem die Mikrofonstimme gehört, trohnt hinter einer dicken Glasscheibe.
„Ich habe da eine Überweisung…“
Und schiebe sie unter der Glasscheibe durch.
„Das ist eine Einweisung.“
Draußen jault der Hund.
„Stellen Sie das ab. Hunde haben hier keinen Zutritt.“
„Aber über dem Eingang steht doch TRITT EIN UNTER MEIN DACH SO WIRD DEINE SEELE GESUND.“
„Das gilt nicht für Hunde.“
„Es ist sowieso verstümmelt das Zitat. Es muss richtig heißen, und so stehts bei Matthäus acht Herr, ich bin nicht würdig dass du eintrittst unter mein Dach. Aber sprich nur ein Wort so wird meine Seele gesund.“
„Das bestimmt die Heimleitung was über der Tür steht und was nicht.Wir müssen Ihren Fall erst überprüfen.“
Er telefoniert. Ich warte, Eiswasser in den Schuhen. Und draußen jault der Hund.
„Wir erfahren vom Ordinariat, das Dokument ist ausgestellt auf Grund falscher Angaben von Ihrer Seite.“
Die Einweisung ist also nichtig ?
„Weil Sie sind nicht mehr veranlagt zur katholischen Kirchensteuer.“
Die Tür surrt wieder auf, der Himmel da draußen hat nichts zu bieten als unweihnachtlichen Nieselregen, dem der Hund nun entflieht, um hier drin im Vestibül ausführlich sein Fell auszuschütteln wie ein Priester seinen Weihwasserquast. Die Wände, die Scheibe und ich werden reich-lich von ihm geweihwassert.
„Ich wiederhole zum letzten Mal : Hunde haben hier keinen Zutritt.“
Ich unterdrücke die Metapher vom Weihwasserquast, denn der hinter der nunmehr gesprenkelten katholischen Scheibe amtiert als die Cherubim mit dem flammenden blitzenden Schwert die die Ausweisung Adams und Evas aus dem Paradies zu überwachen hatten.
„Verlassen Sie unverzüglich die Anstalt. Die Anstaltsleitung sieht sich sonst gezwungen Sie haftbar zu machen wegen Ver-unreinigung.“
Der Hund, harthörig, schüttelt sich weiter. Ich packe ihn, der sich mit den Krallen gegen das nasskalte Gassigehen stemmt und zerre ihn ins Freie. Mit einem vorwurfsvollen wwwffff schließt sich hinter uns die Tür. Die Limousine meiner geheimen Freunde ist verschwunden. Ich erinnere mich an das Papierbündel, das sie mir ausgehändigt haben als ( nun da sie sich verzogen haben traue mich es zu denken ) als Abschiedsgeschenk. Ich setze mich auf der Stufe vor dem Portal TRITT EIN UNTER MEIN DACH und hole es unter dem amischen Quilt hervor .
„Liebster, wenn du das hier eines Tages lesen solltest…“
Bis auf diesen ersten Satz ist auf der ersten Seite nichts mehr zu entziffern, die Buchstaben rinnen in traurigen Schlieren über das nasse Papier. Auf der zweiten Seite dann weiter mitten im Satz immer nur Aufrufe hast du aufgesetzt zu Demos gegen Atomkraftwerke gegen Flughafenerweiterung gegenwasnichtalles ! Lauter Vorlagen lauter Entwürfe die dann zerpflückt und umgekrempelt worden sind du hast sie sogar geschrieben grade in dem Bewusstsein DASS sie umgekrempelt werden damit bloß nichts mehr von Dir selber drin blieb. Das also wars, was sie so hitzig in die Tasten gehämmert hat in den letzten Tagen, in denen wir miteinander alleine waren. Ja, wo bist Du denn selber geblieben sag mir das Liebster. Immer nur Protokolle Protokolle Proto-kolle Mitschriften von dem was andere gesagt getan geplant verbockt haben.
Keine Abrechnung also mit den Kollegen in der Redaktion. Eine Abrechnung mit mir.
Aber wenn ich dich aufgefordert habe vor unseren Freunden von der schreibenden Zunft : nun erzähl uns doch mal von dem Roman den du in der Mache hast ! Ach du mein Redeflussmeister was hast du da losgorgeln können von Seite zu Seite von Kapitel zu Kapitel so dass alle ich inklusive Feuer und Flamme waren. Aber bei der Frage dann „Und wann kann mans lesen ?“ da bist Du zusammengesackt mein Maulheld und Vorfahrt hatte schon wieder ein fremdes Manuskript das zurechtgeschneidert werden musste und noch eins für einen andern und der hieß fast immer Hoffmann-Nauke aus Solidarität Solidarität Solidarität bis ich das Wort nicht mehr hören konnte und bis dich alle satt hatten dich Windbeutel und du keine Freunde mehr hattest nicht mal zur Nachfrage nach deinen ausbleibenden Manuskripten.
Auf jeder Seite rechts oben in Rot STRENG VERTRAULICH nur zum internen Dienstgebrauch / Weitergabe an Unbefugte strengstens unter-sagt. Von wegen sie haben keine Stempel und sind keine Behörde. Aber dort wo der Name ihrer Behörde zu stehen hätte, da haben sie säuberlich ein Loch geschnippelt, quer durch alle Seiten. Ein und die selbe Lücke durchtunnelt den ganzen Packen Papier. Wenn ich es mir vors Auge halte, kann ich wie durch ein Fernrohr meinen nassen Hund betrachten, der mir zu verstehen gibt wie sehr er friert wann führst du mich, Herrchen, ins Geheizte ? Ich kann dich jetzt nicht führen, Hund, es ist Flaschenpost von Frauchen bei mir angelandet. Und die macht sogar das Wenige was ich war zunichte.
Und was hab ich immer geträumt davon deine Katja Mann sein zu dürfen dich abschirmen zu dürfen gegen Zudringliche, Reporter, Germa-nistikstudentInnen, dich am Morgen schon an der Schreibmaschine zu hören, statt um diese Zeit in der Redaktion anzutreten Woche für Woche von Andruck zu Andruck wo ichs immerhin noch ausgehalten hätte im Bewusstsein wenn ich nach Hause komme liest er mir die zehn Seiten vor die er heute ge-schafft hat mir als erste mir als einzigster bin ich eine glückliche bin ich eine stolze Dichtersgattin –
Von oben wird gepfiffen, auf den Fingern. Die ganze Zeit schon war da ein Gerufe, erst jetzt dringsts zu mir vor. In den Fenstern liegen ein paar, mit breit aufgestützen Armen.
„Du da ej, Neuer, haste ne Zigarette ?“
Weil ich keine habe, werfen sie Walnüsse nach mir. Golden broncierte Walnüsse, aus ungeliebten Weihnachtnachlässen. Ich dagegen liebe Wal-nüsse, ich hasche nach ihnen, denn ich bin hungrig. Als ob die da oben es mir ansähen, lassen sie noch mehr prasseln.
“Entfernen Sie sich aus dem Eingangsbereich der Anstalt“ schaltet die Mikrofonstimme sich wieder ein „oder wir sehen uns gezwungen, Maß-nahmen zu ergreifen.“
Also denn, entfernen wir uns. Die oben haben nicht mitgehört warum.
„Hej, Neuer, lassen sie dich auf Freigang ? Bringst du mir was mit ?“
Und sie zählen auf, eine ganze Einkaufsliste. Die letzte Walnuss trifft den Hund am Hinterkopf.
Im Busbahnhof lese ich weiter. Sie die an die Ruderbank ihrer Damen-redaktion Geschmiedete, lese ich, und ich der Drauflos-fabulierer der ihr Geschichtchen erfand auf Zuruf in unserer ersten Zeit, weißt du das noch.
Und ob ich das noch weiß, ich habe Natalie damit erobert. Schreib das nieder ! rief sie damals als ich als Fremdling auftauchte in ihren pro-testantisch-rechtschaffenen Familienkulissen als ein Erzähl-König des Lichts ( oder doch zumindest als Kronprinz des Lichts ) Du musst das um Himmels Willen niederschreiben ! Und als ich das nicht über mich brach-te, erbot sie sich ( statt schon damals beizeiten misstrauisch zu werden ) ihr meine verliebten Geschichten in die Maschine zu diktieren.
Aber eben das Diktierensollen hat mich blockiert und die Geschicht-chen ausgetrocknet, mir stand der Sinn nach ihrem aufstäubenden Lachen und nicht nach ihrem zu mir devot aufblickenden Sekretärinnengesicht. Und die endlos vielen Gedich-te die du mir immer so flott hingekritzelt hast auf die Ränder des Offsetpapiers wenn eine neue Nummer ausge-druckt war !
Aber Gedichte verkaufen sich halt nicht, das hat Natalie dann gelernt in den Jahren an meiner Seite, und danach reichte es nur noch zu Haikus und Bonmots auf Zetteln an der Küchenwand bis auch die versiegten und danach Protokolle Mitschriften Protokolle die waren das Versiegen an sich, Liebster. Und ich habe in der Redaktion sitzen müssen aus der ich mich doch hatte befreien wollen durch dich und ackern ackern ackern, damit Geld herein kam.
Ich schlage die goldenen Walnüsse auf und esse sie. Der Hund schnappt sich die Schalen und beißt gutgläubig treuherzig endlos darauf herum, ob er nicht am Ende doch noch in ihrem Innern auf die Gelb- und Blutwurst zu schmecken kommt, mit der sie ihn beim Geheimdienst gefüttert haben. Und die sie mir eines nahen Tages auf die Rechnung setzen werden.
Du schreibst gar nicht für Leserinnen, Liebster, in so einer Redaktion, du schreibst für die Anzeigenkunden. Was du mal gelernt hast auf der Journalistenschule zuzzelt zusammen zu diesen Satzgirlanden, die sich um diese seitenfresserischen Inseraten-Monster herumringeln, die eigentlich nur Gäste sein sollten im Blatt, sich aber als grelle Geschwüre aufblähen und deren Sklave du bist beim An-die-Frau-bringen von Gesundheit, Touristik, Lebenshilfe, Lebens-Sinngebung, Leben überhaupt. Du hast in jeder Ausgabe aufs Neue eine Lebensfülle zu erfinden, die es gar nicht gibt. Gar nicht geben kann !
Aber in deiner pipapo Allmacht und Allwissenheit vertrauen sich dir die Leserinnen an bis zur Hörigkeit weil sie sich geborgen fühlen wollen bei einem Heftpreis von zwei Euro achtzig geborgen bei dir armen Zeilen-sau bis zur Hörigkeit. Und wenn dem der den Heftpreis bestimmt dem Verleger die Anzeigen aber dann irgendwie dünn werden fürs übernächste Heft dann hast du gleich ein Mahnschreiben auf dem Tisch von wegen du minderst mit deiner Schreibe den Reibach von Elizabeth Arden und dem Magerjoghurtkönig und der Event-Agentur mit ihren Trekking-Touren durch Feuerland.
Du MELCHIOR warst von alldem frei, sowas von frei, aber du hast diese Freiheit nicht in beide Hände genommen, du hast sie nicht einmal wahrgenommen, du hast nie gespürt wieviel Lebens-Energie es mich kostet, noch und nöchrig Glücksgefühl verströmen zu sollen und Beratung auszuspucken, wo ich deine Natalie selber Rat & Zuspruch & Zuwendung & Nähe nötig hätte. Vorhin, in einer meiner tiefsten Ratlosigkeiten ( du hast dich grade mal wieder eingesperrt wie so grausam oft in den letzten Tagen ) habe ich durchs Oberlicht in dein Arbeitszimmer gespäht : einsam hab ich dich da sitzen sehen und vor dich hinstarren.
Was für einen Inbegriff der Leere du da geboten hast, was für einen Inbegriff der Verlorenheit & Inhaltslosigkeit du mein Redeflussmeister und Geschichtenkönig !
„Einspruch !“

Ich ertappe mich dabei, dass mich so laut gegen sie behaupte, dass der Hund hoffnungsfroh die Ohren spitzt : ist Frauchen wieder da ?
„Da war ich alles andere als leer in dem Moment, da war ich voller Erwartung und Hoffnung, wann der König des Lichts wohl endlich wieder herausgekrochen kommt aus meinen Büchern.“
Dich MELCHIOR von dem ich in unseren Anfangszeiten erhofft hatte dass er mich los bindet von der Schaumschlägermaschine Frauenjournal. Erhofft von einem Poeten, der allein sich selbst verantwortlich ist und dem niemand auf den sacharinsüßen Leim gehen muss weil er alles was er einem zum Lesen gibt aus seiner eigenen Fantasie schöpft -
- während ich das hier schreibe, kommst du herein und grabscht mich an. Nicht mit Zärtlichkeit, sondern mit kalten Flossen. Und mit die-sem selbstmitleidigen Fleheblick, der mir anzeigt du bist nicht mehr bei mir, du bist allein in DIR gefangen in dir selber. Denk daran wenn du das liest eines Tages.
Wenn ich dich verlassen haben werde.
Ergreif die Chance, die ich dir biete, indem ich dich allein lasse ! Schreib in diese Leere hinein, schreib nieder, was dir widerfahren ist durch IHN, von mir aus auch durch mich.
Es ist der letzte Versuch, zu dem ich mich imstande sehe, dich doch noch zur Schriftstellerei zu zwingen.
Meine beiden Zeigefinger rutschen über das Gedruckte, das ich vor mir ausgebreitet habe in der Stadtbücherei. Nun bin ich kein Dichter mehr für die stille Zeit, muss keine Berechtigungsscheine mehr vorweisen. Ich bin einer geworden, der Anspruch auf öffentliche Wärmung geltend macht und auf öffentliche Bildbände über Assur, das Hethiterrreich und die Völkerschaften um das Elburs-Gebirge. Ich durchstöbere mit zwei Fin-gern all die Weltgegenden, in denen Natalie unterwegs gewesen sein mag. Meine Finger hinterlassen Spuren die Natalie nicht hinterlassen hat, fettige Linien, fettige Wege auf der Seidenstraße von Kappadokien zum Pamir. Ich sudle mit dreckigen Fingerkuppen Natalies Karawanenrouten in die Hochglanzbände, und keine Aufsichtsmamsell haut mir auf die Finger.So räche ich mich an all den Büchern, die mir seit jeher die Aussicht aufs Leben verstellt haben.
Ergreif die Chance, die ich dir biete, indem ich dich allein lasse ! Schreib in diese Leere hinein, schreib nieder, was dir widerfahren ist durch IHN, von mir aus auch durch mich. Es ist der letzte Versuch, zu dem ich mich imstande sehe, dich doch noch zur Schriftstellerei zu zwingen.
Hör dir das an, Hund, Frauchen ist mit meinem Original geflohen, um mich zu mir selber zu bringen. Und wo, Hund, nachtlagern wir uns, wenn die Aufsichtsmamsell die Lichter ausknipst und ihre Wärmestube zu-sperrt ? Wo breiten wir unseren amischen Quilt aus und legen uns drauf schlafen, Kopf an Kopf ? Ich mach dir einen Vorschlag Hund. Das Vor-zimmer von Philip Marlowe findet jeder jederzeit offen. Löcheriges Stragu-la auf dem Fußboden und eine abgewetzte Chaiselongue mit schwarzem Wachstuchüberzug, halb abgeblättert, mehr verlangen wir nicht.
Und morgen früh wird Marlowe seine Bürotür aufschließen und den Fall übernehmen.

So komme ich nun endlich in den Polizeibericht zu stehen.Ein zuvorkommender Unbekannter hält mir eine Zeitung hin, damit ich mich gedruckt sehe als der wohnungslose Schriftsteller Melchior …
Ich kann nicht weiter lesen, die Buchstaben wimmeln vor meinen Augen. Mir ist als würden alle die vorübergehen stehen bleiben und auf mich deuten. Der Unbekannte muss mir vorlesen was ich verübt habe : genächtigt, wo es mir nicht zusteht, der brave Bonzo hat seinen Herrn verteidigt, Bisswunden, Anzeige…
„Wenn ich doch Karlheinz hieße ! Das ist der Alptraum, vor dem ich mich immer gefürchtet habe.“
„Ich auch. Ich bin schon viermal angesprochen worden von Kollegen auf welche schiefe Bahn ich da geraten bin. Sie bringen mich in Verruf !“
Ich bringe einen Unbekannten in Verruf. Aber er ist kein Unbe-kannter, er ist ein Betroffner, einer vom Häuflein der Melchiors die ich vor wenigen Tage noch um etwas anflehen wollte, für das es jetzt längst und unwiederruflich zu spät ist.
„Was erhoffen Sie sich eigentlich von mir ?“
„Haben Sie einen Fünfziger für mich ?“
Der andere Melchior übergrübelt, was er da von mir zu hören bekom-men hat.
„Deswegen haben Sie mich zu sich bestellt per Internet, um mich anzu-betteln ?
„Das ist lange her, das war vor Weihnachten. Inzwischen tät es auch schon ein Zwanziger.Leihweise !“.
„Aber wir kennen uns doch gar nicht !“
„Wir sind beide Könige des Lichts. Wir dürfen einander nicht im Stich lassen.Sie sind der letzte an den ich mich wenden kann.“
Er grübelt wieder, aber das Ergebnis ist diesmal blanke Verwirrung, die in seine Züge rinnt.
„Ich zitiere ja nur einen Namensvetter, der mich heimgesucht hat.“
Er, in erstklassiger Konfektion, blickt an mir nieder. Ich will nicht wis-sen, welches Bild ich abgebe, und welches erst meine Schuhe mit dem Eiswasser darin. Ich hab mich selber nicht hat mehr beschaut seitdem die Spiegel in der Wohnung meiner Schwiegermutter mir nicht mehr zur Verfügung stehen.
Aber ich habe einen Hund zu ernähren.Ich werde dreist :
„Einen Zehner könnten Sie aber mindestens rausrücken. Dafür dass Sie heißen dürfen wie ich.“
Er ist konsterniert. Besinnt sich auf die Zeitung mit dem obdachlosen Schriftsteller Melchior S.
Also Hausfriedensbruch, gar Einbruch, wie es in der Zeitung steht nein da ist nu wirklich eine Grenze überschritten die auch an meine Reputation rührt, also ehrlich… Aber Bruder Melchior, es hat sich doch nur gehan-delt um einen Ort, an dem jedermann eingeladen ist, sein Schläfchen zu halten.
“Und wo sollte das denn sein bitte ?“
„Cole Street 29, Ecke Frederick Street“.
„Hier in der Stadt ?“
„Das ist in Los Angeles. Genauer Haight Ashbury“.
„Und da haben Sie zur Nacht kampiert ?“
Mit meinem Hund, wenn ichs Ihnen doch sage, auf Marlowes Wachs-tuchsofa, dem abgeblätterten, mit dem lahmenden vierten Bein und den verrosteten Sprungfedern. Der andere Melchior entfernt sich eilends.
„Milchohr !“spucke ich ihm hinterher, mit ausgetrockneter Zunge.
“Milchohr…“

Die Katzengöttin

Ich hatte eine Speisung erwartet, etwas Mildtätiges. So wie es einer gerne heraus hört mit leerem Magen. Ich hatte Blechnäpfe gewärtigt, das wohl, aber mit Erbsensuppe und Wurstscheiben darin. Oder sogar ( das Outfit der Dame, die mich hierher gebracht hat ließ es erhoffen ) übrig gebliebene Weihnachts-Plätz-chen aus der eigenen Mikrowelle, ange-reichert mit einem Stück Seife. Aber nun werde ich erst einmal berochen. Auch wenn ich nicht das beglückendste Bouquet biete.
Ich entziehe mich, es sind zu viele auf einmal, sie setzen mir nach. Die Damen treffen mich zu einem ungünstigen Zeitpunkt an, ich habe in den Tagen die hinter mir liegen keine Gelegenheit zu einem warmem Bad ge-habt aber ihre Nasen lassen nicht von mir ab. Das Stück Seife das ich mir vorweg erträumte wird immer größer. Und duftender. Sie schnuppern weiter, und was ihre Nasen aufnehmen, stellt sie offenbar sehr zufrieden.
Dabei sind reichlich andere Geruchsquellen im Raum postiert, es räuchert und blinkt, verspätete Heiligabend-Leuchter auf freilich befremd-lichen Ständern überall. Draußen heller Tag.
„Habt ihr die Witterung erspürt ?“
Wohlige tiefinnere Zustimmung.
„Wir haben erspürt…“
Aber sie artiklieren gar kein wir haben, es strömt, ja es strömt etwas wie ein gemeinschaftliches Ooooooh aus ihren Matronenkehlen. Hände werden auf mich gelegt von allen Seiten. Erkenne ich die eine oder andere wieder aus Herrn Buttgereits Laden ? Leiden sie Mangel, da sie meine Lesungen nicht mehr durch-schlafen können ? Und sind nun auf der Suche nach einem ande-ren charismatischen Einlull-Meister ?
Eine, der ich Dank dafür weiß dass sie ihre Nase noch nicht an mich gelegt hat, ist wallend gekleidet und hat die ganze Zeit reglos aber erhöht sitzend zugesehen.
„Nehmt den Odem in euch auf.“
Allmählich erkenne ich Stufungen zwischen den Riechedamen, viel-leicht sogar Rangordnungen. Dicht um mich, die Hände auf mir, gewe-sene Studienrätinnen und Eurhythmie-Lehrerinnen, Kassenarztwitwen, gewiss auch Töpferinnen. Und dort die Langwallende in Grün, die nicht schnuppert, weil sie das Leit-Aroma, dessen die Minderschwestern sich erst vergewissern müssen bereits in ihren Sinnesorganen trägt.
„Lasst uns willkommen heißen in unserer Mitte…“
Lassssuuuuuunswilllkoooooooooo…
Die Responsorien fallen ein bisschen aus wie bei der heiligen Messe meiner Kindheit, nur dass die Gemeinde hier den Text nicht weiß wie seinerzeit und sich trotzdem bestrebt, die Liturgie brav zu erfüllen. Und sei‘s eben mit Schnurrbrummtönen.
„…den der seine Nähe geteilt hat und in häuslicher Gemeinschaft mit ihm gelebt hat.“
Denerssseiiiiinenäääääheteiiiiltuuuuuuuuuuuuund…
Ich begreife allmählich dass ich gar nicht die Zentralfigur abgebe.
„Melek-or !“
Meeleeeeeeeekkkoooooooooo….
Sondern etwas wie den Bock der geschächtet werden soll. Stellvertre-tend oder zum Labsal für die Hauptperson die sich noch in den Kulissen hält oder in noch weiterer Ferne den Griffen der Damen unerreichbar ist.
„Malich-or !“
Maaaaalichooooooooooooooooo…
Ich werde auf den Teppich gezogen, niedergedrückt von vielen Händen. In bedrängend engem Kreis wird um mich gehockt, auch wenn die alten Kniee knarzen. Ich muss Hände umklammern damit das Kraftfeld dessen Überbringer ich bin weiter rinne durch ihre rheuma-tischen Knochen, Energieströme gleiten durch mich hindurch, bügel-eisenartige Abstreifungen über mich hin. Die Oberpriesterin dort, wird mir zugeraunt, hat schon in Machu Picchu nackt getanzt bei Sonnen-aufgang als die Gemeinde noch unerweckt den Alltag vertrottete, auch von Stonehenge wird geraunt, manchen Irrweg hat sie beschritten in Indien wo viele, allzu viele die nicht auserwählt waren trotzdem die Pfade der Erkenntnis betrampelten.
Aber jetzt beschreitet sie den richtigen Pfad, den einzig richtigen,den Königsweg camino real und hurad navad und sie alle dürfen mit ihren Nasen und übrigen Sinnen mit dabei sein. Und ich bins, der die duftliche Kennnung trägt : dieses Aroma von Nelken, Zimt , Büffeln und gänzlich Unbestimmbaren welches aus einem anderen Makrokosmos herein weht zu dem die verstümmelten Sinne gemeinhin keinen Zugang mehr finden.
„Deine Frau ist dem Ruf dieses Duftes gefolgt.“
Sie meint mich. Es wird nicht mehr respondiert. Es werden andachts-voll die Münder gehalten. Das muss also nun, lege ich mir zurecht, die Predigt sein.
Weil Frauen sensitiver sind lautet die Predigt. Mutiger ohnehin. Bereiter den geflüsterten Aufrufen des uns Lenkenden sich hinzugeben, auf den verlangten Pfad der Läuterung hurad navad sich zu begeben wie unsere Schwester Natalie in Begleitung wiederum ihrer Schwester.
Ein erkennendes Aufstöhnen rauscht durch die Gemeinde. Dabei hat Natalie doch gar keine Schwester.Und woher kennt die Gemeinde ihren Namen, sind die um mich herum Leserinnen ihres Frauenjournals ?
„Weil das Weibliche in Natalie das Urweibliche erspürt hat in –„
Eine Eruption aus den Schlünden der Gemeinde :
„Bas-Tet !“
Alle haben plötzlich Katzen in den Händen, und alle halten sie ihre Katzen hoch.Und nun ist es die Oberpriesterin, die dazu das Respon-sorium tremoliert.
„Baaaaaaaaaaaasteeeeeeeeeeeeeeeeeeeeet !“
Natalie ist, lehrt die Predigt die Auserwählte der Bas-Tet, sie hat das Göttliche in der Hauskatze erkannt und in derKatze das Göttliche was du Dummling nie und nimmer erkannt hättest, und Melek-Or, der Bote, ward ausgeschickt aus den tiefsten Tiefen des Frauenahnens und Frauen-wissens ex oriente lux um sie heim zu holen.
Sie und sie.
„Aber meine Damen !“versuche ich mich in meine Angelegenheiten zu mischen, „die Katze hat mehrfach den König angeknabbert. Er war schon ganz ausgefranst stellenweise.“
Wieder Wallung bei den Damen. Ja ! Ja ! Unsere Bas-Tet ! Sie ist die Reißende die Reeeeeeeiiiiißeeeeeende, sie schlägt ihre Klauen in das was sie begehrt was sie verehrt die große heilige Reißerin.
„Baaaaaaaaasteeeeeeeeeeeeeeeeet“!
Rasselstäbe, Kastagnetten, Tröten.
„Das Reißen bedeutet heiligen Verzehr. Einswerden !“
Eiiiiinsweeeeeeeeerdeeeeeeen !
Wenn sie am König des Lichts eine Geschmacksprobe genommen, lehrt die Predigt, ist das der untrügliche Beweis dass der Besucher der wirk-liche und wahre und einzige Melek-Or ist dessen Irdisches in Leib der Katze zurück kehren soll. Denn wisse die Katze war den Alten heilig als Urbild der Mutter des Mondes, der Jungfrauengeburt, des Muttermüt-terlichmutterischen.
„Weil Natalie nicht Mutter sein durfte durch dich, hat sie in der Katze ihren wahren Gatten Melchior erkannt und sich mit ihr verbunden.“
„Mit Verlaub, es war allerdings meine Schwiegermutter, durch die die Katze ins Haus gekommen ist. Als Geburtstagsgeschenk für Natalie vor drei Jahren.“
Damit trage ich aber nur einen weiteren Beleg dunklen weiblichen Wirkens bei – Baaaaaaaaasteeeeeeeeeeeeeeeeet ! – auch wenn nun ein Mann in die Lektion gerät. Auch dem König Schischak nämlich sei die Katze heilig gewesen, Herrscher von Theben und ganz Ägypten. Die Göttin Bas-Tet hat er in jeder Katze verehrt und in Bas-Tet alle Katzen. Und wodurch hat dieser Katzengläubige sich eingeschrieben in die Geschichte ? Er wird Israel ausreißen aus diesem guten Lande und wird sie zerstreu-en steht geschrieben über ihn im Buch der Könige 14.25 und er zog herauf gegen Jerusalem und nahm die Schätze hinweg was die Hebräer aufgehäuft.
„Aber mein König des Lichts hatte alles andere im Sinn als solche finsteren Gemetzel. Schon sein Name Melek-Or ist kernsolide jüdisch !“
Die Oberpriesterin holt mich an ihre Seite auf ihren Thron, wie einen verstockten Schüler zur Nachhilfestunde. Über ihr das Ölporträt eines Offiziers der Kaiserzeit, der ihr mit der Miene eines Oberkomman-die-renden über die Schulter schaut.
Die selbe Haltung bei ihm wie ihr, ausgesteiftes Kreuz bei eng angeleg-ten Oberarmen. Zwei Kommando-Gestalten je auf dem Feldherrenhügel wie dem Priesterhügel. Wisse denn, spricht sie zu mir, sie spricht es gar nicht, aber es hört sich so an, der Name Melek-Or leitet sich her von Melech.
Und wer ist dieser Melech gewesen ? Ein Gott ist er gewesen bei den Ammonitern. Die Juden haben ihm den Namen geraubt und ihn zum kinderfressenden Unhold verhunzt in ihrer Bibel. Wie sie auch Engel von den Babyloniern weggeschleppt haben und zu ihren eigenen gemacht und der Jude Paulus den Ägyptern die Isis samt Horus und zu Maria mit Jesuskind umgefälscht. Alle Völker plündert sie aus, diese Räuberbrut, aber Bas-Tet die Reisserin wird sie verschlingen gnadenlos unwider-ruflich.
Der Oberkommandierende blickt angriffsbereit.
Ich komme von der Hoffnung auf Erbsensuppe mit Wurstscheiben immer mehr ab. Auch wenn ich kurz im Sinn behalte, dass der Ober-kommandierende über mir auch der Herr über die Gulaschkanonen gewe-sen sein muss.
„Melek-Or hat sich dir offenbart, weil er das Heilige Land be-freit sehen will von den Juden wie einst geschehen durch König Schischak.“
Den Katzengläubigen.
„Aber wenn der König des Lichts derlei von mir verlangt hätte, ich hätte niemals die Mittel dazu aufbringen können.Sehen Sie mich doch an …“
Ein Versuch, mit dem Hinweis auf meine wenig taugliche Montur die Erbsensuppenfrage doch noch zu beleben. Aber die Augen der Ober-priesterin haben sich in ihr Inneres gewendet, sie visioniert im Geiste d Ölporträtierten Feldzüge der vereinigten Streitmacht der Palästinenser, Syrer, Saudis und Iraner unter flatternden Katzenfahnen.
Baaaaaaaaasteeeeeeeeeeeeeet !
Es wird gerasselt, getrötet, getanzt. Ich höre Gelenke krachen.
Meeleeeeeeeekkkooooooooooooo….
Einige Damen, sichtlich Eurythmielehrerinnen gewesen in ihrem Ar-beitsleben oder Aushilfen im Stadttheaterballett, tanzen den biederen Gemeindemitgliederinnen Verzückungsfiguren vor. Die ( atemlos, rotge-sichtig, apoplektisch ) versuchens nachzuhüpfen. Röcke klatschen mir ins Gesicht, Halsketten verfangen sich an meinen Ohren. Katzen werden auf mich geworfen, verbeißen sich übellaunig in meine Ärmel, als machten sie ausgerechnet mich veranwortlich für dieses Bacchanal. Auch der Oberkommandierende scheint mir nun betreten zu blicken, männliche Begriffstutzigkeit steht in seiner Miene ob dieser Eruptionen des weib-lichen Okkultismus und dazu jault weit in der Ferne mein Hund.
Ich schleiche mich aus dem Zimmer.
Keine Tanzende beachtet mich mehr, denn die Oberpriesterin hat sich unter sie gemischt und wird von der Gemeinde unter Zuckungen umwogt.
Baaaaaaaaasteeeeeeeeeeeeeet !
Mit mir rettet sich ein gutes Dutzend Katzen nach draußen. Eben haben sie mich noch zerkrallt und geritzt, nun sind wir gemeinschaftlich Flüchtende. Ich wage mich trotzdem nicht mehr zwischen sie, sondern suche nach einem Fenster durch das ich mich á la francaise verabschieden könnte. Aber der Flur bietet mir nur Türen, Türen, Türen, und vor den Türen miauende Katzen. So gerate ich ins Badezimmer.
Ich versperre die Tür hinter mir, lasse heißes Wasser einlaufen und lege mich in die Wanne, während der Hahn noch sprudelt. Und schlafe ein, ehe die Wanne vollgelaufen ist.
Im Traum laufen für mich altägyptische Badebottiche voll mit Erbsen-suppe, aus heraus der rötlichbraun eine Sphinx nach der anderen heraus wächst. Grünliches Gebrodel des Suppensees, edle ägyptischen Profile aus Porphyr. Wenn ich ihnen aber heiß-hungrig die Köpfe abbeiße, habe ich Frankfurter Würstchen zwischen den Zähnen. Die Wursthäute platzen mit einem Knall, der sich echoreich vervielfacht, bis ich hoch schrecke in eine Stille hinein, in der dicht neben meinem Ohr der Wasserhahn noch immer Dienst tut, nur dass er eben längst Kaltwasser abliefert.Unter der Badezimmertür sind Zettel durchgeschoben worden, mehrfach gefaltet, die meisten farbig, und tunlichst so weit voneinander entfernt, als dürfe der eine Zettel vom anderen nichts sehen und nichts wissen.
Komm zu mir König des Lichts. Gartenstraße 42. Auf rosa Papier. Ich habe sehr wohl beobachtet dass Sie Muttis Küche eher nötig haben als Esoterik. Darum erwartet Sie Renate in der Sudetendeutsche Straße 11a.Auf lila Papier. Diese Verheißungen kann ich jetzt und hier nicht zu Ende studieren, mein Hund jault noch immer in der Ferne.
Ich ordne die Briefchen zu einem handlichen Stapel, krieche in meine miefenden Klamotten, deren Umschlingung das Resultat meines Wan-nenbades schon fast wieder zunichte macht. Auf dem Flur keine Gläu-bigen, keine Katzen, keine Bas-Tet, die mich zerfleischen will. Ich stehle mich davon, unbemerkt von alle Katzengöttinnen, und erlöse meinen Hund.

Gisela.Gartenstraße42. Getrennt lebend. Hundefreundlich. Gemüseauf-lauf. Selbstgezogener weißer Johannisbeersaft. Wir haben mannigfache Transformationen zu durchlaufen, bis wir endlich bei unserem Selbst an-langen. Gisela war bereits ein Mehrfachmörder in Kent ( gehenkt, 14. Jahrhundert ) , eine grie-chische Hafenhure ( Epoche Apostel Paulus ), eine Quäkerin, ein Fischer auf den Lofoten, der unter Somnambulie litt
( sie spürt es in Vollmond-Nächten ), eine schlesische Küsterin, die sich am Glockenseil erhängt hat.
Zwischendurch muss sie auch ein Mönch gewesen sein, der wegen Häresie oder auch Sodomie verbrannt worden ist ( sie spürt es wenn die Waage zum Skorpion wechselt ).Wer in einem seiner Vorleben verbrannt worden ist hat den anderen weite Phasensprünge voraus, weil er einige karmische Reinigungen bereits durchschritten und durchlitten hat, die die Mitbewerber erst noch ableisten müssen. In diesem Sinne ist sie über-zeugt, dass ich im Laufe meiner vielen Wüstenwanderungen als Melek-Or bereits ein ums andere Mal in Flammen aufgegangen sein muss, wes-wegen mir nun Energien innewohnen, derer sie teilhaftig werden darf. Zumal sie mein Erscheinen vorausgeahnt hat ( führt sie gleichsam als Be-werbung an ) und jüngst einen Pullover in Herrengröße ( obwohl dessen Träger nicht in Sicht war ) zu stricken begonnen hat ( notabene mit Wolle von den Lofoten, wikingerstark, so schließt sich der magische Kreis ). Die Anprobe fällt zu ihrer Beglückung aus. Erkennbar bereits das alt-arische Sonnenrad vorne ( vollendet ) und nochmal spiegelverkehrt hinten ( un-vollendet ). Ihre Hände gleiten besitzergreifend über Partien an mir, die noch nicht bestrickt sind. Das bindet uns von jetzt an aneinander, gell, Masche um Masche ? Ich fliehe.

Renate.Witwe. Sudetenstraße 11a.Der Hund muss im Garten bleiben. Lammbraten. Rotwein. Stellt mir die Garderobe ihres verstorbenen Gatten in Aussicht ( führend gewesen in der Versicherungsbranche ) Wir kom-men alle vom Aldebaran, jedenfalls die blonden und auch sonst lichten Charaktere, weswegen die Aldebaraner seit Jahrtausenden beständig über unser Wohl und Wehe wachen. Auch Renates und vor allem meines. Wo ich doch der König des Lichtes bin, den sie ( sie spürt Beseligtheit in ihrem Solarplexus ) bei ihr leibhaftig zu Gast haben darf. Nochn Schnitt-chen Lamm ? Bei allzu viel Wehe kann man eisern darauf rechnen, dass die Aldebaraner uns mit ihrer Streitmacht zu Hilfe eilen. Auf Flug-scheiben werden sie einschweben in ihren An-flugbasen die seit alters zwischen Euphrat und Tigris liegen ( deswegen haben ja die Amerikaner den Irak bombardiert ) von wo ja auch ich komme, der König des Lichts
( wieder ihr Solarplexus ). Und lässt mich eine Weste ihres Verblichenen anziehen, vom Massschneider, und ein Jackett, dessen Ärmel mir bis zum Daumen reichen.
Es sind die Aldebaraner gewesen übrigens die in der Stunde Null dem Führer Zuflucht besorgt haben mit seinen letzten Getreuen. Unter den Polkappen der Antarktis, judensicher. Und jetzt der dazu passende Hut. Ich fliehe.

„Wie sehen Sie denn aus „ fragen sie mich im Sender Wie-heißter-dochgleich.
„Kommen Sie grade vom Maskenbildner? „
Ich bin kein Kleindarsteller, ich bin doch der Autor, der die Serie über die Sternsinger für Sie schreibt. Sternsinger ? Jetzt wo der Karneval vor der Tür steht ? Von Karneval bis zum Ostereiersuchen, vom ersten Ferientag bis zum Martini-Ritt ! Wir haben uns doch in die Hand ver-sprochen, dass sich ihre Abenteuer über das ganze Jahr verteilen, von Mutterwitz zu Mutterwitz.
Niemand erinnert sich daran. Niemand erinnert sich an mich, wie auch ich mich an niemand erinnere.Und nach kaltem Zigarettenrauch riecht es auch nicht mehr. Nur eben wortfaul ist die neue Riege der Leitenden Herren ebenso wie die vor Silvester. Einer schaut zum andern, ob der oder die was sagt. Aber der oder der oder die sagt nichts. Und ich stehe da mit meinem Hund. Im Schweigen der Leitenden Kinder.
„Wir entwickeln grade eine Serie…“ spricht nun doch jemand in mei-nem Rücken. Wenn ich mich umdrehe, kann ich nicht einmal an den Gesichtern mehr ausmachen, wer gesprochen hat.
Denn alle schauen unter sich.
„Sie entwickeln eine neue Serie - ? „ helfe ich nach.
Wieder spricht jemand in meinem Rücken :“Es ist bloß noch nicht aus-diskutiert, ob die bei einem Zahnarzt spielt oder ..“
Diesmal mache ich mir nicht die Mühe, mich umzudrehen. Wenn ich sie nicht anschaue, erfahre ich viel mehr.
„Oder vielleicht bei einem Notar.“
„Volker jedenfalls, das ist der Stand der Diskussion, ist für Notariats-kanzlei“.
Der jetzt grade vor mir rot wird, muss Volker sein. Ich stehe da, stumm, präsentiere ihnen Hut, Weste und Jackett und obendrein Krawatte des verstorbenen Versicherungs-Hierarchen, die zu meinen Hosen und mei-nem Schuhwerk ( vom Eiswasser zerfressen ) einen amüsierlichen Kontrast bilden. An dem sich ihre Augen festsaugen, als wollten sie alle geplatzten Nähte daran zählen. Nur damit sie mir nicht in die Augen schauen müssen.
Der Hund nutzt die Situation und hechelt alle in der Runde an wer spendiert ein Bröckchen ? Jemand ( in meinem Rücken ) muss eins spen-diert haben, ein Keks gar oder zum Scherz nur ein zerknülltes Bonbon-papierchen, denn der Hund springt ihn so heftig an, dass er mich mit der Leine fast umreißt und bleibt mit beiden Tatzen auf den Knien des Spendierers erwartungsvoll stehen. Nun hat die Runde die entspannende Gelegenheit, in Gelächter auszubrechen.
Ich ertappe mich dabei : sie zerlachen nicht ihre Verkrampftheit, sie zerlachen mich. Ich zerre meinen Hund mit mir fort. Ein Mädchen setzt mir nach :
„Ich hab gedacht, Sie könnten vielleicht ein paar Essensmarken ge-brauchen.“
Weil Frauen sensitiver sind. Mutiger sowieso.
„ Die Kantine ist da hinten.“
Ich küsse sie auf beide Backen.

Manuela, zweimal geschieden. Ihr Derzeitiger in geschlossener An-stalt. Seine Garderobe aber zu meiner Verfügung. Umgeben von Katzen. Der Hund zieht es vor draußen zu bleiben. Salzkartoffeln mit Quark und Schnittlauch aus gleichgesinntem Bio-Bauernhof, so gut wie unter Manu-elas Augen geerntet und ge-molken. Wachsamkeit ist überlebens-notwendig, denn vorzugsweise über den Magen-Darmtrakt greifen die Freimaurer uns ans Leben. Begründet von den Brüdern Rothschild und ihrem Komplizen Karl Marx streben sie nach der Auslöschung der ari-schen Menschheit, um ihre Doppelherrschaft des Kapitalismusbolsche-
wismus über uns aufzurichten. Der russische wie der amerikanische Stern sind fünfzackig also dass sie das noch nicht registriert haben, Sie als König des Lichts ! weil die Brüder Rothschild auch ihrer fünf waren. Die ihre Gierfinger über das Abendland ausgebreitet haben, und dann über die ganze Welt. Im Augen-blick drehen sie es so hin, als wäre ihr Kapitalis-mus in der Vorhand, aber fünf Zacken, behalt das allzeit im Sinn mein König des Lichts, bleiben immerdar fünf drohende Zacken und dann lassen sie ihren Bolschwismus wiederkehren und wir werden allesamt fünfzackig aufgespießt. Rettung kommt uns allein vom Runden und Gerundeten, vom Weiblichen inkarniert in Bas-Tet, der Katzengöttin. Jetzt zu dieser nächtlichen Stunde streift sie wieder durch die Unterwelt die Reißerin und zerreißt ihre Widersacher die auch unsere Widersacher sind.
Dann wird sie wieder auferstehen um den neuen Tag herauf zu führen gegen die Mächte der Finsternis und ihre Augen werden die Sonnenräder sein. Das will ich feierlich begehen mit dir König des Lichts, komm aufs Dach.
Ich muss ein Rasselgerät umfassen wie die Matronen neulich sie schwangen, unten der Stockgriff ist die männliche Zutat, oben der ovale Rahmen steht für den Uterus die Scheide das Weibli-che schlechthin und obendrauf sitzt sie selbst die Gottkatze und jetzt schüttelst du und das Metall fängt an zu singen, hörst du ? Und alle vier Elemente bewegen sich durch mein Geschüttel, ich halte die Weltharmonie in der Hand kannst du das fassen ? Und hinterher gehen wir zusammen ins Bett.
Die Katzen werden in Wolldecken gehüllt für den Abstecher aufs Dach, ich werde eingehüllt in einen Tuchmantel mit Pelz und zusätzlich eine Opossummütze, beides vorderhand noch im Besitz des Psychiatrie-Insas-sen. Aber wer weiß, wenn ich mich bewähre…aufs Dach also !
Zum Sonnenaufgang der Bas-Tet, zur Begrüßung der altehrwürdigen Swastika !
Mein Hund durchkreuzt das Vorhaben, er hat auf der Fußmatte genächtigt. Durch unseren Aufbruch jäh aus dem Schlaf gerissen, nimmt er den Durchzug der eingewickelten Katzen überaus unwirsch auf. Es kommt zu Gefechten.
Ich fliehe. Samt Pelzmantel und Opossummütze. Beschienen von den ersten Son-nenstrahlen, werfe ich die restlichen Briefchen fort, ohne sie entfaltet und gelesen zu haben. Der Hund versteht sie als leere Wurst-papierchen und gibt ihnen, auf vergeblicher Nahrungssuche, den zer-fetzenden Rest.

Hinter diesem Gittertor liegt der mir verheißene Garten Eden.Wenn ich den Winter leidlich überstanden haben werde in meinem neu gewon-nenen Pelzwerk, wird mich Balthasars unermesslicher Park aufnehmen, sein Schwimmbecken, seine Hängematte.
Ich betätige seinen Türklopfer, nun schon einen Vertrauten, der mir auch bei drei Grad unter Null warm in der Hand liegt. Aus Daffke klopfe ich wie der Geheimdienstmann bei meinem ersten Besuch vorgegeben
hat : dreimal lang, zweimal kurz. Ein Geheimdienstsignal.Und stelle mir vor, wie es geheimnisträchtig durch die weiten dunklen Räume schwingt : Melek-Or kommt zu Balthasar !
Aber die Tür springt nicht auf. Ist ihm etwas zugestoßen, Unbill etwa von den Essen-auf-Räder-Buben, haben sie Rache genommen mit einer Überdosis gesund-heitsschädlichem Kochsalz ?
„Balthasar !“
Ich wünsche mir für einen Augenblick meine Freunde zurück, die mir so hilfreich wie unauffällig mit ihrem reichen Sortiment unauffälliger Spe-zialöffner zur Hand waren.
„ Balthasaaaaaaaaaaaaaaaar !!!“
Kies knirscht. Jemand nähert sich über den Kies dem Gittertor und fasst mich durch die Stäbe ins Auge. Ich bemerke erst jetzt, wie erlesen kunstgeschmiedet die sind, edel kanelliert und mit vergoldeten Kapitellen bekrönt. Ein gediegener Renaissance-Rahmen für das Gesicht von Hans-Detlef Hoffmann-Nauke.
„Herr von Zatajewski verbittet sich jede weitere Belästigung von deiner Seite.“
Was ihn, Hoffmann-Nauke, überaus schmerzlich berühre, als Kollegen wie als Freund. Der Staatsschutz aber, von mir ins Haus geschleust, hat dreist und weidlich, ihn den völlig Ahnungslosen und Unbeschuldigten ausspioniert. Obscénité incroyable ! hat von Zatajewski gerufen ein übers andere Mal, Obscénité incroyable !. Weswegen ich zur Kenntnis nehmen wolle, dass Zatajewski künftig nicht mehr mein Balthasar sein kann. Und ich nicht mehr sein enthusiastischer junger Mensch.
„Wie konntest du dich auch bloß mit diesen Obskuranten ein-lassen ! „
Hoffmann-Nauke meint meine Geheimen. Und du dich mit denen von der DDR ? schleudre ich. Nein, ich schleudre gar nicht. Ich ertappe mich lediglich dabei, dass ich fast geschleudert hätte.
An Hoffmann-Naukes unverwandt sozialethisch verantwortungsvollem Mienenspiel werden meine Niederträchtigkeiten zuschanden, noch ehe ich sie ausgesprochen habe.
„Ich darf das biografische Projekt weiterführen. Mit einem grund-sätzlich anderen Ansatz versteht sich. Ich werde den eigentlichen Zata-jewski aus seiner Persönlichkeit heraus fragen.“
Woran du gescheitert bist, Melchior. Hoffmann-Nauke wird sich so be-harrlich wie einfühlend vorarbeiten zu Zatajewskis authentischem Wesenskern. Hoffmann-Nauke hat sich stets zum Kern vorgearbeitet und zum Authentischen. Nun sucht er ihn bei meinem venezianischen Ritt-meister Balthasar von den Klosterneuburger Dragonern.
„Zentral angelegt die Beziehung zu Romy Schneider. Schicksalshaft. Tief reichende Traumata beiderseits. Neues Licht auf ihr Künstlertum. Und auf seine Verfallenheit an die Frauen überhaupt.“
Den Stimmlosen eine Stimme geben. Er reicht mir die Hand durch die Gitterstäbe wie aus dem Beichtstuhl.
„Ich sehe dir auch dein unsolidarisches Verhalten mir gegenüber nach.“
Und bekräftigts indem er mich einlädt zur Promotion der Zatajews-kischen Autobiografie, wenn sie erschienen sein wird.
„Aber bitte ohne Geheimdienst diesmal“.

Der Kindermord zu Bethlehem drängt sich mir unversehens in den Sinn, als ich mir einen Beobachterplatz suche, einen weit am am Rande. Der Mythos vom gewaltsamen Tod der Zweijährigen einer ganzen Stadt, just an diesem Ort des Todes. Rachel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen denn es war aus mit ihnen. Obgleich alle Säuglinge hingemetzelt sind, verdichtet sich der Schmerz in einer einzigen Mutter.
Warum nur Rachel ? Trauert nur sie allein ? Aber indem sie trauert, auf ihrem Schmerz beharrt, wird sie uns nah, wird sie zu uns selbst, werden wir zur Rachel.Die karge Mitteilung steht seltsam erratisch in der bib-lischen Erzählung, ohne historische Beglaubigung.
Ein Rollstein, der sich aus einem ganz anderen Bericht davon gemacht hat. Aber in welchen anderen Bericht sollte er schon am Platz sein, er ist das unerträglich Furchtbare an sich. Ein zu Sätzen geronnener Alptraum aller die Eltern geworden sind oder auch derer die nicht Eltern geworden sind. Wie Natalie und ich. Im Nichtfortleben in einem Kind ist das eigene Ende schon vorweggenommen und verdoppelt. Denn es war aus mit ihnen. Auch mit den Eltern es aus. Tote zu Lebzeiten, wenn sie nicht weiterleben in Kindern und Werken.
Ich habe einen Beobachterplatz weit am Rande gefunden. Dennoch bin ich anwesender als irgendjemand, der sich hier einfinden wird. Die Steine hinter denen ich mich einrichte, geben mir gute Deckung, und da ist auch noch ein geräumiger Buchsbaum behilflich –
„Sieh an, wer versteckt sich denn da ! Sie haben sich ja furchtbar rar gemacht in der letzten Zeit, fast wären Sie uns abhanden gekommen.“
Aufgespürt von meinen Freunden, den Meistern des Unauffälligen.
„Ihnen verdanke ich die Knall-auf-Fall-Kündigung eines lukrativen Auftrags. Zu dem Sie mich selbst beglückwünscht haben.“
Lukrativer Auftrag, nebbich. Aber wieviel Blamage dadurch erspart, mein lieber Scholli ! Die Privatgemächer dieses angeb lichen Zatajewski stecken gerammelt voll mit Videos von Jünglingen.
„Homophil bis auf die Knochen !“
Der mit den siebzehn Lustknaben auf einem eigenen Elefanten, die er als seine Fußnägelbeschneider ausgab Und ausgerechnet mich hat er ausersehen, um ihn einen Mythenkranz zu flechten mit Casanova-Rosen drin und Romy-Schneider-Lilien.
„Aber Ihnen Traumtänzer wäre das womöglich sogar auch noch gelungen.“
Schulterklopfen, Bubengelächter. Man gibt sich nunmehr die Ehre mir meine Familie vorzustellen, pardon die angeheiratete natürlich. Geheim-dienstlich bereits ausrecherchiert und durchleuchtet. Ich lerne sie nun endlich kennen, im Uhrzeigersinn, um Ihre Schwiegermutter versammelt : Hans-Gerd Frolicke mit Gattin, drei Kindern, sieben Enkeln. Sandra K. und Horst W. Die nächsten beiden daneben sind offizielle Vertreter der ostpreu-ßischen Landsmannschaft. Der am Stock ist der Sohn des Erz-gebirglers, der die Dankpakete mit den Krippenfiguren geschickt hat. Er hat die selbe fichtenhölzerne Gesichtsfarbe ( das Schwarz seines Anzugs betont es noch ) wie die Hirten und Könige und Esel, als wäre er seither in der selben Pappschachtel verwahrt worden.
Und der schmächtige Mittvierziger ist Eberhard, dem die Polen letzten Sommer die Hand geküsst haben. Interessante Entwicklung übrigens die Ihre Schwiegermutter so nimmt seit den bewussten Ereignissen, die uns zusammengeführt haben. Engagiert sich neuerdings in der Politik. Schreibt nun selbst, in der Schreibklause, die sie für Natalie eingerichtet hat. Das zionistische Komplott ist ihr bewusst geworden schreibt sie auf ihrer Website OSTARA durch leidige Erfahrungen mit ihrem Schwieger-sohn der als Arier ahnungslos mit jüdischem Vornamen herumlief was ihn semitisch kontaminiert hat durch die Jahrzehnte bis er erpressbar geworden ist und zuletzt hörig der Propaganda der Weisen von Zion und ihr die Tochter geraubt hat.
„Und jetzt bitte Aufmerksamkeit für die Gegengerade“.
Die Damen aus der Redaktion ziehen ein.Und die Damenherren.
Wäre ich doch auf einem dieser alten Friedhöfe mit übermannshohen Sandsteinmonumenten, die eng gedrängt stehen wie Pappelreihen.Hier, mit nur kniehohen Steinen, fühle ich mich auf einmal ausgesetzt. Ich ducke mich. Meine Freunde gewähren mir Schutz und stellen sich vor mich als ob sie mannshohe Grabsteine wären.
Die Kolleginnen und Kollegen aus der Redaktion vollzählig soweit wir das überblicken und in Roben als hätten sie eine eigene Redak-tionskonferenz angesetzt um sich in ihrem eigenen Journal zu vergewis-sern, was sich zu einem Anlass wie diesem schickt. Stahlgrau, auch weiß, hin und wieder Violett. Weit aus- kragende bei den Damen mit Reminis-zenzen an Longchamp und Ascot und mit Schleierchen vor den Gesich-tern, Über die tenue freilich ( wie mein Batlthasar sich ausdrücken wür-
de ) hat im Heft offensichtlich nichts gestanden, über das Wohin mit den Händen und Blicken, über die Choreografie der Trauerbekundung. Sie verharren wie Schauspieler, denen man ( bereits in Kostüm und Maske ) noch nicht gesagt hat welches Stück heute auf dem Spielplan steht. Visitieren dafür angeekelt die Grabmäler, die in diesem Gräberfeld aussehen wie aufrecht stehende Aluminiumbüchsen fürs Schulbrot che-misch gereinigt alles und nicht mal dekoratives Moos übrig gelassen, würde doch satt einen Akkord ergeben mit dem Silbergrau meines Ponchos.
Ich höre Natalies aufstäubendes Lachen : Da hast du sie, die Megären ausm vierten Hinterhof.
Die Schwiegermutter, gibt ihrer Willkischkener Sippe mit feldherr-licher Gestik Anweisungen, auch einem jungen aufgeregten Pastor, lässt einen Posaunenchor in Reih und Glied Aufstellung nehmen. Die Mode-Menschen bleiben ohne die Aufstellhilfe, wie die Schwiegermutter sie ihrer Sippe angedeihen läßt und sind sichtlich indigniert. Sie halten sich dafür schadlos und üben an der Sippe immer unverschämter Garderoben-schelte.
Und der sechste da von rechts in der zweiten Reihe da hinten, das ist der Vertreter des Auswärtigen Amtes.
„Des Auswärtigen Amtes ?“
Sie ahnen ja nicht im entferntesten, wie kompliziert sich das gestaltet hat, die sterblichen Überreste hierher zu verbringen ohne Eklat, wohlgemerkt aus dem Iran ! Bei so einem dubiosen Todesfall, jawohl du-bioooosem Todesfall, unaufgeklärt von A bis Z. Mein lieber Scholli. Ohne fatale Begleitmusik der Mullahs, ohne kriminaltechnische Schikanen, ohne Waffenim-portkontrollen hin oder her, ohne dass Israelis und Amerikaner und Russen hellhörig werden.
„Deswegen also nur eine Urnen-Beisetzung.“
Nicht zu reden von den Pakistani und der Atomenergie-Behörde, die ja nun wirklich jede Sardinendose aufschweißt die aus dem Nahen Osten kommt. Einzig und allein das Auswärtige Amt verfügt über das Privileg gewisse Konterbande im Zwischenboden vom Bordcase unterm Sitz in der VIP-Lounge… Sie verstehen und auch das nur auf bestimmten Routen, über Melbourne etwa oder Buenos Aires, und wenn ein Kirchen-mann an Bord ist oder eine Sportsgröße, die die Security ablenkt. Saubere Arbeit, verdammt saubere Arbeit, alle Achtung. Es würde sich gehören Sie gehen rüber und sagen dem Auswärtigen Amt Dank per Handschlag für den Transfer Ihrer Gattin. Stop, sparen Sie sichs. würden eh nicht rankommen an den Mann. Die wie Urnenträger tun sind nicht vom Friedhofsamt, das sind Kollegen.
Du hast im Leben auf deinen Reisen so viele Grenzen überschritten, meine Natalie, dass es dir zusteht nun vom Aussenministerium zu Grabe getragen zu werden. Dich zu Grabe tragen, hör dir das an ! Was für ein Irrwitz. Wo ich doch dein aufstäubendes Lachen frisch und lebendig wahrnehme, dicht bei mir. Es spritzt über die Grabsteine, es hüpft über die Kopfbedeckungen der Journaldamen und die schwarzbetuchten Willkischkener, die scheelmissgünstig die malerische Gruppe mustern und darüber fast schon vergessen haben warum man sie hierher bestellt hat. Der Pastor verschmilzt ( denn als Person gibt er sich nicht zu erkennen ) in seinem Amtsschwarz mit dem Trauerschwarz der Willkisch-kener, nur sein weißgestärktes Beffchen, seine roten Ohren,sein Piercing heben ihn von denen ein wenig ab.
Aber nur farblich. Der is krass ne Fehlbesetzung flüstert mir einer meiner Geheimen, wasn Reinfall für das Auswärtige Amt. Die Schwieger-mutter erspürts ebenso und gibt darum den Posaunisten Zeichen zum Einsatz.
Die setzen die Instrumente an die Münder, aber was aus ihren Blechtrichtern quillt ist nicht wie zu erwarten Jesus meine Freude oder der Marche funebre. Es regnet vielmehr über Journaldamen und Will-kischkiner Yesterday all my trouble seemed so far away yesterday...
Unser yesterday ! 10. Stock Studentenwohnheim. Natalie auf Nummer 23. Ich Nummer 17. In der Mitte des Flurs war das Ge-mein-schaftstelefon montiert. Ein strenger Betriebswirt wachte darüber, dass die vertelefonierten Einheiten säuberlich in ein von ihm gehütetes Büchlein eingetragen wurden ( es sei ihm gegönnt dass er es nachmals zum Staats-sekretär in einem sozialdemokratischen Finanzministerium gebracht hat, was man ihm damals schon ansah ). Die Etagenbewohner standen jeden Abend nach Vorlesungsschluss vor diesem sozialdemokratisch verwalte-ten Etagentelefon wipprig Schlange. Und ich ( Nr.17 und dem Telefon am nächsten angesiedelt ) ließ regelmäßig Vortritt der Kommilitonin von Nr.23, wegen ihres aufstäubenden Lachens ( das aus ihrer halb geöffneten Wartetür drang, sie selbst erspähte ich seinerzeit noch gar nicht ).
Wofür ich regelmäßig Schimpfe bezog ( im Namen der nicht nur hier, sondern auch sonst Unterdrückten dieser Erde, ich erinnere mich vor allem an die in Zim-bawe ) von dem Volkswirt auf Nr. 19, Maoist und nachmals Anlageberater bei der Chase Manhatten Bank. Zum erstenmal und zum Dank durfte ich dafür damals Natalies aufstäubendes Lachen allein auf mich beziehen und einen Blick auf mich richtete den ich seither nicht vergessen habe das darfst du mir glauben du Asche da in der Urne die der Sonderauftragsmensch vom Aus-wärtigen Amt vor sich her trägt.
Dabei war es Natalie schon damals im Studentenwohnheim allein darum zu tun gewesen, mit ihrer Mutter, ihrer Mutter, ihrer Mutter zu telefonieren. Ihrer Mutter, ihrer Mutter. Und der ganze Flur, Nr. 9 bis 28, Biochemiker wie Germanisten, Zahnmediziner wie Paläontologen, stand derweil wartend hintenan. Und durfte sich dafür an Natalies aufstäu-bendem Lachen schadlos halten. Ich gierte auf das jeweils nächste Schlan-gestehen mit ihr, stellte meinen neuen Plattenspieler auf den Flur und legte Yesterday auf. Sofort öffneten sich alle Türen, auch die hinter denen welche fürs Examen büffelten oder fürs Rigorosum ( grade die ), und alle wollten lauschen. Auch der maoistische Volkswirt. Und Natalie, statt mit Mutti zu telefonieren fand, angelockt von den Beatles in mein Zimmer, und nachdem wir die Tür zugezogen hatten und der Plattenspieler draußen weiterspielte wurde ich ihres aufstäubenden Gelächters ganz allein teilhaftig. Und wir, mit Luther zu sprechen, erkannten uns. Während irgendein unsichtbar-umsichtiger Kommilitone ( etwa gar der Maoist , der sich selber hinterging ? ) immer nochmal Yesterday auf legte now it looks as though they’re here to stay wieder und wieder und wieder oh I believe in yesterday…
Ich schnuppere in den amischen Quilt : kräftiger denn je duftet er nach Natalie, und der Posaunen-Chor ist bei Ne me quitte pas. angelangt. Einen Potpourri aus Natalies Lieblingsmelodien hat ihre Mutter da also zusammenstellen lassen - il fait oublier tout peut s’oublier – dabei hat Natalie mich stets in dem Glauben gelassen, sie seien nur unser beider Geheimnis. Nun verwendet ihre Mutter sie als Abgesang und Schluss-akkord und ich habe keinen Anteil mehr daran. Je ne vais plus pleurer je ne vais plus parler.
Ohne jede Überleitung intoniert der Posaunenchor Wir setzen uns in Tränen nieder / und rufen dir im Grabe zu. Dazu haben wir uns immer gegenseitig umarmt in Zeiten der Bedrängnis und Betrübnis. Und ich habe ihr die Tränen, die die Betrübnis zusammen mit Johann Sebastian aus ihr heraus lockte von den Backen geküsst und es hat dazu gehört, dass wir uns gegenseitig durchs Zimmer schoben und in einen wiegenden Gleit-Tanz, danse triste et sentimentale, in einen eng aneinander geschmiegten, selbst erfundenen Foxtrott ohne Regeln.
Johann Sebastian hätte seine Freude gehabt daran, hat er doch nie ein Ballett schreiben dürfen, schon gar nicht einen pas de deux für ein be-trübtes und nun schon wieder ( und durch ihn ) zuversichtliches Liebespaar, wir führten es ihm nun auf euer Grab und Leichen-Stein /Soll dem ängstlichen Gewissen /Ein bequemes Ruhe-Kissen/ und der Seele Ruhstatt seyn / Höchst vergnügt schlummern da die Augen ein.
Ich drehe, selbstvergessen, den amischen Quilt zu einer Wurst, einem Zwirbel, einer Figur, groß wie ich selbst, umfasse ihre Taille Ruhe sanft ! Sanfte ruh ! Ruht ihr ausgesognen Glieder ! und werde belohnt dafür mit aufstäubendem Lachen.
Wir wissen doch und nur wir beide wissen es : deine Glieder sind nicht ausgesogen, sie sind lebendigfrisch, ich halte Natalie in den Armen, und wir tanzen, tanzen…
„Da schändet einer die Matthäuspassion !“
„Bodenlos!“ kreischen die Willkischkener.
„Geschmacklos !“ kreischt die Schwiegermutter und hat mich
trotz Pelzmütze unfehlbar erkannt.
„Da improvisiert einer Grabtanz !“ jubeln die Modeleute.
„Echt geile Performance !“
Das gehört festgehalten, das gehört dokumentiert ! Das is ja richtig indisch, richtig hinduistisch is das, das gibt den Themen-Schwerpunkt für die Novemberausgabe : wir wollen mit Ihnen, liebe Leserinnen, Fantasie pusten in unsere erstarrten Bestattungsriten.
Und schon sind die Kameras heraus, jeder Bildmensch trägt sie stets bei sich wie festgewachsen, sogar auf dem Friedhof. Das Auswärtige Amt freilich ist alles andere als erpicht darauf, dass hier bildreportert wird. In der Gruppe die nun auf mich zu stürzt, arbeiten sich die Bodygards des Auswärtigen nach vorn ( wo haben sie die Urne mit meiner Natalie gelassen ? ), fangen die Modemenschen ab, es setzt grimmige Wort-wechsel, es setzt gellenden Protest, die breitkrempigen Hüte verrutschen auf rot anlaufenden Köpfen.
Wie ich die Redaktionsschwulen einschätze, werden sie kratzen und beißen. Sollen sie doch, ich tanze, tanze, meinen verzwirbelten amischen Quilt an mich gepresst tanze ich, zwar in Schuhen ( noch ) und nicht nacktfüssig wie mit Natalie, aber ich tanze mich voran wie ehedem in den Rosenkavalier-Walzer, der gleich dran sein wird, gefolgt von I can get no satisfaction, Rock and Roll bis zum Erschöpftsein, und da drauf folgte dann stets japsend der Sprung ins Bett.
Aber mit einem Mal mal liegt eine Fermate über dem Friedhof. Die Posaunisten haben aufgehört zu blasen und lassen ver wirrt die Spucke aus ihren Instrumenten rinnen. Einer von den Bodygards die Waffen einer Frau ! ist tatsächlich gebissen worden. Der Beißer muss Sven sein vom Ressort Dessous und Schlankmachmode. Die Kolleginnen mit den verrutschten Hüten schieben ihn nach hinten ins Nichtmehrsichtbare.
Dafür ist der Pastor wieder sichtbar. Er hält nun die Urne im Arm. Die Willkischkener brechen zwischen dem rangelnden Modevolk und den Geheimen durch, angeführt von der Schwiegermutter, halten auf mich zu, der ich mich, unverdeckt nun von Grabstein-Kulissen, selbstverloren schaukle und drehe und dabei den Stoffzwirbel liebkose. Nur meine Geheimfreunde erkennen die Gefahr die mir droht. Der ein redet auf die Posaunisten ein. Die setzen ihre Bleche an die Lippen und lassen Ein feste Burg ist unser Gott erklingen. Auf der Stelle kommt der Angriff zum Stehen, die Willkischker erstarren, ebenso Schwiegermama, die Mode-damen rücken echauffiert wieder ihre Hüte comme il faut in die gezie-
mende Schieflage. Meine Freunde fassen mich sanft an den Unterarmen ganz ruhig, total kein Stress jetzt. Sie haben Winkelpfade und Fluchtgässchen zwischen den Grabreihen ausgekundschaftet, und mich im Handumdrehen in das bugsiert was sie Grüner Bereich nennen.
„Eigens wegen mir dürfen Sie Ihren Einsatzort verlassen ?“
Wir dürfen jetzt Sachen auf die kommen Sie gar nicht, lachen
sie, Sie schon mal ganz bestimmt nicht.
„Wir sind in die Dynamik der Zeit eingebunden, haben Sie doch selber mal gesagt, wortwörtlich.“
Weil, staatliche Geheimdienste haben doch sowas von null Zukunft mehr. Genauso wie staatliche Armeen. Das strukturiert sich alles um, rasant, das kriegen die in den Parlamenten gar nicht so schnell mit. Sie haben die Kollegen zu observieren die Herren ehemaligen Kollegen, diese Beamten-kartoffeln, und ob die Urne bei denen in guten Händen ist.
Eine ausländische Macht nämlich ist heiß interessiert am Inhalt.
„Doch nicht an der Asche meiner Frau.“
Sie lachen schon wieder.
„Da wär ich an Ihrer Stelle nicht so sicher, dass die da drin ist.“
Und als sie mein Entsetzen wahrnehmen :
„Jedenfalls nicht allein.“
Und lachen. Schwer von kapee mal wieder, unser Freund.Zum Abschied haben sie noch was für mich, nichts zu danken für Botendienste, und schieben mir ein weißes Kuvert in die Brusttasche meines Pelzkragen-mantels. Als sie am Friedhofstor in ihren Wagen steigen, laden sie mich wider Erwarten diesmal nicht mehr dazu. Der neue Arbeitgeber is nämlich sowas etepete wenn die Rückpolster nicht tadellos sauber sind.
Und lachen.
Im Fond sehe ich Natalies Urne auf den Polstern liegen. Aufmunternd hupend fahren sie davon. Im Friedhof bläst der Posaunenchor I can get no satisfaction.
Erst jetzt bemerke ich, dass ich den amischen Quilt nicht mehr habe.

Kaspar

Ich bin nicht am Ende.
Ich bin am Anfang. Ich bin nicht mehr darauf angewiesen, fremde Lebensläufe zu erfinden, ich bin gerüstet nun meinen eigenen Lebenslauf anzutreten. Ich beginne mit der Beschauung meiner Person und komme zu günstigstem Resultat. Wie breitbeinig ich da sitze in der Wintersonne, ich kann es mir leisten. Ich bin Herr meines Fatums, Herr überhaupt, ausstaffiert mit einer maßgeschneiderten Weste von einem allerersten Herrenschneider. Massgeschneidert zwar nicht für mich, sondern für einen Befehlshaber der Versicherungsbranche, der die Weste nicht mehr benötigt weil ich ihn überlebt habe.
Überlebt ! Ich bin am Anfang. Als vorübergehend Unbehauster habe ich meine obere Hälfte darin aufs Angenehmste eingemietet. Über der Weste ziert mich herrschaftlich ein massgeschneidertes Jackett, schmeichelt mir mit seinem Seidenfutter und unzähligen Seitentaschen ( wie ich, der bekennende Latzhosler, sie bislang nicht kannte ) um Geschäftspapierchen höchster Geheimhaltungsstufe, Dollarscheine, Platinringe darin zu bergen. Die Ärmel erstrecken sich reichlich bis über die Finger, also werden sie mir zuverlässig die Handballen wärmen in künftigen Frostnächten. Ich bin obendrein wohlig verwahrt in Flauschmantel und Flauschmütze eines weiteren Herrn, der sei-nerseits in einer gut beheizten Bleibe in der Psychiatrie verwahrt ist.
So sind wir beide zufrieden, aber nur ich bin am Anfang. Wenn meine Augen allerdings an mir abwärts gleiten von der pompösen Oberhälfte auf meine Hose, so wird mein Blick in die Zukunft weitaus rissiger. Die Aben-teuer die ich durchzustehen hatte seitdem ich aus dem Gewohnten gefallen bin, haben gerade der Hose ( wie den Unteren stets ) übel mitgespielt, und mein Schuhwerk weiß ich ohnehin von Eiswasser zerfressen. Durch seine Lücken verschafft sich die Kälte unaufgefordert Einlass. Vor dem schlimm-sten bewahrt mich der Hund, der mollig quer über meine Füße gelagert, mir das schwindende Oberleder ersetzt. Ich bin alles in allem gesehen eben doch am Anfang.
Einer mit ähnlich zerschlissenen Hosen lässt sich neben mir nieder.Unaufgefordert wie die Fusskälte.
„Echt n schönen Hund haste da. First class, rassemäßig gesehen.“
Und streckt sich in der Januarsonne wie ich. Erwartungsvoll schaut der so gerühmte Hund zu mir auf gib Befehl, Herrchen, und wir brechen auf ! In ein zweites Leben, zur großen Wanderung, die über mich verhängt ist. Wir werden Wüsten zu durchmessen haben, ich werde seekrank sein vom Kamelreiten, tagelang seekrank sein schaukeln auf dem Kamel im Passgang. Und du bekommst die Beine des Kamels statt der Bäume zum Beinchen-heben. Und das einzig Trinkbares auf dem tagelangen Weg von einer Oase zur anderen ist das Blut der Kamele.
Die einzige Flüssigkeit weitum in der Wüste, es ist nur recht und billig dass sie davon abgeben müssen. Man schlitzt ihnen mit dem Messer die Nasenschleimhäute auf, ein satter Strahl schießt in den Becher, den man darunter hält und -
„Und wie schmeckt das ?“ will der Penner neben mir wissen, den ich schon vergessen hatte.
Wie solls’s schon schmecken - so wie die riechen, von denen man es zapft. Zum Erbrechen. Wir werden uns oft erbrechen müssen, Freund Hund, denn es versteht sich dass ich mit dir teile. Deine Zähne werden meine Waffen sein gegen die Wüstenräuber, denn du weißt dass ich sonst keine trage. Und meine Beredtsamkeit wird hinwiederum dein Schutz sein, wenn die hung-rigen Wüstenfahrer deinen wohlgenährten Leib mustern und dich schon gebraten sehen über dem Lagerfeuer. Entweder du wirst ausgeraubt, ge-schlachtet, es wird dir die Nase beschnitten oder du erzählst ( um das alles abzuwenden ) Geschichten, holst ihnen das Blaue vom Erzählhimmel herunter und sie scharen sich um uns weiter,erzählt weiter ! und wir bleiben damit am Leben. Wer durch die Wüste streift, wie es mir bestimmt ist, mit dem wandern Erscheinungen mit, Trugbilder, Wahnstürme, und er wird zum Verkünder und Propheten. Es wimmelt von Visionären in der Wüste, die einsiedlerisch auf Säulen stehen, von Hyänen umheult und ausgelacht. Wer immer nur allein ist mit seinem langen Schatten auf dem Sand, hält sich
für das höchste Wesen und schreibt dito Gesetze nieder. Den Gottheiten dagegen, die Homer erfunden hat, waren Morast und Laubdickichte bekömmliche Aufenthalte, sie suhlten sich in Teichen mit Damen und Fabelwesen, ließen andere Götter neben sich zu, meditierten, kopulierten und streichelten dabei Tiere, kopulierten auch mit diesen, waren selbstverliebt, trinkfest, müßiggängerisch, bestechlich. Alles beste Eigenschaften, um sich
den Fleiß der Dichter zu erdienen. Mohammed hingegen kam aus der Wüste, Jesus kam aus der Wüste, Jahwe kam aus der Wüste. Wer aus der Wüste nicht als Gesetzesstifter und Religionsgründer herauskommt, der kann von Glück reden, merk dir das und komm mir als Erzähler der Geschichte Melek-Ors wie-der zum Vorschein.
„Du kommst frisch ausser Wüste, Nachbar ?“ will der Penner neben mir schon wieder wissen. Ich bin erst auf dem Weg dorthin, Nachbar. Ich erzähle voraus, was ich ohnehin morgen oder übermorgen erleben muss. So teile ich mir mein Leben ein, teile das Erlebbare in übersichtlichere Happen, damits nicht aus dem Hinterhalt über mich herfällt wie bisher.
„Und das erzählst du alles dem Hund ?“
Wem denn anders. Er hat in der Christnacht gesprochen zu mir und mich wissen lassen, dass ich eine große Reise anzutreten habe, die weit von dem weg führt, der ich einmal gewesen bin.
„Und der gibt dir Antwort ?“
Er überlegt sich lange seine Einwände.Am Ende hat er gar keine. Und ist zufrieden mit der Reiseroute, die ich ausgearbeitet habe. Der Blick des Penners senkt sich wiederum bewundernd nieder auf den Hund, der quer über meinen löchrigen Eiswasserschuhen liegend unseren gemeinsamen Aufbruch erwartet.
Um zu dem Befund zu gelangen :
„So‘n Hund is nich bloss ein Geschöpf vom lieben Gott, der is auch‘n Geschenk vom lieben Gott persönlich. Aber echt.“
Daran erkenne ich ihn wieder. Er ist der, der auf dem Weihnachtsmarkt seine Promenadenmischung mein Gesicht hat lecken lassen da kannste doch nich hartherzig an vorbei gehen genau vier Wochen vor Heilig Abend, Bruder. Seinen Hund hat er inzwischen eingebüßt, die falschen Sternsinger haben ihn fortgelockt mit so reichlich erschwindelten Schinkenscheben wie er es nicht beibringen konnte.Er ist so verkrochen in seine Verlassenheit dass er mich nicht wiedererkennt in meiner komfortablen Garderobe ‘n Geschenk vom lieben Gott persönlich, da biste reicher mit so’m Hund ganz in echt. Mute mir keine fremden Kümmernisse zu, Bruder, ich bereite mich auf meine Reise vor auf der ich meine eigenen Kümmernisse niederwerfen will indem ich mir verordne habe auf Natalies Fussspuren zu treffen, frisch in den Sand gepresst ( denn jetzt wo ich erfahren habe dass sie nicht in ihrer Urne liegt werde ich sie treffen irgendwo ).
Der Hund der jetzt noch untätig über meinen Schuhen liegt, wird ihre Spur weiter verfolgen die Düne hinauf, er hat ihre Witterung immer noch in der Nase und dort oben auf der höchsten Erhebung wird sie stehen,im blauen Tuaregschleier der Hund wird sie fröhlich bellend begrüßen, der Sand wird sich hell in sein dunkles Fell stäuben denn sie wird mit dem König des Lichts im Sand graben helfen der hier im Sand gräbt weil hier seine Hauptstadt einmal gewesen ist bei seinem Weggang er gräbt mit einem Stecken, er stochert mehr als dass er gräbt, seine Muskelkraft ist erlahmt in zweitausend Jahren und als der Stecken bricht, gräbt er mit den bloßen Händen er gräbt nach denen mit denen er sein Leben geteilt hat, die seine Sprache ge-sprochen hatten.
Wenn er sie nicht findet, wird er fremd sein für immer. Sogar das Grab das ihm zusteht das für ihn bestimmt ist, ist verweht. Natalie, gräbt mit ihm mit bloßen Händen, und siehe, sie fördert den Dachfirst seines Palastes zu Tage, der Palast liegt vollständig erhalten unter dem Sand -
„Sowas hab ich noch nich gehört, sowas von Geschichten, wie du sie am Erzählen bist. Echt nich.“
„Es hat mir ja auch noch keiner zugehört wie du.“
„Schreib das auf, Kumpel. Schreib das bloß auf.“
Kann ich aber nicht. Hab doch kein Schreibgerät mehr. Und wie, wenn es Melek-Or ist, der mich dichtet ? Wenn ich sein Geschöpf war von Anfang
an ? In Keilschrift auf Tontafeln, und keiner kanns entziffern, niemand wird etwas über mich je erfahren.
Ich muss mir das notieren, aber ich habe auch kein Papier mehr.Auf der Suche wenigstens nach einem vergessenen Zettel klopfe ich die fremde Jacke ab, und ein Knittern in einer Brusttasche antwortet mir. Ein weißer Umschlag, auf dem mein Name steht. Als ich ihn aufreiße, lächelt mir eine jungfräulich leere Rückseite entgegen und lädt zum Geschichten-drauf-schreiben ein. Auf der anderen, der bedruckten Seite der Briefkopf eines Notars. Darunter die Aufforderung, mich in der Kanzlei Sowieso einzufinden zwecks Abwicklung einer Nachlasses im Sinne von Paragraph sowieso des Bürgerlichen Gesetzbuches, Absatz sowieso, Ziffer römisch neun.
Das Schreiben, das meine Freunde die Geheimen mir zugesteckt haben.
Ich verberge es vor dem, der sich zu meinem neuen Gefährten ernannt hat und als er nicht aufhört, neugierig nach dem Blatt zu linsen, erfinde ich etwas von einem Mahnschreiben wegen nicht bezahlter Hundesteuer und schäme mich sogleich, dass ich eine Erbschaft verleugne, die offensichtlich von Natalie auf mich gekommen ist.Trotz allem nun doch noch.
Schon im Vorzimmer versuche ich, mir Selbstsicherheit einzuüben, und schwadroniere frischdrauflos dem Notar vor, wie ich eine Vorabendserie in einer Kanzlei wie dieser habe spielen lassen. Das ganze Ambiente hier, Herr Doktor, ist mir wohl vertraut, sogar die Topfpflanzen und der Abreiß-kalender, ja genau, Alpenmotive und Patagonien. Jeden Morgen reißt der Chef, also Sie, ein Blatt herunter und setzt dabei ein Bonmot in die Welt, das dann den Titel der jeweiligen Folge abgibt. Will damit sagen, den ersten Satz, den Sie gleich an mich richten werden, den habe ich schon vorweg nieder geschrieben.
Ich mag mir gar nicht zuhören, wie ich den Notar umspinne, einspinne in meine Erfindungen, als wollte ich ihn Notar damit zu meinem Geschöpf machen, das mir den Text herzusagen hat, den ich hören will. Und Ihre Schreibkraft, Hermine, Mutter des Mutterwitzes, Sie werdens nicht glauben, Herr Doktor…
Ich unterbreche mich, der Notar schaut gar zu verdutzt. Dies freilich wegen meiner schwarzen Fingernägel, die unter den langen Ärmeln aus nicht ganz so schwarzem Nadelstreifentuch zwar nicht weit, aber immerhin doch hervorlugen.
„Ist ja schmeichelhaft für meine Kanzlei “ lächelt er “dass Sie das alles bereits voraus geahnt haben. Auf welchem Kanal kann ich Ihre Serie denn sehen ?“
Ich ziehe meine schwarzen Fingernägel unter die schützenden Nadel-streifen zurück und verordne mir Schweigen. Der Notar schweigt eine lange geduldige Weile mit. Seine Fingernägel sind untadelig.
Nun sag schon, was mir Natalie vererbt hat, und wieviel. Und was die Schwiegermama davon übrig gelassen hat.
„Ein nicht genannt sein Wollender hat Ihnen etwas zu übermitteln.“
Der Notar übersetzt mir, was er da gedruckt vor sich liegen hat.
“Der Betreffende legt Wert darauf, dass Sie seine Identität nicht erfahren. Aus der Einstellung heraus, er kann sich das mit Rücksicht auf sein Privat- wie Geschäftsleben nicht leisten. Nach allem, was Sie ausgelöst haben…“
Nun übersetzt er nicht mehr. Nun wird er neugierig auf das, was er da über mich schriftlich vor sich liegen hat.Und lächelt wieder. Aber anders als zuvor.
„Oh oh oh…“
Er ist zu berufsdiskret, um mir zu verstehen zu geben, was er damit meint. Verbietet sich dann aber abrupt das Lächeln, wird ganz Amtsperson ( der nächste Klient wartet ja dringlich drau-ßen ) und schiebt mir ein Päckchen über den Tisch, eine Handspanne groß im Quadrat, in einem gewöhnlichen braunen Umschlag. Mit einer amtlichen Schnur drum herum.
„Versiegelt in Gegenwart des Auftraggebers. Und nur Ihnen als Emp-fänger steht es zu, das Siegel zu erbrechen.“
Er reicht mir eine Schere, schon halb abgewandt, steht auf und stellt sich betont diskret ans Fenster. Ich zerschneide die Schnur, nestle das Packpapier auseinander und habe so etwas wie schwarzbraunes Laub in der Hand, das sich anfühlt wie Schnipsel aus alten Fensterledern und das einen Geruch verströmt von Zimt, Büffeln, und dazu gänzlich Unbestimmbarem. Auch von Weihrauch und von Myrrhen.
Kein Zweifel, diese Flicken, die sind der König des Lichts.
Geschrumpfter und gefältelter, zusammengefalteter als je. Welche Ver-drießlichkeiten hat er wohl dem nicht genannt sein wollenden Weiterlieferer bereitet diesem Milchohr dass der ihn mir nun retourniert wie einen falsch frankierten Einschreibbrief.Ich möchte diese peinliche Zustellung, dieses Muster ohne Wert verschwinden lassen im Papierkorb des Herrn, der noch immer ausführlich die Fassade gegenüber betrachtet.
Da erfingere ich zwischen den graubraunen Fensterlederschnipseln etwas Hartes. Zackiges. Goldenes. Ein Ohrge-hänge ! Ein Ohrgehänge, ein Stern-bild für das andere Ohr ! Das seit zweitausend Jahren abhanden gekommen war, seitdem die Räuber es mit sich fort genommen haben. Aber hat es diese Räuber je gegeben ? Habe ich sie nicht selbst erfunden, samt ihrem Gekreu-zigtwerden, auf die Festplatte meines Laptops getippt, als Lesestoff für die nicht genannt sein wollenden Geheimen, nun verwahrt in ihren Büro-schächten ?
Und habe ich es selbst erfunden, ist es nicht der Bericht dessen der da vor mir liegt, ledrig und gefaltet und ich selbst bin nur ein Buchstabe, ein Satz in dieser Erzählung ?
Wie auch immer, die Goldsterne zwischen meinen Fingern sind wirklich. Ich sitze lange und starre sie an. Die Wegweisung für den König des Lichts, der ich selbst bin, in ein unbekanntes Ziel. Und das mir, der ich bereits an den üblichen Sternkarten scheitere. Ich sitze. Ich starre. Bis ein Räuspern vom Fenster her mich zurück holt ins notariell Nüchterne.
„Sie haben sich überzeugt“ noch immer schaut er auf die Fassade gegen-über “vom ordnungsgemäßen Zustandes des Ihnen übergebenen Gutes ?“
Was heißt da ordnungsgemäß, Herr Notar. Wo ist da Ordnung und ein ordnendes Prinzip das mir die Wirrnis in der ich herumstolpere ins Gerade bringt.
„Und wenn Sie dann bitte hier noch unterschreiben wollen.“
Ordnungsgemäß ausgehändigt, undsoweiter undsoweiter. Und die Gebühren ?
„Bereits beglichen.“
Von einem Namensvetter, der nicht genannt sein will. Ein ungenanntes Milchohr hat gespendet für mich, damit es sich aus dem Staub machen kann auf meine Kosten.
„Dieser Duft, so etwas von Duft !“ schwärmt der Notar und schnuppert.
“Ein Duft wie er noch nie geherrscht hat in unserer Kanzlei ! Wie soll ich das bloß dem nächsten Klienten erklären, woher der kommt. Der ist doch bloß ein biederer Fall von BGB Paragraf 112.“
Ich habe ihn in seinen braunen Umschlag gerammt noch ehe der Notar sich von seiner Fassade los riss und den Umschlag in eine Tasche des fremden Flauschmantels versorgt. Achtlos wie ein Päckchen Papierta-schentücher.
Achtlos versorgt.
Ein Wortpaar so unerquicklich wie dieses Wiedersehen. Er hat meine Fürsorge lang schon verscherzt, auch meine achtlose. Er hat mich um alles gebracht, meine bürgerliche Existenz weggerissen, meine Frau, die Gewiss-heit wo mein Ort ist in der Welt, letztlich sogar meine fünf Sinne.Und nun nistet er schon wieder in meiner Tasche, die nicht einmal mehr meine ist. Gnadenlos mogelst du dich immer immer wieder herein ins Treppenhaus meines Niedergangs : in der Beletage bist du über mich gekommen, jetzt im Keller überfällst du mich schon wieder, noch und noch hast du ein Guckloch gefunden im tiefsten Souterrain, um mich anzuspringen. Du gehörst begraben für immer und ewig, Freund. Nicht stümperhaft im Blumenkasten, sondern zu den deinen sortiert. An deinen sagenhaften Ort zurück transferiert, und da eingeliefert und abgelegt im Legendennest zu Köln. Das ist das letzte, das ich für ihn tun kann.
Und am Ende auch für mich.
Als ich aus dem Bürohaus trete, erwartet mich, ans Messingschild des Notars gelehnt, mein neuer Freund der Penner.
Und mein alter Freund der Hund.
„Und mit dem Geld, das wir geerbt haben, geht’s jetzt in die Wüste ?“
Nein, nur ein Stück flussabwärts.
„Ist mir auch lieber.“
Mir auch. In der Wüste wimmelt es von Räubern, die einem die Ohren abhacken.Und auch wenn die gekreuzigt werden, stellen sie einem nach. Und in den Karawansereien geht man falschen Jesussen auf den Leim. Wir sind nun ein Dreibund, der Hund, der Penner und ich. Der in meiner Tasche hat kein Anrecht mehr aufs Mitgezähltwerden.
Ich gebe meine Erzählchen zum besten, er gibt seine Lebensweisheiten, und der Hund hört uns beiden zu. Um eines Tages beiden zu antworten und uns beide zu-recht zu rücken, als Geschenk Gottes.
Geschenk Gottes bringt Segen auf Erden weil der wärmt im Winter weil der stammt vom Wolf ab und der überlebt auch bei vierzig unter Null und dazu kommt das Sozialamt für auf ich meine den Hund und in der Nacht haste was zum Schlafen drauf und sparst dir Kissen wie Plümo. Komm, wir suchen uns ´n Güterzug leere Waggons findste immer unverriegelt heute geht ja alles per Laster über die Autobahn und frage nicht wie verriegelt ! Und wenn du aufm Hund schläfst wirste weiterweiterweiter kutschiert, pennst in Dingsda und wachst auf in Dumsda. Musste in Streckenabschnitten sehn, das ganze Leben, immer von Sta-tion zu Station. Kanns ja nich bestimmen, wo du hin willst, is immer ein anderer der was den Fahrplan macht. Nach Weihnach-ten so wie jetzt da fällt das Geschäft stark ab, als wenn die Mild-tätigkeit mittenmang erschöpft ist, einfach alle, wie ne leere Flasche Bier. Kannste schütteln noch und nöchrig, kommt kein Tropfen mehr raus. Mach zu, wir suchen uns‘ n Güterzug. Wie heißt die Station eigentlich gleich, wo wir hin müssen ?
Köln am Rhein.
Mann, das gibs nich, da liege ich begraben, Das hab ich noch keinem gesagt, dass ich Kaspar heiße alle denken immer ich heiss Kuddel, weil da fällste nich auf mit und nich auffallen is das A und O in einer Position wie unsre. Das sag ich nur dir, weil du Melchior heißt.Komm, wir suchen uns nen Güterzug. Köln kenn ich, Kölle alaaaf. Im Karneval sind die spendabel da unten das glaubste nich. Eisbein kriegste wie nix und Bierchen, und bei Gelegenheit kannste ne Börse…nich, dass mans anlegt auf so was, man is ja ‘n Berber der sich nich gehen lässt, aber im Karneval ! Da biste irgendwie entmoralischt, da biste Masse unter Masse, weil die umarmen dich in einer Tour und du muss-tse noch stützen dabei, ist ja kein einzigster trocken in den tollen Tagen, biste dauernd dicht an denen ihren Börsen, ob du willst oder nich. Klar haste auch fortwährend, ich möchte mal so sagen engsten Frauenkontakt, Karnevalsgrabscher is ja n Lehrberuf bei denen in Köln, weil da kommt dir zugute die sind bloß noch Schwabbel die sind aufgerissen und du greifst rein, du glaubst gar nich wo du überall rein greifen kannst im Karneval, das reicht dann fürn Rest vom Jahr. Mach zu, wir suchen unsn Güterzug .
Das is aber nich kumpelmässig, Kumpel, dass du ewig lebst von meinen Vorräten Mann. Und dein Hund dazu ! Du lernst jetzt wie man in Ehren sein Brot verdient. Du beziehst jetzt Posten in einem fetten Revier, musste Witterung entwickeln für. Einkaufsmeile is immer ertragreich, aber zu dicht zuviel Fussgängerverkehr, und Verkehrsinseln musste ganz meiden, das is was für Spezialisten aus der Slowakei und Kirchentüren, die sind sowieso überbesiedelt, da beißen sie dich weg. Und mach bloß nich auf Jammeroper, so wie die rumänischen Zigeuner. Ich leih dir meinen Hund. Kannste doch hartherzig an vorbei gehen. Komm, wir suchen uns n Güterzug.
Und er borgt mir meinen Hund aus für einen Tag. Als ich am Abend von meinem Scheitern mit der Geschöpf-Gottes-Nummer berichten muss, verschweige ich , dass der Hund in einem fort nach dem König des Lichts geschnüffelt hat, den ich in der Brusttasche verwahre, und sogar begann , den Stoff meiner einzigen Jacke zu zerbeißen.
Mann , du du siehst aber auch nicht echt nich aus wie’n Tierfreund. Und wie einer der an irgendwas glaubt schon gar nich. Gebongt, für heute ausnahmsweise noch mal ne Scheibe Salami. Für den Hund aber fünf, und ich muss dabei sitzen, als er dafür getröstet wird, dass er mit einer Lusche wie mir einen Arbeitstag verplemperten musste. Warum machste nix, Mann,
aus dem Typ wo du bis, statt dassde meinen Hund nervst.
Und was bin ich ?
Akademiker biste, aus gehobenen Verhältnissen aber unverschuldet inne Scheiße. Ich borg dir auch ne Krawatte. Komm wir suchen uns nen Güterzug.
Und er besitzt einen reichen Fundus an Krawatten, eine Kollektion für ganze Ensembles von Akademikern unverschuldet inne Scheiße und bindet mir, keinen Einspruch duldend, eine um, mit der ich mir vorkomme wie das Mitglied eines Britischen Herrenclubs.Ich buche es mit Genugtuung. Sie verhilft mir zu nicht vorausahnbaren Erfolgen in meinem neuen Handwerk :
ich schleife mit im Strom der Passanten, drehe mich dann abrupt um ( vor einem Bankhaus ) zu einem neben mir Gehenden mit einer Krawatte ähnlicher Distinktion um und murmle, den Blick genierlich auf den Gehsteig niedergeschlagen, just hier sei ich eben vor kurzem selbst noch Kunde gewesen, nun aber sei ein Güterzug mein Zuhause, weil mir von einem Tag auf den andern… hier lasse ich meine Stimme in Gehuste versickern, damit die Angstfantasie des Angesprochenen das ihre beitrage ( Gehaltspfändung / Justizirrtum / Pflegefall / Bankrott der Bank, ja eben dieser Bank dort ! ). Ich gurgle, schlucke, gurgle heftiger, wende mich jäh ab.
Und kassiere nach fast jeder Darbietung. Am Nachmittag wechsle ich die Bank, baue nun zwischen Schlucken und Gurgeln ein jähes Aufschluchzen ein, bedecke die Augen Verzeihen Sie, ich wollte Ihnen das nicht zumuten. Ausgerechnet Ihnen …
Kaspar mein Lehrmeister ist mit mir lärmig zufrieden.Wieder und wieder läßt er sich von mir gelehrigem Lehrling die Summe nennen, die ich eingenommen habe, und befindet, diese sei ( in einem neuen Güterzug, der uns nun schon von Speyer nach Mannheim bringt ) einen feierlichen Umtrunk wert.
„Auf dich, Prost ! Is ja klar, wer von uns ab jetzt anschaffen geht weil du bist ja echt ein Winnertyp !“
Und in der Nacht, wenn ich den ungewohnten Dusel aus mir herausschlafe, wird er mir, was ihm doch nur höchstens halbe halbe zusteht, aus der von dem abtrünnigen Köter zerbissenen Jacke fingern. Und dabei achtlos auch ihn herauswühlen, für ein zerknautschtes Taschentuch halten und hinaus auf den Bahndamm schleudern. Das will, das kann ich dem König des Lichts denn doch nicht antun. Das will ich mir nicht antun, dass anderntags oder auch erst drei Wochen danach dieses Taschentuch sich so vertrauensselig wie vorwurfsvoll ein weiteres Mal bei mir einfindet.
Ich lasse mich, als der Zug auf freier Strecke hält, aus dem Waggon gleiten, den braunen Umschlag zwischen den Zähnen. Ich ertappe mich dabei, dass ich den Blick für vorwurfsvoll halte, den der Hund auf die geborgte Krawatte richtet Herrchen du Dieb oder meint er nur Veruntreuer ? Ohne auf meine Offerte des Abhauens weiter einzugehen, legt er seinen Kopf wieder auf die Pfoten und bleibt bei seinem Verdauungsschlaf. Er hat viel zu verdauen, denn die letzten Tage bescherten ihm reichlich Futter.
Weil der Zug wieder anruckt, reiße ich mir die Krawatte vom Hals und hänge sie über den Stoßdämpfer des letzten Wagens, als ruhte der vor-wurfsvolle Blick des Hundes immer noch auf mir. Der Zug, als wollte auch er mich abmahnen, hält noch einmal und gibt mir Gelegenheit, den edlen Binder jetzt säuberlich adrett um das eisige Gusseisen zu arrangieren wie um den Hals eines britischen Club-Gentlemans.Ich sehe ihm nach wie er sich in der Nacht entfernt. Servus, Bruder Kaspar vom Weihnachtsmarkt ! Adieu, Bonzo ! Auf Nimmerwiedersehen Pelzmantel und Pelzmütze !
So kommen mir alle Weggenossen nach und nach abhanden wie dem König des Lichts die seinen.
Aber dafür bist du ein erfolgreicher Fechtbruder jetzt, dem es bestimmt ist, als dein eigener Herr dich deiner eigenen Wege zu bemächtigen. Es stünde mir zu, mich auf eine Eisscholle stellen, im Vertrauen darauf, dass ich wohlbehalten flußabwärts getrieben werde bis ins hillige Köln.

Die Reise nach Köln

Am elften Tag des Juni anno 1164 post Christi natum hatte Kaiser Friedrich, genannt Barbarossa, dem Rainald von Dassel , Erzkanzler des Reiches, übergeben die Gebeine der drei heiligen morgenländischen Könige, so aufgefunden worden sind bei der Belagerung und schließlichen Zer-störung des vom rechten Glauben abgefallenen waldensischen Mailand. Rainaldus ließ die drei Könige betten auf seinem Schiff, auf dass er sie ver-brächte in die Metropole seines Erzbistums Colonia Claudia Agrip-pinensium, das heilige Köln am Rhein. Hoch auf dem Deck nah dem Himmel ließ er sie lagern, festgezurrt mit silbernen Schnüren, und überwölbt von einem Baldachin, der ihnen den Regen fernhielt. Nach all den Jahrhunderten, die sie in der Gruft zugebracht hatten, sausten die Winde des Rheintals nun ungestüm durch sie hindurch nach Belieben. Von keinem Fleisch und Muskeln mehr aufgehalten, zerrten die Winde an ihren Kniescheiben, verschoben ihnen die Becken übermütig gegen die Rückgrate, lockerten ihnen die Schlüsselbeine, wodurch eine wunderlich helle Musik vernehmbar ward. Dazu röhrten und sangen die Rheinwinde in den Schädeln und schleuderten das Becken des einen gegen die Becken der anderen zwei schweig-samen Reisenden. Tag und Nacht standen Geharnischte Wache, die Rücken den Gebeinen zugewandt, die Blicke zum Ufer wo viel Haufen Volks anstiefelte und manche Tage lang mitzog auf den Treidelpfaden zu Seiten des Stromes unter frommen Gesängen, Blumenkränze dabei ins Wasser warf, Votivgaben, aber auch Schinken und Brot, gebratene Gänse und Ferkel, dazu Flechtwerke aus Zweigen und Blättern mit brennenden Lichtern darauf gesteckt. Den Segen der drei Heiligen erheischend wurden Kinder dem vorbei gleitenden Schiffe entgegengestreckt, Kranke ins Kielwasser getaucht, Verurteilten auf dem Weg zur Hinrichtung wurde die hinfahrende Heiligkeit gezeigt ehe ihnen die Augen in der Hölle ewiglich verlöschen würden. Boote und Flöße, ganze Pilgerschaften folgten dem Schiff. Fratres des heiligen Benedikt und Nönnlein aus den ufernahen Siechenspitälern griffen heiß-mütig in die Riemen, verkeilten und verkanteten jedoch, da der Ruderkünste nicht kundig, aufs unglücklichste ihre splitternden Gefährte, wurden von den Stromschnellen verschluckt, in die Tiefe gezogen von der Last ihrer Rosenkränze, um im folgenden verehrt zu werden als Glaubenszeugen, die stracks in den Him-mel eingegangen. Und selbst die eingesessenen Räuber-sippschaften beiderseits des Stromes verzichteten für die Zeit der Durch-fahrt devotissime auf ihren Brauch, Ketten über den Strom zu spannen, um sodann den Transport zu entern und auszuplündern.
Die Seide des Baldachins über den drei Gerippen blähte sich im Zephir des mildwarmen Frühsommers, bestickt mit der goldenen Mondsichel samt Stern auf schwarzem Grund als Wahrzeichen des Kaspar, dem Mohren mit roter Fahne auf gol-denem Grund des Balthasar und den neun Sternen auf blauem Grund des Melchior.Wenn am hohen Mittag die Sonne durchs Gewebe glühte, zuckten die heraldischen Schatten bunt über die heiligen Knochen und Rainald benetzte sie mit geweihtem Was-ser auf dass sie nicht Hitzeschaden nähmen oder weiter verblichen, legte sich dann zwischen sie um seinen ehrsamen Bischofsschlummer zu halten im vollen Ornat, so dass er von den Ufern her für ein goldbesticktes Polster gehalten wurde, vor-mittags zwischen Balthasar und Kaspar, nachmittags zwischen Melchior und Balthasar und des nachts quer zu aller dreier Füßen. Strich, privatissime und zärtlich über das hin, was die Zeitläufte übrig gelassen hatten von Kaspar , Melchior und Balthasar, und bewegte freudig in seinem Herzen wie ein Kind, estote sicut liberi dass er ihnen so nah sein durfte wie zu ihren Lebzeiten nicht einmal sie sich selbst. Küsste wieder und wieder die erwärmten Skelette, erfreute sich daran, wie die edlen Brustbeine vor dem blauen Himmel schimmerten wie Gold, als trügen sie das gesamte Morgenland in sich und die Hitzen Mesopotamiens glühte in ihnen nach. Vergnügte sich glucksend, wenn Uferschwalben durch sie hindurch flügelten, Falter sich auf ihnen nieder ließen, Meisenpaare sich um ihre Röhrenknochen herum haschten und wenn sie unter Weinbergen entlangfuhren, erhob er ihnen zu Ehren und an ihrer Statt zwinkernd sein Glas zu den Winzern hin. Bohrte seine Finger kichernd in ihre Kiefernlücken, in denen ihre Zähne verankert gewesen und renkte, wenn es dämmerte, den einen oder anderen Hand– und Fingerknochen aus, um sich selbst die Wange zu tätscheln. Namentlich Melchiors Hände wa-ren ihm ein liebes Spielzeug; deren Glieder zurechtbiegend, malte er sich aus , wie darin der Reichsapfel Alexanders des Großen geruht hat, wie die alten Bücher berichten. Jedenfalls so lange, bis Melchior eben diesen Reichsapfel dem Jesuskind als Geschenk übergab.
Zwischen den beiden ausgeklinkten Knochenhänden des Melchior ließ Rainald diesen Apfel in Gedanken hin und her rollen, er umschloss ihn, den verschwundenen mit all seiner Liebe des Reichserzkanzlers, versinnbildlichte er doch das größte Imperium das je bestand. Alexander hatte ihn aus den Beutezügen und aus den Tributen aller seiner Provinzen zusammen-schmelzen lassen, und wenn die Hände des Makedoniers ihn umfassten, umschloss er damit kraft seiner Macht die ganze Welt in eine Goldkugel geschmiedet ohne Anfang ohne Ende neque origo neque finis wie eine Kugel und wer ihn danach in Händen hält ob Melchior oder sein Herr Barbarossa, beherrscht item wiederum den Erdkreis.
Bedachte Rainald, leerte ein weiteres Gläschen zum Wohle der drei und versprach in die Ohrvertiefungen der heiligen Schädel, er werde ihnen, den königlichsten Königen unter dem Himmel, eine kostbare Hülle anmessen lassen, ein Prunkkleid aus Steinen, die größte Kirche der Christenheit. Eine Kirche, höher als alle anderen, ihre Turmspitzen sollten den Himmel in den Bauch stechen, dass sogar die höchsten Herrschaften dort aufgefordert waren, den dreien ihre Reverenz zu erweisen. Und zudem weit näher ans Ufer gerückt sollte sie errichtet werden als der hochmütige Sankt Gereon, der hochnäsige Sankt Patroklus, als Sankt Aposteln und Sankt Maria im Kapitol, der duckmäuserische Sankt Pantaleon, Sankt Severin, Sankt Maria ad Gradus. Rainaldus sah sie allesamt bleich werden vor Neid, die Pfarr-herren der Kölner Kirchen, die nun Nebenkirchen sein würden, Hinter-kirchlein, schmalllippig graubeutlige Frühmessenkümmerlinge, denen fortan Betbänke und Klingelbeutel leer bleiben würden, weil alles Pilgervolk aus den Rheinschiffen heraus wie auch per pedes stracks zu Kaspar, Melchior und Balthasar wuselte.Was er zuvörderst Groß Sankt Martin gönnte, der sich da am Landeplatz der Wallfahrer breit machte und eitel im Wasser spiegelte. Nun würden Ufer und Wallfahrer den könig lichen Dreien gehören : Kaspar , Melchior Balthasar und ihm, als geheiligtem Vierten.
Denn er war es, bedachte Herr Rainaldus und wälzte sich wohlig im Halbschatten, ein Glas an den Lippen, der die drei heraus holte aus der Grube zu Mailand nach zweitausendjährigem knochendumpfem Herum-lungern und erhöhte zu Ahnherrn Kaiser Friedrich Barbarossas. Sie, die den Heiland voraus geahnt hatten und Stunde und Ort seiner Menschwerdung mit ihren Sternkarten säuberlich berechnet, sich auf den Weg gemacht hatten als Priesterkönige aus dem Imperium der Meder, Tempelherren der Ischtar, Geheimnisbewahrer des Mazdan. Um einen Neugeborenen auf dem Mist-haufen anzubeten, von dem niemand als sie allein ahnte, dass ein Gott aus ihm werden sollte.
Mit solchen Herrschaften zu reisen tat Rainald überaus wohl, und er leerte noch ein Glas.


Es wird Karneval sein dort, da tobt der Bär, man wird mich für einen halten, der sich als Clochard maskiert hat. Drink doch eine met / stell dich net esu an / häs du och kei Jeld dat es janz ejal. Ich trink nicht mit, ich habe den König des Lichts zu betten zu den Seinigen im Hohen Dom. Seeräuber, Cowboys, sternhagelbesoffene Meerjungfrauen, Taschendiebe, Bonbons, aufgefangen vom umgedreht aufgespannten Regenschirmen.
Als die heilige Fuhre zu Köln anlegte, war es der dreiundzwanzigste Juli. In den Türmen von St.Gereon und Sankt Patroklus, von Sankt Aposteln und Sankt Maria im Kapitol schwiegen verstockt die Glocken, und in Groß Sankt Martin ohnehin, das sich be-leidigt im Wasser spiegelte. Dennoch aber hörte das reichlich herbeigestiefelte Volk von überallher Klöppel dröhnen. Es waren die des Hohen Domes, der nun erbaut werden sollte.
Ich werde unter den Masken Natalie zu erkennen glauben, ich werde ihr brüllend nachsetzen, ich werde im Lauf eingekesselt werden, sie aus den Augen verlieren, in der nächsten Straße wird sie wieder auftauchen als Indianerin, Schweinchen, grünweißer Zombie. Ich werde ihr aufstäubendes Lachen zu hören glauben, viele aufstäubende Lachen zugleich heraus aus dem Lautsprechergebrüll, der Blasmusik.Sie wird mir um den Hals fallen da bin ich wieder warum läufst du denn ständig an mir vorbei aber wenn ich umhalst werde ist es eine wildfremde Indianerin oder Schweinchen oder grünweißer Zombie.

Herr Rainald erlebte die Landung selig schlafend im Brustkorb des Melchior. Als man ihn daraus hervorzog und ihn, den Gebeinen voran zu dem von ihm bestimmten Bauplatz hinauf auf die Schultern nahm, hatte der Schatten der königlichen Rippen rote Querstreifen in sein Gesicht gebrannt, das sein Siegerlächeln noch breiter erscheinen ließ wie das Portal seines Domes, den er im Sinn trug.

Ich entdecke im Nebel einen Schleppzug, dessen Bug flussabwärts gerichtet ist, Richtung Köln. Er liegt tief im Wasser wie ein Sofa, das in den Estrich abgesenkt ist, so recht zum Hineinwerfen, Sich-Hineinwühlen. Ganz vorne und ganz hinten blinken nur ein paar verschafene Positionslichter, deren Zweck und Botschaft mir dunkel bleibt. Mir kommen sie vor wie Grab-lichter auf dem Friedhof, die signalisieren: hier ist niemand mehr am Leben, nur ich, das Licht. Ich habe keine andere Wahl als daran zu glauben dass hier Niemandsland ist. Niemandsfähre auf Niemandswasser. Werd nicht litera-risch schon wieder, sprich dir Mut zu, kletter vom Kai hinunter auf die dunkel schlafenden Schleppkähne. Und ich spreche mir ( von mir selber aufgefordert ) Mut zu, und ich klettere. Angstbangend vorsichtig auf das hintere Ungetüm. Nachtschwärze, Rostmetall, Ölgestinke. Wie soll jemand hier nächtigen wollen auf dem stinkigen Fluß außer dir, nu mach schon, auf deiner Seite ist das verzweifelte Vorrecht des Unbehausten. Die Schiffs-besatzung schläft im Hotel, da kannste wetten drauf, und du schläfst hinten im Beiboot oder wie immer das heißen mag im Fachjargon, du hast auch das Vorrecht, nicht einmal zu wissen wie das alles heißt auf dem du da entlang stolperst.
Meine Nase hat sich strebsam ausgebildet in den Tagen, die ich nun auf der Straße verbringe, sie hat gelernt das Riechorgan eines streunenden Köters zu sein. Obwohl der herrschende Geruch hier an Bord Öl ist, versetzt mit vereistem Rost, führt sie mich, wenn ich alle anderen Sinnesorgane beurlaube ( und nur noch ab und an hinlausche, ob da nicht doch irgendwo Stimmen sind oder ein Husten ) zuverlässig zu etwas Essbaren.
Hinter einer Glasscheibe ( lässt sie mich, die Nase, entdecken ) eine Keksdose, genauer eine Lebkuchendose. Um zu ihr zu gelangen, muss ich einbrechen. Mein erste Straftat, mein Initiationsritus hinein in die Bruder-schaft der Spitzbuben. Meine zweite Erwähnung im Polizeibericht, Aber nein, das Gesellenstück wird mir erspart, die Scheibe läßt sich gütlich öffnen ohne Gewaltausübung. Sie sitzt in einer Tür, die ölig schmauchend Zutritt ge-währt zu der Keksdose. Wenn nun die Dose dazu dient, Schraubenmuttern aufzubewahren, beispielsweise ? Aber meine Nase, meine Hundenase sagt mir nichts da Schraubenmuttern. Iss dich satt, Penner ! Bis dato hast du es erst zum gewöhnlichen Diebgebracht, die weiteren Aufgaben auf dem Abstieg zum Spitzbuben behält sich das Schicksal einstweilen noch vor.
Und ich esse, ich schmause. Genussvoll mit schmatzenden kleinen Bissen, die schmackhaftesten Elisenlebkuchen seit meiner Kinderzeit. Es sind nur drei ( magische Zahl ), aber ich huldige ihnen mit einem andächtigen Gerül-pse, die nun geleere Blechdose wie ein Weihrauchbecken in beiden Händen haltend. Als ich mit dem nassen Zeigefinger die restlichen Brösel aus dem Blechgehäuse aufsammle ( blind, denn es ist inzwischen nachtschwarze Nacht ) und den Finger sehnsüchtig ablecke, meldet sich in meinem Kopf wieder das mit der magischen Zahl und mir fällt ein, dass das leergefressne Behältnis ein sicheres und sogar pietätvolles Gehäuse für meinen Mitreisen-den abgäbe, der so provisorisch wie risikant in der Brusttasche meiner Weste logiert, die nicht die meine ist. Ich hebe ihn von da heraus ( blind ) und lege ihn ( blind ) in die Blechschachtel. Ohne den bergenden Briefumschlag ( der inzwischen unter meinem Schweiß fortgedunsen ist ) fühlt er sich an wie eine zusammengedrückte Fledermaus.
Ich lege den Kopf auf die Dose und falle in den Schlaf des Heimatlosen, der jeden Fleck zu seiner Bettstatt erklärt, auf dem er sich gerade nieder-gelassen hat. Ich erwache von einer Erschütterung, die so heftig ist, dass mir die Blechbüchse aus den Händen springt. Während ich ( blind ) im Dunkeln unter mir nach ihr taste, schon wieder eine Erschütterung.
Ein schwergewichtiges Etwas saust dicht neben mir nieder. Holz splittert. Sogar eine Stahlwand ächzt.
“Mierenneuger !„
Nur die Dunkelheit bewahrt mich davor, ein Krüppel geworden zu sein. Der, der das Gewicht sausen lässt, zerrt mich ans Licht einer Positionslampe, in seiner Faust ein Wagenheber.
„Smeerlap !“.
„Vorsehn bitte, ich bewahre den dritten der heiligen drei Könige hier in diesem Gefäss auf.Ich habe, um Platz zu schaffen, leider ein paar Lebkuchen entfernen müssen.“
„ Du hass mein Koek gefresst !“
Er treibt mich vor sich her, indem er mit seiner Eisenstange auf den Schiffsboden schlägt. Wenn ich stehen bleibe, ist mein Schädel zerschmet-tert. Ich stolpere immer wieder, aber die Blechschachtel lasse ich nicht fah-ren. Der mit dem Wagenheber stolpert auch, blind wie ich, und das lässt seine Wut wachsen, die er in kehlige Verwünschungen verpackt.
Er treibt mich auf die Kaimauer zu, über die ich ihn besuchen kam. Ich muss die eisernen, in die Mauer eingelassen Trittlinge hinauf, gute zweiein-halb Meter, da hilft nichts. Der Kerl wird mich mit seinem Prügel dabei kommod zu einem mannshohen Steak zerhauen können. Aber wie soll ich ihm und seinem Prügel anders entkommen ?
“Ich bin doch nur Schriftsteller, Herr, ein Schriftsteller auf der Durch-reise“.
Ich vertraue auf die Dunkelheit und hangle mich, jede Sekunde gewärtig, dass seine Stange mir das Rückgrat zerschmettert, die Sprossen hinauf. Aber der Kerl schmettert nicht, flucht nicht, schnauft nur. Als ich fast schon oben bin, greift mich seine Hand im Genick, die so breit ist, dass der Zeigefinger vor meinem Adamsapfel dem Daumen begegnet.
„Du Dichter ?“
Wie läßt sich darauf standesgemäß antworten zumal er mir die Luft abdrückt. Er reißt mich von den Sprossen zu sich herunter .
„Du hass mein Koek gefresst.Du muss mich erzählen“.
Erzählen ist mein Beruf, lieber guter Herr dieses Schiffes, aber legen Sie die Eisenstange weg.
„Erzähl wo sind sind anderen twee Köniche. Erzähl oder du gehst ins Wasser.“
Das meint der so. Er hält mich über die Reling.Schwarz unter mir der Rhein.Dann doch lieber die Eisenstange.
“Ich erzähle Ihnen.“
Er boxt mich vor sich her ins Führerhaus, bindet mich fest neben dem Steuerrad. Dann lässt er seine Motoren an.
„Du erzählen ! „
Das will ich denn doch mein Glück nennen. Ein Glück, das ich mir erst erdienen muss. Ich suche einen Erzähl-Anfang, stümpere mit einem muhmenhaften es war einmal und ertappe mich sogleich dabei, dass ich dieses Genre nicht beherrsche.
Ich bin keiner, der sich am eigenen Wortklang entlang hangeln kann hinein in die Welt des eigenen Erzählens. Ich brauche dazu Papier, damit sich Wörter vor meinen Augen zusammenschließen zu Sätzen und diese zu Geleitzügen von Handlungen, Geleitzügen wie sie die just draußen jetzt auf dem Wasser an uns vorbeischwimmen, beladen mit Kohle und Stahlträgern, statt wie die meinigen mit Geschehnissen und Erkenntnissen.
Wofür mir eine mechanische Schreibhilfe unabdingbar ist. Eine Tastatur wie die meines Computers ( wie sehne mich nach ihm, der im Verlies der Geheimen schmachtet ) mit seinen weichen einladenden Buchstabenknöpfen, die die Sätze aus einem herauslocken wie eine klug lächelnde Frau, gar erzähl weiter schnurren können und vertrau’s mir an, ich trags dir alles getreulich in die Scheuer.
„Ich schaffe es nicht.Ich bin ein Schriftsteller und kein Sprechsteller“.
„Das Wasser hat jetzt twee Grad und is achtien Meters tief … Du da hi-
neen ?“
Stockend und verstockt, wie zu mir selber redend, klaube ich ( bei solchen Aussichten ) mir noch einmal zurecht Erzählchen zurecht, die einem nieder-ländischen Schiffsführer Laune machen möchten, mich nach Köln zu verfrachten, obwohl ich mich als einbrec herischer Spitzbube und Keksräuber bei ihm eingeführt habe.
„Jetzt Wasser fiventwentig Meters….“
Ich habe die Motoren gegen mich. Ich muss meine Geschichte brüllend beginnen. Wenn ich brülle ist es, als ob ein ganz anderer erzählte und ich höre ihm zu.Ich höre, wie er von einem Sprechsteller zu erzählen beginnt, der den selben Namen hat wie ich und der einer wunderlichen Vogelscheuche begegnet die wiede-rum den selben Vornamen hat wie er.
Der Fortgang des Berichts, den ich da im Steuerhaus eines Flussschiffes gebrüllt höre, setzt mich selbst in Erstaunen, denn er handelt von einem der von weit weit her kommt, jahrhundertweit, jahrtausendweit und mit einem dünnen Atem, dünner als irgendeines Wesens, das ich je im Schlaf überrascht habe.Wie eine Fledermaus, die überwintert. Wie einer, der sich vor Äonen mit Luft gefüllt hat und auf der flachen Brise durch die Zeiten schwebt ohne ein weiteres Atemholen seither. Wie die Mumie eines Vogels, der noch nicht erfah-ren hat, dass seine Art lang schon ausgestorben ist und leicht dabei wie dessen Flaumfedern -
Nebel.Nebelhörner.Wenn ihn die Geschichten nicht zufrieden stellen, er wieder etwas Totschlägerisches gegen mich verübt und dabei das Steuer verreißt, vollführt er noch eine Havarie, wir gehen auf Grund und niemals gelange ich dann mehr nach Köln. Sondern liege auf dem Grund des Rheins, festgeschnallt mit drei Gürteln ( schon wieder die magische Zahl ) deren Schnallen sich irgendwo weit hinter mir verstecken, meinen Fingern un-erreichbar. Also wünsche ich dem der da brüllen muss, glückhaften Er-zähl-fluss, spannende Verknüpfungen aber bleib bei Stimme ! gegen das Gedröhn der Maschinen.
Und wenn der erste heiser wird, bin ich es der weiter erzählt oder ist ein dritter ? An seinen, Melchiors Ohren hing die einzige Sternkarte, die nun, nach dem Ende der drei Melchiors, noch Gültigkeit beanspruchen konn-te. Sie hing da und schwankte im Rhythmus der Kamelschritte.Und ließ ihr Sirrsirr vernehmen, und jedes Aneinanderschlagen seiner Goldplättchen galt der Wandergesellschaft als Sternenmusik und ließ sie die Hälse recken hinauf zum Nachthimmel. Sirr-sirr zum Großen Bären. Sirr-sirr zum Schwan, der Leier und der Cassiopaia.Sirr-sirr. Das schönste Sternbild am Himmelsbogen aber war ihrs. Dasjenige dem sie folgten,und es gehörte nur ihnen allein. Sie heiligten es allein dafür dass es sie weggelockt hatte aus ihrem Festgepflocktsein an lehmigen Stätten in Persien, Assyrien, im Karakorum.
Jetzt fahren wir durch Nebel. Das Dröhnen der Nebelhörner und das Dröhnen der Maschinen, dagegen ist mit Stimmbändern nicht mehr anzukommen. Aber der Herr des Steuers und des Schiffes verlangt weiter zu hören, sonst versenkt er mich in den Tiefen des Rheins.
Das Sternbild führte sie nicht nur zum Geheimnis und zum Wunder, es war selbst das Geheimnis und das Wunder. Drei große Glühsterne in der Mitte, und dann schwingts aus in eine Spirale.Als ob das Gesicht einer unbekannten Gottheit aus neun Augen auf einen Kosmos herablächelt, den sie erst noch erschaffen wird. Aber in den neun Sternenaugen spiegeln sich die Wunder bereits wider, die es noch gar nicht gibt.
Er überläßt das Steuerrad sich selbst.Er klatscht in die Hände, und es gilt mir. Die dicken Fäustlinge dämpfen seine Ovation, macht sie unhörbar gegen Maschinenlärm und Nebelhörnertute, sie gilt trotzdem mir.
“Het was niet zo bedoeld“
Er schließt mich in die Arme, ich bekomme einen Kuss auf beiden Backen.
„Du grote Meester von Dichtkunst“.
Er pfeift gellend, als pfiffe er auf zwei Fingern, aber die sind ja verhüllt von seinen Fäustlingen, die so kyklopisch sind wie er selbst.Er pfeift trotzdem wie auf zwei Fingern und holt damit zwei Gestalten aus der Finsternis hervor ( er ist also doch nicht allein auf diesem ölstinkenden Gefährt ) , einen mageren Jungen von um die siebzehn Jahren und eine Malayin die kaum älter sein mag.
“Vertell voorts! Vertell me annere sprookjes“.
Er preist mich ihnen an, während er weiter das Ruder führt ( wenn er mich doch lieber losbände stattdessen ) in seinem in Konsonanten raspeln-den Kyklopendialekt. Offenbar preist er mich an, denn die beiden bestaunen mich mit offenen Mündern. Er is better als televisie verstehe ich und den Befehl :
„Und nu vertell !“
Und ich vertelle, von der Anwesenheit einer Frau beflügelt. Der Junge frisst derweil finster einen Apfel und versucht ihn auch einer Ratte schmackhaft zu machen, die auf ihm herum turnt und von dem Happen nichts wissen will, wofür er sie mit wütigen Johlen rügt. Ich kremple den mit der Ratte in meiner Erzählung um zu einem Fürsten der Früchte, einem Traum-prinzen der tausend Äste, an denen Äpfel hängen die jedermann zum Hineinbeißen verlocken. Wer sich verlocken läßt, gerät alsbald in einen Fressrausch, hat sich mit drei Bissen schon durchgebissen ins Kernhaus.
Die Malayin findet offenbar Gefallen an dem was ich erzähle, sie rückt ihr Gesicht so nahe an das meine, dass ihr Atem meine Backe wärmt. Er riecht nach Bockwurst. Ich lasse sie dafür mitspielen, gebe ihr die Rolle des Apfelkerns, der so duftend mahagonybraun ist, dass jeder, der sich in den Apfel hineingefressen hat, ihn pflücken will und sie aus dem Kernhaus mit nach draußen nehmen. Wo sie sich in die mahagonybraune Schöne verwandelt, die alle schon beim Hereinfressen in ihr erahnt haben. Aber siehe, das Kernhaus nimmt und nimmt kein Ende, eine tückische Wendel-treppe ist sie im Fruchtfleisch, wendelt sich auf, wendelt sich ab, die Befreier der Schönen robbenkriechen voran in neue Kernhäuser, in neues Gewendel, durchtränkt von Apfelsaft…ich gerate in einen Erzählrausch wie ich die Apfelfresser in einen Fressrausch erzählt habe. Ich fabuliere fort und weiter und finde mich nicht mehr zurecht in dem was da aus mir quillt.
Dabei hatte ich mir doch den Auftrag erteilt, den Lebensauftrag die Geschichte des dritten Königs und die meine in der seinen zu erzählen. Ich darf nicht zulassen, dass Melek-Or, zu dessen Biografen ich berufen bin
( von ihm selbst ) im Kernhaus verhuddelt, vorzeitig zerflossen zu Apfelsaft.
Die Malayin und der Herr der Ratte sind das Buch, das ich zwar nicht zu Hand habe, das ich aber fülle indem sie mir lauschen. Sie sind meine Manuskriptseiten, die Aufbewahrer meiner Geschichte, die Festplatte, auf die sie notiert ist. Ich werde sie mir von ihnen wiedererzählen lassen und so für mich bewahren. Und mit einigem Glück, kommt es zu einer Parallel-Ausgabe ohne übersetzt werden zu müssen, ohne Druckerpresse und Lektoren, die darin herumstutzen und die Malayin trägt sie weiter zu den ihrigen in Insulinde, erzählt sie ihnen in Regennächten, alle Dorfbewohner um sie versammelt, und die Tiere im Busch fügen das ihrige darin ein.
Hörte ichs doch, wenn sie wiedergibt, wie er auf seinem Apfel kauend, sich näherte der der Karawanserei. Suchte nach dem Lagerplatz der Satteltiere, fahn-dete nach den Kamelen, während seine Zunge die Apfelschnitze in seinen Schlund räumte, und just als sein Gehör Fuhrmannsstimmen und Fuhrmannsgelächter auffing, zerbiss er gerade das Kerngehäuse und der schwarzbraune Kern sprang heraus, in dem die Schöne verzaubert lag. „Seht was ich euch bringe !“ rief er und betrat die Karawanserei mit dem Apfelkern zwischen den Fingern wie einen Edelstein –
Sie lacht, sie belachts gluckernd im Wechselton von ihrer Kehle herauf in den Kopf, sie hört sich an wie ein pfefferhackender Vogel aus ihrer Dschungelheimat.
Aber sie hat keines meiner Wort verstanden. Keinen Faden, kein Fädchen von dem Erzählteppich, den ich für sie gewoben habe. An sie verschwendet habe. Aber mir bleibt der Herr der Ratte. Hör also du mir zu ! Der Schweiß rann Jesus über die Malereien auf seinem Fernfahrerleib. Über dem Herz, das punktgenau auf den Fleck tätowiert war, wo sein eigenes Herz sitzen musste,erblühte eine Rose, aufgestülpt wie ein Mund, und darüber eine Dornenkrone. Der König des Lichts kniete vor ihm und legte zwei Finger in diese klaffende Mundwunde. Für diesen hier, diesen Jesus hat er vor zweitausend Jahren seine Wanderreise angetreten, nun ist er ans Ziel gelangt in der Raststätte an der Autobahn -
Er hat mit seiner Ratte Schmatzküsse ausgetauscht, während ich zu ihm sprach. Und nicht zugehört. Ich erkenne, dass er gar kein Gehör hat. Und wenn er jemand von den Lippen liest, dann seiner Ratte, die darauf mit quietschigen Lauten antwortet. Nun aber, als ich mich beleidigt in Stummheit verschließe, versetzt er mir ( weil meine Lippen sich nicht mehr bewegen wie der Schiffsführer es befohlen hat ) einen Faustschlag. Auf seiner anderen Faust klammert sich seine Ratte fest und beobachtet, wie Blut aus meiner Nase Blut fließt, nieder auf die Lebkuchenbüchse.
Wieder lacht der Schiffsführer und brüllt zugleich. Ich nehme an Befehle. Die Malayin beeilt sich Bockwürste herbei zu schleppen ( nach denen sie selbst aus dem Schlund riecht ), gleich zwei Handvoll. Der mit der Ratte will sie mir alle zugleich in den Mund stopfen und als ihm das nicht glücken will, reißt er mir mit Daumen und Zeigefinger die Lippen auseinander. Gleich wird er wieder zuschlagen, seine Ratte lauert bereits darauf. Seine Faust ist schon erhoben, sinkt aber nieder als der Schiffs-führer wieder lacht. Und als der Schiffsführer auch wieder brüllt ( Befehle ), werden die Bockwürste
( reichlich eine Tagesration für alle und alle kalt ) abgelegt auf der Blechbüchse, die ich wie einen Teller vor meine Brust halten muss. Das Blut aus meiner Nase fügt sein Rot zu ihrem Braun, von der Ratte zärtlich be-gutachtet. Bierdosen werden nun herbeigeholt von der Malayin wie vom Taubstummen, aufgerissen und jeder sprüht mir seinen Strahl in den Mund, den diesmal die Malayin mir aufzwingt. Der Schiffsführer pratscht zu dem Schauspiel, das ihm geboten wird, in die Pranken. Unhörbar, mit seinen kyklopischen Fäustlingen. Die Ratte flüchtet vor der Bierdusche, läßt ab von dem Blutrinnsal aus meiner Nase, rettet sich auf die Würste, reißt sie ( weil darin verfangen ) herunter, reißt mir damit auch die Blechbüchse aus den Händen, und ich ( von drei Gürteln zurückgehalten ) kann mich nicht strecken nach ihr. Sie klickerklackt auf den eisernen Riffelboden, springt auf, gibt ihren Inhalt preis.
Die Ratte begreift als erste und springt den König des Lichts an. Die Malayin als zweite, sie nimmt den Geruch wahr, den Zimt, die Büffel, das Unbestimmbare. Glucksend wie vorhin über mein Erzählen, greift sie sich den Zusammengefalteten, küßt ihn, herzt ihn, schiebt ihr braunes Gesicht in sein braunes Gefältel. Die Ratte hat sich darin bereits verbissen und bleibt zappelnd am König des Lichts hängen, als die Malayin ihn hochwirft wie eine Stoffpuppe, mit der sie nun eine lange Weile zu spielen gedenkt.
Der Schiffsführer und der Taubstumme mit ihrer Wahrnehmung langsam-strömiger Flussschiffer dagegen haben noch nichts gemerkt. Ich ziehe ihre Aufmerksamkeit auf mich, indem ich die leergeschäumten Bierdosen vor meinen Hosenstall halte und wimmere, wie ich es mit drei Monaten spitz-töniger nicht gekonnt haben kann.
Das nun wieder versteht der Schiffsführer ( wie er soll ) als das Fahrensmannsignal Moses zum Austreten an die Reling und brüllt. Die Malayin, noch immer nach den Bockwürsten riechend, die nun kalt auf dem Schiffsboden verstreut sind, hält mir einen leeren Ölkanister vor den Hosen-stall und knüpft ihn auf, vogelhaft zwitschernd. Ich pantomime ihr ( mit drastisch knatternden Tönen ) dass ich mich nicht nur vorn raus, sondern auch hinterwärts erleichtern muss.
Eine Lüge, denn seit Tagen ist mein Darm unterbeschäftigt. Aber ich sehe, wie die Ratte am König des Lichts mahlzeitet und wippe umso alarmiger auf und ab mit zusammengedrückten Beinen, die Stimme nun auf Pfeifton gestellt. Unter dem kyklopischen Gelächter des Schiffsführers, der gar keinen Befehl mehr brüllen muss, weil die Malayin meine Fessel-Gürtel aufschnallt. Um mir den dritten als Halsband um die Gurgel zu legen, wobei sie mir den Kopf zu Boden zwingt. Was mir freilich auch Gelegenheit schafft, meinen König des Lichts in die Büchse zu fegen, per Handstreich und von niemand bemerkt, und diese mir in den Hosenbund zu schieben. Danach zieht sie mich wie ihren Hund hinter sich her übers vom Nebel verschluckte Deck.
„Ich muss in Köln aussteigen !“ schärfe ich ihr ein, von der ich weiß, dass sie mich nicht versteht. Aber es stimmt trotzdem.
„Weil Köln für mich Endstation, capito ?“
Sie schiebt mich mit einem belustigten Hieb auf meinen Hintern durch eine enge Tür, eine Klappe fast nur. Das Ende des Gürtels behält sie in der Hand und klemmt es in den Türspalt, vor dem sie Wache bezieht. Die sie sich versüßt, indem sie gluckernd mit sich selber spricht. Aber nein, sie spricht gar nicht mit sich, sie gluckert mit dem Duft, der an ihren Fingern haftet seit dem kurzen Moment, da sie den König damit festhielt als ihr Puppen-spielzeug.
Sie riecht wonnig an den Fingerkuppen, saugt an den Nägeln, küsst sich die Handballen, singt eine gurrende Melodie, wie der Vogel ihrer Heimat, der schon vorhin aus ihrem Kehlkopf gequirlt war.
In einem Fetzen des königlichen Kaftans, der aus der Lebkuchenbüchse zipfelt, hat sich die Ratte verbissen, unbelehrbar, sie besteht auf ihrem Recht auf Verzehr. In alten Zeiten bestanden auch Menschen darauf. Verzehrt wurde wer geehrt wurde. Das Abendmahl Lamm Gottes als nachgestelltes Ritual von Kannibalismus und Gottesfresserei ist davon übrig geblieben. Es entwickelt sich ein Kampf zwischen der Ratte und mir, während die Malayin draußen dazu singt.
Einen Kampf mit ungleichen Waffen, denn mir sind nicht solche Zähne in die Fresse gewachsen wie meiner hungrigen Gegnerin. Als Vorspeise zum König gedenkt sie mich zu zerfleischen, den Melchior noch vor dem Melchior. Ich halte ihr ( als meine letzte Abwehrwaffe ) den Gürtel entgegen, den die Malayin zwitschernd festhält. Und die Ratte beißt ihn entzwei ! Sie trennt ihn mitten durch, und ehe ich von dem Gürtel auf mich schließen kann, wo meine Haut doch weitaus nicht so hart gegerbt ist, bin ich schon durch ein winziges Bullauge hinausgekrabbelt, das freundlicherweise nur angelehnt ist, ( mein einziger Helfer hier an Bord ) und höre meine Bewacherin noch immer singen, lachen, als ich längst über die Kaimauer hinaus geklettert bin und durch den Nebel fort tappe.
Wohin ? Der Keksdose nach, die ich ausstrecke als wärs eine Nebelleuchte. Ich bin verlassen, aber nicht allein.Beim Gehen spüre ich die Ratte, die auf mir umherwandert. Rachsüchtig, denn sie würgt noch immer am harten Leder des Gürtels. Als nun die drei Könige jeder auf seiner Straße Jerusalem auf zwei Meilen nahe kamen siehe da bedeckte die ganze Erde dichter Nebel und finsterer Dunst, und in diesem Dunste verloren sie den Stern. Da kam als erster Melchior mit den Seinen nach Jerusalem auf den Kalvarienberg, wo der Herr später sollte gekreuzigt werden, und rastete er in Dunst und Nebel, und bei diesem Berg befand sich ein Dreiweg, und als Melchior eine Weile in Nebel und Dunst gerastet hatte, kam Balthasar, König von Godolien und Saba, mit seinem Gefolge auf seiner Straße getrabt. Als nun diese zwei Könige Halt machten, lichteten sich die Nebelschwaden. Eben da traf Kaspar, König von Tharsis und der Insel Egriseula mit seinem Gefolge ein : so kamen die drei Könige an diesem Dreiweg zusammen.

Nebel Nebel Nebel, und längst an Köln vorbei, abgeirrt ins Nieder-rheinische. Keine Umarmungen, keine Gratiswürstchen, keine Masken, kein Grog. Als es mir gelungen ist, mich ins hillige Köln zurück zu fragen, hat sich der Nebel längst ebenso verzogen wie der Karneval, dessen Spuren nur noch ablesbar bleiben an den buntgrellen Konfettitupfen, die in den Fugen des Straßenpflasters festgefroren sind , den Kehrmaschinen zum Trotz, wie Schminke im Gesicht einer Uralten.
„Erinnert an ´ne Wiese mit viel Blumen drauf, findste nich ?“
Wenn einen die Amtstracht eines Tippelbruders umhüllt, sind die Barrieren von ehedem dahin, fällt das Ach-Verzeihn-Sie-ich-darf-doch-wohl ebenso wie das Pardon-ist-da-noch-frei, geht das gemeinsame Auf-der-Straße-Liegen ein in eine dreiste Gemeinschaftlichkeit. Man ist gemeinsam unten, aber was für ein hochspätziges Wort vom Auf-der-Straße-Liegen bei diesen Minusgra-den.
Der andere ist ausgerüstet mit einer Thermomatte, die er mit mir teilt.
„Schau dir die Sommerblumen an. Schau dir…“
Und waren sie sich auch niemals zuvor begegnet, so fielen sie einander doch vertraut in die Arme und küssten sich zum Willkomm, und obgleich ihre Sprachen tief verschieden waren, erschien es doch einem jede als rede der ander just die eigene und da sie nannten sich gegenseitig den Grund ihrer Reise und wurden eines Herzens glücklich darüber.
„Schau sie dir doch bloß mal, jeder Punkt isn Blütenkelch, echt. Brauchste dir bloß noch vorstellen sie kriegen Stengel und wachsen raus aus dem Pflaster und blühen auf und schon biste auf. Kannste dir da einbilden, echt“.
Ob ich Fuerteventura kenne ? Dafür habe ich andere Regionen durchmessen ohne dort gewesen zu sein, den östlichen Iran, ich bin reise-erfahren, einige Wüsten, mehrfach die Umgebung von Bethlehem... Ferien-glück wie auf Fuerteventura ist mir dort nicht zuteil geworden, aber warm hatt ichs, die Erinnerung daran kann ich gebrauchen/ kommt mir hier zugut und nun stapfe ich schon seit langer Zeit durch den längsten Winter, stetig Eiswasser in den Schuhen.
„Ich bin Statuenmann gewesen in Fuerteventura. Erstklasse Verdienst. Bronziert hab ich am Strand gestanden, stundenlang.“
Es geht der Dämmerung zu, eine menschenleere Dämmerung, denn bei diesem Glatteis geht nur auf die Straße wer unbedingt muss, und der andere zieht etwas was ehedem eine Steppdecke gewesen sein könnte zu einem Viertel über mich und zu drei Vierteln über sich wie einen Krönungsmantel aus Stinke. Und weckt damit ein Wesen, das tief in der Stinkedecke verkrochen gewesen war und sich nun rächt mit einem gehässigen Nie iss der Statuenmann gewesen. Nie im Leben nich.
Ihn fichts nicht an.
“Bronziert über und über, echt. Als Zauberer Merlin. Nächste Saison Laub-frosch. Nächste Saison als Mann mit den Scherenhänden.“
Das Wesen, das er aufgescheucht hat, ist eine Frau und hat ein Babybündel um den Hals hängen. Nun sucht sie sich brummend eine neue Position unter unserer gemeinsamen Wärmdecke, lässt dabei aber nicht davon ab, mit Nadel und Faden dort herum zu nähen, wo das Gesicht ihres Säuglings sein muss. Wie um ihn einzunähen, damit ihm die Kälte nicht in die Nase fährt.
„Blumen, siehste. Das Konfetti bildet einen Blumenmuster, mir zuliebe. Will mich zurückholen. Werde da noch gebraucht. Da steht mein Stern drüber, der mich ruft.Und du malst sie mir jetzt !“
Ich, die Blumen ?
„Du bist doch Pflastermaler ?“
Er klopft mit den Fingerknöcheln freundschaftlich aufmunternd an meine Blechdose. Auch wenn es zur Antwort darin nicht rumpelt wie von einem Sortiment Kreiden, beschreibt er der Seinigen genießerisch, welche weichen Sonnenfarben ich mit diesen Kreiden gleich auf das Pflaster zaubern werde.
„Er malt das Konfetti um zu Blumen, macht der echt, wirste gleich sehen.“
Sie näht, unergriffen.
„Nie im Leben is der Statuenmann gewesen, gell Kleines ? Nie im Leben. Das wissen wir doch, wir zwei beiden , gell…“
Er lacht laut drüber auf. Nu fang schon an die Sonne malen, weil hier ist Karneval vorbei , Sense ist der Karneval, alles is over wann der Karneval over is, das ganze Leben is over und vorbei. Weil, er hats doch probiert und sich als Statuenmann hingestellt nach Aschermittwoch auf den Heumarkt
( mit Wattepacken um von wegen de Kälte versteht sich ) und ist verprügelt worden. Die mögen Farbe nicht sag ich dir echt die mögen Kostüme nich wenn ihr Karneval erst over ist. Erst toben sie ein paar Tage rum wie die alten Römer, dann is die Lebensfreude raus wieder fürn volles Jahr ein volles Jahr sin sie dann Büroleichen ein volles Jahr glaubste gar nich wenn du von Fuerteventura kommst und werden sie grau wie ihr Dom, spitzkantig und hasserfüllt. Die hetzen dich durch die Straßen, wennde nach Aschermit-twoch noch verkleidet bist. Die schlagen dich tot, alles Bunte schlagen sie dann tot. Er wird still, in bitterer Erinnerung.
Sie näht.
“Vergiss das nich, mein Kleines. So viel Leid. Vergiss das nich….“
Er umgreift sie, er umgreift mich mit verwunderlich starken Armen und drückt uns zu dritt unter das Dach der Stinkedecke.
Und waren sie sich auch niemals zuvor begegnert, so fielen sie einander doch vertraut in die Arme und küssten sich zum Will-komm, und obgleich ihre Sprachen tief verschieden waren, erschien es doch einem jede als rede der ander just die eigene und da sie nannten sich derart gegenseitig den Grund ihrer Reise und wurden eines Herzens glücklich darüber.
„Und ich sag dir, der is gar kein Pflastermaler.“
„Der is, der is. Gleich legt er los.“
Warum setzt er diese Hoffnung in mich ?
„Der ist im östlichen Iran getrampt, haste doch gehört, in Wüsten, mehrfach war der in Bethlehem…Wer die Wüste kennt, weiß wie man die ganze Welt in den Sand malt.“
Er streckt den rechten Zeigefinger aus und betrachtet ihn lachend, als könnte er Landkarten in den Sand malen, die Welt noch einmal als Atlas oder doch zumindest als Konfettiblumen.
Sie näht.
„Der hat da keine Kreiden drin in seiner Büchse.“
Ich drücke die Büchse fest an mich. Sie muss es gemerkt haben.
„Der hat da Gold drin. Goldmünzen, Schmuck, Sterne. Ich hab sie gehört gegen das Blech schlagen.“
Ich stehe auf. Mein Aufstehen reißt ihr das Säuglingsgehänge vom Hals.
„Schau doch mal rein in seine Dose.“
Gewühle. Ich kann mich nicht befreien, die Dose in der einen, das Säug-lingsgehänge plötzlich in der anderen. Daraus starrt mich eine Puppe an mit riesigem Kopf, haarlos, quallig wie ein halb gefülltes Kissen, mit zugenähtem Mund.
Ich will davon, aber es ist alles vernäht, aneinander genäht, meine Hose ist zusammengestichelt mit der Stinkedecke. Ich kämpfe mit Umschlingungen, die ich nicht verstehe wie in bösen Träumen, in denen einem die langen Unterhosen über die Ohren wuchern. Aus einer platzenden Naht springt die Ratte, mit einem Schrei der Kindsmutter empfangen, der die Ratte sogleich kampflustig stimmt. Diesmal nicht gegen mich. Ich reiße mich heraus aus dem neuerlichen Gefecht, Naht um Naht, was an mir noch Textile ist, geht dabei in Fetzen. Die Ratte, die den König nicht zwischen die Zähne gekriegt hat, hält sich an dem Statuenmann und seiner Kindsmutter schadlos, die mit ihrer Nadel drauf los sticht. Aus dem Kopf des Säuglings, von den sich Bekriegenden aufgefetzt, rieselt Sägemehl über den Platz.
„Da rennt er mit unserm Vermögen“ gellt es hinter mir her “unserm ganzen Ersparten in unserer Blechschachtel !“
Die hetzen einen durch die Straßen, wenn du verkleidet bist. Die schlagen dich tot, alles Bunte schlagen sie tot.

Mit denen in den Roben habe ich nicht gerechnet. Ein Dom ist dunkel, man friert, und bekreuzigt sich weil man sich freut ihn alsbald wieder verlassen zu dürfen. Aber mit denen die sich stellen als wären sie Sandsteinheilige, nur eben mit roten Roben, bodenlang, mit denen habe ich nicht gerechnet.
Und damit dass sie alle Fremden im Auge behalten, zumal solche wie mich. Abgerissen und zerknittert und mit einer Blechdose in den Händen. Warum übergebe ich ihnen nicht den Insassen des Blechs, von Amts wegen ? Weil sie mir nicht glauben, dass der König des Lichts in der Schachtel liegt, sie würden ihn fortwerfen.
Ich suche Schutz in einem Zug Japaner. Und hier haben wir nun rechts bitte das Grabmal des Erzbischofs Dietrich von Moers. Nein, ich offenbare mich niemand, und wenn’s der Erzbischof selber wäre. Dem schon gar nicht. Whe are now reaching the altar dedicated to the three magi wir erreichen nun den Altar der den heiligen drei Königen geweiht ist. Und wo sind sie selbst ? Der Hochaltar erhebt sich erst seit der Nachkriegszeit hier since after the second world war on this very top wo der Erbauer die letzte Ruhestätte der Heiligen drei Könige…wo sind sie denn nun selbst ? Die Dreikönigskapelle over there you see a Glasfenster von 1260 this is the oldest part of he cathedral, aber wo ist ihre Adresse, ihre Klause, ihr Klingelschild ? Vorbei am Eingang zur Krypta erreichen wir nun den Schrein oft he three kings…Da drin schlafen sie also. Zwei von ihnen. Und so hoch oben ! Ich werde eine Leiter brauchen.1907 wurde allerdings ein Teil der Gebeine nach Mailand zurück erstattet. Was heißt ein Teil -

"Benedictus qui venit in nomine Domini."
Die Äbtissin macht das Kreuzeszeichen erst über sich, dann über die Truhe, dann nochmal über sich, und alle tuns ihr nach.
"Hosianna !"
Sie stemmen den Deckel hoch. Bleiche rundliche Nonnengesichterchen spitzen neugierig ins Dunkle da drin. Rosige Pausbäckchen, aufgeschwemmt von all zu reichlichem Weißbrotverzehr, eingerahmt und eingeschnürt von steifem kratzigen Linnen.
„Und nun wollen wir, Schwestern, Kaspar zu zu Kaspar legen, Melchior zu Melchior, Balthasar zu Balthasar“.
Die Steißknochen zu den Steißknochen, mit denen die drei auf ihren Kamelen gesessen haben. Die Fussknochen, die zu Jesu Krippe geschritten sind. Die Armknochen zu den Armknochen,mit denen sie die Geschenke gereicht haben : Gold, Weihrauch und Myrrhe. Nun wird gehäufelt, sortiert, fröhlich untermalt vom elfenbeinernen Aneinanderklacken der hin- und hergeschobenen Knöchelchen.
"Aber nicht doch, ihr törichten Schwestern, die Rückenwirbel zum Becken häufeln, und die Schlüsselbeine zum Steiß !"
Aber wie sollen sie sich auskennen mit dem Körperbau von Männern, wo das Ordensgelübde sie streng fern von diesen hält. Ausgenommen den einen und einzigen, der da hängt an der Wand, ecce homo, aus Holz geschnitzt. Das einzige Mannsbild, und dazu darf mans nackend beschauen.
Die Nönnlein nehmen Maß am hölzernen Gekreuzigten : der Unterarm da ist sound so lang, also müssen da so und so viele langstielige Röhrenknochen hinein passen. Die Rippe, wohin mit der Rippe, dieses Knorpelchen da ist heilig, gewiss, aber sitzt es im Arm oder gehört es zum Brustkorb ? Ein Blick hinauf zum Heiland, aber der stiert hölzern, ach wär er doch abgefleischt dann wäre er eine Hilfe, ist das nun ein Kinnbacken oder ist das ein Knie,reich mir das Pfannenartige da herüber dann reiche ich dir die Hirnschale.
Es wird verschoben und geklackert wie mit Murmeln und sie gibbeln wie sie als Dreijährige gegibbelt haben.
„Hosianna !“
Drei vollständige Skelette sind auf dem Tisch ausgebreitet und strecken die Beine fläzig von sich, als ob sie es sich wohl sein ließen auf dem Nonnen-tisch, bestaunt von so vielen Frauen. Drei Männer in diesemDamenkonvikt, das kein Mann betreten darf.
„Wir wollen die heiligen Gebeine nun schmücken mit Silbergeschmeide, Smaragden und Perlen".
„Amen.“
Golddraht um die Finger, die gefaltet worden sind zur Anbetung des göttlichen Kindes. Silberblech um die Armbeuge, in der der Topf mit der Myrrhe lag. Perlen um das Nasenloch, in das auf der weiten Wüstenreise der Geruch von Kamelmist drang, der Aasgestank der verreckten Reittiere, endlich der Duft der Haut des Neugeborenen.
Jede Schwester wird den ihr zugeteilten Fingerknochen am edelsten verzieren, ihr Schlüsselbein, ihr Becken, kunstreicher als die Schwester neben ihr, und mit doppelt so vielen Glasperlen.
Denn im Himmel droben sitzen die heiligen Drei und sehen wohlgefällig den Nonnenfingern zu, die ihnen Schmuckkleider nadeln.

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Ich verstecke mich, als die rotsamtigen Kirchenschweizer die letzten Besucher aus dem Dom treiben, bis das Rauschen ihrer Mäntel verklingt, und sogar ihr Rot. Das späte Gelärme der Großstadt gischtet durch die farbigen Fensterschlitze zu den Gewölben hinauf, die höher oben scheinen als der Himmel selbst und glimmert wie ein Prasseln von zehntausend Scheiben un-endlich vervielfacht wieder herunter. Als ich mich bewege, verfahren die Gewölbe mit mir ebenso, mein erschrockenes Husten überrieselt das Kirchenschiff.
Jede Kreuzungsrippe vergrößert mein Schnaufen zur Bö und verbietet mir das Einschlafen denn mein Schnarchen könnte die Gewölbe zum Einsturz bringen.

Dieser Morgen beginnt wie jeder Morgen im Kloster mit dem Glöckchen , das die Nonnen zum Gebet ruft, aber dies ist ein sonderlicher Morgen, heute werden die drei Gäste in das Gebet eingeschlossen, die das Kloster zum Leuchten gebracht haben, die ersten Männer die jubilate ! jemals eine Nacht unter diesem Dache verbracht haben. Aber der mächtige Tisch auf dem die drei gestern so säuberlich sortiert lagen, aufgefädelt gleichsam, der Tisch ist leer. Kein Knöchelchen von einem Weisen, gar einem König.
Bis ein Nönnlein herein huscht, ungesehen von den andern, und einen Knochen auf die Tischplatte legt. Eine andere huscht herein, legt einen anderen Knochen auf die Platte, just dorthin, wo er gestern gelegen. Er bleibt nicht lang allein, zu ihm werden andere gelegt, geschoben, geworfen, immer auf des Fingers Breite in die gestrige Position. Heruntergezogene Kapuzen, Geeile, kein Gesicht ist zu sehen. Erst als eine mit einer anderen zusammenstößt, eben der heruntergezogenen Kapuze wegen, und zischt “Maledico te strega“ gewahrt die mit dem Oberlippenbart, dass sie die Ehrwürdige Mutter Äbtissin gerempelt hat. Die eiligst den letzten Knochen returniert zu den Gebeinen, die nun wieder wohlgeordnet hingebreitet sind in weihevoller Vollständigkeit, sacra contemplitia.
Kein Hosianna diesmal. Keine schaut auf. Die Kapuzen bleiben tief. Und die Augen gesenkt auf die Körbchen mit Golddraht und Perlen, Silberlitze, Blättchen von geschlagenem Goldblech und Glasperlen und das allfällige Nadelwerk. Dennoch, es wird gekichert.Wer kichert denn da ?
„Ich, das Knöchlein, das grade gegriffen wurde. Und das jetzt umwickelt wird “.
Und wer bist du,Knöchlein ?
„Der zweite Schienbeinknochen des dritten Räubers.“
Dessen, der seinerzeit gekreuzigt worden ist, weil er den König des Lichts erschlagen hat.
„Der obere Teil von dem seinem Schienbeinknochen allerdings nur. Der untere Teil gehört schon zum dritten Räuberbruder, die Kniescheibe wieder zum ersten und was dann folgt aufwärts im Knochengeripp, so wie die Nonnen es hinsortiert haben, das sind Überreste von sechs, nein von vierzehn, nein : von achtundzwanzig verschiedenen Delinquenten, die vor und nach uns hingerichtet worden sind wegen Viehdiebstahl, Falsch-münzerei, Gotteslästerung oder Sodomie. Sodomie ! Ich bitte, mit solchen Knochen mag man doch nicht zusammengeschmissen werden.“
Und es wird wieder gekichert.Woher die Belustigung diesmal ?
„Davon dass ich Mordbuben-Strunk es mir wohl sein lasse in polster-weichen Nonnenfingern und genieße, wie sie an mir werkeln.Sie fassen mich an wie Spinatblätter oder Schinkenscheibchen, sie kullern mich mit den Fingerspitzen hin und her und ich werd trotzdem nicht in Mehl und Eigelb getunkt und dann hopp mit mir in die Pfanne – nein, sie betten mich auf Samtkissen, die eigens für mich gemacht sind und sie windeln mich, wie Mutter Maria ihr Jesuskind gewindelt hat. Der Unterschied ist, bei mir ist die Windel aus Goldstoff. Da liegt eins Jahrhunderte verscharrt im Wüstensand, spürt wie dir alle inneren Fasern nach und nach zu Stein werden und auf einmal packt dich ein Weibsbild, verschleppt dich in ihre Zelle und rammt dich bei sich rein in Körperpforten die du längst schon vergessen hast per omnia saecula saeculorum. Nach Ewigkeiten Sand und Hyänenheulen auf einmal wieder feuchte Hitze, Schleim, Weiberstöhnen du mein du du du du duuuuu, die ganze Nacht lang ohne Gnade. Wahrlich ich sage dir, das geht einem so alten Knochen an die Röhre.Und grade die Röhrenknochen, hör ich, sind am hitzigsten begehrt gewesen letzte Nacht.“
Er kichert wieder.
„Und nun werd ich Lustkolben von eben derselben Hand rundum verziert, mit Nadelstichen die noch immer zittrig sind von der Arbeit in der Nacht. Ich bin ein Juwelenspitzbube jetzt ! Und mit jedem Goldplättchen an mir werd ich rutschfester. Die Goldpracht bewahrt mich vor den unersättlichen Nonnentiefen – wär doch schade um die herrlichen Perlen.“

Glückauf , Amateur ! Schon zum zweiten Mal dilettiere ich nun als Einbrecher, Hausfriedensbrecher, als …ach, ich male mir mir nicht mehr aus, gegen welche Straftatparagrafen ich völlig ungeübt und ungelenk verstoße, und beginne mit dem, was ich muss : am Gitter mich hochhangeln, das den edlen Schrein der drei heiligen Könige umgibt wie ein Karree von Lanzen-rittern.
Die Lebkuchenschachtel wird unterm Gürtel verwahrt, damit die Hände frei sind. Während ich im Dunkel ertaste, welches mein Weg aufwärts ist, hüpft sie mir arglistig heraus, als wollte der der in ihr liegt, noch kurz vor der Einlieferung ausbüxen. Das Blech veranstaltet stürzend ein Geschepper wie das Angstgeschrei von Miriaden Gänseküken, und ist doch nur mein eigenes Angstgeküke, das mir nun von überallher hohnkichernd zurückgeworfen wird Aus den Seitenschiffen, aus dem Langhaus, aus den Chorkapellen. Und das ist erst der Anfang, denn nun, höhnisch vervielfacht von den Jochbögen und Gewölben, stürzt es sich auf mich von oben Dilettant ! Dilettant ! Dilettant !
Ich hänge, ein Ausgelachter, an den Gitterstäben und erwarte das Ausrü-cken der roten Mantelträger herbei. Die schlafen ja nicht, die verbringen die Dom-Nacht stehend in ihren Nischen, um ihre Roben nicht zu zerknittern. Gleich werden sie mich aus meiner Höhe herunterpflücken wie einen faulen Apfel. Es stehen ihnen ellenlange Arme zur Verfügung in der Dom-Nacht. Auf den Fliesenboden werden sie mich werfen, auf meinen Armen und Beinen werden sie knien. Ihr ehrwürdigen Herren, werde ich stammeln, ich bin alles andere als ein Kirchendieb , ich nehme nichts fort, ich füge etwas hinzu, was Ihrem Tempel, ich weiß nicht wie, aber jedenfalls abhanden gekommen hinter. Mögen die Herren sich selbst überzeugen, das corpus delicti liegt da hinten irgendwo, es enthält – Sie werdens bei dieser Beleuchtung kaum wahrnehmen können - keine Elisen-Lebkuchen, sie enthält den König des Lichts. Wenn die Herren sich also dafür erkenntlich zeigen möchten und ihn aus der Düsternis auflesen, in die er zu entspringen beliebte .Und endlich von meinen Gliedmaßen herunter zu steigen, zu jeweils zweit und dritt, denn die ersterben bereits.
Aber nichts schrillt, nichts heult auf, keine roten Signallichter durchzucken den Dom und keine roten Amtsarme reißen mich herunter. Kein Donner-grollen überirdischer Mächte unterstützt sie, an die ich zwar nicht glaube, die aber immerhin hier Hausrecht hätten. Ich selbst muss das Wiederfinden übernehmen und knielings auf den Fliesen umher rutschen, die Hände wie Fühler vor mir ausgesreckt, bis mir die Kälte bis ins Rückenmark hoch gekrochen ist. Bei den ersten Runde lache ich mich selber aus, in der zweiten Runde verwünsche ich den Dom, verwünsche ich mich, verwünsche die Blechschachtel, verwünsche den König des Lichts, und gerade als ich mir strikt befohlen habe, ihn dort zu lassen wo er nun einmal ist, stoßen meine Fingernägel an das gesuchte Blech. Sacht, ohne Geschepper, als würde er sich nun drein ergeben, dass ich ihn mir zwischen Adamsapfel und Hemd fest klemme und auch noch meinen Schal um den Hals zurre.
Der zweite Aufstieg gelingt mir schon besser. Ich habe mit Fleder-mausaugen zu sehen gelernt, und schon bin ich auf der Höhe des Schreins. Er ist der geräumigste, so bin ich in der Führung unterwiesen worden, den das Mittelalter hervorgebracht hat. Siebenundzwanzig Jahre hat Meister Nicolas von Verdun daran gewandt ihn aus dem Gold zu hämmern, viereinhalb Tonnen nach heutigem Maß. Dreihunderteinundsiebzig Edelsteine hat er darein verschraubt, vierundzwanzig Lehrbuben und achtzehn Gesellen verschlissen dabei und umlaufend all die Legenden verlässlich in Relief-bildern wiedergegeben, nach denen ich den König des Lichts vergebens befragt habe.Wenn ich über sie streiche ist es als ob ich auf Verwandte träfe, die ich nie gesehen, von denen ich von anderen Verwandten aber so bestimmt habe reden hören, dass ich an ihre Existenz zu glauben längst aufgehört habe.
Onkel Balthasar steht da, Vetter Kaspar mit schwarzem Emailgesicht, der Gottseibeiuns Herodes sitzt gesittet auf seinem Thron und schaut mich an mit treuherzigen Emailaugen, und alle überschwebt von Engeln der Warnung, der Errettung und der Wegweisung. Alle sind sie vertrauenswürdig körperhaft, rundlich und kurzbeinig und wenn ich meine Hände an sie drücke, wird mir zum ersten Mal nach den Kälten dieses nicht enden wollenden Winters warm und die goldene Versammlung zum Kachelofen.
Ich ertappe mich dabei, dass ich meine Wange an die Wange eines Goldenen gelehnt habe, der der Melchior sein muss und gewahre, dass der leichte Druck, den mein Gesicht ausübte, dabei etwas an der Balance des Sarkophags verändert hat. Meine Finger erspüren eine Lücke, die vorher nicht da war, und als ich an etwas Balkenartigem ruckle, gewahre ich, dass es der Deckel ist, den ich verschoben habe.
Mit beiden Händen, aber mühelos. Aber auch mit nur einer Hand wird der Spalt geräumiger. Wird mir da gar bereitwillig geöffnet ? Wird da eine Falle für mich aufgetan ? Ergeht da eine Einladung, selbst hinein zu steigen ?
Ich ertappe mich dabei, dass ich mir selber die Legende zuflüstere die Reise hierher geschah nicht seinetwegen, Alter, sie geschah deinetwegen. Du bists, der hier bestattet werden soll. Schnupper doch, es empfängt und erschreckt dich kein Modergeruch, man hat alles Erduftliche getan, auf dass es dir hier wohl ergehe. Du wirst ein bisschen ersticken, aber das zwischen gold-geschmiedeten Wänden.
Ich bin nicht allein .Über mir wird gewispert, über mir wird geklirrt , feine Stäbe schlagen an noch feinere Stäbchen, und es sind keine roten Kirchenschweizer, die da auf mich herunter starren, es sind graue Gesichter, nein es sind weißliche Fratzen, maskengleiche Fratzen. Zuerst kann ich sie gar nicht von den Steinen unterscheiden vor denen sie wuseln, spüre nur an ihrem anschwellenden Geflipser, dass sie zahlreich sein müssen.
Anfangs nehme ich nur wahr dass sie auf den Kapitellen hocken, rittlings, dann mache ich sie mit nun immer nachterprobteren Augen auch in den Obergaden aus, auf den Gesimsen, den Gurtbogen und Fialen. Überall von den gotischen Gewerken, deren Bezeichnungen ich nicht einmal zu sagen weiß, baumeln fleischlose Beine. Und die vielen steingrauen, steinweißlichen Wusler lassen sich nun herab in spinnwebartigen Leitergebilden, bedienen sich umgekehrter Räuberleitern wie chinesische Artisten und landen auf meinen Schultern, meinem Kopf, meinen Armen. Rascheln mir alle zugleich in die Ohren Ich bin die linke Hand der heiligen Märtyrerin Hirundomirifica, ich bin das komplette Beinwerk des seligen Josiander von Syrakus, an meinen Schienbeinen erkennst du noch die Brandmale, ich bin der Brustkorb der Athanasia, wir sind die neun Schlüsselbeine des Anachoreten Casildus. Und von der anderen Schulter raschelts Wir sind die von den Phosphor-bomben Verbrannten aus dem Kloster Unserer Lieben Frau, ich bin der Mittelhandknochen des Küfners Wetzel, der verbrannt worden ist auf dem Heumarkt wegen Ketzerei, wir sind die Kin- der des Aron Grünbaum, uns haben die Gojim verbrannt in unserer eigenen Synagoge.
„Was wollt ihr von mir ?“
„Verschaff uns Eintritt in die Lagerstatt die auch uns zusteht.“
„Und warum habt ihr den Sarkophag nicht längst selber aufgemacht“ ?
Ein pikiertes Rascheln geht unter den Gewölben hin.
„Weil die Muskelkräfte längst von uns abgefault sind, Menschlein. Muskelkräfte wie deine ! Nun rück schon den Deckel, wir wollen uns betten.“
Ich versuche mich wieder an dem klaffenden Deckel und breche mir die Fingernägel dabei. Ich lange auf meine Schultern, greife mir einen stämmi-gen Röhrenknochen, schiebe ihn in die Lücke, versuche mit ihm den Deckel hoch zu hebeln. Mit einem morschen Seufzer geht der Knochen zu Bruch. Die eine Hälfte klackert dumpf ins Innere des Sarkophhags, das andere, längere Ende klirrt unten auf die Steinfliesen und löst wiederum endlose Echos aus.
Aber nun schüchtert kein Lärm mich mehr ein. Ich greife mir ein Schien-bein, ein drittes, ein fünftes. Nicht alle splittern, einige bleiben in der Lücke zwischen Deckel und Sarkophag hängen, vergrößern mir den Spielraum. Ich arbeite mit robusteren Beckenknochen nach und bringe es zustande, dass der Deckel ins Gleiten kommt. Das über Gold scharrende Gold läßt ein warmes butterweiches Schmauchen hören, und ein viel- und fistelstimmig schnarren-des Aaah meiner grauen Zuschauer zeigt mir an, dass ich trotz allen Kno-chenbrechens vorankomme.
Diese Bewunderung stimuliert mich gewaltig, ich setze mich breitärschig auf die breite Goldwand und schiebe den Deckel mit beiden Beinen zur Seite. Unter mir werden die vier goldenen Innenwände des Sarkophags sichtbar, glatt und sonnensatt.
Der Sarkophag ist ganz und gar leer.
Die auf meinen Schultern warten, sind ebenso erstaunt wie ich. Erst allmählich löst sich ihre Starre, sie heben von mir ab und segeln, kreiseln vergnügt, im Wippflug mit Überschlag, hinab in den metallnen Salon, der allein ihnen bestimmt scheint. Jeder der unten aufsetzt, klickert ein paar helle Noten aus dem goldenen Gewände, Trommelschlägel auf düstrem Gong. Und die Gewölbe haben mächtig zu tun, das Vielfach-Gezwitscher der aufschla-genden Knochen anschwellen zu lassen zu einem Percussionskonzert, von dem der Dom erdröhnt.
Ich öffne meine Lebkuchendose, drehe sie um und schüttle ihren Inhalt aus, ohne hinzusehen.
Den Deckel des Sarkophags lasse ich liegen wie er liegt. Sollen doch die Kirchenschweizer ihn wieder zurecht rücken und dabei abbüßen, dass sie mir schmerzhaft schwergewichtig auf den Gliedmaßen gekniet sind.

Brunnen der Zeit

Dies schreibend, sitze ich in Zatajewskis Garten unter alten Linden mit jungem Sommerlaub. Heupferdchen nutzen die Kanten meiner Manu-skriptblätter als Sprungbretter für waghalsige Salti mortale von meiner Armbeuge hinüber in ein Weißnichtwohin. Allerhand Käfer gehen schon ernsthafter auf mein Geschriebenes ein, irren geschäftig zwischen Buch-staben, Wörtern und Zeilen hin und her, als wollten sie mir ihre Ratlosigkeit ob meiner Syntax zeigen oder auch ( meine Hoffnung ) sich als besonders eifrige Interpreten erweisen. Eine Libelle, die in langen aber regelmäßigen Intervallen wiederkehrt, schwebt Abstand haltend und distanziert als Heliokopter über meinen Seiten wie jemand, der andernorts zu berichten hat, was ich niederschreibe. Indes, eine Schnirkelschnecke hat sich just dort niedergelassen, wo mein Bleistift voran will. Ich beuge mich dem kleinen Häuschenbesitzer, und besinne mich auf die Hängematte, die faul aber aufnahmebereit hinter mir baumelt und in die ich mich fallen lasse, wenn mir danach ist, den Passschritt eines Kamels durch meinen Körper wiegen zu lassen.
Zu meinen Füßen der Hund, durch dessen Fell ich mit gespreizten Fingern stremme, wenn mir danach ist, Kamelfell zu spüren, und meine Hände miefen dann nach Talg, Ungeziefer, Sandsturm, Aas, Karawansereien.
In dem verwilderten Garten umzingeln mich wie Wüstenräuber Heer-scharen überständiger Disteln mit hochgereckten Aufschlitzgeräten, melancholische Schwertlilienvölker, deren lüs-terne Blütenstände sich gleich nach dem Erblühen zu braunen Trauerzöpfen verzerren wie bei Beduinen-frauen, Gewitterwolken aus übermütig wucherndem Knöterich, maßloser Efeu, tolldreist gegen sein eigenes Geäst ankämpfender Hartriegel -
- allerlei Bäumen verlockend anzusehen und gut zu essen und den Baum des Lebens mitten im Garten -
- und zwischen den Schadkräutern wie den Heilkräutern, die sich gegenseitig das Wurzelwerk befressen, geschäftig die Erdnager, und die Kröten und Lurche in ihrer endloser Siesta, die aus unsichtbaren, von Moosen und Farnen überwucherten Tümpeln stimmkräftig von sich hören lassen.
Es ging aus von Eden ein Strom den Garten zu bewässern und teilte sich von da in vier Hauptarme.Der erste hieß Pischon, der fließt um das ganze Land Hewila.
Wenn ich in die Hocke gehe, begegne ich Käfern und Heuschrecken und den dünenartigen Ansiedlungen der Ameisen, die ihre Imperien über den ganzen Garten ausbreiten und sammle verendete Grünfinken von Holun-derstreben, in denen sie sich verfangen haben.
Der zweite Strom heißt Gihon, der fließt um das ganze Land Kusch.
Ein Garten das zum Drinverirren, ein Garten der in sich viele weitere Landschaften birgt, hinter Schmerwurz und Habichtskraut immer noch ein weiteres Tal eröffnet, unergründliche Brennessel-Dickichte, Schierlings-Schonungen, Erlen-Dschungel, Gestrüppe, Gestrüppe, Gestrüppe.
Ein Garten zum Sichdrinverirren -
Der dritte Strom heißt Tigris, der fließt östlich von Assyrien. Der vierte Strom ist der Euphrat -
- wie sie sich auf muslimischen Gebetsteppichen eingewebt finden, die zugleich Grundrisse eines Gartens darstellen, wie sie vor der Wüste gewesen sein müssen und wie sie wieder erwachsen werden, wenn die Wüsten der Welt überwachsen sind. Hier im Revier meines Gartens ist die Wüste bereits überwun-den und überwuchert. Wenn ich die Gebüsche aus Fingerkraut und Sumpfblutaugen mit den Händen zurückbiege ( Hummeln und Weberknechte lassen sich auf meinen Ohren nieder, um mit mir zu beobachten ) sehe ich die silbrigen Bänder des Pischon, des Hewila, des Gihon und des Euphrat unter ihnen hindurch-ziehen, grüne Schlieren von Entengrütze auf ihnen, und einge-rahmt von breiten Rändern hellen Sandes. Ich lasse die Farne zurückschwingen, wie einen Vorhang, wissend, dass die vier Flüsse weiter ihre Bahn ziehen durch meinen Garten. Mir wird schläfrig von der Arbeit, von meiner Erfinde-Arbeit, ich gestatte mir schläfrig zu werden. Ich gewähre mir die Hängematte zu besteigen, versetzte sie in leichte Schwingung, in den Passgang der Kamele -
Sie lagern im Sand wie ich. Ihre Köpfe hoch über mir.Wiederkäuend und verschmitzt lächeln sie auf mich herunter, wie Leute die viel über mich wissen. Mir leuchtet ein, dass man so mit Kumpanen blinzelt. Auf dem Kamel, das mich am vertraulichsten angrinst, werde ich hierher gelangt sein. Meine Hände, meine Beine riechen noch nach seinemTalg, Ungeziefer, Sandsturm, Aas, Karawansereien.
Ich rapple mich auf, schüttle den Sand aus meinem Ledergewand. Ich hatte viel zu schlafen, nachzuschlafen, einen langen Winter war ich unterwegs. Oder war mein Leben ein einziger Winter ? Die Lasten, die die Lasttiere zu tragen hatten, sind von ihren Kuppeln schon entfernt. Nur die Traggestelle noch auf ihren Rücken, ragen leer in den Himmel.
Da drüben ein Flussufer.Ein Schiff liegt dort mit einem großen, dreiecksschiefen Segel. Ich lege meine Hand über die Augen und entdecke zwei Männer die das Schiff noch nicht bestiegen haben, als erwarteten sie einen Passagier. Es kommt mir in den Sinn, dass ich dieser letzte Passagier sein muss. Durch den Sand renne ich auf die Anlegestelle zu, immer ha-stiger, als könnte das Schiff, dessen Woher und Wohin ich nicht kenne, ohne mich abfahren. Im Laufen erst bemerke ich, dass an meinem linken Ohr etwas hüpft im Takt des Laufens. Und dabei klingelt, dünne Metallplättchen schlagen gegeneinander, anfeuernd mach zu, mach zu !
Die beiden Männer wenden sich nicht um, sehen mich nicht heran kommen, trotten mit gleichmütigem Wiegeschritt an Bord mach zu ! Die Schiffsleute, mit nackten schwarzen Armen, stoßen ihre langen Ruderstangen gegen das Ufer, so dass ich durchs Wasser waten muss, um noch an Bord zu gelangen. Über die Reling strecken mir die beiden Männer, die als letzte zugestiegen sind, ihre Hände entgegen und ziehen mich auf das anfahrende Schiff.
Als ich meine Füße auf die Schiffsplanken setze und die nassen Abbilder meiner Sohlen darauf sehe, ihre Gesichter aber noch immer nicht, bin ich ge-wiss, dass ich es bin, den sie erwartet haben und kein anderer. Als sie ihre Arme um meine Schultern legen, spüre ich das Leder ihrer Gewänder auf meiner Haur. Leder, das einmal Büffel im Karakorum umspannt haben könnte oder im Hohen Atlas und darauf Golddrahtstickerei, edelst gestichelt.
Das Schiff rollt leicht, als sie mich zur Kajüte führen, wir schwanken alle drei. Es segelt gegen den Strom, die ersten Bugwellen schlagen gegen das Zederholz, spritzen über die Reling herauf, netzen mir das Gesicht. In den Ohren der beiden klingeln Sterne aus Goldblech. Wenn sie den Vorhang beiseite ziehen und mich ins Innere treten lassen, empfängt mich ein aufstäubendes Lachen.
„Da ist er“ lachen sie, als ob sie einen lang Erwarteten oder Gesuchten ablieferten.Und schieben mich nieder auf eine Bank aus Balsaholz, die meinem von Kamelrücken geschundenen Hintern wohl tut. Wieder das aufstäubende Lachen.
„Natalie - ?“ frage ich zu dem aufstäubenden Lachen hin und in das Dunkel hinein, an das sich meine Augen nur langsam gewöhnen.
„Du weißt doch, dass Natalie nicht mehr am Leben ist“ sagt einer, dessen Gesicht ich nicht erkennen kann, in das aufstäubende Lachen hinein. Da-zwischen das Quieksen eines Kindes. Es kommt aus ein und derselben Kehle, und das Kind sitzt auf den Knien eines Dritten, der es auf und nieder juckeln läßt.

"Hock hock reit !
Der Tod das ist kein Leid
Der Tod holt einen jeden ein
Der Tod ist nicht gescheit
Der Tod das ist ein rechter Depp
Reitet hin und durch hepp hepp".

Das Kind quiekst. Fliegen surren in der Kajüte, die nur ein leicht über ein Gestänge geworfenes Tuch ist. Das Wasser unterm Kiel muss seicht sein und das Boot sehr flach, denn immer wieder hebt es ab, immer wieder Luft zwischen Schiffsboden und dem Strom, bommernd fällt der Rumpf danach wieder auf das Wasser. Es hört sich an, als gebe jemand mit Fäusten Klopfzeichen herauf zu uns.
„Bist du voran gekommen mit deiner Erzählung ?“ fragt mich der eine der mit mir gekommen ist, und ich ertappe mich dabei, dass ich sicher bin, er ist Bithisarea der Babylonier.
Warum eigentlich bin ich sicher ? Die Fliegen nuckeln an meinen Augen, und ich höre wie auch die anderen nach ihnen klatschen. Ich gebe mich lieber dem Klatschen hin als zu antworten.
„Was deine Schreibarbeit macht !“ beharrt der Babylonier.
„Ich bemühe mich“ behaupte ich dreist. Um sogleich zurecht zu rücken :
“Auf er anderen Seite, es ist mir so viel widerfahren, was die Niederschrift erschwert hat.“
Bithisarea bläst enttäuscht Luft aus seinen Backen, der andere auch. Nur dem Dritten scheint es nebbich zu sein, er ist bei seinem Kind.
"Ich Ech Och
Lehrer Hauswart Koch
Schwimmen in der Suppenschüssel
Haben Nudeln in dem Rüssel
In den Ohren Kuchen
Und du musst suchen!"
Das Kind quiekst. Was hat der für lange Beine, denke ich, der Kurz- und O-beinige. Und wie lässig kann er damit wippen. Er streckt sie flach aus, lässt das Kind bis hinter zum Spann gleiten, dann wirft er sie hoch und empfängt das ihm entgegen rutschende Kind mit offenen Armen. Scharfe Sonne ab und an durchs Tuch, harte Kontraste .
„Zugegeben, es ist nicht leicht“ räumt Bithisarea ein. „Aber du musst anerkennen, Monotheismus ist ideal zum Erzählen, zum auktorialen Erzäh-len. Naturreligionen kuddelmuddeln nur herum mit Wildwucherungen mal beliebig hierhin und mal beliebig dorthin, Rasselstäben, Wortwieder-holungen, Mantra, das ist doch alles außerliterarisch. Montheismus ist die Kultur der Sprache per se. Monotheismus hat Sprache überhaupt erst zu-stande gebracht, befreit vom Mantra-Gemurmel und Gebete-raunen om mani padme hum. Und in der Eingangsregel bereits steht die Autorschaft festgeschrieben Am Anfang war das Wort !“
Der mit dem Kind schüttet sich aus vor Lachen. Über das, was gesagt wurde oder um das Kind zu vergnügen ?
„Jahwe selbst sieht ein“ fährt Bithisarea fort “dass er einen Fehler gemacht hat mit seiner in nur sieben Tagen hingehunzten kuddelmuddligen Schöpfung. Zwar grandios erfunden, grandios improvisiert, aber wortlos, außerhalb der Syntax. Deshalb schreibt er a posteriori die Hausordnung dazu nieder, diesmal ist er pingelig, auf einschüchternd widerstandsfähige Tafeln, und wehe es wird ein Jota davon abgewichen. Seine Urenkel die Evange-listen bestimmen alles gleich von Sätzebildnerei her, die Sprache tritt an Gottes Stelle, Gott löst sich in der Sprache auf : Im Anfang war das Wort. Der Schreibende.Und Mohammed, wiederum daraus lernend, weist gleich von Anfang auf das Schreibwerkstatthafte : er selbst schreibt und ein Engel diktiert ihm…“
Der Dritte amüsiert sich über diese Rede, läßt sein Knie hochschnellen, damit auch das Kind darauf sich amüsiert. Heftigerer Fahrtwind nun durch das Tuch das uns umgibt.
Ich erkenne, dass es der amische Quilt ist. Splissig geworden, und wenn er je eine Weltkarte gewesen sein sollte oder etwas wie ein Reiseplan, dann sind die bereits bereisten Länder herausgeschnitten, herausgebrannt. Durch die Lücken fährt die Sonne herein und geistert über die Gesichter.
„Kannst du etwas vorlegen von deinem Geschriebenen?“ so streng der zweite, und als er anfängt zu reden, weiß ich er ist Gathaspera, der Perser.
„Ich…ich…habe mein Manuskript nicht dabei.“
Und als die zwei rügend seufzen : „Aber ich hab es präzise in meinem Kopf“
Der Dritte lacht : „Er hats im Kopf !“
Und tippt mir gegen diesen.Das Kind freut sich und will auch tippen. Und es darf. Aber Gathaspera bleibt beim Pensum.
„Darum zeigt sich im Koran der Eingott, der Manngott schon nicht mehr als Person“ fährt Gathaspera fort.
“ Mohammed hat die Thora und die Evangelisten gelesen und übersetzt sie, als pedantischer Kaufmann, in die Paragrafen eines bürgerlichen Gesetzbuches. Das Hohe Lied und die tönerne Schelle als Sprachkunstwerke kommen bei dieser Methode in Wegfall. Große Literatur wird nicht mehr als Literatur verstanden sondern als Bretterlager für die Theologie.“
„Theologie !“lacht der mit dem Kind. „Weißt du was das ist?“
Fragt er das Kind. Das lacht und ohrfeigt ihn.
„Setze bei deiner Niederschrift“ so nun wieder Gathaspar, “den Fall, dass Melek-Or gar nicht den Erlöser sucht. Sondern die verschwundenen Götter vorher.“
Er spricht nicht von mir, er spricht von mir wie von einer dritten Person : dem, den ich in eine Erzählung fassen soll.
„Die Naturgötter des alten Orients sucht er. Er erkennt die Unterlassungen des notabene monotheistischen Christentums. Er sieht ihm alle von der Fahne gehen, wechseln zu Buddha und zu lauter Obskuranten und er rechnet sich eine Mitschuld an, weil er ein Gelenkstück zum Christentum abgegeben hat, bevor es eine neue Religion geworden war. Würdige das, Schriftsteller !“
Jetzt ohrfeigt das Kind auch mich und ich darf mitlachen, pflicht-schuldig. Ich würde viel lieber von diesen beiden Verspielten vereinnahmt werden als von den beiden Strengen, die mir dozieren, weil sie selber kein Manuskript zuwege bringen.
Das Kniereiten geht weiter, das Kind verlangts. Und du Kindlein wirst ein Prophet des Höchsten heißen.Auf dass er erscheine denen die da sitzen in der Finsternis und im Schatten des Todes,und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.Und das Kindlein wuchs und war stark im Geist.
„Berücksichtige bitte“ Gathaspar bleibt beim Pensum“ die drei zogen damals fort weil sie nicht den gesuchten Gott, sondern einen Menschen, ein Menschenbaby vorgefunden haben.Die Zeit des Theismus war um : das Sternbild gehörte noch der alten Zeit an, hat noch im magischen Kosmos gehangen. Warum sonst ist es auf Niewiedersehen verschwunden. Aber : es wies den Weg zum Menschensohn, in den Gott sich eingesetzt hat als humanum und der über sich sagen sollte, Kernsatz : Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“
„Das ist schön“ schaltet sich der Dritte ein.“ Wer hat denn das verfasst ?“
„Johannes, ein Evangelist.“
„Seltsam, ich bin diesem Johannes nie begegnet.“
Das Kind verlangt Kniereiten.
" Ich Ech Och
Schwerer Lauswart Loch
Trimmen in dem Puppenrüssel
Haben Pudel in dem Büssel
In den Ohren Buchen
Und du musst suchen."
Das Kind deutet auf Gathaspar und kriecht unter die Bank. Gathaspar muss ihm hinterher kriechen und das Kreischende erhaschen. Dann ist die Reihe an Bithisarea.Dann an mir. Das Kind hat die Augen von Nathalie, wie auch das aufstäubende Lachen.
Der Distasha des Dritten klafft über der Brust. Ich sehe eine breite Schnittwunde am Herzen. Wenn er wohlig die Arme streckt und lachend dem Fangespiel zuschaut, sehe ich in seinen beiden Handflächen Durchstiche, rot und vernarbt.
„Wie gehst du nun deine Geschichte an, Melek-Or ?“
Und zwinkert, und setzt leise hinzu :“Du hast schon gemerkt,
die anderen beiden musst du auch schreiben.“
"Melchior !„
Der Unbekannte erschrak heftig, als er seinen eigenen Namen hörte. Ausgesprochen von einem, der ihm gänzlich fremd war.Und ich setzte, da ich sein Ausweichenwollen spürte, noch einmal leise und dringlich nach :
"Bruder Melchior !"
"Woher wollen Sie wissen, dass ich so heiße !"
Ich hielt ihn nicht am Ärmel fest und vertrat ihm nicht den Weg .
"Du bist der letzte, an den ich mich wenden kann, Bruder."
Er bemühte sich um eine Ausrede , die sein Entkommen abschirmen sollte.
"Streck die Finger deiner rechten Hand aus und zähl daran ab : wieviele sind dir je begegnet, die deinen Namen tragen ?"
"Bis heute keiner außer ich mir selbst".
"Siehst du,Bruder ! Uns vereint der Vorname. Darum bist du der Einzige, dem ich mich offenbaren kann. Melchior ! Wir dürfen einander nicht im Stich lassen. Wir Könige des Lichts."

Damit sank ich ihm in die Arme. Und war gewiss, dass er mich auffangen wird.




Vor dem Bau der Eisenbahnnetzes
war die Fluss-Schifffahrt jahrhundertelang
das einzige Transportmittel für Güter jeglicher Art -
Schlachtvieh, Möbel, Getreide, Baumaterial, Kriegsgerät, Menschen.
Die Erinnerung daran ist völlig ausgelöscht. Nur ein geschrumpftes
Party-Gepaddel mit Bier & Dixie-Band hat davon überlebt.
Eine Herausforderung für mich beharrlichen Geschichts-Ausgräber -

DIE LEIDEN DER WUNDERTÄTER
Eine Schauspieltruppe besteigt im Winter 1806 ein Floß
um auf Isar und Donau von München nach Wien zu gelangen.
Zwischen Weinfässern, Schafen, Raubgut, Wallfahrern,
Schweinen. Sie hat ein Römerstück im Repertoire, aber in der
neuen Königsresidenz München hats niemand sehen wollen
weil Napoleons Truppen es verhagelt haben.
Nun hofft sie auf einen Auftritt in Wien, vorm Kaiser.
Aber der hat gerade abgedankt, und ringsum ist nur noch Krieg
und Viehhandel und der Umbruch in eine neue Zeit,
und niemand braucht mehr Kunst oder gar Römerdramen.
Sie kommen nicht in Wien an, manche kommen überhaupt
nicht mehr irgendwo an.
Und wenn, dann verwandelt und in ganz anderen Rollen als
in denen von Viehhändlern, Priestern, Römern...

( weiterlesen >>> links unten )
>>>
Melchior Schedler
DIE LEIDEN DER WUNDERTÄTER
Roman

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation
hatte fast tausend Jahre bestanden als es
unter dem Ansturm der Truppen Napoleon Bonapartes zerbrach.
Sein letzter Kaiser verkündete das Ende des Imperiums
in einer Proklamation, in die er die Worte einflocht
WIR allzeit Mehrer des Reiches.

Seine Reichsfürsten im Westen
hatten sich dem Allbezwinger bereits unterworfen und
wurden dafür mit neuen Territorien von Napoleons Gnaden belohnt.
So auch der bairische Kurfürst, ehedem
als Graf von Birkenfeld Söldner
in der französischen Armee,
der sich im Winter 1806 selbst zum König machte.


Zum Grünen Baum

Durchbohrte Hunnen strudeln neben ihnen her, die Reisigen Etzels, rö-mische Legionäre mit eingedellten Helmen auf den moosigen Schädeln, Janitscharen aus irgend einem Feldzug der Türken den sie schon damals nicht verstanden, denn Janitscharen, der türkischen Sprache nicht mächtig, haben niemals irgend etwas verstanden ; paukend, blasend, die Schellen-bäume schlagend waren sie dem Heerhaufen voraus marschiert wie es die Order verlangte, in ihre riesigen Tubahörner blasen sollten sie und die mannshohen Schellenbäume rühren und die Kesselpauken schlagen auf dass die Feinde sich entsetzten und Reißaus nähmen schon vor der Schlacht, und die Janitscharen marschierten, die Janitscharen bliesen, die Janitscharen rührten die Schellenbäume, aber die Schlacht war weit von ihnen fortgerückt, der Heerhaufe der der Janitscharenkapelle hinterher marschierte war längst schon abgeschwenkt, die Befehle des osmanischen Generals verfehlte sie denn sie waren ja des Türkischen nicht mächtig, aber die Janitscharen marschierten weiter, trommelten, bliesen, schellen-baumten, marschierten stracks hinein in die Donau, ertranken nicht vor lauter Pflichtgefühl, marschierten nur langsamer nun voran, aber dass sie gegen die Strömung ankämpfen mussten nunmehr machte ihnen das Lärmen nicht leichter, die Strömung schob sie dahin wie Rollkiesel, die Schellenbäume hallten nicht mehr, Tang umschleierte die messingnen Klingeplatten, die Pauken dröhnten nicht mehr, denn Aale laichten in ihnen, die Tuben erschreckten nur noch die Weißfische, glagolitische und orthodoxe Märtyrer, an Holzkreuze gefesselt mischten sich zwischen sie sowie Ketzer, mit Steinkreuzen um die Hälse, die sich noch immer begeiferten, die Gesichter entstellt von Bigotterie, Grundschwämmen und Medusen ; die Fußknochen calvinistischer Prediger, die die Habsburger hatten ertränken lassen, verhakten sich im Strudel von Grein, aber die Strömung trieb ihre übrigen Leiber fort stromabwärts, überwachsen von Schwimmfarnen, und zerrte sie in die Länge bis hinunter zur Stadt Budapest –

„Gestehe, ha, Verworfener !“ schreit Kunterkasten.
Er weiß nichts von der Donau und was auf ihr oder in ihr schwimmt. Noch nicht. Kunterkasten schreit den an, der ihm am nächsten steht. Es trifft einen Holzstoß, aufgetürmt aus Erlenscheitern. Schwarzgrau, freudlos, saftlos, dafür gut dreimal mannshoch. Engbrüstig würde man ihn nennen, wenn er ein Mensch wäre. Ein Jammerkerlchen. Trotzdem tut ihm Kunterkasten noch einmal die Ehre des Angebrülltwerdens an:
„Gestehe, ha ! Verworfener !“
Als ob der Holzstoß etwas zu gestehen hätte. Aber Kunterkasten geht es um die Kraft seiner Stimme, wenn er schon dumm und abgehängt hier herum hocken muss. Und was hat er, Kunterkasten doch für eine Kraft in seiner Stimme. Die Kraft der Jugend. Aufbrausend, hell, in der Mittellage eines sehnigen Tenors, jungmännisch gestützt.
„Gestehe, ha ! Verworfener, mir und aller Welt …“
Diesmal versucht er sich an den nächsten beiden Holzstößen. Buche und Tanne. Aber die lassen es sich nicht anmerken dass sie angeschrien wor-den sind mit einer kraftvollen Tenorstimme. Kunterkastens kraftvoller junger Tenor kann nicht einmal die Krähen zum Auffliegen bewegen, die sich auf den verschneiten Holzstößen niedergelassen haben. Die Krähen missachten ihn, ebenso wie die Holzstapel unter ihnen. Alle Welt missachtet Kunterkasten.
„Gestehe, ha…“ Jetzt grummelt er den Satz nur noch in sich hinein, um ihn endlich zu verschlucken.
Kunterkasten, das war ihm schon in seiner Jugendheimat bewusst ge-wesen, Kunterkasten hört sich an nach schwerer Eiche und nicht nach fieseliger Erle oder Fichte, und das noch dazu mit Eisenschloss dran an den eichenen Bohlenbrettern. Kunterkasten hört sich nach schwerem Möbel an, das sich nur vom Platz regt, wenn ein paar kräftige Nachbarn mit zupacken.
Niederdeutsche Nachbarn, in einem niederdeutschen Kaff und satt protestantisch. Aber Kunterkasten war nun einmal dreideibeleins sein verdammter Familienname. Mit Christian Asmus Fürchtegott davor. Ge-nau so schweren eichenen Namensklötzen, ein wenig aufgehellt nur von einem luftigen Felix als Viertnamen von einem Onkel mütterlicherseits und Zweitpaten, der gleich nach dem Tauffest nie mehr von sich hatte hören lassen. Glücklicher Felix der ! Wachtelkönig der, der dem protes-tantischen Nest glücklich entronnen war.
Kummerkasten wurde Christian Asmus Fürchtegott Felix schon in der Sonntagsschule gehänselt, der Anmutung eines Felix ungeachtet. Zuvör-derst vom Schulmeister : „Kummerkasten, halts Maul und rezitier uns den Klopstock !“
Und Christian Asmus Fürchtegott Felix rezitierte den Klopstock, rezitierte den Messias, sagte den Werther her, und zu Weihnachten den Matthias Claudius, er hatte das edelste Stimmchen von allen Sonntags-schülern, er hatte die edelste Aussprache, darin doch ein wenig ein Felix, ohne peinsames S-s-t, der Erblast seiner Gegend. Und dennoch blieb er nach jeder Rezitation stets der Kummerkasten und voller Kummer, auch ohne den Makel des S-s-t. Fühlte sich in einen Kasten eingesperrt, die Truhe seiner pfarrhäuslichen Herkunft, in der seine Talente rumpelten, und keiner wollte sie herausfordern.
„Gestehe, ha ! Verworfener, mir und aller Welt das Unmaß deiner Untat ein !“ brüllt Kunterkasten.
Er bringt schöne Reibelaute zustande, befindet er, darum wünscht er sich es wären mehr R in diesem Satz und mehr Zuhörer an diesem öden Ort hier, an den das Wort des Prinzipales mich verbannt. So hält er sich
( indem er sie aufplustert ) für die Entwürdigung schadlos, dass er auf das prinzipale Gepäck aufpassen muss. Kummerkasten er, dummlackiger Schlappenschammes, gerade gut genug bei der Kofferherde herumzu-dumpfen.
„Kunterkasten“ hatte Propodonsky gedröhnt “es ist an ihm, unser Gut zu hüten. Zum einen, er ist der Jüngste. Zum andren, er kann sich damit allfälligen Respekt erwerben. Und Verdienste, hoho !“
Hat gelacht und ihm auf die Schulter gehauen dabei. Allfälligen Respekt hat der Prinzipal im Mund geführt, allfälligen Respekt für ihn, Kunterkummerkasten ! Und ließ dabei nicht entfernt so wohlklingende Rei-belaute hören wie er. Kunterkasten.
„Denn meine Equipe“, hatte Propodonsky gedröhnt, „begibt sich auf eine Mission de la plus haut importance.“
Zu einem Flüsterauftrag von allerhöchster Wichtigkeit und allervertrau-lichster Wertigkeit. Und da hockt Kunterkasten nun also, als Jüngster allein gelassen und abgemeiert, auf fremden Kisten mit fremdem Plunder und fremde Schneeflocken fallen auf ihn in einer fremden Stadt.

Es ist der zweite Januar 1806. Und die fremde Stadt heißt München.
Zur selben Stunde sitzt die Demoiselle Pfrenhuber Herrn Seitz gegen-über, einem hochmögenden Mann der Stadt. Sie sitzt nicht aus eigenem Antrieb hier, auch sie ist von Probodonsky vergattert.
„Er soll ein Aug haben für junges Blut weiblicher Species, dieser gewisse Seitz“ hat er ihr mitgegeben, und : “er hat Sitz im Magistrat. Sieh zu, was du bei dem herausschlägst.“
Und die Demoiselle sieht zu.
“Sie werden Beglückung erfahren“ sagt sie ihr angelerntes Sprüchlein auf. “Sie werden originale Römer erleben können. Aber auch Griechen ! Die Helden des klassischen Altertums. So ein tête a tête widerfährt einem nur selten. Wenn überhaupt. Mit den ganzen Fürstlichkeiten in ein und dem-selben Raum, die einem sonst nur im Geschichtsbuch gegen-übertreten. Sie werden den Atem von Marcus Julius Cäsar spüren, zum Greifen nah und da Sie ja Sitz haben im hohen Magistrat...“
Herr Seitz ist Uhrmacher von Profession, und Uhrenhändler aus Lei-denschaft.
„Seit das neue Jahrhundert angebrochen ist, Demoiselle, werden immer mehr Uhren gekauft.“
Und dabei umschlingt er sie mit Blicken. Ihr blanker Hals, fruchtflei-schig und günstig einsehbar fast bis zum Schlüsselbein ( er reckt sich : ja wahrlich bis zum Schlüsselbein und durchaus noch tiefer ), jetzt im Ja-nuar bereits frühlingsrosa getönt. Herr Seitz schluckt. Von seiner Gemah-lin ist er selbst im Sommer nur Hochgeschlossenes gewöhnt.
„Und erst recht seit Neujahr, faktisch seit heute also, da wollen die Leute auf einmal ihre Zeit aufs Gerade bringen und wissen was es ge-schlagen hat. Immerhin ist seine Majestät der Kaiser Napoleon in der Stadt und wir sind den zweiten Tag Königreich“.
Königreich, das wäre das Stichwort gewesen für die Demoiselle Pfrenhuber. Mit Königinnen kann sie mannigfaltig dienen, sie führt Du-tzende im Gepäck ihres zugegeben schmalen Geistes, aber Majestäten eben doch. Heinriche und Ludolfe, aber auch einen Orontes, Kron-prätendent, und sogar eine Königin von Pontus. Was die alle im Munde führen, kann Demoiselle Pfrenhuber auswendig. Aber als sie sich eben anschickt, einen königlichen Sermon zu Gehör zu bringen, schreit Ma-dame Seitz aus dem Laden herüber, dass sie die Kundschaft allein nicht mehr verkraftet und dass der Herr Hochwürden Hocheder auf dem Weg in den Seitzschen Laden ist, Pfarrherr zu Mariä Himmelfahrt, in Betreff, dass er den magren Stundenschlag seiner bisherigen Turmuhr nicht mehr zeitgemäß findet und ersetzen will durch eine Mechanik, zu der er den Rat von Meister Seitz erhofft.
„Zeitgemäß ! Da hören Sie’s“ freut sich Herr Seitz.“Es ist eine allum-fassende Uhrenbegeisterung ausgebrochen seitdem der Herr Bonaparte unsrer Stadt die Ehre gibt. Eine glückhafte Epoche, Demoiselle, eine glückhafte Epoche für die Zeitmessung.“
Und dabei saugt sein Blick sich fest an der Demoiselle Frühlingshals. Herr Seitz verkostet die Vorausschau auf den Mai bereits jetzt vor Hei-ligdreikönig. Und die Demoiselle spürt seinen Atem warm an diesem ihrem Hals, als habe der Uhrmacher das Federwerk seiner frisch geölten Erotik neu aufgezogen, und sie versucht ihn mit weiteren Beseligungen zu locken :
„Sie werden, wie gesagt, Beglückung erfahren …“
Wodurch, dafür ist der Uhrmacher Seitz im Augenblick ertaubt, denn er hat an der Demoiselle etwas entdeckt was er an den Damen in seinem Laden noch nie wahrnehmen durfte : aufgepudertes Wangenrot und dane-ben einen aufgeklebten Leberfleck, schwarzviolett. Demoiselle Pfren-huber registriert mit ihrem berufseigenen Sinn für Widerhalle, dass er da-bei ist, die Umdrehungen seines erotischen Federwerks zu beschleunigen und versucht es sogleich zu nutzen :
“Beglückung, ich verspreche da nicht zuviel, im Kreise schöner und leidenschaftlicher Römerinnen. Als ob die wiederauferstanden wären exklusiv nur für Sie, ich spreche speziell von der Göttin Juno und der schö-nen Helena und Aphrodite, die ist noch schöner. Weil, sonst wäre es nie zum trojanischen Krieg gekommen infolge von dem Urteil, Sie wissen schon, des schönen Prinzen Paris.“
Die Gattin Seitz stürmt herein und hats aufgeschnappt.
„Aus dem Haus, ausg‘schamtes Weibsbild, und zwar dalli ! Meinem Alois einen solchen Antrag machen am helllichten Tag ! O heilige Jungfrau steh uns bei…“
Und spritzt Weihwasser aus dem Behältnis am Türrahmen, über dem die heilige Jungfrau Wache hält, in Zinn gegossen, auf die Demoiselle. Ihr mitten ins Gesicht. Und zur Sicherheit auch in weiten Schwüngen über den entweihten Uhrmacherladen. Wenn die Demoiselle Pfrenhuber draußen auf der Straße steht, ist es nicht nur Weihwasser, das ihr über die Backen rinnt, es sind auch eigene Tränen.

Zur selben Stunde hat Sylvester Schuff, ein anderer von Propodonskys Abgesandten, schon viele Stunden im Hofgarten ausgeharrt. Frierend, umstanden von frierenden Bäumen, allesamt so grämlich als wären sie bereits zu Scheiten zersägt wie jene die Kunterkasten angebrüllt hat. Bis endlich der Herr aus der Residenz geeilt kam, auf den Schuff es abge-sehen hat. Und der wäre um ein Haar an ihm vorbei weiter geeilt, wenn nicht unversehens aus Schuffs grauem Pelerinenmantel ein blauer Vogel geflattert wäre, ein paar Runden um Schuff gedreht hätte, und sogar eine Melodie dabei gepfiffen. Um unversehens wieder in Schuffs linkem Ärmel zu verschwinden. Der eilige Herr ist baff stehen geblieben und war nun Schuffs Anliegen ausgesetzt.
Wie, Festivitäten aus Anlass der Krönung unseres Kurfürsten zum König ? Bewahre, nicht einmal eine Krönung, gibt der Herr Bescheid mit ausgedünnt verlegenem Lächeln und lauert dabei, ob der blaue Vogel nicht wieder hervorschießt aus einem von Schuffs Ärmeln.
Nicht einmal eine feierliche Proklamation habe es gegeben, dass das Kurfürstentum nach dreihundert Jahren zum Königtum avanciert ist. Nur eine unfeierliche Bekanntmachung, verunstaltet durch barsches Böller-geschieße. Und das auch noch mit viel zu wenig Kanonen. Langweilig das, sterbenslangweilig, klagen die Augen des Herrn. Von derlei wie Stil und Angemessenheit erst gar nicht zu reden. Würde der Kanzleiratsmund klagen, aber der ist amtlich versiegelt. Paraden, Feuerwerke, Redouten seien nun einmal nicht nach der Facon des Landesvaters. Dieses Spar-nickels, der sich gestern zum König aufgeworfen hat auf Kommando des Kaisers Napoleon in dreister Missachtung des anderen, rechtmäßigen Kaisers in Wien. Auf französische Kommandos, da allein hört er halt drauf, seitdem er Regimentscommandeur war in Strasbourg. Aber am Ende flattert dafür das Vögelchen noch einmal. Pfeift es auch, so blau wie grade eben ?
Der Blick des Amtsmenschen zickzackt über Schuff : vielleicht kommt es diesmal ja zur Abwechslung unter dem Mantelsaum heraus, zwischen den Beinen des Fremden hindurch ?
Es kommt nicht, fürs erste.
Der Amtsmensch überbrückt die Zeit, indem er lamentiert über diese Spingflut von neuen Gesetzen, Verordnungen, Vorschriften, in denen sei-nesgleichen ertrinkt. Ob mans ihm denn nicht ins Gesicht geschrieben sieht ? Geschrieben, à propos, geschrieben : nie hat es so viel zu schrei-ben gegeben seit Beamtengedenken. Die Festsäle leer, die Comptoirs überfüllt ! Lass das blaue Vögelchen noch einmal fliegen für mich, Unbe-kannter, flehen die Augen. Warum hälts du’s zurück, wo es allumher griesgramgrau ist.
Versteh schon, du willst nicht mehr flattern, blauer Wintervogel. Ist dir auch nicht zu verdenken. Aber da der Amtsmensch nun schon einmal bei Schuff stehen geblieben ist, und ihn irgendein Oberkanzlist aus den Fenstern der Residenz vielleicht dabei beobachtet hat ( neue Verord-nungen gebären neue Denunzianten ) und seinem Oberoberkanzlisten meldet dass der da unten teure Dienstzeit verplempert, indem er auf blaue Vögel wartet obwohl doch Napoleon in der Stadt ist, vollführt der Amtsmensch eine abwehrende Geste ( die sichtbar sein soll bis hinauf in den zweiten Stock ) als sei Schuff ein Bittsteller, den es abschlägig zu bescheiden gilt. Und Schuff ist ja in der Tat ein Bittsteller, auch wenns der beamtete Herr noch gar nicht gemerkt hat.
„Zu Ihrer Kenntnis, Monsieur Fremdling, wir werden regiert von ei-nem Premierminister, der einzig und allein aus zusammengefaltetem Ak-ten besteht. Bleich wie Schimmel und pinnig wie ein Mottenschwarm. An so einem prallen sämtliche schönen Künste ab und sogar der neue König dient ihm bloß als Korrekturbleistift für seine Paragraphen.“
Und der blaue Vogel ? Wo doch gerade ein Kanzlist dankbar wäre für Wunder. Der Herr eilt weiter. Schuff presst in seiner Tasche den Vogel zusammen, dass die Drähte knacken.
„Scheißkerl“.

Zur selben Stunde ist Lucille de Brée an der Frisur einer noblen Dame tätig. In einem noblen Boudoir.
„Das ist aber wahrhaft eine commode surprise dass sie mir geschickt worden ist“ gluckert die Dame.
„Sie ist gewiss die Überraschung für meinen Geburtstag nächstens. Von meinem Herrn Gemahl, oder hat er verfügt dass das geheim bleiben soll, mein Gustl ?“
Lucille de Brée, bürgerlich Madame Propodonsky, lächelt in sich hi-nein und damit auch die Dame an, die ihr aus dem breiten Toilettespiegel entgegen lächelt und schweigt sich aus.
„Es ist ja so eine elendigliche Misère mit den Dienstboten neuerdings. Meine Zofe, wie ein eigenes Kind gehalten vierzehn Jahr lang, hat Knall auf Fall gekündigt. Adieu auf Nimmerwiedersehen, und die Stiege hi-nunter. Weil sie eintreten tut, hat sie noch heraufgerufen, in ein privates Coiffeurgeschäft zwei Gassen weiter !“
O perverse Jetztzeit ! Auf den Kopf gestelltes Universum, in dem je-der Hergelaufene sich jetzt schon Eleganz kaufen kann, für drei schäbige Sechser, zwischen einer Fleischhauerei links und einem Bäckerladen rechts. Madame Krethi und Mademoiselle Plethi lassen sich die Coiffüre legen in einem parterren Ladengeschäft ! Statt sie sich individuell zu-richten zu lassen nach eingehendem Studium der ehrwürden personnage je für deren ehrwürden Kopf, und das immer im Blick auf das Vorbild der Damen bei Hof.
Freilich, die genannte Zofe habe weitaus nicht derart geschickte Hände gehabt bei der Erstellung einer standesgemäßen Frisur, und überhaupt diese Hände – puh ! Bauernhände ! Aus Schrobenhausen war sie gebür-tig, da war nichts andres zu erwarten. Aber wen nimmts Wunder, heut-zutage ist ja überall Schrobenhausen, wenn schon der König ein Rosskerl ist, abgemustert aus französischen Diensten und nicht einmal mehr aus Schrobenhausen sondern aus einem x-beliebigen Dorf da hinten in der vorderen Pfalz.
„Birkenfeld soll das heißen, Birkenfeld !“
Das klingt doch ewig und und drei Tage nach Torfstich, auch wenn er sich Max der Erste Joseph jetzt nennen lässt als wär er einer von der hiesigen alteingesessenen Hautevolée.
„Wünschen Madame die Schläfenlocken eingerollt à la francaise oder à l’italienne ?“ fragt Lucille de Brée.
„Wie sie sich auskennt, nein, wie sie sich auskennt ! Mach sie zu wie sie will, sie hat einen sonderlichen Esprit für das was mir steht.“
Und wenn die neue Zofe en passent Römerdramen erwähnt habe und solcherne Haupt- und Staatsaktionen vorhin – der Birkenfelder, der Dorf-dragoner, der weiß gewisslich nicht einmal wer auch nur der Cäsar Au-gustus war, nicht zu reden vom Kaiser Charlemagne. Der kennt nur den einen und einzigen Cäsar Napoleon, der ihm die Krone verschafft hat. Die er sich aber nicht einmal aufsetzen traut, damit wenigstens sein Na-poleon ihn ernst nimmt als gekrönten Oberhengst. Dabei gibt es eine Krone, leibhaftig meiner Seel, eigens geschmiedet von gleich zwei Pari-ser Juwelieren, zwei weil sein Schädel über die Maßen voluminös is halt ein Roßschädel. Über und über gesprenkelt mit Diamanten, Smaragden, Rubinen und Perlen, fuderweise wie Bachkieseln aus allen bairischen Flüssen. Und dazu einen Krönungsornat, sie hats mit eigenen Augen gesehn drüben in der Residenz.
Der aber jetzt deppert in der Garderobe hängt in all seiner Glorie. Wie ein Kostüm für eine antike Tragödie die nicht aufgeführt werden kann weil der Hauptdarsteller Brechdurchfall gekriegt hat und sich auf dem Abtritt eingesperrt hat. Und das werte Publikum ist geneppt in seinem niht gestillten Schönheitsdurst.
Blamabel das, bla-ma-bel !
„Da wundert man sich ja nur dass es noch nicht königliche Order ist dass man sich Rossäpfel in die Frisur schmiert. Das Königtum ist nagel-neu, und schon riechts allenhalben nach Pferdestall. Adieu, Madame Pompadour, adieu Contessa Almaviva, adieu Armida und Cleopatra, wie ich sie einmal gegeben habe in der Opera von diesem, wie heißt er doch gleich wieder, Ditters von Dittersdorf, vierzehn Vorhänge waren das min-deste nach jeder Arie, vierzehn Vorhänge ! “
Als ihr Gatte noch Hofintendant war unterm vorigen Kurfürsten selig.
„Aber jetzt ist das Theater geschlossen und der Gustl nach Bamberg umrangiert in diese neuen besetzten Gebiete droben im Fränkischen. Zu den gleichen Bezügen, das schon, aber zur Gartendirektion. Man höre, zur Gartendirektion !“
Sie wirft eine Frisierbürste auf sich selbst, auf ihr Spiegelbild, wie um ihren Gustl zu rächen. Und erblickt ihr Gesicht unter der frisch voll-endeten Coiffüre.
„Parbleu ! Sie hat ja eine Königin Rodelinda aus mir herausgezaubert ! Sie hat die Frisierkunst im kleinen Finger. Ich würde à nouveau vierzehn Vorhänge kriegen mit dieser Coiffure, ich brauchte nicht amal eine ein-zige Note singen“.
Und Madame weist der Haarkünstlerin als Entlohnung die Dach-kammer an. Oben neben dem Schornstein.
„Die ist gewärmt sogar im Winter, wenn der Kamin im Parterre eh be-heizt wird. Was dann freilich auch zu Ihrem Aufgabengebiet zählt, ich mein das Ofenschüren“.
Dass die Haarkünstlerin keine Zofe ist, sondern die Prinzipalin Pro-podonsky wird die Madame nie erfahren, denn die Prinzipalin hat sich still die Stiege hinunter davongeschlichen.
Wie auch schon die vorige Zofe.

Zur selben Stunde wird im Hoftheater gesungen, auch wenn es ge-schlossen ist. Ein hohes F erhebt sich in den Schnürboden, ein dreigestri-chenes Gis, ein H, und danach ist der Himmel offen und nur noch die Cherubim und Seraphim können mit Fug in die Coda einfallen. Der Hof-kapellmeister kommt gerannt um zu sehen welche Primadonna da singt. Aber es kann keine Primadonna sein, der Cantus wechselt doch in eine Kirchentonart ! Sie singt phrygisch. Phrygisch !
Der Hofkapellmeister hat es nur einmal gehört, als er in San Giovanni im Lateran war, und wahr-haftig, die unsichtbare Stimme singt Palestrina. Der Hofkapellmeister schaufelt sich zwischen und unter den Leinwand-hängern durch, den pensionierten Panoramen früherer Opern : Armida, Orpheus und Eurydike, Don Giovanni, und aus jedem regnet Staub auf ihn herab, altehrwürdiger Bühnenstaub.
Zwischen dem Felsprospekt für den Idomeneo und dem Gartenprospekt zu Le nozze de Figaro steht ein verschlissener Mensch. Er weiß es nicht, noch nicht, dass der Verschlissene Strönebald ist, einer von Propo-donskys Leuten. Angesetzt auf ihn, den Hofkapellmeister.
„Wer hat da gesungen ?“
„Das Fis wah ziemlich unsaubeh.Was Wundeh in dieser staubigen At-mosphähe.“
„Wenn ich diese edle Kehle zur Verfügung hätte, ich würde Händel stracks hier wieder aufführen, il divino !“
„Dann tun Sie‘s doch.“
„Was erlaubst du dir, Kerl.“
„Bedanke mich füh den Kehl“ lächelt Strönebald und läßt den Hof-kapellmeister eine kurze Kadenz hören, so dass der von Theaterstaub um-raucht ins Husten kommt.
„Sie haben gesungen - ?“
„Ich. Johann Heinhich Sthönebald mit Namen. Die Ehhe ist ganz mei-nehseits. Ich wähe andehs nicht vohgelassen wohden. “
„Aber derlei meistert doch nur ein Kastrat !“
„Ich bin ein Kasthat.“
Der Hofkapellmeister hat Tränen in den Augen, als erscheine ihm die Madonna persönlich, im Strahlenkranz, und sänge für ihn eine Arie von Vivaldi.
„O miracolo, miracolo…dass Sie überlebt haben…Maestro…“
„Ich bin kein Päpahat in Spihitus. Ich habe meine Stimme vehsiegelt in meinem Hals und bestheite mein Auskommen als Hahfenist.“
Seine Noten, bricht es aus dem Kapellmeister heraus, oh wenn er doch seine Noten bei sich hätte und einem wie ihm, einem mit einer Wunder-stimme vorweisen könnte was er komponiert hat, vorauskomponiert für die Krönung : großes Orchester, ja ! und Doppelchor, üppig Bläser, sogar Glockenspiel !
Und hätte er einen Sopran gehabt wie den des Mösjö Strönebald, er hätte, er wäre, er würde in die Musikgeschichte eingegangen sein oder zumindest in die nächste Ausgabe der Allgemeinen Musicalischen Zei-tung zu Leipzig, und keine Rede wäre danach mehr von der Missa solemnis dieses Beethoven.
Was aber war schlussendlich Polyhymnias Beitrag zum gestrigen Er-eignis ? Dieser Krönung, die keine war ? Ein Trommelwirbel, exekutiert von der nächstbesten Wachmannschaft. E basta. Una incoronazine secco, eine trockene Krönung, welche Schande für alle Kunstausübenden. Das setzt diesem Pferdestall-Königtum die Krone auf.
Eine Krone aus Rossäpfeln.
In diesem Augenblick werden die Leinwände zwischen ihnen hochge-zogen. Es fällt kein Staub mehr, denn ihren Staub nehmen die Hänger mit in den Bühnenhimmel des Schnürbodens.Und die beiden stehen unge-schützt auf der leeren schummrigen Bühne.
Aus dem Zuschauerraum, ebenso schummrig, wird gebrüllt : “Zivilisten haben die requirierte Lokalität tout de suite zu verlassen !“
„Der meint uns“ zischelt der Hofkapellmeister. Und derjenige der ge-brüllt hat, steht nun im Licht. Einer in Uniform, seine silbernen Tressen glänzen im Geflacker der Armleuchter, die zwei Reihen Knaben in mili-tärisch akkurater Formation hereintragen, ungehindert durch das rotbe-samtete Gestühl des Parterres, denn das ist abgebaut und seitlich weg-gestapelt worden. Wenn die beiden vordersten Bübchen die Bühne er-stiegen haben, zieht eines seinen Degen, fuchtelt dem Kapellmeister vor dem Jabot und schreit „Abgang, messieurs, Abgang !“
Und läßt seinen Degen lachend aber bedrohlich durch die Luft sausen. Die andern Kadettchen machens ihm nach.
„Ich muss um Pardon bitten für den Bankert,“ tuschelt der Hofkapell-meister und zieht Strönebald mit sich fort „vor kurzem hat er noch einen von den drei Knaben gesungen in der Zauberflöte.“
Attention wird gerufen, sergeantenartig wird gerufen, Aufstellung, Grundstellung wird gerufen, richt euch, Rapiere in exposition, wird’s bald, das gilt auch für den Bengel da hinten wird gerufen und die Bühne profanisiert zum Fechtboden für die Kadetten.
„Dabei haben wir eigentlich gar keine Kadetten ! Aber der Bonaparte verlangt bereits Truppen von uns für seinen nächsten Feldzug und wartet nebenan in der Residenz drauf, dass er sie gleich mitnehmen kann.“
Der Kapellmeister breitet die Arme aus, als winke er dem Orchester ab, das er nicht mehr hat.
„Wenn einer von den Saububen hört dass Sie ein Kastrat sind sticht er Sie mittendurch und gibt noch frech heraus es wär zu Übungszwecken und Sie sein Sandsack“.

Zur selben Stunde ist Christian Justus Amadé Langebehn bereits im Palais Holnstein vorstellig geworden und im Palais Piosasque de Non, beim Vorstand der Gilde zum Guten Hirten, bei der Gesellschaft Polyhymnia und den Logen vom Goldenen Zirkel und von der Silbernen Kelle, bei der kurfürstlich privilegierten Societé des Chausseurs und bei den kurfürstlich privilegierten Thaliafreunden.
Vergebens, fruchtlos, für die Katz. Er hat mannigfach Witze angehört über heiße Rossäpfel, die ihn nicht gewärmt haben. Denn es ist Propo-donsky, der heute in seinem, Langebehns Mantel mit dem Pelzkragen unterwegs ist. Nach den Witzen über die Rossäpfel und in sie verknotet hat Langebehn Klagen über sich ergehen lassen vom plebejisch Schmucklosen des neuen Regimes, über ausgesperrte Künste und unge-beten einmarschierte Gesetze, durch die Bank abgefasst auf französisch und im Korporalston, Klagen über dragonerisches Banausentum und dazwischen eingestreut immer wieder über Rossäpfel.
„Und haben Sie den schon gehört : wenn der Premierminister ausrei-tet, er hat zwar keinen Hintern zum Aufsitzen, hahaha, weil er besteht reinweg bloss aus Paragraphenpapier, hahaha – aber er reitet trotzdem aus, er muss ja seine Schreibfeder Gassi führen hahahahaha – ?“
Christian Justus Amadé Langebehn ist der Hals kratzig geworden von der vielen höflichen Mitlacherei, seine ausgekühlte Stimme droht ihm an, dass sie ihn alsbald verlassen wird. Langebehn drängt es ins Warme, hinter ein doppelflügeliges Portal hinter dem ihn diesmal kein Türsteher erwartet, sondern Weihrauchgeruch. Er schiebt sich in etwas, das ihn an-genehm an einen Ohrensessel erinnert, ungebeiztes Holz zwar, aber unter den gegebenen Umständen fast wohnlich. Langebehn zieht seine Glied-maßen an sich, umklammert sie mit seinen gelb behandschuhten Händen. Diese Handschuhe hat er seinem Prinzipal nicht überlassen, so sehr der auch gequakelt hat von einem imposant hochherrschaftlichen Erscheinungsbild anlässlich seiner besonderen Mission, bei der gerade rindsgelbe Handschuhe mit hochgenähten Raupen auf dem Handrücken unver-zichtbar seien.
Vergebens gequakelt, Propodonsky. In diesen zehn Lederfutteralchen seiner Handschuhe steckt zehnmal die Seele ihres Herrn, der sein impo-sant herrschaftliches Erscheinungsbild nicht weggibt als wäre er irgend-ein Kostümverleiher. Langebehn umarmt seine Beine, und die Beine schmiegen sich in die Arme.
Enger zu mir, mes amis !
Er liebt sie, er verehrt sie, er wärmt sie, weil sie Christian Justus Amadé Langebehns Gliedmaßen sind. Sein dritter Vorname ist gekeltert aus amare deus, was sich von Gottesliebe herleitet. Der Gott, der geliebt ge-hört ist der Gott in Jünglingsgestalt, ist Christian Justus Amadé Lange-behn.
Mit der Reife seiner dreiundvierzig Jahre hat er an das Kunstwerk seiner Personalité sorgsamer den Meißel gesetzt hat als mancher nach-gewachsene Jüngling wie etwa dieser Kunterkasten. Kunterkasten ! Lan-gebehn muss über den Namen kichern selbst in dieser kirchenkalten Um-gebung, und fällt in einen gnädigen Schlummer.
„Quelle surprise ! Ein Pfarrkind, das sich erleichtern möchte !“
Es ist eine Stimme, die aus nächster Nähe in Langewehns Ohr pustet und ihn aus dem Kälteschlaf reißt.
„Es finden sich nur noch spärlich Beichtkinder ein heutzutage. Den wenigen aber kann ich mich mit auserlesener Liebe zuwenden“ haucht ihm die Stimme warm ins Ohr. Die Steifheit seiner Glieder hindert Lan-gebehn daran sich davon zu machen. Er wälzt sich nur um die eigene Achse, zu einem ovalen Gitter im dunklen Holz, gegen das sich ein rund-liches Bäckchengesicht drückt. Freilich, mit seiner Drehung hat Lange-behn auch etwas von der wieder gewonnenen Wärme seines Körpers frei-gegeben, und das steigt dem Priester in die Nase.
„Was schleppst du da ein, mein Sohn ! „
„Wie meinen ?“
„Den pestilenzialischen Gestank des Hurenhauses.“
„Mein Parfüm ist in Grasse destilliert, Departement Alpes-Maritime“.
„Erleichtere deine Seele um die Sünden die sich um dieses Parfüm ranken.“
„Darum ranken sich keine Sünden, sondern ein guter Verdienst. Da-zumal. Gekauft hab ich es in Paris“.
„Paris, der Bauchnabel des Antichristen. Da köpfen sie sogar ihre Könige“.
„A la bonne heure. Bei der von Marie Antoinette war ich sogar in Person mit dabei. Sie hat sich unter allem Niveau präsentiert, unsäglich.“
„Das ist Todsünde !“
„Nicht für mich. Ich bin als Protestant auf die Welt gekommen und immer noch protestlerisch. Jetzt bin ich beim Jakobiner angelangt, Pfaff.“
Der Beichtvater bekreuzigt sich entsetzt, aber nach dem zweiten Kreuzzeichen hält er inne.
„Komm zu mir in die Sakristei.“
Auf Langebehns gelb bekleideten Händen liegt plötzlich eine andere Hand, gekrochen aus dem kleinen Durchschlupf, aus dem das Beichtkind sonst den Beichtzettel empfängt. Eine Pranke in einem grob gestrickten Fingerhandschuh.
„Es ist geheizt in der Sakristei, spürt du’s ? Der rechte Rahmen um dir die Absolution zu erteilen über die Mauern der Konfessionen hinweg, mein schöner Sohn.“
„Komm näher mit dem Ohr, Priesterchen.“
Und als es geschieht, stößt Langebehn ihm die Zunge so tief in die Ohr-muschel wie er irgend kann. Der Beichtvater grunzt wie ein Eber, den eine Schrotkugel getroffen hat. Aber dann stößt er seine Zunge durchs Gitter zurück, auf Langebehn. Und bleibt mit der Spitze im Ornamen-tengezacke des Gitters hängen. Langebehn schlägt mit der Faust darauf.
Seinen Abgang will er mit dem Zuschlagen der Kirchentür krönen. So kräftig dass es die Angeln aus der Mauer reißen soll. Aber der Türflügel schleicht und schleicht, ein von Rost vergichteter Veteran der Kirche, schleicht so griesgrämig dem Mittelpfosten, zu dass Langebehn seine An-kunft dort nicht abwartet und flieht.
Diesmal wieder vor der Kälte.

Zur selben Stunde steht der dicke Käpernick erhöht und hat viele Leu-te vor sich und eine Versammlung von Hirschgeweihen an der Wand hin-ter sich. Käpernick ist der letzte den Propodonsky ausgesandt hat, und auch er hat sein Sprüchlein hergesagt von der Beglückung die man erfährt wenn man alte Römer vor sich hat, je edler desto beglückter wird man sein, aber der Wirt hat ihm entgegen gelacht meine Gäste wollen doch keine Römer, die wollen Spassetln und Blutwürst und hat ihn schon hinausweisen wollen, weil Käpernick sich nicht anschickte eine Zeche zu machen.
Aber als Käpernick schon in der Tür war, hat einer von den Schank-kellnern auf Käpernick gedeutet.
“Schau Wirt, der hatscht davon wie a beleidigte Spinatwachtel.“
Und der Wirt hat dem Käpernick nachgerufen, er soll zurück kommen und noch einmal hatschen wie eine beleidigte Spinatwachtel, und schon sind drei andere Schankkellner drum herum gestanden. Und wie sie ihm zugerufen haben jetzt hatschen wie eine beleidigte Leghenne, ist er gehatscht wie eine beleidigte Leghenne und nun sind auch Gäste aufmerksam geworden, Gäste wollen ja Spassetln und nicht bloß Blutwürste. Und schon hat der ebene Bretterboden nicht mehr genügt, aufn Tisch steigen soll er damits alle sehen ! und Käpernick ist auf den Tisch ge-klettert und hat sich aufgeführt dabei wie ein Gockel der stottert, ist herumgetorkelt wie ein besoffene Dame die ihren Reifrock verliert, hat sich aber behände verwandelt in einen Stier mit gesenkten Hörnern und einem Schluckauf.
Sodass Kellner wie Gäste zurückgewichen sind. Und nun steht Käpernick schon seit zwei geschlagenen Stunden nicht mehr bloß auf einem Tisch, sondern auf dem Podium, wo sonst die Musikanten auf-spielen, röhrt auf Zuruf, blökt auf Zuruf, macht den Gaudiburschen auf Zuruf und die Gäste des Goldenen Hirschen können sich nicht sattsehen.
„No amal ! Dös soll er no amal machen !“

Zur selben Stunde schreit Kunterkasten schon lange keinen Holzstapel mehr an. Schuff kommt zurück. Von weitem ist ihm schon anzusehen, dass er nicht mit heiterer Botschaft unterwegs ist. Langebehn kurz da-nach, genauso einsilbig. Die Demoiselle, noch einsilbiger. Zuletzt Lucille de Brée und gleich darauf Käpernick. Er schwankt gehörig und strengt sich an, es die anderen nicht merken zu lassen. Aber die blicken eh unter sich. Mit den Lauten aus seinem Schlund tut sich Käpernick schon schwerer, denn er ist nicht nur getränkt, er ist auch üppig gespeist worden. Er muss sich die halbe Faust in den Mund rammen, damit ihm keine Aufstoßer entweichen und den anderen nicht die seligmachende Botschaft von Blutwürsten mit Sauerkraut überbringen. Die aber für sie eine unselige Botschaft wäre, denn er sieht ihnen an : außer ihm ist niemand verköstigt worden.
Kunterkasten ist der einzige, dem Strönebald eine Anrede wert ist : „Fheund, ich hatte ehwartet du legst wenigstens noch einen Sack um mei-ne Hahfe. Sie ist empfindlich wie eine Fhau“.
Und umarmt seine Harfe, wie eine Frau. Strönebald ist der einzige, der ein vertrautes Wesen bei sich hat, an das er sich schmiegen kann.
“Ein Gad minus, und sie zahlt es mih heim mit vehstimmten Saiten bis in den Sommeh hinein.“
Die anderen drehen sich um sich selber, stampfen, führen bizarre Tän-ze auf ohne das ihnen tänzerisch zumut ist, wuchten mit den Armen aus nach unsichtbaren Gegnern, treten nach unsichtbaren Hunden, um sich Wärme in die Leiber zu pumpen. Als einer in einem hochnoblen Mantel mit Pelzkragen zu ihnen tritt, ist der Frier-Tanz plötzlich zu Ende. Nicht weil sie nun bereit echauffiert genug wären, sondern weil es ihr Prinzipal ist, der sich so stumm unter sie geschlichen ist. Vor ihren Mündern tanzt der Dampf und umwabert den Prinzipal wie Gottvater mit Wölkchen.
Der Prinzipal hatte von Langebehn den Überzieher gefordert. Habe er doch einen Auftritt beim Unterhofzeremonienmeister, da stehe und falle fast alles mit einer Kostümierung comme il faut, und Langebehn hatte sich doch aus vermögender Familie heraus Propodonskys Compagnie angeschlossen. Woran der Pelzkragen erinnert sowie das Geheimfach auf Höhe der Leber, das sicher eingenäht noch immer ein Restchen Verfügungskapital enthält.
Von dem freilich der Prinzipal nichts ahnt, der sich nun so finster aus dem Mantel schält, dass keiner seiner Untergebenen nachzufragen wagt, ob er vom Unterhofzeremonienmeister etwa eine weniger bitteren Be-scheid mitbrächte als sie selber.
Kaum sind die Arme des Prinzipals an der kalten Luft, hämmert er damit verzweifelt gegen seinen Rumpf, als müsse er die Nachricht die er bekannt zu geben hat, unter Qualen aus sich herausprügeln.
Hier in dieser Stadt ist kein Plätzchen für Schauspielkunst mehr frei, hämmert er, ohne warm zu werden. Überall Truppen,aber keine Schau-spieltruppen, sondern Kampftruppen, und dazwischen Pferdeäpfel Pfedeäpfel Pferdeäpfel. Seine, Propodonskys Truppe, die unter dem Oberbefehl der Kunst steht, wird darum schleunigst flussabwärts weiterreisen, hämmert er.
Nein, kein Rückzug.
Ein Vormarsch. Auf Wien, Kapitale der Künste und des Hochge-schmacks. In Wien ist der Hof noch intakt, in voller Pracht und Blüte. Der Kaiser ist noch immer der Kaiser. Und wer will noch Kaiser sehen, Augustus und Heliogabal und Karl den Großen, seinesgleichen, wenn nicht eben der Kaiser ?
„Des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ hustet er vor sich hin und es klingt fast wie eine Verwünschung.
„Und das seit tausend Jahren.“
„In Wien freilich erst seit gut sechshundert Jahren“ merkt Langebehn süffisant an, nun wieder in der schützenden Wärme seines Pelzbekrag-ten.
“Das enthebt uns freilich nicht der Frage : wie gelangt man dort hin ?“
Der Prinzipal schluckt eine weitere Verwünschung hinunter, die dies-mal dem Verlust des Pelzmantels gilt und dem, der darin steckt, reckt aber dann einen Arm aus zu einer grandiosen Geste. Und lenkt damit aller Blicke auf ein Ungetüm aus zusammengefügten Fichtenstämmen, das unten im Fluss vertäut ist und an dem die Strömung reißt.
„Das ist ein Fahrzeug, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf -“
es ist an Langebehn auszudrücken, was alle denken, wenn auch weni-ger poliert, was aber nur er laut zu sagen wagt „- welches zum Transport von Vieh dient.“
Ein Drittel seiner Fläche ist schon voller Bauholz und frisch gezimmerter Bauernschränke.
„Das ist ein Ordinarifloß.“
Kein Floß etwa, das ordinär wäre, vulgo gewöhnlich. Vielmehr ein Floß das einen festen Fahrplan einhält. Nicht auf die Viertelstunde genau, aber auf den halben Tag genau. Im Winter sehr selten verkehrend, eigentlich gar nicht, deswegen heißt es beherzt zugreifen auf diese occasion. Dass das Ablegen dieser occasion damit zusammenhängt, dass flussabwärts ein französisches Armeekorps auf Schlachtvieh wartet, das gleichfalls mit diesem Floß reist, das tut der Prinzipal tunlichst nicht kund.
Wie die Herrschaften sich bitte vorstellten dass man sonst reisen soll ? Ob die hochvehrten pp Mitglieder gar Equipagen wünschten zur Beför-derung nach Wien, etwa gar vierspännig ? Und alles auf seine, Propo-donskys Vorauskasse ?
Da hat er sich in ein Thema hineingepoltert, das zu beschweigen ihm bis heute Morgen gelungen war. Bis Käpernick bei der Frühsuppe wie an allen Morgen die Gefährten flüsternd gefragt hat, ob er auf der Gasse singen solle, zur Drehleier und seinen Hut vor sich hinstellen.
Heute morgen aber hat ers überlaut gefragt, hinein in des Prinzipals harthörige Ohren. Jetzt spitzt Strönebald die Lippen, um Käpernicks Frage noch einmal zu stellen. Die Offerte aus dem Hoftheater hat ihn seines Wertes bewusst gemacht, wenns auch nur ein Wert im Elysium vergangener und verpönter Gesangskunst war.
Der Prinzipal weicht diesmal nicht aus auf ungenannt bleiben wol-lende Gönner, bewisperte Kammerherren in der Hofkanzlei oder gar den eigentlich längst überfälligen Ruf nach Weimar. Er murmelt es zwar, aber er murmelt es wie einer, der selber nicht glauben kann, was er verlautbart. Es gebe da gewisse, nun ja, Kirchenkreise, die für das Salär, nun ja, gerade stünden. Und dieses sei mit drei Gulden nicht eben gering. Drei Gulden pro Person bis in die Kaiserstadt ! Zu entrichten im voraus. Wie-teres möge man, ich bitte die Herrschaften um die Gnade fürs erste nicht aus ihm herausfragen.
Mit der Kirche also hat er getechtelmechtelt, ach Gottchen, wer ist denn schon noch Kirche heutzutage. Hat der Prinzipal gar mit dem Erzbischof soupiert, wispert es unter den Komödianten, und derweil uns Leibeigene von Pontius zu Pilatus gehetzt? Und wenn schon, ach Gottchen, ein Erzbischof, wars der von Salzburg, oder gleich der von Wien ? Oder gleich der päpstliche Nuntius, oder bloß ( grinst Käpernick ) ein Diakonchen, welches für die Obdachlosen-Speisung zu sorgen hat ?
„Auf die Reise also, con brio !“
Die Einschiffung freilich wird erst unmittelbar vor der Abfahrt morgen früh möglich sein. Die Compagnie faucht wie mit einer Stimme.
„Ja, wer sind wir denn !“
Patience, patience, die Nacht wird man in der Herberge dort an der Floßlände verbringen. Alle wenden sich nach der Herberge um.
„In Frankreich nennt man derlei Etablissements neuerdings Hotels“, weiß Langebehn, „man richtet sie in Adelspalais ein, die in den Besitz des Volkes übergegangen sind.“
Jeder versteht, sie kennen ihren Langebehn. Der möchte ganze Gebäu-de freigeräumt kriegen als Schonraum für sich und seine übergroße Anima. Anspruchsvoll wie nur ein Jakobiner.
Langebehn ist ein Jakobiner.
“Ich betone Adelspalais !“
Die Herberge die ihm und den andren stattdessen zugedacht ist, steht so abgekanzelt zwischen hohen Holzstapeln, als fürchte sie dass die Stämme auf sie einprügeln.
„Ein Objekt nur für allerschlichteste Ansprüche“ tut Langebehn seine Einschätzung kund, im stillen Einverständnis mit den Kollegen.
„Genau genommen für solche, denen überhaupt keine Ansprüche mehr erlaubt sind. Die Erniedrigten und Beleidigten. Les Miserables“.
Die Schauspieler-Compagnie des Directeurs Propodonsky wird ihre letzte Nacht in der königlichen Haupt- und Residenzstadt München in der Flößerherberge zum Grünen Baum verbringen. Die Mitglieder sind in Propodonskys Hand, sie sind in den Pass des Prinzipals amtlich mit ein-getragen und ein Pass ist ein papierener Juwelenschatz in diesen Zeiten der sich so jäh wie unberechenbar verschiebenden Militärgrenzen. Und wenn der Prinzipal ihnen nun befiehlt, das Gepäck ins Wirthaus zu tragen, sind sie alle botmäßig. Auch Langebehn. Seine Sottisen waren nur eine Leihgebühr, die er für die unbedankte Überlassung seines Mantels einkassieren musste, hat diese Kostümierung dem Prinzipal doch ersicht-lich Gewinn erbracht.
„Frisch frisch, die Herrschaften !“
Wenn Propodonsky seinen heroischen Bariton einsetzt ist er der Löwe in der Hammelherde nicht nur seiner Stimmkraft wegen. Jüngst hat er über Schuff, den Intriganten und sanftesten Menschen der Compagnie zwei Tage Stubenarrest verhängt, weil der einen Satz eingefügt hatte der nicht im Textbuch stand, und Schuff hatte zudem den Wachposten vor der Stubentür bezahlen müssen. Schuff steht dafür noch in der Kreide. Alle in der Truppe wissen, dass die Prinzipalin über diese Schuld mit Zins und Zinsenzins weiterhin Buch führt bis der Delinquent sie abbe-zahlt hat.
Alle greifen sich nun einen Brocken der Propdonskyschen Fracht. Der Prinzipal den Leinensack mit den Textbüchern, Madame Prinzipalin de Brée und die Demoiselle Pfrenhuber den Spanholzkoffer mit den Pe-rücken und Kostümen für die Damen, Langebehn den Schrankkoffer mit den Kostümen für die Herren, Kunterkasten und Käpernick die Truhe mit den Requisiten, in der mehr Kronen verwahrt sind als Europa Könige hat und Strönebald lädt auf das Wägelchen, auf dem seine Harfe steht den Leinenkoffer mit den Schminktöpfen.
Wenn sie sich in der Herberge jeweils ihrer Last entledigt haben bewerfen sie sie mit Sätzen, als sei das Gepäck eine Person:
“Der Gattin Schmerz erkenne du und ihre Sorgen/du der du selber sorglos bist“.
Die Sätze sind auswendig gelernt und memoriert, jetzt aber werden sie geschleudert als sollte jedes einzelne Wort den Prinzipal ins Gesicht treffen.
„Tyrann erkenne: zählbar mögen sie geworden sein / die Tage da du das SSzepter schwingst über diese deine Bürger“.
Und der Prinzipal kann nicht einmal Strafen verhängen wegen In-sub-ordination, frischt die Compagnie doch nur sein Rollen-Repertoire auf.
Das Repertoire des Prinzipals.
„O Harm und Plagen allzu zahlreich / wann mündet ihr in einen strahl-’nden Tag !“
Wenn sich die Satzstücke sich zu einem Ganzen vereinigen, ergeben sie die Tragödie in fünf Akten König Timotheus‘ Erhöhung oder Der Brudermord zu Kolonos. Tragödie in fünf Abtheilungen aus dem Franzö-sischen des Marquis de Laconte.
Wenn die Schauspielcompagnie in Wien gelandet sein wird, soll sie dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vorge-führt werden. Dargestellt durch die Demoiselle Isabelle Beatrice Pfrenhu- ber, die jugendliche Liebhaberin. Christian Justus Amadé Langebehn, den jugendlichen Liebhaber und Helden. Madame Lucille Adrienne de Brée, Erfüllerin des restlichen weiblichen Faches von der Salondame über die Tragödin bis zur Heldenmutter. Joseph Maria Sylvester Schuff, Charak-terrollen-Träger und namentlich Intriganten. Johann Heinrich Strönebald, den Souffleur der auf seiner Harfe sämtliche Geräuscheffekte entstehen zu lassen weiß, die ein Bühnenspektakel braucht. Caspar Ignaz Franz Kä-pernick, den Beleibten und Inhaber des komischen Fachs mit dem Hang zum Derben.
Und Christian Asmus Fürchtegott Felix Kunterkasten, den Neuling in der Truppe mit der Antwartschaft auf die Partie des zweiten jugendlichen Helden, einstweilen aber in der für alle hilfreichen Position des Akteurs den man bald hier bald da einsetzt, genannt grande utilité.
Und alle diese angeleitet von Philipp August Theophil Propodonsky, schwerem Helden, histrio primus und rex leonorum, wie er sich selber nennt, sowie princeps spectaculorum, wie er sich gerne nennen hört.

Porpora

„Auf gehts ! De Ochsn kemman z‘erscht dro.“
Rindergebrüll, Treibergebrüll von der Floßlände herauf. Propodonsky hat am Ofen in der Wirtsstube übernachtet, seine Gelenke kommen ihm so grob behobelt vor wie es die Bank unter ihm ist. Auch zwei Jutesäcke, die er zwischen sich und der grausamen Bank ausgebreitet hatte, konnten nichts ausrichten gegen dieses nächtliche Behobeltwerden. Zwei borstige Ungeheuer, für Rüben bestimmt statt für einen Heldendarsteller, hochmö-genden, nun aber behobelten Prinzipal. Von dem sich in dieser Nacht die Götter des Theaters, die das Schöne Wahre und Gute verwalten gänzlich abwandten. So dass der histrio primus und rex leonorum gezwungen war, aufs unwürdigste durch die Flösserherberge zu schleichen auf der Suche nach einem weicheren Bettzeug. Die ersten Hähne krähten bereits, als er in der Remise hinterm Haus endlich fündig wurde. Die Beute an sich gerafft, hatte ers aber dann reglos durchzustehen, dass eine Küchenmagd und ein Flößer ihre Wollust befriedigten just hinter der einzigen Tür, die er unverriegelt wusste.
Zugedeckt ( aber das musste er sich mehr aus der Ferne ausmalen als dass ers warm genossen hätte, weil die Magd noch einem zweiten und dritten Flößer liebesdienstlich war ) zugedeckt hatte er sich shleßlich mit Eigenem, den Kostümen der Herren Franz Moor, Richard III., Polonius und dem eines Intriganten aus einem Drama von Gottsched, dessen Titel er im Wegschlummern gesucht aber nicht mehr erinnerte. Was solls auch, es ist ja Schuffs Fach.
Schuff, der das Intrigantenfach in seiner Truppe versieht, hat Propo-donsky im ersten Stock unterkommen lassen, zusammen mit Käpernick, Strönebald und dem jungen Kunterkasten. Pompöse Nachtruhe sollten sie halten dürfen da droben, verglichen mit der seinen. Einen Treueschlaf, der sie ihm verpflichtet, denn er wird ihre Treue brauchen auf der wie-teren Reise. Lediglich Langebehn, die Primadonna aus Selbsternanntem, hat sich selbst eine eigene Kammer spendiert.
Dafür musste er auf des Prinzipals Geheiß die Requisiten als Schlafgäste mit aufnehmen. Ausgerechnet Langebehn der Schubiack, grätzt Propodonsky in sich hinein, hat sein Nachtlager mit einem Dutzend Kö-nigen und Kaisern teilen dürfen, zumindest mit deren Herrscher-Insignien.
Und neben seinem Nachtgeschirr die Reichskleinodien.
„Her mitm Viech !“ brüllts draußen, und das Vieh brüllt dawider. Ein verbrüllter Morgen, ein vergrämter Aufbruch, und der Prinzipal beginnt die Reise zum Kaiserhof von einer Ofenbank aus, die gebeizt ist mit dem Afterschweiß von Flößerhintern die generationenlang darauf gehockt ha-ben und dabei ihren Harn nicht halten konnten, und der nun grausam in des Prinzipals Schlaf dämpfte. Gott sei vor, dass seine Compagnie erfährt wie wenig prinzipalhaft dieser Schlaf war, also stantepede hinunter zur Lände.
Propodonsky muss der erste sein auf dem Floß, vor der Truppe. Immer im Einsatz, immer der Patron, immer der Sorgvater seiner Läm-merschar. Und wie lohnts ihm die Mimen-Meute ? Sie mault und muckst und krittelt, jeder für sich ein Großherzog mit werweißwas für ausladend stukkierten Ansprüchen. Und hat doch nur die weißgott geringe Pflicht zu erbringen, das Pflichtlein, sich zu verkleiden und einen Text laut her-zusagen mit dessen Abfassung sich lange vorher ein anderer geplagt hat. Während der Prinzipal noch viel länger vorher mit seiner unfehlbaren Göttervaternase die Dramen und Komödien zu erwittern hatte, die einem die Huld geneigter Gönner einbringen. Die seine Mimenmeute dann durch ein Loch im Vorhang betrachtet und dabei hämt :
“Hélas ! Und vor denen zwingt man uns schon wieder zu spielen. Wer sind wir denn…“
Wer ist er denn. Wie er da am Kai steht, an der Floßlände, zwischen groben Holzkerlen und Fahrensleuten. Er ernennt, mürrisch kontrapunk-tisch, diesen Moment zu einem der großen Auftritte seiner Laufbahn. Be-deutender Prinzipal an der Spitze einer undankbaren Compagnie im hi-storischen Moment seiner Einschiffung mit dem Ziel Kaiserhof ! Fatal, dass niemand zur Stelle ist um ihm über die linke Schulter zu spucken nach Bühnenart und ihm bon courage zu wünschen.
„Öha !“
Ein Schrei wie von einem Ochsen. Viel zu breit unten im Zwerchfell angelegt, befindet Propodonsky. Von einem Urkerl mit einer urlangen Stange, daran zwei brutale schmiedeeiserne Haken. Einer kurz, einer zum Fürchten lang. Der Urkerl stößt ihm die Stange quer vor die Brust.
„Schleich di und Platz g‘macht fürs Vieh !“
Und räumt den Prinzipal mit seiner Stange beiseite, als wär der selber ein Stück Vieh. Verwehrt dem Prinzeps der Komödianten und Tragöden den Auftritt auf einer noch unerprobten Bühne. Die Stange mit den Eisen-haken erzwingt anderen den Vortritt, Kleindarstellern, ungehobeltem Plebs, der auf Kuhrücken einprügelt. Die auf die eingeprügelt wird, die Rinder, gelüstets gar nicht nach der Bühne, die dem Prinzipal Propo-donsky verwehrt wird. Und so setzt es weiteres Prügeln, das Hornvieh murrt, wie Propodonsky es kennt von seiner eigenen Herde, das Hornvieh wird gescheucht mit Ochsenfieseln wie Propodonsky sie sich ein übers andere mal gewünscht hat wenn seine Schauspieler störrisch waren. Propodonsky gerät zwischen gehetzte Rinderleiber, wird eingekeilt von Rinderbäuchen wie von Mahlsteinen. Die Wasserfälle die ihn nässen, sind der Lefzenschaum der Rinder, ihre Hörner richten sich geradewegs auf seinen Bauch, seinen Rücken, seinen Hintern. Wenn er beiseite zu springen versucht, sausen Ochsenziemer auf ihn nieder, seine Beine verhaken sich mit strauchelnden Rinderbeinen. Er strauchelt selbst, das Hornvieh trampelt über ihn weg, muht Empörung dass da ein Men-schentrottel zappelt und dabei brüllt wie das Vieh selber. Wenn es end-lich zum Stehen kommt, ist der Prinzipal zum Liegen gekommen. Auf einer weichen Unterlage, wie sie ihm heut Nacht gefehlt hat. Einem Bett aus Kuhfladen.
Eine Horde Ziegen galoppiert aufs Floß, dem Gemecker nach mit hohem Vergnügen, schwebt doch über ihr eine Harfe. Strönebald stemmt sie sich mit beiden Armen über den Kopf, seine Füße werden von den Ziegen vorangetrieben wie von einem Wildbach. Als sich die Herde vor ihm über die Richtung nicht einigen kann, die eingeschlagen werden soll, verlassen Strönebald seine Kräfte, sein Instrument donnert auf die Zie-genrücken und dröhnt vielstimmig und vielsaitig.
Bedächtiger schon der Auftritt von Kunterkasten und Käpernick. Sie haben die Requisitentruhe zu schleppen, bedrängt von einer Schar Schweine, die ihre Schnauzen gegen das Kistenholz puffen als seien sie gelüstig auf die Kronen, Diademe und Trinkpokale von der Tafel Cäsars und Prosperos, die darin scheppern. Perlen vor die Säue, an diesem Mor-gen wirds Wirklichkeit.
Schuff, die Demoiselle und die Prinzipalin mit den Kostümen der Acteurs müssen mehrfach eiligst ausweichen Sakra Leit, gebts doch Obacht, weil Bierfässer herangeschafft werden, in bunter Reihe mit Tuchballen, Bauholz, Getreidesäcken, Bündeln aus Dachschindeln. Da-zwischen räumen Floßknechte mit ihren Hakenstangen Raum frei für abgezählte fünf Weinfässer, die von je zwei französischen Grenadieren sorgsam herbeigetragen werden statt ordinär gerollt und bewacht von einem dritten Grenadier mit aufgepflanztem Bajonett.
Langebehn lässt den Rassel an sich vorbei. Er ist einer der letzten die sich einstellen. Die hin- und her wogende Szenerie zu so früher Stunde geht über sein Fassungsvermögen. Langebehn ist krass fehlbesetzt auf diesem Floß, und er setzt all seine Schauspielkunst daran dass man ihm seine Verstimmung weithin wirksam ansieht. Wie kann man ihm, dem Abendmenschen, der sein Gewerbe bei künstlicher Beleuchtung ausübt, einen Auftritt im Morgendunst zumuten. Wer bin ich denn mäkeln noch die weißen Luftsäulchen, die aus seinen Nasenlöchern stieben und sich nach kurzem Weg als Schaum auf seinem Pelzkragen niederlassen. Wa-rum hat mans verabsäumt vor Langebehn Teppiche auszulegen über die tumben Rindenstämme ? Ist doch die seinem Fach zugeordnete Gangart das Voranstürmen mit weit voreinander geworfenen Füßen. Der Schau-spieler soll auch im gemeinen Leben bedenken, daß er öffentlich zur Kunst-schau steht hat der Zeus des Theaters in Weimar als Gesetz erlassen. Wie aber soll ein Langebehn öffentlich zur Kunstschau stehen auf einem barba-rischen Fichtenrost den Propodonsky ihm da unterschieben will ?
Wo wo wo hat er sich nur wieder verkrochen, der fehlbesetzteste aller Prinzipale ?
Das Ensemble schart sich um Langebehn, weil er zum Leuchtturm auch ihres Unmuts geworden ist, rutschend, schlingernd, stolpernd wie er. Der gemischte Chor des Ensembles leistet Langebehn die Respon-sorien : wo wo wo, vervielfacht die Anklage des ersten Helden und Lieb-habers : wo nur wo wo ist der Prinzipal !
Langebehn genießt das Aufsehen, das er angestoßen hat. Sein langer Hals vor dem hohen dunklen aufgestellten Pelzkragen windet sich in An-klage, sein Adamsapfel schnellt auf und nieder vor Empörung. Die Floß-knechte haben Gelegenheit, den erlesenen Zorn eines Herrn von Stand zu bestaunen, den man heimtückisch ins falsche Logis gelockt hat. Die kalte Wut der Kollegen erwärmt ihn, aber die Stimmführung darf er ihnen nicht überlassen, er muss Solist bleiben, das Widrige überwinden, das Niedrige als niedrig brandmarken. Muss über den Kuhfladen dort sprin-gen, und sich dabei, um nicht auf dem vereisten Holz blamabel auszurutschen, an einem Ziegenhorn festhalten. Um sich den Coup nicht zu verhageln, elegant und wie beiläufigig.
Um aber der Ziege, der dabei der Part nur der Überrumpelten zuge-dacht ist, keine ablenkende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen ( der Kollegenschaft, die sein Publikum ist ) muss Langebehn zügig weiter vo-ran eilen. Wissend dass die Kollegen hinter ihm her tapsen werden.
Diese Herdentapser, und alle werden, seinem Beispiel folgend, sich am Horn der Ziege festhalten. Was ihnen nur misslingen kann, denn die Ziege ist gewarnt. Der Griff der Kollegen wird ins Leere gehen, sie werden längelang hinschlagen. Welchen wohl triffts zuerst ? vergewissert Langebehn sich aus den Augenwinkeln, voranstürmend.
Käpernick triffts. Dem gönnt ers. Darum umso heldischer voran !
Voran ist die Richtung des Helden. Die Empörung des Helden ist Vor-wärtsstoßen. Das Erobern der Anhöhe, des Podestes auf dem der Thron aufgebaut ist, des Felsen von dem aus der Held seinen Monolog richten wird an das Volk, das unten versammelt ist.
Aber Langebehn bietet sich keine Anhöhe, kein Podest mit darauf war-tendem Thron, kein Felsen. Und als Volk ist nur Hornvieh da, das ihn anglotzt ihn an wie ihn gestern die Heiligen in der Kirche angeglotzt haben. Alors, so muss es halt diese Hütte tun, der Bretterkasten in der Floßmitte. Geradewegs auf sie zu, der Held muss vorwärts stoßen, immer vorwärts, über Stapelholz per Flankensprung hinwegsetzen mit weißen dramatischen Hauchwolken vorm Mund.
Und heldisch bei der Hütte ankommen. Noch mehr Hauchwolken ausstoßen. Mit beiden die Tür aufreißen. Das Kabuff als Reisequartier in Besitz nehmen. Hauchwolken ausstoßen, die Tür hinter sich zuschlagen.
Aber die Hütte ist verschlossen.
Wie denn was denn, man öffne ! Ein kleines Räuchlein ringelt sich unter dem Giebel der Hütte hervor. Da drinnen ist geheizt. Für ihn doch, Christian Justus Amadé Langebehn, ersten Held und ersten Liebhaber, hat dort drinnen geheizt zu sein und sonst niemand. Sein Adamsapfel schnellt auf und nieder. Langebehn, nun wieder von den Kollegen um-standen, einem zweifelhaften Publikum, kommt die Erkenntnis, dass sein bis hierhin gezeigter Heldengestus verschwendet war. In spontaner Wut reißt er sich einen Handschuh von der Linken und drischt auf die Hütte ein wie mit einer Peitsche. Strafe ihr, Nichtswürdiger !
Die Kollegen grummeln Beifälliges, aber Langebehn weiß dem Grum-meln vorerst keinen Offensivdrall mehr zu geben. Kraftlos sinkt seine Rechte, die den Handschuh hält, auf den niedrigen Giebel der Hütte. Gerade lang genug, um auf ein arglistiges Extempore nicht gefasst zu sein. Ein Pferd, ein Ackergaul ganz offensichtlich, schnappt den Hand-schuh und zerkaut ihn gemächlich und mit genießerischen Grinsen. Lan-gebehn ballt die andre Hand zur Faust und fuchtelt dem Gaul damit vor den Nüstern.
Verworfene Bestie !
Keiner der Kollegen lacht. Nicht einmal Schadenfreunde. Ein ungutes Omen. Sechs Tage, Schuff hat sich unterdessen umgehört, sechs volle Tage werden das mindeste sein um Wien zu erreichen.
„Sechs Tage !“ echauffieren sich die Damen.
Und Strönebald, der Souffleur der den Schauspielern den Text zuzu-flüstern hat, hat seine flüstergewohnten Ohren aufgesperrt und vernommen, es könnten auch gut und gerne ( einen, möchtsein plötzlichen Eis-gang noch gar nicht mit eingerechnet ) an die neun bis zwölf Tage wer-den, die sie zuzubringen haben werden unter offenem Himmel, und den Unbilden des Winters ausgesetzt.
„Zwölf Tage !“ kreischt nun das gesamte Ensemble, sogar Kunter-kasten hört sich mitkreischen. Wer sind wir denn, und wo ist der Prin-zipal, der verlangt das wir zwölf Tage Winterleiden auf uns nehmen ? Für ihn, den Prinzipal. Wer sind wir denn, sind wir denn sein Vieh, solches wie es um uns herumsteht und uns wiederkäuend anstiert und über dem der Prinzipal den Ochsenfiesel tanzen lässt ?
Das Pferd das Langebehns Handschuh gefressen hat, schnaubt mit einem bauerndummen, bauernfrohen, bauerngierigen Gesicht nun auch noch nach dem andren Handschuh. Langebehn wendet sich ab. Der Gaul hat ihm den Auftritt verdorben und heimst auch noch Lacher ein. Schon steht Publikum bereit und freut sich auf die Fortsetzung.
Tod dir, du Mähre ! Grausamen Tod. Da erlöst ihn der Prinzipal. Aus-gerechnet. Propodonsky pflügt sich sich mit entschlossenen Fäusten zwischen den Rindern hindurch, Bahn dem Heldenvater ! als ein zweiter Moses durchs Rote Meer. Die aufsteigende Sonne unterstützt ihn vorteil-haft, setzt sich durch gegen die Morgenschleier, gewährt ihm gold-farbene Schlaglichter über seinem aufmunternden Mienenspiel : willkom-men auf dem Wasser alle zusammen, frohgestimmt der Aufbruch, frohge-stimmt zum Kaiserhof ! Und ob die Kinderchen schon gehört haben dass man den Kapitän, sprich den Floßmeister dass man den den Trittfürg nennt in der Fachsprache wie sie auf einem solchen Gefährt gebräuchlich ist. Und das hintere Ende des Floßes, das Achterdeck gewissermaßen, das nennt sich in eben dieser Fachsprache schlicht am Arsch.
Er muss es alleine belachen.
Und, à propos, was man da um die Hütte gestapelt sehe an Bauholz und Baumaterialien und Heuballen als zuzügliches Frachtgut, das nenne sich Oblast, man sei halt in keinster Weise allein hier an Bord, auch Holzverkäufer und Zimmerer und Melker wimmelten herum, die diese Oblast zu bewirtschaften haben, just das aber schafft doch hochwillkommnes anregendes buntes Allerlei, gell.
Und ( noch ein à propos ) an Bord, ist hier nicht am Platz, Hochsee-sprache das, Ozeanjargon, wie sie unsereinem als Theatervolk und erfahrenen Fahrensleuten geläufig ist aus Shakespeare, man erinnere sich. Der Sturm, erster Akt erste Szene.
„Auch wir, meine Kinder, erleben ja hier den ersten Akt und die erste Szene eines neuen Stücks.“
Und ob denn nun niemand wissen will was ein Gestöhr ist ?
Niemand will es wissen.
Strönebald, der Flüsterer macht sich zum Sprecher der anderen, die schweigen und murmelt dem Prinzipal die allfällige Frage nach der Hütte ins Ohr. Dem einzigen Obdach soweit man sehe hier, nun ja, an Bord. Und wann der verehrte Prinzipal sie endlich aufschließen lasse, schon im Hinblick auf seine, Strönebalds Harfe. Die Primadonna mit den kälte-empfindlichen Saiten, das Orchester der Gruppe, das die dramatischen Stimmungen ihres Repertoires auszumalen hat, wenn das geschriebene Wort versagt.
Propodonsky wählt eine andere Tonart jetzt. Vertraulich. Die Tonart dessen, der der aus einer geheimen Kabinettssitzung kommt ( Lessing, Emilia Galotti, Schiller, Kabale und Liebe ) : regrettable äußerst regret-table, aber dieser Verschlag ist exklusivst reservé, wie der Prinzipal hat vernehmen müssen. Weiteres Insistieren würde nur führen zur ( er greift sich an den Hals, richtet den Blick zum Himmel ) Verweisung vom Floß.
Er hats vom Trittfürg directement, auch dieser gehorcht nur strengen Anordnungen. Trägt jeder von beiden doch Verantwortung für seine Fracht : der Trittfürg für Holz und Vieh, der Prinzipal fürs Komödian-tenvölkchen.
Welch gelungene Melange ! Eine Nachbarschaft die ( er breitet seine Arme aus als wollte er seine ganze Truppe auf einmal umarmen, wieder tut ihm die aufgehende Sonne den Gefallen und illuminiert im Gegenlicht seine Gestik ) eine Nachbarschaft die wechselseitige Beglückung verspricht. Die Künstlerschar erhält Gelegenheit sich unters schlichte Volk zu mischen, das sonst von ihm ferngehalten wird durch Bühnenrampen und Saaldiener. Mit Landleuten in Tuchfühlung, die schweres Tagwerk verrichten ! Obendrein in frischer Luft, fernab dieser verräu-cherten Spelunken hinter den Komödienhäusern, urwüchsige Naturlaute im Ohr aus Gänsesteigen, stimmlich überragt von Ochsengebrüll ( jaja, eine Herausforderung das an die eigene Stimmkraft ! ) und in diesem Sin-ne wünsche er rundum anregendes Dahingleiten. Umgeben von munter buntbemalten Bauernschränken, Bauernhühnersteigen, Bauerngänsen, Bauernschweinen, Bauernschafen, Bauern.
„Ordinari, das hat auch den wohlbedachten Sinn, dass hier alle gleich sind.“
Sylvester Schuff gerät in ein Revier, das Ziegen besetzt halten. Er wird vom regierenden Bock daraus vertrieben mit einem Ingrimm, als wolle Schuff seine Ziegen bespringen. An Strönebalds Harfe schubbern sich Kuhbäuche, das ergibt düstere Töne, die die Kühe überraschen, und sie versuchen es gleich noch einmal.
Käpernick und Kunterkasten wuchten den Kostümkoffer auf roh be-hobeltes Bauholz, in ein Revier, das ihnen vorerst niemand streitig macht. Darauf auch noch die Requisitenkiste, dann setzen sie sich zuoberst. Ein guter Aussichtspunkt um den Prinzipal zu beobachten, den schweren Helden, rex leonorum, umbrandet von Nutzvieh.
„Ochse zwischen Ochsen.“
„Die sollen ihm ansehen, seine Traumrolle ist der Herkules, bloß das Stück dazu hat ihm bis jetzt dazu gefehlt.“
„Der ist imstand und schwatzt den Ochsen die Hörner ab. Dann spielt er ihnen den Herkules mit ihren eigenem Kopfschmuck vor“.
Schuff hat sich zu Strönebald gesetzt.
„Von wegen alle ordinari und gleich bei gleich. Der Vorzugsreisende da in der Hütte ist bestimmt nicht Ordinari.“
„Der ist dermaßen crème de la crème dass er sich nicht einmal unseren Blicken aussetzt.“
Ingrimm wallt auf. Die Hütte wird, darauf ist nicht schwer zu kommen, exterritoriales Terrain unter dem napoleonischen Adler sein. Das En-semble spinnt einen Verdachtsfaden von der verschlossenen Hütte hin zu dem französischen Grenadier, der die Weinfässer bewacht, und zurück. Besatzungsprivileg, gallische Okkupantenwillkür.
Wer sind wir denn.
Und warum legt der Prinzipal sich schon wieder nicht ins Zeug für seine Schutzbefohlenen ? Man blickt feindselig zu dem Grenadier hinü-ber. Dem einzigen Franzmann an Bord. Aber der hält sich auf der ande-ren Seite des Floßes, an seine Fässer gelehnt und läßt keinerlei Dienst-bereitschaft für die Hütte erkennen.
„O heiliger Sankt Nikolaus und unsre liebe Frau – „
Der Floßmeister und seine Flößer sind an die vorderen fünf Ruder getreten und haben die Hüte gezogen. Sämtliches Bauernvolk tut es ihnen nach.
„ Halt deine Hände über uns auf unsrer Reis und – „
Es ist nicht zu verstehen über was alles noch Hände gehalten werden sollen, sie verstehen sich selbst nicht, sie haben das Gebet schon oft ge-sprochen und es dabei zerleiert, und die Zerleierungen sind zum Gebet selbst geronnen, abgeleistet unter andeutungsweisen Verneigungen ihrer schwerfälligen Leiber. Die Heiligen, die sie um Schutz anflehen, werden sich schon das für sie Bestimmte herauskramen.
„Du Herr, fahr uns voran,
Du bester Steuermann !“
Die Flößer sind in einen brummeligen Singsang verfallen. In den Pran-ken des einen und anderen pendelt ein Rosenkranz.
„Unsereins brächte das nicht über die Lippen“ schauderts Schuff.
„Von uns wird jede Silbe klar und deutlich erwartet bis in die hinterste Reihe, auch wenn der Text noch so mies ist.“
„Führ uns nach dieser Zeit
In Port der Ewigkeit !
Lass dieses saure Salz der Erden
Uns dort zu lauter Zucker werden.
Und unser ewigs Seelengut
Nimms Herr in deine Hut.“
„Das ist das pure Mittelalter“ empört sich Langebehn.
“Geschlagene zwölf Jahre nach dem Sieg der Großen Revolution .“
Mit von hier bis Wien in d‘ Wie t /und gemahn uns Jungfrau allzeit an die Ewigkeit kommt das Beten ans Ende, indem es sich noch einmal auf-rappelt hat fast zur Verständlichkeit.
„Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes Amen.“
Alle bekreuzigen sich, auch die mitreisenden Bauersleute, und setzen ihre Hüte wieder auf.
„Manndern allsamt an die Ruder !“ ruft der Floßmeister und bläst in sein Stierhorn.
„Manndern alle am Ruder“ rufts von vorne und von den hinteren Ru-dern, vom Arsch, zurück.
Als allerletzter Passagier steigt eine Bauersfrau zu, die mühsam zu schleppen hat an ihrem Gepäck, einem truhenlangen Kasten, mit Segeltuch bespannt. Ohne dass sie einer dazu aufgefordert hätte, lässt sie sich an der abgelegensten Stelle des Floßes nieder, hinter einem Stapel Bal-ken.
Die Taue die es am Ufer hielten, werden auf das Floß gezogen. Je fünf Flößer stemmen es mit ihren Rudern an der Längseite von der Kaimauer fort, lenken es mit den nun hochkant gestellten Ruderblättern an der Längseite gegenüber in die Mitte des Stromes, vollführen eine über-raschende Volldrehung in der Flussmitte, so dass der Arsch nun vorne liegt und die Frontseite den Arsch bildet. Eine Gischtwelle ergießt sich auf Madame de Brée, ertränkt sie nicht, reißt sie nicht in den Strom, aber sie schreit auf als ob.
“Sollen wir aufgeben und ersaufen ?“ schreit sie. “Habt ihr Schiffer euch in den Kopf gesetzt dass wir alle untergehen ? “
„ Öha !“ entfährt es dem Floßmeister.
„Pardon“ mischt sich Propodonsky ein, „aber die passende Replik wäre gewesen 'Hol die Pest dieses Geheule' ! Die sind lauter als das Wetter und als unsre Pflicht. Das ist Der Sturm, erster Akt, erste Szene.“
„Mir ham koan Sturm.“
„ Meine Gattin zitiert aus einem Drama von Shakespeare.“
„Zuchtl“ befindet der Floßmeister und schiebt sich Kautabak zwischen die Zähne.
Gleichmütig nehmen die Rinder und die Bauernpassagiere es hin, dass die Stämme unter ihnen nun in Unruhe sind. Nur die Schafe und die Schauspieler führen sich auf, als wollten sie sich zurück ans Ufer retten und als wärs ein Schrecknis, dass das Floß nun Fahrt aufnimmt.

Zunehmend Fahrt aufnimmt. Aber Schafe wie Schauspieler versuchens nicht mit dem sicheren Hinsetzen oder Niederlegen. Käpernick hakt die anderen unter, die Demoiselle sich bei Schuff, Langebehn bei der Prinzipalin und die bei Kunterkasten, und so kreiseln sie über die rum-pelnden Hölzer. Unter grellem Kreischen. Die anderen auf dem Floß, Bauern wie Vieh, schauen stumm zu.
„Alles Zuchtln“ befindet der Floßmeister und pumpt den Kautabak un-ter seiner Zunge.
„Ein gänzlich neues Plaisir„ wirft sich Propodonsky für die Seinen ins Zeug.
„Es ist eine Wonne wie quicklebendig meine Kinderchen das Aben-teuer eines neuen Bühnenbodens bestehn.“
Von Stehen kann keine Rede sein, alle Untergehakten hat es gerade auf die Hintern gehauen.
„Öha“ kommentiert der Floßmeister, braune Bläschen auf der Unter-lippe.
„Der erste Nasenstüber. Auch Herkules hat sich erst steigern müssen.“
Der Prinzipal ist auf seinen breit gestellten Beinen geblieben.
„Anfangs Rückschläge und Lehrlingsarbeit. Der nemäische Löwe, Sie werden sich erinnern. Aber dann gegen das Finale zu hat er das Himmelsgewölbe geschultert.“
Er hebt die Arme, als traute er sich das Himmelschultern selber zu, und weiß es zu schätzen, dass die Morgensonne ihn dabei angemessen ins
Licht setzt.
„Das Himmelsgewölbe ist für uns der Kaiserhof, dem Sie uns dankens-werterweise entgegen schippern.“
Er läßt dem Floßmeister eine Pause, damit der die erhoffte Replik sagen kann Sakra, zum Kaiserhof, echt wahr ?! Aber der Floßmeister sagt nichts dergleichen, schon gar nicht Bewunderndes. Er ist ganz bei seinem Kautabak, räumt den Priem von der linken Backe in die rechte ; schwarze Rinnsale laufen ihm hinunter zum Kinn. Also setzt der Prin-zipal nach, seine Truppe habe allerhöchste Privilegien genossen am Hofe des Fürsten zu Leiningen. Bis Leiningen, weitgerühmter Musenhof, Lustgarten der Künste, arglistig trockengelegt worden sei.
„Diese leidigen Arrondierungen, Sie wissen ja. Durch den Geschwind-marschfeldherrn Bonaparte.“
Dennoch aber, der Prinzipal und seine Comapgnie haben danach Nancy und Strasbourg erobert. Nicht wie Napoleon mit Kavallerie, sondern mit den Überzeugungskünsten der Schauspielerei. Großen Empfindungen. Zutiefst brennendem Schmerz, der Qual und Erlösung edler Seelen. Und dem Triumph des verzeihenden Humors.
„Ich sage nur Marivaux, Racine, Corneille. Und Beaumarchais ! Beaumarchais spielen wir im Schlaf.“
„Und ich sag : die erste Sandbank“ der Floßmeister.
Der Winter war halt nicht schneeig genug, aber wenn das Schmelzwasser kommt, ist es erst recht ein Gefrett.
„Und immer wieder Kotzebue. In Metz sechs Vorstellungen en suite.“
Wenn die Sandbank umfludert ist und bei diesem Manöver das Ensemble schon wieder auf seine Hinterteile gefallen, bleibt es diesmal da-rauf sitzen. Schweigend wie nun auch die Schafe.

Hoch oben auf der Uferböschung erscheint eine Abteilung französischer Kavallerie. Der Floßmeister spuckt eine braune Ladung ins Was-ser, über Kunterkasten hinweg. Finsteres Schweigen auf dem Floß, von Vieh wie Mensch.
Langebehn zählt ab und gibt bekannt :“Das ist eine escadron“.
Was für Kostüme, durchfährt es Madame de Brée, was für Farben. Wenn sie so etwas in ihrem Fundus hätte. Der Grenadier, der die Wein-fässer bewacht, salutiert. Auch Kunterkasten salutiert, und damit es da oben am Steilufer auch wahrgenommen wird, ruft er : “ Vive la France !“
Als der vorausreitende Offizier sich nicht umdreht, reicht er mit voller Stimmstärke nach „Vive l’empereur !“
Die Franzosen, grußlos, werden unsichtbar hinter den Weiden der Ufer-böschung. Langebehn grinst. Auch die anderen grinsen. Kunterkasten versinkt sein Name als Kummerkasten im Fluss, der unter ihm rumpelt. Am liebsten würde er gleich selbst mit versinken.
Seine Kollegen, die Gesichter alle von ihm abgewandt, haben die Wärme der Rinder für sich entdeckt und legen, Schuff voran, ihre Arme über deren Lenden. Das Ofenhitzige der Schweine ist noch angenehmer, findet Käpernick und stülpt sich über eine Sau, die ihn willkommen zu heißen scheint. Er grunzt, indem er ihre Mundart zu treffen versucht, vertrauensselig zurück. Er hat Glück gehabt mit der Mundart wie mit der Wirtin, Sau und Komiker kuscheln sich zufrieden aneinander.
Einer mit einer Geißel verscheucht die Schauspieler.
„Was fallt eich ei, auf sowas kommen aa bloß Stadtleut !“
Als seien die vierbeinigen Öfen die feinen Herrschaften und die Komö-dianten das Vieh. Seine gesamte Rinderfracht hat der mit der Geißel vor der Verladung vom Heiligen Leonhard segnen lassen und damit ver-sichert gegen Maul- und Klauenseuche, gegen Milzbrand, und von der Heiligen Notburga no amal extrig gegen Überfressung und danach noch vom Heiligen Antonius dem Einsiedler, als Schutzherrn der Viehhändler. Und vom Sankt Sylvester sowieso, weil der ist als Patron für die Land-wirtschaft insgesamt zuständig.
Und nun flacken sich da mirnichtsdirnichts Wildfremde drauf.
„Wenn Stadtleut sich am Geweihten vergreifen werd der ganze Segen am End unwirksam“.
Denn Stadtleut, das weiß man, sind allemal Atheisten. Frage nicht, was das reingschmeckte Gschwerl dem Viech alles anhängt. An womöglich französischen Seuchen, Siechtümern und Eiterflüssen.
„Paxvobiscum drauf, und Amen.“
Aber als er auf die Demoiselle Pfrenhuber und die Prinzipalin de Brée trifft, die sich hinter der Hütte zwischen den Schafen eingerichtet haben, ist seine Wut verschwunden. Die Damen haben sich gar zu dekorativ ge-bettet, sie sind eine Zierde für die Schafe. Der Wüterich zieht seinen grünen Zylinder.
„Meine Verehrung.“
Damit ist das Füllhorn seiner Wortmächtigkeit freilich schon geleert. Madame Propodonsky erwägt, ob sie sich mit einem Satz aus einer Schäferkomödie revanchieren und ihm als kokette Hirtin kommen soll, da drängt sich die Jüngere mit ihrer Frage vor :
„Können Sie uns aufklären, guter Mann, wer da solch ein Privileg ge-nießt dass er in der Hütte reisen darf ?“
Die verfügt zwar nur nur über eine kleine Luke, aber die verglast ! Ob das nicht allzuviel Luxus sei, unter diesen doch recht eingeschränkten Verhältnissen. Und hinter dem Glas auch noch ein Vorhang, der die Sicht versperrt.
„Wo doch Vorhänge ein Vorrecht von uns sind, ich meine beim Theater.“
Kicherkicher. Der Schwadroneur mit der Geißel ist, beim Stichwort Theater, mit einem Mal verlegen, pfumpft etwas in sich hinein von einer gottgesegneten Reise, die er den schönen Damen wünscht und schon ist er davon. Die Prinzipalin lobt sich, dass sie ihm zuliebe ( sie wollte ihn schon als bukolischen Hirten einsortieren ) keine Stelle aus einer comédie pastorale aus ihrem Gedächtnis heraufgeholt hat.
„Holzbock !“
„Knödel.“
„Keiler.“
„Erbsensack.“
Jeder fällt noch ein böses Etikett für den Grünzylindrigen ein, dabei will jede doch nur in dem warmen Verschlag dort sitzen. Die Schmählust würde ihnen da drin zerschmelzen wie Schminke über einem Teller mit dampfender Suppe. Unter dem First der Hütte dringt ein dichteres Räuchlein hervor. Es ist also nachgeheizt worden.
Auch die reisenden Landleute müssen es sehen, aber keinen scheints danach zu gelüsten diese Wärmekabine für sich zu beanspruchen. Soweit die Theaterleute wahrnehmen, sind sie alle wohlversorgt mit Decken, wie sie eigentlich für Pferde bestimmt sind, und mit lebendwarmen Schafen, zwischen denen sie ihr Lager aufgeschlagen haben. Nur die Schauspieler sind nicht gerüstet für die Fahrt durch die Kälte.
Ja wer sind wir denn.

Und Kunterkasten ist schon wieder eingeteilt das Gepäck zu hüten. Er hockt auf dem Schrankkoffer, auf den schwarz aufschabloniert ist HABILLEMENT/ COSTÜME de la COMPAGNIE PORPORA PROPODONSKY / DE BRÉE / PFRENHUBER/ KÄPERNICK / SCHUFF / LAN-GEBEHN.
Kunterkasten.
Sein Name ist nur mit Kreide hinzugefügt, von ihm selbst. Kunter-kasten, der Letzte, der Hinterling. Wie oft schon hatte er seine ange-borene Benamsung ändern wollen, zuerst ins Italienische hin zu Cun-nocasso, mit einem verwegenen Carlo davor. Neuerdings freilich und der Zeitmode gerecht hatte er mit dem Französischen kokettiert. Councard klänge doch recht gefällig, mit einem Fréderic oder wagemutigen Em-manuel davor. Weil die französische Sprache aber unter seinen Lands-leuten, noch neuerdingslicher, hässliche Entzweiungen hervorruft, hatte er zum letzten beschlossen, seinen Namen ins Niederländische zu neutralisieren. Jan Cooncaas. Was sich sanft melancholisch anhört, elegisch sogar mit so vielen Vokalen und zugleich irgendwie geheimnisvoll ge-sanglich. Seiner seelischen Disposition entsprechend, und wie ein eigens für gefertigtes Anzug. Jan Cooncaas. Ein Anzug in tiefblau. Ein individuelles vétement wie Langebehn Pelzkragen, um den ihn die ganze Compagnie beneidete wie Langebehn beneidet wird.

Wieder eine Sandbank. Dem Floßmeister tropft inzwischen die Soße, von schwarz zu braun verdünnt, auch auf den lodenen Umhang.
„Da nüber, Manndern ! Da hats ein Rinnen !“
Die Ruderer triften das Floß in tieferes Gewässer, es legt sich auf der einen Seite hoch, in der Mittn halten hab i gsagt ! Die Strömung sucht sich ihre Gräben wie es ihr passt. Im Nu ist einer davon gespült, und na-cha Servus drei Quartl.
Die Bauersleute sitzen wie festgeleimt, die Tiere sind sicher eingezäunt. Alle bewahren ihren Korpus vorm Schlingern, gar Ersaufen, nur die Schauspieler nicht. Und die Schafe. Beide, einträchtig in der Verwirrtheit, purzeln blökend durcheinander.
Am Hochufer ein Trupp königlich bairischer Infanterie. Man hätte sie nicht bemerkt in ihren verblichenen Monturen, wenn nicht einer der Floß-knechte auf sie gedeutet hätte und geschrien :
„Dö schaugts o, de traun si no umananderkaschperln“.
Links rechts links rechts/ hinterm Hauptmann stinkts recht skandieren die anderen Floßknechte. Dem Floßmeister ist anzusehen, dass ihm dies-mal sein hingebungsvoll auf der Zunge bereiteter Tabaksud zu scha-de ist zum Ausspucken.
„Schaamts euch net, andauernd besiegt werden, Lattirln !“
Die Franzosen haben Rösser, wird hinauf geschmäht, und sie nur Vor-derlader mit denen man gerade mal eine Semmel erschießen kann. Sofern die nicht schlauer ist als wie die bairische Armee und vorher davon rollt. Und weil die da oben per pedes so mühselig vorankommen und sie auf dem Wasser so behende, singen die Flößer :
“Mei Vater is a Schiffsmo
mit eam is a Gfrett
er fahrt gern am Wasser
aber saufn mag ers net“.
Die da droben dürfen ja nicht einmal singen. Singen wie ein freier Schiffsmann, bloß allerweil marschee machen, marschee marschee, o mei o mei ! Die Flößer entkorken ihre Lederflaschen, denn einen gesunden Schluck nehmen dürfen die Armeepinsel ja schon gar nicht, und recken sie foppend zu ihnen hoch : auf euer besonderes Unwohl, Versager !
„ Und de Schiffsleit am Wasser
de stehn an Strauß aus
bei da Nacht geht’s zum Dirndl
beim Tag ins Wirtshaus.“
Singts ihnen bloß nix vom Dirndl, wird gehämt, von denen hat doch noch keiner eins von weitem gesehen ! Und wieder wird geprostet.
„As Fahrn aufm Wasser
is gfährli beim Wind
und s’Schlafn beim Dirndl
wann der Bauer reikimmt.“

Die nächste Sandbank rettet die Infantristen vor dem nächsten Spottgesang. Ohne ein Lachen, ohne Gegenspott ziehen sie auf dem Uferweg weiter und werden in der Ferne selber zu kleinen Schottersteinen.
Wie der Holzbaukasten seiner Kindheit, fantasiert sich Kunterkasten, muss das Floß aus der Vogelschau aussehen. Jedes Element wohl sortiert und in seinem je ihm zukommenden Fach. Kuh bei Kühen, Schaf bei Schafen, Schrank bei Schränken, Wein bei Wein, und die Zimmerleute in einem Karee mit den Flößerknechten beim Kartenspiel. Napoleon hat gerade Glücksspiele verboten, aber bis das Gesetz auch sie erreicht hier, karteln sie noch ein letztes Mal mit Floßknecht-Einsatz um ihr Leben.
Eine Katze schlängelt sich von einem zum andern, als machte sie den Kiebitz. Schließlich kriecht sie ihrem Herrn unter die Weste, um ihm zu hintertragen welches Blatt sie bei diesem und jenem gesehen hat.
Hinter jedem Flößer liegt seine Hakenstange, von seinem Sitzplatz aus kann er sie jederzeit greifen. Weil sie alle gleich aussehen, hat jede einen Namen ( der immer der der Liebsten ist ) und ihre eigene Markierung, als Zinken ins Holz geschnitzt. Und dem heiligen Nikolaus von Myra sind sie ohnehin alle zusammen geweiht worden, denn der vertritt die Flößer im Himmel.
Wie die Katze streicht auch einer mit einem Bauchladen umher, kibietzt aber nicht bei den Karten, sondern verkauft welche.
Der Tandler Kajetan bin i, ja so mir Gott helfe stellt er sich bei jedem vor. Bei jedem mehrfach, damit man nicht vergisst dass ein wohl as-sortiertes Warenhaus mitreist, und zählt jedem ungebeten auf was sein unerschöpfliches Sortiment alles enthält. Kerzen und Talglichter und zu-gehörige Schwefelhölzer, Mausefallen, Nadeln und zugehörigen Faden. Für Junggesellen auch Schweinkram von einer Delikatess wia net amal in Wien erhältlich in einem unteren Schubfach des Holzkastens, den er vor die Brust geschnallt hat. Jeder nennt ihn den Jasomirgott nach irgend-einem heiligen Herzog, dabei ist Kajetans Erkennungs-Floskel an ihm haften geblieben aus der Zeit als er noch Devotionalienhändler war und er sich bemühte im Jargon der Frommen mitzufrömmeln : ja so mir Gott helfe ( „dass i a guats G’schäft mach“ ).
Aber gerade bei den frommen Artikeln herrscht eine schmerzliche baisse neuerdings, pfundweise hat der Jasomirgott Wachstöcke ein-schmelzen müssen. Bei Pfeifenköpfen aber in Gestalt einer Büste des Napoleon, da ist hausse. Napoleon als Schnupftabaksdose, Napoleon zu Pferd als Kammgriff, Jasomirgott kann damit dienen, auch mit Borten, in die Napoleons Initialen eingewoben sind benebst Halstüchern, auf welchen der Kaiser sogar im Duo erscheint mit seiner Gattin, der Kai-serin Josephine. Für die Landgänge endlich hält Jasomirgott Schuhwichse bereit, für die Schlampigen Sicherheitsnadeln, für die Vergesslichen Notizbüchlein Und für alle kleine Steingutflaschen mit Zwetschgen-schnaps, gegen den Frost. Und für die exquisite Minorität der Musikjünger Okarinas und Maultrommeln.

Strönebald wird ein Kunde für diese Sektion des Kajetanschen Magazins werden, wenn erst davon erfährt. Strönebald hat hinter der Hütte bei den Ziegen für seine Harfe, die von den Ziegen schon beim Einsteigen willkommen geheißen wurde, ein Verwahreckchen gefunden. Wer seine Geliebte, die Harfe liebt, wird auch von Strönebald geliebt, über die Ziegenstinke riecht er hinweg. Die auch den Vorteil hat, dass Langebehn sein Reservat meiden wird.
Nicht so Schuff, Kunterkasten und Käpernick. Käpernicks pilzartiger Riecher sitzt viel zu weit oben, fast zwischen den Augen, seine Backen sind viel zu dampfnudlig, seine Lippen viel zu fleischig und die Zähnchen dahinter viel zu hamsterartig, um den Ziegen nicht zu gefallen. Er beginnt sogleich einen angeregten Dialog mit Strönebalds Nachbarn, versetzt sie mit Drolerien im Ziegendialekt so in Erstaunen, so dass sie lange überlegen müssen, um ihm passend herauszugeben.
Kunterkasten holt den Zettel hervor, den er in der Haupt- und Residenzstadt zum Drucker hätte tragen sollen.
Die hochwohlgerühmte Compagnie der Schauspielgesellschaft PORPORA verstattet sich anläßlich der Krönung seiner Majestät Maximilians des Ersten Joseph darzubieten zum Erstenmal KÖNIG TIMOTHEUS ERHÖHUNG oder DER TRIUMPH DER TUGEND ÜBER DIE KABALEN DER VERWANDTSCHAFT. Tragödie in fünf Abtheilungen aus dem Französischen des Marquis de Laconte. Die Kostüme sind neuestens cou-turiert, die in die Handlung eingeschlossene Musik ist von Herrn Ströne-bald. Anfang um 6 Uhr. Ende nach 9 Uhr.
„Darf ich euch auch noch vorlesen, als Souvenir aus einer nie eingetretenen Zukunft, welche Rollen die Herren da beinahe gespielt hätten ?“
„Streich lieber durch, was erstunken und erlogen ist“ kichert Käpernick, und die Ziegen kichern mit ihm, anfeuernd. Kunterkasten bekommt von Strönebald, dem Souffleur, dessen Souffleurstift.
Hochwohlgerühmte Compagnie ?
Die letzte Vorstellung, Goethes Laune des Verliebten in Ulm, war zum Kinkerlitzchen in der Etappe geworden und hatte abgebrochen werden müssen, weil die Zuschauer zu einem anderen Spektakel übergelaufen waren. Draußen vor der Stadt legte gerade die österreichische Armee Napoleon ihre Waffen zu Füßen und mitsamt ihrer zweihundert Geschü-tze, ohne dass eine erkennbare Schlacht vorausgegangen wäre.
„Gegen Suizid kannste nich anspielen“ knurrt Schuff.
Und danach hat kein Publikum die hochwohlgerühmte Compagnie mehr sehen wollen.
„Streich das raus mit der hochwohlgerühmten Compagnie, Kunter-kasten.“
Und die Schauspielgesellschaft PORPORA ?
Das Subjekt heißt immer noch Propodonsky. Nur weil er einmal in Parma aufgetreten sein will, versteift er sich auf einen lombardischen Großvater. Angemaßt und Larifari wie alles an ihm. Zumal Italien längst kein Markt mehr für Schauspielkunst ist in diesen Zeiten. Umbruch hier, Umbruch da, was bleibt denn bitte noch von Italien, wenn Napoleons Schwager König von Neapel ist. Französische Komödien will man dort sehen, französisch wie überall.
„Streich das raus mit dem Porpora, Kunterkasten.“
Und Krönung Seiner Majestät ?
Vom Spielplan abgesetzt schon vor der allerersten Stellprobe. Dieser französische Kürassier da, Edelstatist früher schon mal bei den Franzo-sen, ist per Zettel am Hintereingang als König besetzt worden.
„Fehlbesetzt versteht sich.“
Und per Aushang auf, versteht sich, französisch.
„Streich das raus, Kunterkasten.“
„Wenn französisch à la mode ist, dann kann ja wenigstens stehen blei-ben aus dem Französischen des Marquis de Laconte“.
„Wie ich noch bei Heuselschen Truppe war, in Gotha, da haben wir alle zwei Tage ein neues Stück gespielt. Und hier immer bloß Laconte, La-conte, Laconte.“
Dass die Hühner kichern, das Stück ist doch von keinem anderen als von ihm selber. Dem gefälschten Porpora mit dem aufgeschminkten ita-lienischen Großvater.
„So stülpt er uns alle nach und nach um in lauter kleine Propodonskys.“
Aber was heißt von ihm, diesem achtneuntel Analphabeten. Abgezapft von einem anderen ! Soweit er sichs hat merken können mit seinem er-barmungswürdigen Textgedächtnis.
„Von wem fragt ihr noch ? Von Racine.“
Immerhin ! Hofdichter beim Sonnenkönig. Jaja eben der, da soll er mal in einer Dienerrolle ausgeholfen haben, wars Phädra ? Oder wars Atha-lie ? Von Käpernick aus wars der dritte Römer von links mit einem ein-zigen Satz so vom Kaliber Wehe weh der gute Herr davongeritten ist er soeben.
Jedenfalls wars in Koblenz.
„Koblenz, wo nimmst das denn her, in Koblenz, da hats doch nie eine feste Bühne gegeben !“
Aber alle heiligen Eide doch wars Koblenz, Käpernick verwettet zwei Drittel seiner ewigen Seligkeit, und ob es da eine feste Bühne gegeben hat ! Seinerzeit als die Adelsflüchtlinge aus Frankreich alle da kampiert haben, ein zweites Versailles, geflohen vor Robespierre und der Revolu-tion, mit ihrem ganzen Tross, Köchen, Mätressen, Schauspielern. Längst wieder auseinandergestoben alle, und von Napoleon in vier Himmels-richtungen verjagt. Und die Köche ? Übergelaufen zu denen die die superbsten Zutaten geboten haben.
Immer zum Sieger, wie die Mätressen. Und erst die Schauspieler ! Propòdois soll er sich genannt haben damals, mit einem accent aigu auf dem seinem zweiten O.
„Propodoaaaaaaaah !“
„Nochmal. Alle zusammen.“
„Propodoaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaah – „
„Klingt als ob Jupiter einen Schluckauf hat“.
Aber den Ziegen hats gefallen. Bliebe noch, merkt Kunterkasten an, den Stift in der Hand Die Kostüme sind neuestens couturiert.
„Seitdem ich die Klamotten rumschleppe hat die Prinzipalin noch kei-nen einzigen neuen Knopf angenäht.“
„O Grünling was pfnufelst du da naseweis daher“ stippst ihn Käper-nick an die Oberlippe.
„Die Prinzipalin näht nur deshalb keinen Knopf an, damit der Wind freie Bahn hat zum Pfeifen durch die leeren Löcher, und unsere Eleven fortpustet in die große Karrieren zu Iffland in Berlin und Goethe in Weimar.“
Bleibt ad ultimo die in die Handlung eingeschlossene Musik ist von Herrn Strönebald.
„Streichs auch“ flüstert Strönebald, wie er immer flüstert.
“Ich habs zusammengestohlen vom Mozaht, vom Haydn, vom Gluck. Wie ich einmal eine F-Duh-Kavatine gespielt hab in deh Vohstellung, fällt mih auf : das hab ich doch ehst gehstehn aufgeschnappt wie’s ein Fuhknecht gepfiffen hat“ lacht er, und alle lachen mit. Käpernick am lautesten, weil er den bauchspeckigsten Resonanzboden hat, und seine Freundinnen die Ziegen stimmen mit ein.
Seine Lache hat Käpernick so durchgeschüttelt, dass er sich auf der Stelle hintenraus erleichtern muss. Zwischen zwei Baumstämmen hin-durch. Das Mahl gestern war zu reichlich, um damit fürder noch die chri-stliche Seefahrt zu belasten wie er sich bei den Kollegen entschuldigt. Damit hat er sich, als öffentliche Scheißer, demaskiert als heimlicher Fresser, der seine Kollegen hinterging als er gestern ein Publikum hatte und sie schon wieder keins.
„Schaut mich nicht so an, Freunde, als hätt ichs euch auf die Nase gemacht. Der Fluss nimmts doch dankbar mit. Mit Kusshand !“
Das köstliche Sauerkraut mit Blutwürsten aus dem Goldenen Hirschen. Bloß zum Abwischen hat er nichts. Doch, er hat. Kunterkasten reicht ihm den Programmzettel, auf dem er eben noch herumgestrichen hat. Käper-nick stopft ihn, nachdem das Blatt zwischen seinen Hinterbacken Dienst getan hat, zwischen die Stämme als allerletztes Dokument der Premiere von König Timotheus‘ Erhöhung aus der Feder des Marquis Laconte bei den Krönungsfeierlichkeiten seiner Majestät des Birkenfelder Pferdeäpf-lers. Die Wellen nehmens an sich, wie Käpernick es geweissagt, und fortgespült ist die hochwohlgerühmte Compagnie der Schauspielgesell-schaft PORPORA.
„Die Fische reißen sich schon darum“ ruft Käpernick, als er sich die Hose zuknöpft.
„Aber nur wegen meinem Beitrag. Nicht wegen dem von Propòdois.“
„Propodoaaaaaaaas !“
„Alle zusammen.“
„Propodoaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaah – „
Diesmal kichern die Ziegen nicht mit, sie ducken sich unter einem Schneeschauer, der Tiere und Menschen ohrfeigt.
„Wenn wir nicht alle an der Kälte draufgehen“ prophetet Schuff, “werden uns Ziegenfelle wachsen, bis wir in Wien ankommen und der Kaiser wird uns für Satyrn halten.“
Dann verschließt der Schnee auch ihm den Mund. Käpernick findet Gefallen an der Rolle des Satyrs, die Schuff da erfunden hat. Für ihn, Käpernick, wen sonst. Er schließt genießerisch die Augen, lässt sich vom Schnee verwöhnen, indes die Kollegen sich mürrisch grummelnd be-decken und insgeheim ihren Prinzipal für den Niederschlag anklagen. Und schon werden ihm die Schneeflocken, die auf seine Ohren nieder-fallen, zu weichen Fellkringeln. Warum nicht Fell, zum Satyr gehört die Behaarung. Stirnseits schneit es ihm nicht aufs Gesicht, dabei sitzt gar keine Mütze mit breitem Schirm auf seinem Schädel. Er tastet mit den Händen, mit geschlossenen Augen wegen des Schnees und findet dass ihm Hörner gewachsen sind. Er ist es zufrieden, zur Rolle des Satyrs gehört dass er mit einem Gehörn imponiert.
Einem stattlichen Exemplar, dabei leicht wie der Schnee, und Käper-nick wird grüßend nonchalant daran tippen, wenn er auf die Hofburg zu schreitet, wo der Kaiser ihn erwartet. Dem hat er fünf Fässer Wein zu überbringen. Ob dieser Kältegrade nicht eben in der in Temperiertheit wie der Kenner seinen Roten liebt, aber wer weiß ob der der Kaiser ein Kenner ist. Der soll ihm dankbar sein dass sie nicht schon leergetrunken sind, obwohl sie so verführerisch nah bei ihm lagern.

Als der Schnee dichter fällt, als Käpernick endlich in der Hofburg ist, steht kein Kaiser bereit, keine einzige Schranze, die er auf seine Hörner nehmen könnte. Dafür kommen Erzherzoginnen die Treppe heruntergestoben, minderjährig und zu allen Aventuren aufgelegt. Sie kraulen ihm die Wirbel- und Zwirbelwolle um seine Hörner herum, sie kraulen ihm den Wanst, er möge sie doch bitte aufsitzen lassen auf seine Fässer, sie reiten den Wein warm für den Kaiser und für den Gott Pan.
Und für Käpernick, den Wanst.
Und so ergibt es sich dass Käpernick als einziger auf dem Floß vor sich hin kichert, während gleich neben ihm, der Wein in den Fässern gluckert, von dem Grenadier bewacht, und gegen die Fassdauben schlägt.
„Was werden die Luderchens den guten Roten durchschütteln…“
Indessen die Gesichter der anderen ins Gottsjämmerliche spielen ( der Schauspieler ) oder ins Gottergebene ( der Flößer und Tiere ) während sie allesamt gleichermaßen von einer Schneedecke zugeschlemmt werden. Und sie in eine gleichmäßige Landschaft verwandelt, weiß in weiß, mit sanften Erhebungen, sanften Tälern und dem Satteldach der Hütte in der Floßmitte.
Aus dem ein Rauch kräuselt, dem die Flocken nichts anhaben können.

Als beim ersten Halt in Freising das Floß gegen die Uferböschung rummst, bricht der Schnee in Leisten ab von den Hügeln und Kanten der weißen Landschaft, die er aufs Floß gerieselt hat und darunter werden wieder Schränke, Balken und Gesichter von Tier und Mensch erkennbar.
Neue Oblast rumpelt auf das Floß. Maurer mit Kalkbottichen und Armierungseisen steigen zu, und wer schon auf dem Floß ist, hat gefälligst Platz zu machen.
„Zammrucken, Leit, aa de Gwamperten !“
Was muss, wird geschimpft, der Floßmeister jedes Gesox zusteigen lassen, Das drückt uns und das Floß doch bloß nieder ins Wasser, wird geschimpft, und wir kommen nicht vom Fleck. Bei jeder Sandbank riskieren wir das Auflaufen, die Ladung verrutscht, und die Ochsen rutschen ins Wasser, und reißen uns mit. Jeder denkt bloß an sein Vieh, schimpfen die Maurer. Jeder denkt bloß an seinen Kalk, schimpfen die Viehleute. Und keiner denkt an unser Holz, schimpfen die Holzleute.
Vor dem Frühjahr fahren keine Flöße mehr, schimpfen alle, aber der Bonaparte schert sich nicht um Winter oder Sommer, der schert sich bloß um Sieg und Eroberung. Und von wegen gleich zu gleich ! schimpfen die Schauspieler, nun noch enger eingezwängt zwischen Gütern und Krea-turen von minderer Gattung als sie selbst, wer sind wir denn und wo ist nur wieder unser Prinzipal.
Eingeschneit und eingeebnet ist der, zu einem Teil der weißen Landschaft geworden, aus deren Mitte das Räuchlein quillt und sich zu einem frechen Schwänzchen verdichtet, das hinter dem Floß her über die Wellen ringelt. Und Schuff, der unbeschimpft bleibt, weil er der Dünnste von allen ist und niemand Platz wegnimmt, Schuff drückt sich an geflochtene Bienenkörbe, die neu aufs Floß gebracht worden sind. Er hört darin die schlafenden Völker vibrieren und wünscht sich hineinkriechen zu dürfen zwischen die Waben und im Warmen weiter zu reisen.

Abend in der Herberge.
Im Stall unten ist das Vieh versammelt, die vollen Euter drücken. Darüber auf der Tenne versammelt der Prinzipal seine Compagnie. Lautmächtiger als die Schauspieler es könnten tun die Kühe kund dass sie ihre Geduld zu Ende ist und sie gemolken werden wollen.
„Wir waren stehen geblieben im zweiten Akt, siebenter Auftritt.“
Tavitius hat die Zurücksetzung durch seinen Bruder Timotheus noch immer nicht überwunden. Die Melkeimer klappern aus dem Stall herauf. Tavatius plant einen Rachefeldzug gegen das Kastell des Timotheus. Die Melker liefern sich, unter den Kuhbäuchen hervorbrüllend, Wortgefechte mit den Ziegenleuten, die ihre Herde zwischen den Kühen übernachten lassen wollen.
„Die Römer Schuff, Langebehn, Käpernick in Position !“
Denn Tavitius will seine Reisigen einschwören zu unbedingtem Gehor-sam in dem Bruderkrieg, den er entfesselt hat. Der Grenadier, der den Wein zu bewachen hat und die Hüter der Kalkbottiche zanken sich um einen Unterschlupf, in dem der Nachtfrost ihren jeweiligen Fässern nichts anhaben kann. Der zweite und der dritte Römer nehmen Aufstellung, Heu an den Beinkleidern, die Mäntel wie Togen um sich geworfen, nicht der römischen Mode sondern der Kälte wegen, die Fäuste aber gehorsam an hölzernen Schwertern. Die Schafe, wie die Ziegen aus dem überfüllten Kuhstall verwiesen, drängeln auf die Tenne und blöken gepeinigt, weil die Ziegen dort bereits Quartier bezogen haben und es mit ihren spitzen Hörnern verteidigen.
Der erste Römer aber, dessen Auftritt befohlen ist, sitzt abseits, die Verweigerung in Person.
„Herr Langebehn !“
Die Floßknechte haben sich am Fluß schadlos gehalten für die Plagen, die der ihnen bereitet hat und mit ihren Käschern Schlei-hen, Barben und Rotaugen aus ihm herausgeholt. Schuff kann sei-nen Text noch immer nicht und bekommt von Strönebald Halbsatz um Halbsatz zugereicht, Schafe und Ziegen sind geschwinder und fallen ihm hohnmeckernd ins Wort. Die Innereien der Fische werden herausgerissen, nur die Schleihen widersetzen sich auch noch, als sie schon in Streifen geschnitten sind und springen in der gefetteten Pfanne. Wofür sie von den Flößern mit einem Gelächter belohnt werden, das zu einer Kirchweihbelustigung passen würde, und das Schmalz in den Pfannen knallert fette Begleitmusik dazu.
Der Bratenduft zieht zu den Schauspielern, die Fressfreude der glücklichen Angler wird überlaut, die Münder der Schauspieler werden schmal vor Entbehrung. Die meisten von ihnen hatten nur einen Brotkanten zur Vesper, allein Käpernick hegt noch seine selige Erinnerung an Blutwurst und Kraut.
„Herr Langebehn mit freundlichem Ersuchen !“
Einer von den Flößern, der mit der Katze, füttert seine Freundin mit Fischhäppchen und nicht bloß mit abgenagten Gräten. Für die Geheimnisse, wird geblödelt, die sie ihrem Herrn beim Kartenspiel verraten hat.
Ein Schwall von Gaudium und Männerspaß, in den hinein Propodonsky kommandiert :
„Herr Langebehn, Ihr Auftritt !“
Langebehn sitzt, seine Gestalt ins Profil zum Prinzipal gerückt und mit durchgedrücktem Kreuz, wie ein antiker Potentat im selbstgewählten Exil. Den Pelzkragen seines Mantels, den er ges-tern Propodonsky überlassen musste, hat er hochgestülpt bis über die Ohren. Wie ein Schutzwall umgibt er ihn und soll gleichzeitig den Prinzipal ( wortlos aber verachtungsvoll ) daran gemahnen wer von ihnen Erster Held ist, eroe assoluto, und wer Zweitbese-tzung, die sich in fremder Garderobe auf Betteltour begeben muss.
„Herr Langebehn, auf Position !“
Strönebald, der Souffleur, wirft leise Langebehn seinen ersten Satz als Köder zu wie der Flößer seiner Katze die Fischbröckchen zuwirft.
„Dies nimmeh lass ich zu dass deh eigne Bhuder…“
Strönebald ist Langebehn zugetan, weil dessen Name kein R enthält, denn Strönebald kann keins aussprechen. Aber Langebehn lässt sich nicht ködern. Er zieht seinen Mantel noch enger um sich und umschlingt ihn wie einen Heimgekehrten, der erniedrigt wur-de als er mit Propodonksy fremdgehen musste. Der den Saum auch noch durch den Schneematsch geschleift hat, denn Langebehn der Erste Held überragt Propodonsky den Schweren Helden um fast zwei Köpfe.
Ja wer bin ich denn.
Die Flößer sind noch nicht aufmerksam geworden, dass sich da ein Drama anbahnt. Sie vergnügen sich noch mit Gröberem. Bei denen, die im Kartenspiel verloren haben, muss die Katze sich ihre Fischhäppchen erst noch verdienen. Sie werden in die Luft geschlenzt, die Katze hat gehörig danach zu hüpfen, und wird mit Applaus belohnt.
Ein weiterer Schwall von Gaudium und Männerspaß.
Kajetan Jasomirgott ist an dem Grenadier gescheitert, dem er Schweinebilder andrehen wollte, vorderseits als Andachtsbildchen bedruckt, und wird dafür von den Flößern ausgelacht. Wieder Gaudium, wieder Männerspaß, Langebehn zuckt zusammen wie unter Rutenhieben. Der Grenadier hat selber schweinige Bilderchen in seinem Tornister stecken, dazu noch in Aquarellfarben ausgemalt, und Kajetan kann nur Schwarzweißes bieten.
Nun macht er sich an die Maurer mit den Kalkbottichen heran mit unverfänglich Nützlichem, Bartwichse und Rosenkränzen. Aus Klosterbeständen, enteignet, darum zu einem Freundschaftspreis.

„Herr Langebehn…“
Der Prinzipal setzt nicht, wie sonst auf der Probe, herrscherlich seine Löwenstimme ein. Er scheut den stimmlichen Wettkampf mit dem Hornvieh, auch wenn das jetzt leergemolken ist und sich gemächlich mit Heu vollfrisst. Aber auch sein sanftes Brummeln beim Mampfen übersteigt Propodonkskys Volumen immer noch bei weitem. Der rex leonorum verlegt sich auf den Ton des treusorgenden Vaters.
„Kinderchen – „
Kinderchen ! Ja wer sind wir denn.
„Kinderchen, bedenkt: der Kaiser wird vor uns sitzen in der er-sten Reihe und darf allererste Akkuratesse erwarten.“
Was dieses neu geschneiderte Königlein von Baiern ver-schmäht hat, dieser emporkömmlerische Debütant, das wird Seine Apostolische Majestät im Faltenwurf seiner vielhundertjährigen Dynastie allergnädigst zu genießen geruhen. Und zu belohnen wis-sen.Welche Erhöhung für jeden einzelnen in dieser Truppe !
Aber Langebehn ist nicht ein Einzelner in dieser Truppe, er ist der Einzelne überall und schlechthin. Er lässt sich nicht anmerken, ob er dem Sermon seines Prinzipals Eintritt in seine elfenbeiner-nen Ohren gewährt hat. Er lässt seinen verbliebenen Handschuh dicht vor seinen Augen tanzen und lächelt ihn bittertraurig an. Er und der verwitwete Handschuh, sie sind nun beide einsam auf sich selbst gestellt, erniedrigt und versprengt, schiffbrüchige Edle zwi-schen Kroppzeug.
Die Aufmerksamkeit der Flößer ist geweckt, sie recken die Hälse. Eine Gaudi steht ins Haus, zum Verdauen und vor dem Einschlafen. Noch ein Schluck Obstschnaps, und sie geraten in die Stimmung, die Kontrahenten anzufeuern wie beim Raufen auf dem Dorfanger.
Propodonsky, in der Haltung des sorglichen, nun tief besorgten Hausvaters, spürt wieder festen Boden unter sich. Ein Stöhnen noch, mit einem Über-die-Stirn-Streichen fortgeschickt, und mit der selben Hand, weit ausgestreckt, weist er dorthin wo niemand steht. Ins Leere, ins Dunkle, weit von Langebehn entfernt und zieht dabei eine so finstere Grimasse, dass die Flößer erschrocken verstummen und niemand mehr anfordern. Sie sind froh, dass Propodonsky es mit dem Unhold aufnimmt, der dort im Dunklen lauert.
„Dies nimmer lass ich zu dass der eigne Bruder treulos wird /
und im Rücken…im Rücken…“ donnert Propodonsky. Aber er kommt nicht weit mit dem Gedonner, denn es gar nicht sein eige-ner Text. Es ist der von Langebehn. Da kommt Kunterkasten ihm zu Hilfe. Zumindest der Rolle. Denn Kunterkasten hat Lan-gebehns Rolle seit langem intus.
„Dies nimmer lass ich zu“ ruft Kunterkasten „dass der eigne Bruder treulos wird / und im Rücken seines eignen Bluts -“
Wenn der Erste Held schmollt, rückt der Zweite Held auf.
„- seines eignen Bluts / seinen Arm dem Feinde leiht / ja gar zum Blutsverräter wird“
Und so fort im Dahinfließen des Dramentextes, der wie zigfach aufgewärmte Suppe tröpfelt. Aber Käpernick patscht trotzdem vor Vergnügen die dicken Hände ineinander, als höre er ihn zum ersten Mal. Er hegt nun einmal eine heiße Liebe zum Theater, das nicht einstudiert ist.
Da springt Langebehn auf von seinem Schmollplatz ( auch nicht einstudiert ), treibt Kunterkasten mit einem Hieb seines Hand-schuhs von der Szene ( schon gar nicht einstudiert ) und ist wieder der Erste Held :
„- seinen Arm dem Feinde leiht / ja gar zum Blutsverräter wird wofür die Rache ihn verfolgen wird / all jene elenden Tage lang / die er noch über diese Erde kriecht.“
Tableau. Langebehn steht triumphierend, den Kopf weit zurück geworfen und reckt als Siegesfackel seinen Handschuh hoch.
„Warum wippst du mit dem Oberkörper auf und nieder“, fragt der stille Schuff den nun ebenso stillen Kunterkasten, der sich sel-ber verübelt wie schnell er sich bei Langebehns Auftritt wieder brav zurück ins Heu gesetzt hat. .
„Ich wippe nicht“ zischt Kunterkasten.
Seine Wut richtet sich nun gegen Schuff. Wo Kunterkasten steht oder sitzt oder wippt, ist jedermann schnurz. Wo Langebehn steht, wird hingeschaut. Auch wenn er nur steht. Den Stehenden gibt. Auf dem Theater, auf dem Floß, im Heu. Langebehn braucht keine Kulisse, wo er ist, da ist Bühne
Auch die Flößer sind andächtig geworden, liegen ausgestreckt im Heu, auf ihre verschränkten Arme gestützt. Sie sind enttäuscht, dass der Hahnenkampf nicht zu einer Prügelei geführt hat. Aber gebannt sind sie trotzdem, es mag ja ein noch viel hahnenhafteres Vergnügen anstehen. Als der Ziegenbock von der einen Tennen-seite zur anderen wechseln will weil er dort im Heu trockenen Klee erschnuppert hat, fangen sie ihn ab. Sie wollen freie Sicht auf ihren Helden Langebehn. Erst als Propodonsky mit seinem Satz dran ist, geben sie den Bock wieder frei.
„Wenn der Prinzipal dran ist, wippst du jedenfalls nicht“ flü-stert Schuff.
Wieder richtet sich Kunterkastens Wut gegen Schuff. Er versetzt ihm sogar einen Fausthieb, aber der hat ohnehin seinen Auftritt.
„Hinter den Bergen, so ist zu vermelden / sammelt sich schon des übelsinn’gen Bruders Heer.“
Schuff kann seinen Text. Das verdutzt ihn selber so, dass er ihn einen Moment lang gleich wieder vergisst. Und darüber kichern muss. Bei diesem winzigen Extempore waren seine Atemwege unbewacht und zu weit offen und haben Heustaub hereingelassen. Schuff muss von tief unten herauf husten. Propodonsky, der mit dem nächsten Satz dran ist, hat plötzlich auch er Heustaub im Rachen, als hätte Schuff ihm den da hineingehustet. Er versucht ihn wegzuräuspern, aber er erreicht damit nur ein Rasseln wie von Erbsen in einem Sieb ( das Sieb ist sein Kopf ) und schon kann sich auch die Prinzipalin, die prustend mit ihrem Husten gekämpft hat, nicht mehr zurück halten.
Und bringt damit das ganze Orchester zum Einsatz. Käpernick als Tuba, Schuff als Dudelsack, die Demoiselle als Violine, Lan-gebehn und Kunterkasten als Trompeten, und alle verstimmt. Der Ziegenbock nimmt als erster die Herausforderung an, in dieser Kakophonie mitzukeckern und mitzuhusten und weckt damit seine Ziegen. Die, nun schon gewohnt, mit den Schauspielern im Zwie-gespräch zu sein, warum nicht auch im Zwiegehuste, machen die Kühe unten im Stall rebellisch. Der Wirt kommt herein gestürmt, im langen Nachtgewand.
„Ein Ramasuri is des als wanns brenna daad !“
Das Gesicht rotblau wie eine Ochsenzunge.
„Meine Gäste wolln schlafen und ham dafür zahlt. Wann koa Ruah net eitritt auf der Stell, schmeiß i des Schauspielergschwerl naus.“
Und die Stall- Laternen sammelt er auch gleich ein, damit de Schlawiner nicht auch noch einen Brand stiften.
Wie Vögel, denen man eine Decke über den Käfig gehängt hat, sind die Schlawiner ins Dunkel verbannt und mit einem Mal schweigsam. Das herrscherliche Gebrüll, das ihr Prinzipal ausnahmsweise nicht hören ließ, fehlt ihnen wie Kindern das unterlassene Nachtgebet.
Und die Aussicht, strafweise draußen in der Kälte zu stehen, hat den Heustaub aus ihren Rachen fortgeputzt. Halme stechen die Darsteller der antiken Helden wie Pfeile, verhutzelte Blätter kriechen zwischen ihnen Hemd und Kragen, richten Juckendes an in den Knie-kehlen. Tief hinten hört man die Bauersfrau mit dem Segeltuchkasten leise eine Litanei singen.
Von ihr in den Schlaf gesungen, sieht Demoiselle Pfrenhuber den Kaiser sitzt vor sich sitzen, in einer Duftwolke von getrockneten Wiesenblumen. Er, zu dem alle aufschauen müssen, schaut nun zur Demoiselle auf. Seine Apostolische Majestät, allzeit Mehrer des Reiches, König von Böhmen, Herzog von Triest und Cattaro und der Windischen Mark, Grosswojwode von Serbien, sie alle sitzen vor ihr, der Fürst der Fürsten, der gute Kaiser Franz der Zweite, vor dem Pfrenhuberfräulein auf goldenem Sessel, und die Lichter aus der Rampenleiste beleuchten von unten her seine Augäpfel so dass sie glitzern wie Christbaumkugeln.
„Wann doch meine Gattin auch was von Ihrer Hoheit hätt, Mademoiselle Isabelle Beatrice“ spricht er zu ihr von da unten, “aber man muss sich halt als Kaiser wegen dene tausend dynastischen Rücksichterln verehelichen und nicht nach der Libido.“
Demoiselle Pfrenhuber, die sich im Schlaf um und um wendet, hat ein Kostüm aus Grashalmen an, durchsichtig, es ranken sich eigentlich nur ein paar Zweige Schafgarbe um ihre nackte Unterpartie herum, und
des Kaisers Auge ruht wohlgefällig darauf. Er dabei die Lippen auf ihren Fingern.
„Libido ! Jessusmaria, was für Wörter das Fräulein so herausholt aus einem Kaiser…“
Und nestelt aus dem dürren Halmen eine blaue Akelei hervor, mit frischen saftigen Blüten, und steckt sie ihr ins Haar.
„Meine Verehrung, meine Schöne, meine Verehrung Ihrer Kunst…“
Und nun küsst ihr der Kaiser schon den Hals. Dabei weiß Demoiselle Pfrenhuber gar nicht was Libido ist.
Sie hat das Wort erst heute abend von Langebehn gehört, der Prinzipal konnte mal wieder seine Libido nicht bezähmen, hat Langebehn über sie hinweg geknurrt, sie nicht angesehen dabei aber alle haben gewusst was er meint. Wenn sie aufgewacht ist, findet sich die Akelei wirklich in ihrem Haar. Ausgedörrt wie alles andre Heu. An der Akelei ist Goldbronze dran, und an den anderen vertrockneten Wiesenblumen ist keine dran.
Goldbronze, die an ihren Fingern haften bleibt wie der Staub von Schmetterlingsflügeln.

Die Glocken sind nach Rom geflogen

Zweiter Tag.
Kunterkasten liegt vorne auf den Stämmen, bäuchlings. Wenn das Floß einen Kiel hätte, wäre Kunterkasten jetzt der Kiel, und wenn es ein Segler wäre, wäre er der Klüverbaum. Am liebsten möchte er sich mit der Rolle der Galionsfigur besetzen. Die hat die Nase am verwegensten allen voraus über dem Kielwasser, weit vor den Propodonskys und Langebehns.
Die Beine dem Floß zu, Gesicht und Schultern dem Wasser zu. Kunterkasten lässt es genüsslich über sich ergehen, dass ihm der Strom seine kalten Gischtwellen wie mit vollen Händen ins Gesicht schüttet, die sogleich, zu Eiskristallen verwandelt, an Kunterkastens Augenbrauen, Haaren und Ohren hängen bleiben und als sein Ohr- und Haarschmuck mit ihm weiter reisen.
Die Wintertaufe seiner Kindheit kommt ihm wieder in den Sinn, als man sich den ersten frisch gefallenen Schnee gegenseitig ins Gesicht reiben musste, bis man blind davon war Fang mich doch fang mich doch / lahmer alter Zausel und der heiße Schmerz des Eiskalten erzeugte ein bittersüßes Glücksgefühl, ein Winterspüren, wie mans den Sommer über immer vergessen hatte und auch vergessen musste. Vergessen wie die Gier darauf dass einem Ohr und Nase abfroren, kriegst mich nicht / kriegst mich nicht / lahmer alter Zausel.

Aufbruch, Kunterkasten ! Der Kummerkasten ist zugenagelt, jetzt wird der Kunterbuntkasten aufgemacht. Du bist auf Wikingerfahrt, du bist Magallan und Erik der Rote in einer Person. Kunterkasten ge-nießt die Vorstellung, er sei der Vordersteven, der tief ins Wasser reicht und an dem die Gischt sich teilt. Die Beine dem Floß zu, Gesicht und Schultern dem Wasser, sieht Kunterkasten sein Gesicht nicht gespiegelt. Das Wasser ist zu trüb, aber er sieht sich nur als Schattenriss auf den Wellen. In den Schattenriss setzt er den Senner und den Hüterbuben ein, die Schiller gleich auftreten lassen wird.
Das Flusswasser wirft sich von unten gegen die Stämme, auf denen er liegt, es schmatzt am Holz, es gurgelt durch die Lücken fast bis zu ihm herauf. Er umarmt die Stämme wie die Hälse von Pferden die ihn ins Unbekannte tragen sollen. Ich will kein Kummerkasten sein, ich will mich ins Neue tragen lassen, die Galionsfigur meines ur-eigenen Geschicks.
Das Wasser das sich an den Schnittflächen der Stämme bricht und ihm ins Gesicht spritzt, wäscht ihm das Bisherige ab, er leckt es mit kalter Zunge, es schmeckt nicht wie Wasser aus einem Brunnen, es schmeckt moosig, streng, nach Muscheln vielleicht und nach ausge-waschner Erde. Es erzählt von den Zuflüssen und Quellen, von de-nen es hierher geschickt worden ist. Kunterkasten verweilt bei dem Gedanken, ob wohl jeder Wasserlauf, der in diesen Strom hinein-gemengt wurde, mit seinem ihm eigenen Temperament darin weiter strömt, eigene Farbe behält, eigenes Temperament, seinen eigenen Schlick und seine eigenen Fischlarven und er bedauert, dass Schiller seinen Tell nicht auf einem Floß spielen lässt. Er streckt eine Hand ins Wasser, weit voraus, wie einen kraftvollen schnellen Fisch.
Sie sieht ihm so fremd aus, als wäre sie ein Lachs.
Bis er sich selber aus dem Tagtraum reißt und sich fein päda-gogisch darüber belehrt, dass so ein vierschrötiges Floß viel zu bie-der ist als Attribut für Kunterkasten in der Rolle des großen Einzel-nen und Seefahrers. Der große Einzelne im Ensemble, das flatternde Blondhaar in der Brise, ist mit Langebehn bereits besetzt. Gehörig fehlbesetzt. Du bist zweite Besetzung, Kunterkasten, im Fach flat-terndes Blondhaar.
Sei die erste Besetzung, Kunterkasten, in deinem ureigenen Stück !
Das er immer und überall mit sich herumschleppt in seiner Sehn-suchtslade. Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern. Und das Floß bietet eben die richtigen Fantasiebohlen für dieses sein Sehn-suchtsstück. Rechteckig und rechtschaffen, aus Tannenholz gefügt und mit Kühen auf dem Buckel, mit niederem Volk besetzt, ein re-publikanisches Fahrzeug. Eine Fähre der Plebejer.
Kunterkasten liegt also mitten drin in seinem Wilhelm Tell. Erster Aufzug, erste Szene. Ehe noch die Handlung begonnen hat, alles ist noch arglos und treuherzig, wie die Kühe die darin auftreten, wie die Tannen, wie das Wasser aus dem Alpengebirge.
Unter den Füßen ein neblichtes Meer / erkennt er die Städte der Menschen nicht mehr.
Einer beugt sich über ihn.
„Früher, da wars net aso staad am Mittag, junger Herr.“
Der mit dem grünen Zylinder.
„Da war um dö Zeit Glockenklang in der Luft, von alle Himmels-richtungen her.“
Der mit dem grünen Zylinder ist ein klobiger Mensch in einem klobigen Mantel, eine Geißel in der Hand. Wenn er bei Schiller auf der Besetzungsliste stünde, dann am ehesten in der Rolle des Senn-buben.
Ihr habt ein schön Geläute, Meister Hirt hätte Kunterkasten dann zu ihm zu sagen und ihm zu schmeicheln wie schön der Kuh das Band zu Halse steht. Und der Klobige mit dem grünen Hut hätte zu erwidern das weiß sie auch, dass sie den Reihen führt / und nahm ich ihr’s sie hörte auf zu fressen.
Kuhglocken, der Kuhreigen, die Harmonie der Natur, wie buch-stabengetreu sich alles hier fügt zu einer rotbäckigen Dramaturgie des Volksspektakels. Aber weil der grüne Klobige bejammert, dass die Glocken eben nicht mehr klingen, ist die Harmonie futsch, und Schil-lers Anfangsszene perdu.
Da hast du die barsche Realität, Kunterkasten, und nicht dein Verklärungstheater.
„De Glocken ham seit Urzeiten einander Grüßgott g‘sagt an de Grenzen von dene Klosterländer. Gott zum Gruß, ich bin die Abtei Altaich. Jubilate, ich bin das Geläut von Osterhofen. Gelobt sei der Allmächtige. Wir sind die Sechsstimmigen von Mallersdorf, von Weltenburg, von Benediktbeuern, von…von ..von…Ein jedes Kloster hat ein Netz gewoben übers Land. Die Engel ham sich, hat man immer g’sagt, sich draufg’setzt auf das Netz und ham Wache g’hal-ten übers ganze Land.“
Er hebt seine Geißel hoch wie ein Tambour seinen Stab zum Ein-satz, aber da ist keine Kapelle.
„Hören Sie’s ? Rundumadum Silentium ! Nix als als wie ein ungutes Schweigen.“
Er nimmt den grünen Zylinder ab, als stünde er an einem offenen Grab.
“Mir ham jetz de Mitten vom Tag, wo man si niederhockt zur Mahlzeit. Aber was is das für ein Mahlzeit, frag ich Sie, wo der Geist des Herrgotts nicht schwebt über der Suppen und wo einem die Heiligen nicht zuschaun beim Essen, wo der Herrgott doch alles hat wachsen lassen was aufm Teller liegt. Und dafür g’hört ihm ein Dank erzeigt eben durch de Stimmen von de Glockn.“
Gewiss, auch ehedem wars Brauch dass die Himmelsstimme aus Erz geschwiegen hat. Aber nur ein einziges Mal im Kirchenjahr.
„Weil da san de Glocken nach Rom g’flogen vom Karfreitag bis zum Ostersonntag. Von der Stund an, wo die Juden unsern Herrn Jesus gekreuzigt haben, bis zu seiner Auferstehung. Die erzenen Riesen san g‘schwebt durch die Lüfte wia de Zugvögel. Und wo sans hingeschwebt ? Dorten hin wo der Petrus amal der erste Papst g’we-sen ist.“
Was mögen die Glocken in Rom getrieben haben, flicht Kunter-kasten sich den Fantasie-Strang weiter. Haben sie dem Evangelisten Paulus etwa zu Füßen gesessen, schweigend zugeschaut, wie er den Römerbrief zu Papier bringt? Oder haben sie ein Bad genommen in der Fontana di Trevi ? Und wie erging es der Stadt Rom, die überfallen wurde vom tausendfachen Geläute, ohne Rücksicht auf das Gehör der Bewohner, und in welche Sommerfrische sind derweil die einheimischen Glocken ausgewichen ?
„Das is Volksfrömmigkeit, junger Herr, da drüber macht man keine Spassettln.“
Am Ostersonntag aber, freut sich der grüne Zylinder, hingen sie alle wieder dienstbereit in ihrem jeweiligen Turm.
„Und niamals net hat sich eine einzige verflogen.“
Kunterkasten juckts, ob sich nicht doch ein paar beim Hin- oder Herfliegen in irgendwelchen Ästen verfingen und dort auf eigene Faust ihr Geläut erschallen ließen, schon weil die wurmigen Äpfel beim Herunterfallen ihnen einen Ton abgelistet haben, wenn der Klöppel schon schweigen musste.
Kunterkasten erfreut die Vorstellung, es wäre ihm als Jungen eine Glocke in den Pflaumenbaum gesegelt, eine Glocke für ihn allein. Und er hätte sie in Schwingung versetzt, dass die Pflaumen nur so geprasselt wären, hätte den Werktag zum Sonntag ausgerufen und nicht zur Schule gemusst.
Glockenhalber.
„Vollzählig haben sie sich wieder eingefunden in ihren Türmen. Damits haben verkünden können mit frischen Stimmen Er ist wahr-haft auferstanden ! Re-su-re-xit ! Re-su-reeee-xit !“
Der Erlöser nämlich. Gottsohn, unser aller Jesusbruder. Der Grün-zylindrige singt und dirigiert sich selbst mit seiner Geißel. Es hallt weit durch die Stille.
„Eine Stille zum Grausen.“
Sie haben dem Himmel das Maul verstopft. Die Freimaurer in der Kanzlei des neuen Königs.
„Das Schweigen is das das wo vor allem Anfang gewesen ist, bevor no Gottvater eingegriffen hat und die Welt erschaffen. Wo das Buch Genesis davon redet : darinnen schlich Satan herum und – „
Er unterbricht sich. Das Floß überholt ein anderes, auf dem Rinder stehen. Der grüne Klobige pfeift auf zwei Fingern hinüber.
„A krenk in sajne bejner !“
Ob das Kirchenlatein sei, und er ein geistlicher Herr, will Kunterkasten wissen, trotz seinem grünem Filzzylinder.
Zu viel Ehre, grinst der. Oh oh oh, was man alles zutraut ! Dabei verbringt er bloß Vieh von hierhin nach dorthin, aber in der Mitte seines Wesens ist er ein Menschenfreund. Er, gestatten, Johann Baptist Gmeinwieser. Ein Name, der wie auch sein Vieh quasi mit vier Haxen auf ehrlichem Boden steht. Denn ohne den Johann Baptist wär der Herr Jesus nicht getauft worden seinerzeit im Jordan, oder ? Das sind die vorderen beiden Haxen. Und auf dem Anger, der Gemeinwiese, die wo das Gemeingut aller ist, da steht Ochs bei Schaf doch auch auf treu behütetem Grund, oder ?
Das sind die hinteren zwei Haxen. Und Gott der Herr, der es geschaffen, schaut nieder auf Ochs und Schaf der niedergeschaut hat auf die Taufe seines Sohnes durch den Johannes Baptist seinerzeit und gesagt was ich geschaffen hab ist in guter Hand.
Somit ist Johann Baptist Gmeinwieser geradeheraus die gute Hand schlechthin.
„Paxvobiscum drauf, und Amen.“
Und streckt Kunterkasten seine Hand hin. Kunterkastens Rechte verschwindet in ihr. Er befürchtet einen Händedruck wie von zwei Mahlsteinen, aber der Patron der Kühe drückt nicht zu. Seine Pran-ken wärmen nur Kunterkastens Finger, und der möchte sie ewig da-rin versorgt lassen. Der Gmeinwieser Johann Baptist, zu Diensten, ist Schutz und Schirm für alles was vierbeinig ist hier auf dem Floß.
„Wer keinen Glauben im Leib hat, frissts weg wie nix, das Vier-beinige, vom Maul bis zur Schwanzquasten, gesotten, gepökelt und gebraten, stößt auf davon und widmet ihm kein Gedenken weiters. In den Magen gestopft und vergessen. Vergessen, junger Herr ! Aber ist nicht auch der Leib des Herrn im Magen versenkt worden, und man gedenkt seiner, oder ?„
Gmeinwiesers oder ? wirkt bedrohlich auf Kunterkasten, als wer-de er zu einer Sturmtruppe der Gutkämpfer berufen. Aber er will noch nicht ins Drama hineingezogen werden. Er möchte sich noch in den ersten Akt einkuscheln, Wilhelm Tell, erste Szene. Wo die Stim-mung noch arglos und treuherzig ist, wie die Kühe, wie die Tannen, wie das Wasser unter ihm, das unternehmungslustig aus dem Gebirge herausgurgelt. Wenn der Grünzylindrige der Senner sein soll, wer wird die anderen Rollen übernehmen aus dem Ensemble der Althergebrachten und Biederleute, die das Floß bevölkern ? Wer auf dem Floß ist Stauffacher, Attinghausen, das Volk von Uri, Gessler, und wer wird Wilhelm Tell sein ?
Langebehn springt über Kunterkasten weg. Wahrhaftig, er springt, und gestern noch hat ers von sich gewiesen, sich auf den Stämmen auch nur zu bewegen.
„Voilà, der Erste Held überwindet allen Widrigkeiten und schafft dabei neue Eleganz!“ lobt Langebehn sich selbst. „Während der Nachwuchs es sich faul sein lässt.“
Und davon ist er, mit der von ihm selbst gerühmten Eleganz von Stamm zu Stamm federnd.
„Ihr Herr Mitreisender da… „
Gmeinwieser schaut ihm finster hinterher.
„Langebehn, der Primus in unserer Compagnie. Wie Sie bemerkt haben werden.“
Da ist Langebehn schon wieder zurück. Es gefällt ihm, über Kun-terkasten ein weiteres hinwegzuspringen.
Kunterkasten, den Unflat.
„Weißt du auch an wen dein neuer Freund sein Schlachtvieh ver-kauft, flussabwärts ?“ faucht er Kunterkasten ins Ohr und kniet ihm einen Augenblick lang auf den Schultern dabei.
“An die Grande Armee deines Bonaparte“.
Kunterkastens Bonaparte. Als ginge es auf Kunterkastens Kerbholz dass eine Armee Proviant braucht. Der grüne Kloben hat nicht ge-hört, was über ihn hintertragen wurde und sagt angewidert :
„Ihr Herr Mitreisender tut sich die Handnägel schleifen wie wenn es Schneiden wären von einem Federmesser.“
„Das nennt man Maniküre.“
„KommenS mir mit keine fremdländische Ausdrück net. So einem der wo sich die Nägel schleift dem geht ein Christenmensch besser aus dem Weg.“
„Er hängt heraus, er ist bekennender Jakobiner.“
„Jakobiner !“
Gmeinwieser bekreuzigt sich.
„Ich schließe seine Seele ein ins Gebet. Und die Ihrige gleich mit, junger Herr.“
Kunterkasten setzt sich aufrecht. Ein drittes Mal soll Langebehn nicht über ihn hinweg springen können. Er betrachtet seine Hand, die er ins Wasser gehalten hat. Riecht sie fremd ? Hat sich etwas an ihr angesetzt, Fischiges, Gallertiges, Moosiges ?
„Da könnenS schnobern soviel’S wollen“ weiß Gmeinwieser „das ist ein erzkatholisches Wasser.“
Rein wie das im Taufbecken, auch wenn noch so viele Menschen das was ihnen hinten raus geht da hineingeleitet haben. Das Wasser hat einen gesunden Kreislauf, scheidet das Üble aus, bleibt rein von Ewigkeit zu Ewigkeit. Reine Seele, reines Wasser, eins im andern.
„Wie selbigsmal im Jordan, wo die Jünger auch hineingebrunzt haben und trotzdem hat der Herr Jesus sich taufen lassen damit vom Johannes Baptist. Oder grad deswegen. Vom Johann Baptist alle-mal.“
Und dann fragt er Kunterkasten endlich, wohin die Herrschaften denn unterwegs seien.
„Nach Wien. Der Prinzipal baut darauf, dass wir vor dem Kaiser auftreten.“
Gmeinwieser pfeift durch die Zähne, als böte man ihm ein Kalb mit drei Beinen und ohne Kopf.
„Wer auf Wien fährt, der gibt sich allen Anfechtungen preis. Zumal aufm Wasser.“
Und eben wars doch noch katholisch.
„Der Rhein, junger Herr, der ist katholisch. Weil er hinunter strömen tut in das heilige Köln. Gradlinig strömt er dahin, weil er auf immer-währender Wallfahrt is. Aber die Donau…“
Sein Element ist die Erde und der feste Grund, bekennt der Grün-zylindrige, die rechte Pranke auf dem Herzen. Auf welchem Element er genauso unbeirrbar steht wie seine Schutzbefohlenen, wenn auch mit bloß zwei Beinen. Aber ihnen zuliebe steht er innerlich auf vier Haxen, zumindest wenn er betet. Für sich und fürs Vieh.
Hingegen das Wasser, alle Schutzgeister stehts uns bei, das sucht eins doch nur auf wo Gott der Herr keinen anderen Weg hat erstehen lassen. Weil im Wasser rumort Unruhe. Gewalten die wo vor der Schöpfung schon da gewesen sind, Springfluten, Wirbel, Untiefen, Ungeheuer.
Mit einem Wort der Leviathan.
Er dreht seine Linke warnend hin und her, hoch erhoben, als wollte er jemand eine Watschn verabreichen. Die Donau nimmt die rechtgläubige Isar in sich auf, wie man bald erleben wird, aber die Donau ist eine hin-terkünftige Herbergsmutter, vom Schwäbischen angesudelt. Schon fromm, schon jesusgläubig, aber was ist das für eine Frömmigkeit ! Eine protestantische. Vom rechten Weg abgeirrt. Und und nimmt sich trotz-dem heraus den von Gott gegrabenen Flusslauf hinunterzufließen.
„O heiligs Herrgöttle“ macht Gmeinwieser die Schwaben nach “gell du lassscht mi fei scho des Sechsfache verrrrdiene von dem wasssch du dene Paptisssschtn gäwe duasch. Du kriagsssch au drei Kreuzerle ab, per saldo. Eber erssscht am Jüngssschten Tag, gelle. Bis da hi muasssch du mrr brav Zinse zahle.“
Ja, scheiß doch drauf !
Der hat Talent im Mimischen, findet Kunterkasten, man sollte ihn besetzen als Naturburschen in der Compagnie. Aber Gmeinwieser lässt alle Spaßigkeit fahren als er beschreibt, welche horriblen Fluten sich do-nauabwärts in die Donau ergießen werden : slawische, ungarische, katzel-macherische, tschuschische.
Und befiehlt sich selbst Schweigen mit abwärts deutender Pranke, erspart dem jungen unschuldigen Herrn das Ausmalen alter Pestilenzen und neuer Saunickeleien. Holt ein Gebetbuch heraus und murmelt Für-bittliches an die Adresse des Viehheiligen Leonhard zugunsten sei-ner Schutzbefohlenen, auf dass sie die Fährnisse der Wasserreise überstehen möchten, um unbeschadet dort zu landen wo es ihnen von Gottes Ratschluss bestimmt ist : in den Mägen hungriger Christen-menschen, auf dass diese sich an ihnen kräftigten.
Und bekreuzigt sich, für jede Kuh extra. Die letzte Geste ( unterm Kinn für den heiligen Geist ) verwandelt sich in eine Zeigegeste :
„Da schauenS !“
Ein Floß überholt sie eiligst. Vorangetrieben durch die Ruder-schläge von Soldaten.
„Da verschleppen sie’s.“
Kunterkasten versteht nicht.
„Die Glocken die‘s g‘stohlen haben aus de Klosterkirchen.“
Jetzt erkennt Kunterkasten, dass in der Mitte des Floßes drei Ge-schützrohre festgezurrt sind, die Läufe flussaufwärts gerichtet. Ihre Mündungen starren wie offene Mäuler zu ihnen herüber.
„Mit dem dem Erz, das wo zum Lobe Gottes hat erschallen sollen, schießen sie die letzten Gläubigen übern Haufen. Da hilft nur zum Himmel flehen dass wir verschont bleiben.“
Und sucht in seinem Büchlein, das seine Pranken ihm dicht vor die Augen halten, nach einem passenden Gebet. Das ist nun doch wieder Wilhelm Tell, denkt Kunterkasten, erster Akt, erste Szene. Die Böse-wichter sind benannt, aber noch nicht in Person aufgetreten. Und Gmeinwiesers Gebete werden dafür sorgen, dass es dabei bleibt.
„Mögest oh allerheiligste Jungfrau“, Kunterkasten hat etwas Passendes gefunden, „deine Kindlein beschirmen unter deinem Schutzmantel vor Krieg und Kriegesnot…“
Seine Geißel, die er hinten im Gürtel stecken hat, damit ihm die Hände freibleiben für Büchlein und Bekreuzigungen, hüpft dazu munter hin und her. Zu jeder seiner Fürbitten steuert sie einen Schlenkerer bei. Erhöre uns o Gottesmutter in der Tiefe, wipp-wipp, erbarme dich unser o heiuligste Jungfrau, wippwipp, errette uns vor Pest und Brand, wippwipp.
Dünner Schneefall.
Langebehn schlägt indigniert die Flocken fort wie Schmeiß-fliegen, als ekle er sich davor dass sie auf ihm Platz nehmen oder gar auf seinem Pelzkragen. Als sie es dennoch tun und ihn ihre Übermacht erkennen lassen, beginnt er auf dem Floß umher zu stür-men, als könnten sie ihn dann nicht mehr erhaschen. Käpernick hat sich wieder in seinen Schlaf zurückgezogen, nah dem Gluckern der Weinfässer und grinst in sich hinein. Schuff fängt jede einzelne Flocke mit der Hand auf, als suche er nach dem Unterschied zwischen der einen und den anderen hunderttausend. Propodonsky, in sich ruhend und herrscherlich, ganz rex leonorum, straft den Schnee mit Missachtung, räuspert sich aber in einem fort, als wollte er ihnen eine Rezitation gewähren, wenn sich nur erst ausreichend viele auf ihm versammeln. Und die Demoiselle lässt sie in ihren Mund rieseln, der aber nicht der Flocken wegen offen steht, sondern weil sie bestaunt, mit welcher Kunstfertigkeit die Flößer mit ihren Käschern Fische aus dem Wasser holen.
Jeder ist für sich und allein. Keiner der Komödianten gibt sich mehr mit den anderen ab. Sie meiden sich, so eng sie sich auch ge-stern noch zusammengedrängt haben in der ungewohnten Fremde des Ordinarifloßes. Wäre das noch geräumiger, die am weitesten ent-fernten Kanten wären von ihnen besetzt, jeder wünscht sich mög-lichst viele Baumstämme und Kühe zwischen sich und den Kollegen. Bis Wien hinunter, überschlägt Kunterkasten, wird man für jeden Schauspieler noch je ein eigenes Floß brauchen.
Eine Schauspielergesellschaft, die nicht auftreten darf, verfällt zu-erst in Trübsinn, dann in Mordlust, schließlich in den zweiten Akt von Shakespeares Titus Andronicus und damit dem Schindanger.
Nur Strönebald meistert die Untätigkeit auf seine Weise. Strönebald hat immer sein eigenes Ensemble um sich und engagiert diesen und jenen mit dazu, der seinen Weg kreuzt. Ein Endchen Draht etwa, das, zu einem Bogen gedreht, ein zirpiges Geräusch hergibt, wie es noch nicht einmal seine Harfe hören lässt. Einen Blechnapf, der ein Sperlingsgezwitscher zum Besten geben mag und wenn nicht, findet er als Helm Verwendung, der Langebehn oder der Prinzipal als Krie-ger deckelt. Einen Röhrenknochen von einem Hammel, der ein Szepter vorstellen darf, wenn Strönebald ihn mit Silberfarbe bemalt oder eine Flöte, wenn er das Mark herausklopft und ihn mit Löchern ver-sieht.
Nur zu den Kuhfladen, überreichlich auf dem Floß, ist Strönebald noch nichts eingefallen, das sie befähigte, in das Arsenal seiner Geräuscherzeuger aufgenommen zu werden. Vorerst, gesammelt und getrocknet, wärmen sie ihm angenehm die Füße während er die Maultrommel examiniert, die er von Kajetan Jasomirgott gegen einen Bund Sicherheitsnadeln eingetauscht hat. Ihr Stimmchen reicht nicht einmal aus, um die Ziegen um ihn her mit den Ohren wackeln zu lassen. Wenn er sie aber in ihre Einzelteile zerlegt, wird sie viel-leicht als Anhängsel einer Okarina oder einer Kindertröte glücklich werden.
Strönebald erregen solche Okulationen. Wie an Obstbäumen schneidet er an stummdummen Dingen herum, die nicht ahnen dass sie Töne in sich tragen, um ihnen mit fremden Zutaten das Klingen aufzupropfen. Strönebald der Leise, der Flüsterer, der Souffleur Flü-sterer, ist ein Alchimist der Klangkunst. In ihm rumort bei all seiner Stummheit der Ehrgeiz, ein Musikinstrument zu ertüfteln wie man noch keins gehört hat und er ist selbst gespannt darauf, ob es ein Ge-blasenes, ein Betastetes oder ein Gezupftes sein wird.
Käpernick, nach seinem Schläfchen am rechten Rand des Floßes, den Blick auf die verschneiten Weiden oberhalb des flachen Ufers gerichtet, treibt nun seine Stimme auf die Weide. Er gewährt ihr der-art über das Floß hin Auslauf, dass sogar das Hornvieh respektvoll verstummt.
„Aaaaaaaaaliiiiii-la-o-oh-oh-oooooooh !“
Die Kühe fragen sich, ob da ein Stier nach ihnen ruft, dessen Be-kanntschaft sie noch nicht gemacht haben, dabei sind es nur die Kräftigungsübungen, die Käpernick seinen Stimmbändern auferlegt.
„Huiiiiiilihhhh-huiiiiiiiiiii-oooooooooooooooooh!“
Das Ooooooooooooooooooh so abgrundtief, als riefe der Wasser-mann aus dem Fluss herauf. Landvolk und Tiere ängstigen sich. Ein anderes Donnergrollen antwortet ihm von der Kajüte her. Langebehn hat sich auf ihr Dach gestützt und memoriert einen seiner Monologe, als gelte er der Hütte als Standpauke dafür, dass sie sich dem Ersten Helden nicht geöffnet hat.
„O niederes Gewürm das mein Gemüt erzürnt erzüüüüüüü er-züüüüüüüüüüüüüüüüüüüüüüüü – „
Wieder hat das Landvolk Grund sich zu ängstigen. Die Prinzipalin weiß, Langebehn shreit sich auf diese, höchst Langebehnsche Weise den Groll gegen den Prinzipal von der Seele, weil der sich in der Hütte eingeschlossen hat. Und das nicht solo, züngelt ihr Verdacht weiter, sondern mit ihrer Tochter.
„Das mein Gemüt erzürnt sodass ich Rache Raaaaaaaaaaaaaache Raaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa – „
Aber der Prinzipal könnte, so flüstert nun bereits ein weiterer Verdacht, seinen Ersten Helden auch eigens an der Hütte postiert haben, damit sein flammendes Rezitat die Demoiselle erhitze. Sie schwärmt ja eh unver-hohlen für Langebehn, verwöhnt ihn mit Bussis in der Garderobe, und nun profitiert ihr Gatte von der jugendlichen Stimmbefeuerung durch seinen Ersten Helden. Wenn das man nicht tief ins Perversiche schlägt ! Der eine schmettert, der andere rammelt, und das Ensemble tut als sehe und höre es nichts.
„Raaaaaaaaaaaacheeeeeeee – „
Als sich die Prinzipalin Eifersuchtstränen aus den Augen wischt, sieht sie die Demoiselle und Propodonsky weit entfernt voneinander sitzen. Den Prinzipal bei den Ochsen, die Demoiselle bei den Weinfässern des Grenadiers. Und das Räuchlein, das aus der Hütte steigt, erscheint ihr nun wie eine Zunge die ihr herausgestreckt wird. Sie schneuzt sich und gibt, unberuhigt, ihren Verdächten Urlaub : tretet nicht ab, ich brauche euch bestimmt wieder im nächsten Akt.
Als Kunterkasten an ihr vorbeikommt ( auf der Suche nach einem Platz, an dem Langebehn nicht über ihn hinwegspringen kann ) erfährt er nichts davon. Sondern über Schuff von der Bauersfrau, die seit der Abfahrt in München unverwandt hinter dem Balkenstapel kauert.
„Die ist in einemfort am Beten und Frommeliedersingen.“
„Weil sie, sagt Gmeinwieser, auf Wallfahrt ist.“
„Wallfahrt, Wallfahrt ! Schau dir doch das Behältnis an das sie dabei hat. Red mir doch nicht ein das wär ein Koffer. Da ist Segel-tuch drum herum, das ist so eine Art Stall, zum Zuschnüren, und manchmal quiekt da irgendwas drin. Und jetzt sag mir, auf welche Wallfahrt bitte nimmt man Ferkel mit ?“
Andere durchhecheln tut gut, es lindert die Eifersucht. Der Erzeu-ger dieser Eifersucht, histrio primus rex leonorum, sitzt am linken Rand des Floßes und hält seine große Ansprache des Thimotheus aus dem dritten Akt an das vorbeigleitende Ufer. Pumpt dazwischen har-ten Winterschleim aus seinen Lungen herauf und verabschiedet ihn, indem er ihn, mit zur Rinne gerollter Zunge, weit auf den Fluß hi-naus katapultiert.
Zuerst gegen den Fahrtwind und als der ihn auf zurückschleudert ja wer bin ich denn, gegen den Wind. Dann setzt er wieder an, immer an der selben Stelle, Seite siebenunddreißig, vierte Zeile von oben und läßt es tief aus dem Zwerchfell heraus rollen :
„Dem Sturm und den Elementen preisgegeben ärrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr äääääääärrrrrr trrrrrrr ätrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr… „
Die Landleute sind dreifach verschreckt. Durch die Stimmen von Käpernick, Langebehn und Propodonsky. Und auch in dem Ferkel-ställchen der Wallfahrerin ist etwas verschreckt und angstquiekt mit schrillem Stimmchen. Die Prinzipalin de Brée erklimmt den Balken-stapel, hinter dem die Wallfahrerin sich eingerichtet hat und will erspähen welches Tier da gequält wird, beoachtet aber wie die Bauersfrau in das Behältnis greift, ohne ihr Gebet zu unterbrechen.
Unter dem Segeltuch wird es augenblicklich still.
Die Demoiselle sitzt noch immer allein, den Finger im Rollenbuch, starrt über den Fluss hin und bewegt murmelnd die Lippen. Nach jedem Satz den sie murmelt, kommt ihr ein hysterisches Gelächter aus.
„Wie immer“ weiß Schuff „wenn sie gerade wieder vom Prinzipal besprungen worden ist.“
“Vorhin hab ich sie beobachtet, wie sie sich stundenlang die Härchen ausgezupft hat vom Kinn. Sie neigt zum Damenbart, und das in ihrem Alter.“
„Den Prinzipal kitzelts offenbar nicht.“
Aber Langebehn. Der wehklagt über die Tortur für seine sensiblen Lippen. Seine Rollenpflicht ist es, die Demoiselle auf der Bühne zu küssen.
„So betrachtet wünsch ich ihr die Stoppeln vom Prinzipal ans Kinn.“
Schuff, den sein Fach mit dem Etikett des Intriganten beklebt hat, trägt solche Erzählchen mit sich herum wie er seine Papiervögelchen he-rumträgt. Er lässt sie hervorhuschen, Erzählhen wie Vögelchen, mal giftgelb, mal hoffnungsblau, mal schmeichelgrün, unter der abgeschab-ten, aber weiträumigen Pelerine seines ebenso abgeschabten Mantels, sei-nes einzigen Kleidungsstückes und zugleich einzigen Kostüms. In dem er grau auf die Bühne weht mit flatternden Pelerinenrändern, die ihn aussehen lassen wie eine windzersauste Morchel.
Auf den ersten Blick erkennbar als Unheilsbringer, Unheilverkünder, Unheilausstreuer.
Dabei möchte Schuff, der Scheue und Schüchterne, blaue Hoff-nungsvögelchen hervorzaubern unter seiner Pelerine zur Erbauung nicht bloß seiner Kollegen, sondern der ganzen Menschheit. Und mit der dünnsten Stimme von allen ist er auch noch geschlagen, eben mit der einer zerzausten Morchel.
„Sauhamml vareckta !“
Jetzt ist es an den Theaterleuten sich zu ängstigen. Ein Streit kocht über, der Zuschauer ist in unvorteilhafter Lage, denn der Streit wird hinter aneinandergerückten Schränken ausgetragen.
„Ausananda !“
Nur daran, welcher Schrank jeweils umzukippen droht ist zu auszu-machen, wo die Streithähne am Werk sind.
„Den stich i nieda !“
Ein Messer fährt ins Schrankholz. Der Händler dessen Ware geschlitzt wurde, brüllt lauter als beide Streithanseln zusammen. Das Messer wird herausgezogen unter anerkennendem Gelächter und überlagert das Jam-mergeschrei des Händlers.
„Hast du gesehen“ flüstert Käpernick voller Anerkennung, „sooo lang war die Schneide“ und deutet mit Daumen und Zeigefinger.
“Die zeigen Konsquenz, diese Viechskerle, wo wir bloß matte Vokale hüpfen lassen“.
Der Messerwerfer ist unter johlendem Gelächter zu einer Buße ver-urteilt worden. Er wird sie hörbar in Trinkbarem zu entrichten haben. Und dazu braucht es eine zünftige Vesper. Körbe mit Brot, Räucher-wurst und Griebenschmalz erscheinen wo eben noch Kampf war. Als auch Eier hervorgeholt werden, nimmt Kajetan eins zur Hand und fragt wie viele Legehennen denn hier auf dem Floß mitführen.
„Ah derwischt !“ wird gepflaumt „der Tandler tauschts aus gegen a Stopfei.“
Aber Kajetan greift es auf mit ernster Miene. Wenn das Rindfleisch alles an die Franzosen geht ( der Gmeinwieser sei ein Garant dafür ) wirds es nur noch hölzerne Eier zu fressen geben.
„Wo net gar, an de Franzosen verkafft der Haderlump !“
Aber das beirrt Kajetan nicht, auch er schaut nicht hin an wen er ver-kauft, geschmeidiges Gschäftsgebaren heißt ma das, ein Louisdor im Beutel ist im willkommener als ein Pfund alter Bamberger Pfennige, und hat plötzlich einen Faden in der Hand an dem ein goldner Fingerring hängt.
„Der Tandler will uns a Zauberstückl vorführn.“
Die Münder der Essenden sind aufgesperrt. Aber Kajetan will nicht zaubern, sondern herausfinden in welchem Ei ein Hahn steckt und in welchem eine Henne. Überlebenswichtig in Kriegszeiten wie sie auf uns zukommen.
Quer schwingt der Ring bei männlichen Biberln, längs bei weiblichen, und wers nicht weiß, frisst seine Legehennen schon vorzeitig weg und ist nur noch von lauter Gockeln umgeben, die in ihrer Blödheit kein einziges Ei beisteuern, aber den Sonnenaufgang ankündigen.
Die Stunde des Feindes.
„Weil, der Franzos ist ein ganz ein schneller und marschiert in der Nacht und kommt grad z‘recht damit er dem Gockel den Hals umdreht.“
Alle schauen zu dem französischen Grenadier, der die Weinfässer bewacht. Aber der spielt gleichmütig Karten mit den Maurern, die die Kalkbottiche bewachen. Seine Muskete hält er dabei zwischen den Knien.
„Der verstellt si bloß. Der hat Order dass er uns hinters Licht führt, wann der Angriff is.“
Ein brünstiger Schafbock hat sich losgerissen und ist in die falsche Herde eingebrochen. Langebehn, der dort vor dem hereinbrechenden Schneetreiben Schutz gesucht hatte, flüchtet angewidert. Hinter ihm her, mit aufgestelltem Schweif, die Katze des Floßknechts. Im Revier Gmeinwiesers kalbt eine Kuh, Gmeinwieser und ein Knecht zerren das Kalb heraus. Nur Käpernick schaut zu, und Kunterkasten ist besorgt, ob Käpernicks Appetit nicht bereits an dem Frischgeborenen Maß nimmt. Als Gmeinwieser sich eben das Blut von der Kalbs-geburt abwischt, wird er ein weiteres Mal des Floßes ansichtig, das sie am Vormittag überholt hat.
Nun liegt es still am Ufer, um noch mehr Rinder aufzunehmen. Gmeinwieser reißt seinen Ochsenfiesel aus dem Gürtel, der so fromm bei den Gebeten gehüpft ist und droht hinüber :
„Kenig fun die ganowim !“
Am Griff das Blut des Kalbes.
„Pardon, wie meinen ?“
„Auf dem Wasser sind wir in Satans Hand, hab ich doch scho g‘sagt. Und ausgeliefert dem Bösen wia in einer Nussschale“.
Das Schneetreiben versammelt Käpernick, Schuff und Kunterkasten hinter dem Schrank, in den das Messer gefahren ist.
„Habt ihr gehört – „Schuff lässt wieder eins von seinen Erzählchen flattern- „der Langebehn hat ein Kohlebecken verlangt für sich al-lein. Was sag ich gefordert - befohlen !“
Der, von dem die Rede ist, wischt wieder an ihnen vorbei, indig-niert die Schneeflocken von sich fort pustend. Die Katze, die an sei-nem Pelzkragen Gefallen gefunden hat, sitzt auf seiner Schulter.
„Aber der Floßmeister hat nur seinen Kautabak umgeräumt von einer Backentasche in die andere und es verweigert. Was dem Herrn Schauspieler da einfällt, hat der Floßmeister gesagt, Feuer anzünden auf einem Fahrzeug was aus nichts anderem besteht als aus Holz !“
Aber Langebehn und ihr kennt ihn, Langebehn hat insistiert : aus der Hütte da, monsieur Capitain de vaissseau, stiege doch auch Rauch auf ohne Unterlass Und der Floßmeister hat ausgespuckt in hohem Bogen - “
„Und ?“
„Abgang. Vorhang. Ende des Dialogs.“
„Und das unserem Ersten Helden und Liebhaber.“
Gmeinwieser hat zugehört.
„Der Sparifankerl der wo sich die Krallen schärft, der halts net aus ohne sein Feuer.“
Weil er die heimische Höllenglut missen muss solange er auf Erden wandelt.
„Mit einer Miezekatze am Hals ?“spöttelt Käpernick.
Die Katze hat sich in Langebehns hochgestülpten Pelzkragen ein-gerichtet und reibt sich schnurrend an seinem Kinn. Gmeinwieser stößt seine Geißel hoch, damit man seine Rede beachte. Auch hinter dem Judas her, lautet sie, schlich ständig eine Katze, und wenn der Judas nicht des Teufels war, ist Johann Baptist Gmeinwieser ein Strohhaufen. Katzen sind des Teufels, wie man sehen kann beim Letzten Abendmahl, wie es in den Kirchen aufgemalt ist. Da lauert die Katze, um den Happen zu stibitzen den der Herr Jesus als Weihopfer hochhält, um zu unterbinden dass die allerheiligste Eucharistie eingesetzt wird.
Wenn einem Unbekannten eine Katze nachläuft tuts not dass man prüft ob er nicht einen Bocksfuß hat.
Die Katze leckt Langebehns Hand, die nackt und ohne Handschuh ist. Eine Dreistigkeit wie er sie niemand zugesteht. Seine behand-schuhte Hand packt die Katze im Genick und schleudert sie weit hinaus in den Fluss. Ihr Herr, der kein Auge von ihr gelassen hatte, fischt sie mit dem Käscher aus dem Wasser und reibt sie trocken. Sein Zorn, mit kindlichen Mitleidsbekundungen untermischt, schart die anderen Flößer um ihn. Heimzahlen, das g’hört hoamzahlt, dem Falott dem miserabligen, aber an den Hochgewachsenen den sie auf der Tenne bewundert haben, traut sich keiner heran. Nicht einmal mit Schmähworten ; sie kennen seine Stimmgewalt und fürchten dass er zurückschreit. Aber das Heimzahlenwollen frißt umso heftiger in allen. Den Platzhirschen hier auf dem Floß. Die Schmach der Katze trifft jeden von ihnen.
Das Floß macht ruhige Fahrt und braucht nur einen einzigen Ru-derer, der es auf Kurs hält. Also haben sie Muße, ihre Rache zu begrübeln. Sie mustern aus den Augenwinkeln Kandidaten unter dem Komödiantengschwerl durch, bemurmeln die Risiken, und einigen sich endlich auf das kommodeste Opfer.
Strönebald.
Den Stillen mit der Fistelstimme. Ist der nicht überhaupt ein Weibs-bild, das sich verkleidet hat ? Und vollziehen, nüchtern und wie ne-benbei, die Flößertaufe an ihm. Zuerst wird dem Täufling rückwärts ein Bottich Wasser über den Kopf gegossen aus einem Blechhafen. Dann hinein mit dem Kopf in den Fluß. Dreimal, im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes.
Was ist dabei, Wassertaufe an einem Neuling ist ein alter Brauch in der Flößerei, was gilts da ob es Sommer oder Winter ist und das Was-ser eisig. Eisig doch höchstens für etepetete Stadterer, die sich sogar das Wasser zum Barbieren vorher aufwärmen. Und ob der da über-haupt einer ist, der sich barbieren braucht, das wird sich zeigen, wenn man ihm das Hemd aufreißt.
In die Isar mit ihm wie die Katze, er ist selber eine Katze.
Es ist Käpernick, der Strönebald rettet. Er drängt sich zwischen die Flößer, den Finger zum Himmel gerichtet, und salbadert, der Herr da oben sehe ja recht gerne bei Taufen zu, sintemalen in Flusswasser, erwarte jedoch dass man die Zeremonie mit Gebetlein verziere. Wel-ches denn gleich, welches denn gleich fragt er, nun den Finger auf dem Mund, und holt mit der anderen Hand sein Andachtsbuch aus der Rocktasche.
Er hat weder Tasche noch frommes Büchlein, aber den Flößern geht bei Käpernicks Paxvobiscum drauf und Amen auf, dass Käper-nick den Johann Baptist Gmeinwieser nachmacht. Und schon erntet er Lacher, wie er seine Finger beschleckt und im Leeren blättert, das rechte Gebetlein zelebriert mit zum Himmel und zurück rollenden Augen. Mit nicht enden wollenden Bekreuzigungen weit über die Nase nach oben und nach unten bis zwischen die Schenkel, und die Flößer weiden sich daran. Als Käpernick sich aus den Augenwinkeln heraus vergewissert hat, dass nur noch der Besitzer der Katze Strö-nebald im Genick festhält, stopft er sich einen Batzen Kautabak in den Mund.
Er hat gar keinen Kautabak zur Hand, aber er rammt ihn sich grämlich zwischen die Zähne, knorzend wie der Floßmeister. Die Flößer bejubeln das Spottbild ihres Herrn und rufen nach seinem Sabber wie das Opernpublikum nach der Wiederholung einer Arie. Den Sabber lässt Käpernick nun so schmatzig fließen, dass er bis zu den Knien hinunter rinnt und ein jeder könnte beschwören, er sei noch schwarzbrauner als das Original.
Als einer verlangt, nun solle er auch noch den Kollegen mit dem Pelzkragen auftreten lassen den Gischpel den pomadigen und Käper-nick gerade den Pelzkragen hochschlägt, den er gar nicht hat, geht eine Erschütterung durch das Floß. Die Flößer werden auf Käpernick geschleudert, alle zusammen auf die Ziegen, die auf die Schafe, die gegen die Rinder und unter dem Gewirr vieler Beine hindurch kriecht Strönebald davon.
„A Sandbank !“
Das Signalhorn des Floßmeisters ruft Käpernicks Zuschauer an ihre Ruder, aber sie richten nichts aus. Das Floß bleibt schief und dumm auf das tückische kiesige Hindernis gekantet. Was festgezurrt ist, blieb leidlich an seinem Platz, die Geflügelställe, die Schafe in ihren Pfer-chen, Möbel, Bauholz, die Weinfässer des französischen Grenadiers. Aber das Hornvieh rutscht auf den glatten Stämmen abwärts, dem Wasser zu, drückt sich durch sein eigenes Gewicht hinunter vom Floß und schon stehen ein paar Kühe zu ihrer Verwunderung auf dem Schotter des Ufers und trotten ins verschneite Land hinein, denn der Fluß leistet sich hier keine Böschung.
„Mariaundjosef !“ Gmeinwieser ist außer sich. „Haltsas do auf , alle Mann !“
Die Sandbank lauert hier seit Menschengedenken, jeder der hier flößt kennt sie, hat ihre Tücke gelernt vom Großvater und Urgroßvater her, und wann sie wieviel Zoll aus dem Wasser ragt, wann es hier ein Rinnen hat und wann nicht. Die Sandbank ist schon lange keine hinterkünftige Tücke mehr, sondern eine berechenbare, auch wenn sie selber gemächlich flussabwärts wandert. Und im Winter, darauf kann man fest rechnen, ist es beiderseits brunntief.
Trotzdem ist das Floß aufgelaufen. Unehre für den Floßmeister, Schimpf für die Flößer, die abgelenkt waren durch Käpernicks Pos-senreißereien.
Ehe er die Rachegelüste der Flößer, die eben noch Strönebald tref-fen sollten, auf sich selber umgelenkt sieht, gibt Käpernick den Eifrigen, stürzt mit anderen ans Ufer und nimmt die Verfolgung der Gmeinwieserschen Kühe auf. Langebehn, vom allgemeinen Getümmel unberührt, hat einen Logenplatz auf einem Holzstoß erklommen und begleitet den Aufgalopp der Plebejer mit ironischem Applaus. Der Holzstoß, auf dem er steht, ist auf dem gestrandeten Floß zur höchsten Erhebung geworden, die Hütte weit nach unten ins Schiefe geraten, und Langebehn der Gipfel.
„Hoj! Endlich Auslauf !“ lacht Käpernick, als auch Kunterkasten nehmen ihm rennt.
„Endlich wieder mouvement nach so viel Gehocke ! Hoj hoj hoj !“
Als ob er die Rinder anfeuern wollte. Und die lassen sich anfeuern, auch sie haben wenig mouvement auf dem Floß gehabt, wie die Schauspieler, verfallen aus gemächlichem Trab in Galopp, als forder-ten sie ihre Verfolger zu einem Fangespiel auf, laufen über die verschneite Ebene in die Weite hinein auf der Suche nach frischem Gras, weil sie das Heu leid sind das ihnen Gmeinwieser Tag für Tag auftischt. Aber die Schneelandschaft tischt ihnen auch nichts Grünes auf.
Kunterkasten und Käpernick verlieren sich aus den Augen, das Fan-gespiel gewinnen die Kühe. Von denen zwei einen Bauernhof erreicht haben, in dem man sich über den unverhofften Besuch freut. Die Stalltür wird gastfreundlich aufgetan, der Stall ist leer, die Ver-pflegungsoffiziere Bonapartes haben das Vieh fortgetrieben. Lachend schiebt der Bauer die Neuankömmlinge durch die Tür. Die Gast-freundlichkeit endet, als Kunterkasten hinterhergehechelt kommt um die Kühe einzufordern, die gar nicht sein eigen sind.
„Schleich di !“
Vor dem Argument einer gezückten Mistgabel um weitere Altruis-men verlegen, trottet Kunterkasten allein und ohne Fang zurück. Allein durch einen Auenwald. Da hat er, wenn schon kein keine arretierte Kuh, wieder die Unschuld des Wilhelm Tell, erster Akt erste Szene, wenn auch eingeschneit.
Natur, Kunterkasten, die niemandem hörig ist, nicht dem Gessler, nicht dem Kuhfürsten Gmeinwieser, und schon gar nicht dem Propodonsky. Einsamkeit, die nur dir gehört, Christian Asmus Fürchtegott Felix.
Er bleibt stehen und hört seinen Lungen zu, die in der Kälte fauchend arbeiten. Er holt sich so viel Luft herein wie seine Lunge aufnehmen kann und spült damit seine ganze Person durch. Als er ein noch jüngerer Junge war als jetzt, hat er seine Stimmkraft an der des Herrn Pastors gemessen, seinem Vater; der beim Predigen über das ganze Kirchenschiff gebot. Danach hat er sich am Herrn Friedens-richter gemessen, vor dem sogar die Körner des Streusandes leiser rieselten, wenn er sie von seinem frisch geschriebenen Urteil blies, um es dann mit Stentorstimme zu verlesen. Schließlich hat sich Kunterkasten am Nachtwächter gemessen, der schon kein Herr mehr für ihn war, aber von der gewaltigsten Stimmkraft, denn er allein durf-te in die Schlafensstille hinein rufen durfte, und das ganze eng um-mauerte Gemeinwesen war sein Echo.
Aber die Stimme, die in seinem eigenen Thorax heranwuchs, traute Kunterkasten sich nicht frei zu lassen. Aus lauter Bänglichkeit, die Schafsherde seines Pastorvaters, all die Klüterjans und Lüttjohanns und Jensens, könnten Anstoß an ihr nehmen.
„ Ischa Sünne, Pastors Jüngster krawalliert !“
Hier in dem fremden Wald, weit weg von seiner Vaterstadt, getraut Kunterkasten sich endlich zu krawallieren, weil nur Krähen da sind und keine Lüttjohanns.
„Uuuuuuuaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaah !“
Die Krähen erweisen ihm die Ehre und fliegen allesamt auf. Als sie wieder Platz genommen haben, schweigen sie still und äugen zu ihm herunter. Erwartungsvoll in ihren schwarzen Talaren, schwarz wie der seines Vaters. Über sein uuuuuu-aaaaaaaaaaah hinaus aber fällt Kunterkasten nichts Eigenes mehr ein, und er will diesem schwarzen Pastorenkränzchen doch was Würdiges bieten, wenn sie ihn schon selber würdigen und hoch fliegen, nur seiner Stimmkraft wegen.
Und was wäre würdiger als sein Wilhelm Tell.
„Kommt alle, kommt, legt Hand an, Männer und Weiber !““
Und wieder fliegen die Krähen alle hoch.
„Der Tyrann ist fort, der Tag der Freiheit ist erschienen !“
Napoleon setzt Armeen in Bewegung, Christian Asmus Fürchtegott Felix Kunterkasten einen Schwarm Krähen. Dabei soll Napoleon sich gar nicht verständlich machen können vor einer Runde die größer ist als zehn Mann, so wenig weit trägt seine Stimme, obwohl alle andern zu schwei-gen haben.Kunterkastens Krähenpublikum dagegen feuert ihn nun laut-hals an, krächzt nach einem da capo:
„So stehen wir nun fröhlich auf den Trümmern
Dieses Forts der Tyrannei -“,
Die Krähen bleiben in der Luft, so begeistert sind sie. Sie ahmen ihn nach, sie übersetzten seinen Schiller in die Krähensprache.
„ - und herrlich ist’s erfüllt,
was wir am Rütli schworen, Eidgenossen !“
Kunterkasten wälzt sich vor Freude im Schnee und verabreicht sich selber die Wintertaufe.
Käpernick hat drei Kühe zurück zu bringen auf das Floß, das die Knechte unterdessen wieder von der Sandbank heruntergehebelt ha-ben. Gmeinwieser aber beklagt, es fehlten immer noch mehr als dop-pelt so viele aus seiner Herde. Er kann sogar ihre Namen hersagen wie Namen von verstorbenen Anverwandten und lamentiert, er habe vor Antritt der Reise jeder sieben geweihte Weihrauchkörner in den After geschoben. Das erbringt, wie das christkatholische Landvolk weiß, siebenfaches Milchgeben. Ein vom Herrgott gewährter Überfluß, den andere nun höchst unchristlich abschöpfen.
Die Pest ihnen ins Gedärm.
„Paxvobiscum drauf und Amen.“
Bloß bekreuzigen traut er sich diesmal nicht, weil die Floßknechte grinsen weil er nicht entfernt mit Käpernicks Parodie seiner selbst mithalten kann. Der Floßmeister, der sein eigenes Parodiertwerden sehr wohl vermerkt hat, bläst ins Signalhorn. Als die Flößer auf ihre Posten flitzen, erspäht Strönebald mit dem kundigen Blick des Inspi-zienten der verantwortlich dafür ist dass bei Beginn der Vorstellung alle auf ihren Plätzen sind : zwei Knechte von denen die ihn wässern wollten sind nicht mehr dabei.
Wenn das Floß mit vielen Stunden Verspätung anlegt, schaukelt das andere, zu dem Gmeinwieser seine Verwünschungen hinübergerufen hat, bereits an der Lände. Das Vieh das darauf gestanden hat, hört man im Stall der Herberge muhen, als wollte es sich über die Zuspät-kömmlinge belustigen. Nur für zwei Gmeinwiesersche Kühe findet sich noch Platz. Awek fun dann jiid schreibt Gmeinwieser mit Kreide an die Stalltür.
In der Herberge findet Gmeinwieser die beste Kammer besetzt. Awek schreibt er auch hier an die Tür, kommt aber nur bis zum k, weil der Floßmeister mit einem Mal neben ihm steht und wissen will, was er da ausgerechnet an seine, des Trittförgs Kammer zu schmieren habe, Heilig-dreikönig mit seinem CMB sei doch längst ummi.
Aber nicht der Tag des Heiligen Severin, weiß Gmeinwieser, der sei pfeigrad heit, wia’sa si so trifft. Ein heiligmäßiger Mönch der an der Do-nau die sie ja nun bald erreichen werden die Christen bewahrt hat vor der Vernichtung, wie sie auch ihnen drohe, wenn der Gmeinwieser nicht sorglich Verbindung hält zu den Herrschaften da droben im Himmel.
„Und dass no mehra Küah abhanden kemman auf widerchristliche Art und Weis.“
Und malt das Awek zu einem Awe Sankt Severin um, und über das Geschriebene noch einen Abtsstab mit Heiligenschein, damit die An-rufung auch erhört werden möge.
„Paxvobiscum drauf, und Amen“.
Käpernick und Kunterkasten hatten weidlich gesunden Auslauf beim Kuhfang, ein Tag der weiten Geländegewinne. Für die anderen von der Copagnie war es ein Tag des Verhockens und des Trübsinns. Niemand hat ihnen wie gewohnt einen Probenplan an die Garderobentür geheftet. So haben sie lethargisch und schlotternd vor sich hingedämmert. Auf rohen Stämmen, an Hühnerkäfige gelehnt, dem Schneefall preisgegeben. Auf dem aufgelaufenen Floß, dann auf dem wieder fahrenden Floß. Und nun endet auch dieser Tag für sie als Versandgut zwischen Versandgut, Kisten und Warenballen, zwischen Bienenkörben und eingesalzenen Dörrfischen die ihre Auktion erwarten.
Der Prinzipal hat die Schauspieler ins Stapelhaus neben der Flößerher-berge beordert. Herunterkommen lässt man uns, verkommen lässt man uns. Tagsüber Seenot und am Abend auch noch Theaterprobe. Letzthin, im Heu, konnte man sich immerhin noch leidlich warmhalten, aber hier in diesem Warenlager starren einen nur Sauerkrautfässer und Kalkbot-tiche an, mit vernagelter Kälte. Fühllos für die Leiden der Wundertäter wird gegrummelt und geniest, und frage nicht was man sich da alles zuzieht in solcher Nachbarschaft ! In solch erniedrigenden Nachbar-schaft, wird geniest, in solch beleidigender Nachbarschaft, einem Stoff-ballen gleichgesetzt und wie ein Dörrfisch gehandelt.
Ja wer sind wir denn.
Dabei gehen in ihren Rachen Influenzen um, drohen alsbald die gesamte Künstlerphysis zu überwältigen, im heißen Schüttelfieber nieder zu wer-fen. Und es ist nicht einmal mal mehr Stroh da so wie gestern immerhin noch, als Siechenlager. Wie soll eins da vor dem Kaiser auftreten, ver-rotzt und von Keuchhusten geschüttelt, die Bronchien verstopft mit Schleim ?
Trost und Zuwendung, maunzen die Damen, komme allein von Gmeinwieser, der guten Hand Er hat ihnen großzügig Decken über-lassen. Gewiss, für Pferde eigentlich bestimmt, warum nicht für Pferde, zutiefst landwirtschaftliche Utensilien, aber wie sehr halten sie warm ! Richtig kreatürlich fühlt man sich da drunter reingekuschelt, richtig kreatürlich, allein die warmherzige Geste lässt die Temperatur unter sol-che einem gewalkten Überzieh schon steigen.
Und wer selber warmen Herzens ist, wird mit unter das rossig duf-tende Dach mit aufgenommen, Strönebald bei der Prinzipalin, Schuff bei der Demoiselle. Nur Langebehn, seinen Pelzkragen um sich ge-schlagen wie eine Ritterrüstung, schnaubt vielsagend durch die Nase und bleibt abseits.
„Dem sind Menschen schon igitt“ grinst Käpernick, „und wie dann erst Pferde.“
Auch hält Gmeinwieser, beteuern die Damen, unfehlbare Mittel ge-gen alle Beschwerden bereit. Kräuteressenzen, Salben nach vielhun-dertjährigen Nonnenrezepten, veredelt mit dem Schweiß der Heiligen Clara von Eichstätt. Quacksalbereien fürs Vieh, wird von den anderen in der Compagnie geniest, sind wir nun schon dermaßen verochst dass wir destillierte Gülle gurgeln müssen ?
„Muuuuuuh“ertönt es hinten, von Käpernick.
Gmeinwieser, ereifern sih die Damen, schaut zutiefst in eine jede Seele, und erkennt jeden Morbus in derselben. Und just dieser ullumfassend Gutherzige, Tier- wie Menschenfreund, muss nun zur Nachtzeit ruhlos durchs Dorf ziehen und die Bauern anbetteln um ein Nachtasyl für seine Kühe, weil diese Herberge ihm keine gewährt ! Wie vormals Maria mit ihrem ähnlich gearteten Joseph.
“Heiligabend“ mokiert sich Langebehn. „ist doch schon seit vier-zehn Tagen passé“.
Herein Propodonsky. Verspätet zu der Probe, die er selbst befoh-len hat. Statt einer Rechtfertigung stehen ihm tiefe Falten auf der Stirn als Feldzeichen seiner väterlichen Fürsorglichkeit.
„Wir sollen ihm doch bloß alle ansehen, er war klammheimlich an der Poststation“ zischt Käpernick.
„Er selber wohl. Aber die gewisse Botschaft aus Wien war noch klammheimlicher und ist gar nicht erst zum Rendezvouz erschienen“ zischt Schuff.
Wie als accompagniato zu seiner Kummerlast lässt Propodonsky sein gewaltiges Prinzipals- und Löwenräuspern hören, als wollte er allen Heustaub aus seinen Lungen schleudern, den er bei der letzten Probe auf der Tenne eingeatmet hat.
„Höret und sehet ich wie leide um euch, bedeutet diese Insze-nierung“ übersetzt Käpernick. Aber beim nächsten Halt ist die Botschaft vom Kaiserhof da und wer dann noch Häme übt der soll an dem Heuhusten ersticken, den ich heute noch selbst übernehme als Schmerzensmann für die undankbare Kinderschar.
„Wih wahen im zweiten Akt stehengeblieben, siebenteh Auftitt“ meldet Strönebald, diensteifrig wie immer.
„Die Römer Schuff, Langebehn, Käpernick in Position !“
„Die Courtine geht auseinander…“ ruft Propodonsky, breitet die Arme aus und eröffnet damit die Probe, indem er zwei Vorhanghälften teilt. In seinen Händen ist das Theater auch dort, wo gar kein Theater ist, sondern ein Lagerschuppen. Die Kinderchen sollen den Vorhang rauschen hören und sich auf die Bühne versetzt fühlen, mitten ins Stück.
In dem es Tavitius noch immer nicht gelungen ist seine Abtrünnigen-Armee einzuschwören auf den Kampf gegen König Timotheus. Eine Faust auf den Holzschwertern, die Römerkostüme um sich geschlungen wegen der Kälte, rücken diese Abtrünnigen zusammen und erheben die Hände zum Schwur. Eng gedrängt Mann bei Mann, denn sie stehen in einem felsigen Hohlweg, flackerig beleuchtet von der mitverschworenen Sibylle Nuphtia, der Pythia der Sabinerberge, dargestellt von Madame de Brée. Nuphtia hat dieses dunkelmännerische Treffen in mondloser Nacht angestiftet, sie ist die Hüterin estruskischer Mysterien, ihr Orakel ist viel gefragt und gefürchtet, sie darf darum eine Fackel halten, dargestellt von einem Regenschirm.
„Bei diesem Fackelscheine soll geschmiedet werden hier / der Bund der Rache auf dass verschlungen werd der tyrann‘sche Bruder“
Den Satz hat Käpernick.
„An diesen fels’gen Wänden roh / soll widerhalln der Rache wildes Lied / das gegen den verräterischen Bruder wir – „
Den Satz hat Schuff. Aber er bringt ihn nicht zu Ende, denn das Schup-pentor wird aufgestoßen und Floßknechte schleppen die Weinfässer des Grenadiers herein. Der Grenadier, wortlos, deutet auf den Platz, auf dem sie abgestellt werden sollen, den Verschwörern vor die Füße, denen es ohnehin schon eng genug ist in ihrem Hohlweg.
Der Grenadier erkennt nicht dass die eine Streitmacht sind, er sieht nur Stecken und keine Schwerter, sein Säbel dagegen ist aus Stahl. Hierher die Fässer also, par ici ! Die Fässer werden unter Ächzen auf den Lehm-boden gerummst, zwischen die Verschwörer.
Ist es vollbracht reiben sich die Floßknechte die Genicke und setzen sich auf die Fässer. Sie haben, nach einer zünftigen Abendmahlzeit, ihren warmen Platz drüben im Heuschober verlassen, nun freuen sie sich auf die Fortsetzung der Komödienkaspereien von gestern. Sie haben satt ge-schafft heute, haben das Floß von der Sandbank herunter gehebelt und sind im kalten Wasser gewatet dabei, mit den Komödianten als Zuschau-ern.
Jetzt ist es an den Flößern zuzuschauen. Versteht sich, de Komödianten san im debet werden sie von Kajetan unterstützt, der erfolgreich Kräu-terschnäpse feilbietet, denn während des Flößens lässt der Meister Schar-fes nicht zu. Der Grenadier hat sich auf einem seiner Fässer niederge-lassen, so nah an den Schauspielern, dass die sich an seinen Knien reiben.
Käpernick versucht, sich die Lagenbezeichnungen einzuprägen, die auf den Fässern eingebrannt sind. Hat er da nicht erspäht Pommard und Vol-nay ? Die Muskete zwischen den Knien, klopft der Grenadier seine Pfeife an seiner Stiefelsohle leer. Langebehn nimmt missvergnügt zur Kenntnis, dass auch der Grenadier, ein Mannschaftsgrad ! an seinem Uniform-mantel einen Pelzkragen trägt. Zudem militärkorrekt gebürstet, während Langebehns Pelz heute bei der Havarie mit feuchtlehmigem Sand ange-saut worden ist.
Vermaledeiter Sand, vermaledeiter Fluß !
Überhaupt, vermaledeite Natur. Langebehn. hasst sie wegen ihres gna-denlos grellen Lichts, das seine Falten ausleichtet. Wegen der Zügel-losigkeit, wie darin allzu viele Kreaturen durcheinanderwuseln, durch-einanderkrakeelen, durcheinanderkoitieren. Ohne jede Inszenierung ! Langebehn liebt das Grieselgrau stickiger Theatergebäude und ihr Halb-dunkel, das seine Züge vorteilhaft umschleiert. Unbeschadet dessen dass er es eigentlich verachtet.
Denn seine Stimme kommt dort zum Flackern, sie behauptet sich in dem ungelüfteten Staubflirren wie keine andere. Das knapp bemessene Rampenlicht gehört allein ihm.
„An diesen fels’gen Wänden roh….roh…roh -“ müht sich Schuff, anders als gestern in der Scheune dämpft kein gnädiges Heu das Getöse
der anderen Gäste, Vieh und Mensch “-soll widerhalln der Rache wildes Lied / das gegen den verräterischen Bruder wir wollen singen.“
Wir wollen singen ist Langebehns Stichwort. In diesem Lagerschuppen, eigentlich einem Verbannungsort ( er hasst ihn dafür ) genießt er das Halbdunkel, das ihn ans richtige Theater erinnert. Er spürt dass er voller Enthusiasmus ist, auf der Höhe seiner Kraft, die anderen wissen es nur noch nicht. Er weiß, dass sie sich innerlich fragen wie mag er wohl heute gestimmt sein ?
Jeden Probentag, jeden Aufführungstag fragen sie sich das. Sollen sie sich das fragen.
“ An diesen fels’gen Wänden roh“ hustet Schuff “ soll widerhalln der Rache wildes Lied / das gegen den verräterischen Bruder wir wollen singen.“
Sein Stichwort. Nun wird er hervorbrechen dass ihnen angst und bange wird, diesen Ochsenhäschern, die beim Rennen ihr bisschen Atemorgan überanstrengt haben, und er wird seine Stimmkraft wie ein Schwert in die Bataille werfen.
„In seinem Blut soll baden wer dem Gehassten sich verkauft.“
Der Grenadier hat seine Pfeife gestopft und entzündet sie in aller Andacht. Er zerbricht drei, vier Schwefelhölzchen dabei.
„Wer je gefühlt was Rache sei – „
Der Tabak hat Feuer gefangen, der Grenadier stößt wohlig den Rauch aus.
„ - der stimme ein in diesen meinen Schrei nach Blut. / Und mags das eigne sein welches ich zu vernichten trachte !“
Erst jetzt, da der rauchende Grenadier Muße hat, die Verschwörer und ihre Schwerter zu betrachten, fällt ihm auf wie laienhaft die sich anstel-len. Contre tous les règlements ! Er zieht seinen Säbel und zeigt den Mimen, wie ein rechter Soldat säbelt.
Von Langebehns Sätzen nicht inkommodiert, er versteht sie nicht.
„Größer macht es mich und göttergleicher / wenn ich nicht achte
dass diese Kreatur aus demselben Mutterschoß gekrochen“.
Niemand achtet mehr auf Langebehn. Alle auf den Grenadier, denn der hat mit einem Wutschrei unter den Verschwörern Käpernick entdeckt. Seinen Kartenspielkumpan, der schon sechsmal gegen ihn verloren hat und jedesmal das Spielgeld schuldig geblieben ist.
Nun droht er ihm mit hoch erhobenem Säbel.
„Gille infernal !“
Viterbo ist eingekesselt, schildert Langebehn indessen, Volterra hat sich auf des Timotheus Seite geschlagen, beklagt Langebehn, und Kunter-kasten spricht seinen Text mit, er kann ihn auswendig und geläufiger als die Erstbesetzung Christian Justus Amadé, der stets beleidigt ist, weil kein Säulenkapitell aus dem Boden wächst, damit er seinen Arm darauf stützen kann.
Und was für ein butteriges Anlaut-S ! Sieg ! Sturm ! Sisypus ! ohne dass der Prinzipal einschritte. Kunterkasten, gerüstet mit seinem ange-borenen, aber gezähmten niederdeutschen Ssssst hat da ganz anderes Rüstzeug lagern. Männlicheres ! Kunstgeschmiedetes !
Wurfmesser der Phonetik.
„Du wiegst schon wieder mit dem Oberkörper“ zischt Schuff.
Kunterkasten wünscht Langebehn ein großes Haus, mindestens acht Ränge. Und die Zuschauer allesamt gekauft. Von Kunterkasten. Stumm und reglos sitzen sie, Butterbrote kauend, und wenn Kunter-kasten, die Hand an der Schläfe, geendet hat und seine gemeißelte Halsmuskulatur mit seitlich gelegtem Kopf dem Publikum entgegen reckt, steht das Publikum auf und geht nach Hause. Tonlos.
Bloß dass der letzte der den Saal verlässt, noch einen hallenden Furz tut.
Vor Ostia ist indessen eine Flotte der Karthager gelandet, meldet Schuff, bereit, die Übermacht der Feinde zu verstärken. Bedrängnis von allen Seiten. Romulus und Remus in ihrem wehrhaften Rom stehen Schulter an Schulter mit Timotheus, bereit das ererbte Reich der Väter an sich zu raffen / blutbesudelt und mit gier’gen Fäusten. Bereit auch, den Bruder zum König Strohmann zu machen, der Rom botmäßig ist und Langebehn versklaven.
Die Flößer sind empört.
„Auf der Galeere soll ich enden / oder im Steinbruch gar um zu hauen Quadern für des Bruders Denkmal ?“
„Schlags alle nieda !“ bollern die Flößer.
Kajetans Obstler heizt sie auf zu raubeiniger Parteinahme. Nicht länger herum stehen und große Reden schwingen soll ihr Held von gestern abend. Fort mit den Holzschwertern, her mit Flößerstangen.
„Aufg’rammt g’hört dass’s grad so schewat !“
Zwischen Langebehn und den Flößern ist nicht einmal eine Rampe, die ihn vor ihrem Eingreifen schützt und ihren Schnapsfahnen. Es bedenke der Schauspieler hat Goethe als Bühnengesetz erlassen, dass er nicht allein die Natur nachahmen, sondern sie idealistisch vorstellen solle, und er also in seiner Darstellung das Wahre mit dem Schönen zu vereinen habe.
Wie soll Langebehn diesen Kloben idealistisch kommen. Langebehn geht ab.
Nur Käpernick ruht in sich.
„Pommard und Volnay“ flüstert er mit den Kollegen „wisst ihr überhaupt was das bedeutet ? Ich schlage vor, wir geben dem Franzmann in seinem Misstrauen recht und bohren seine Fässer an.“
Langebehns Abgang blieb ein kurzer Abgang, gerade einmal heraus aus dem Gegehe der Wein fässer hinaus, dann versperrten Propodonskys Kostüm- und Requisitenkisten ihm eine weitere Flucht. Die Flößer nehmens übel auf. Wo sie doch zu ihrem Helden gehalten haben und ihn unterstützt gegen den abgefeimten Bruder, der zu feige ist sich blicken zu lassen. Der Jakobiner hat sich vor dem niedrigen Volk verdrückt ! Maulheld Christian Justus Amadé vor den Unmündigen, die es aus ihrem Knechtsdasein zu befreien gilt.
Wenn jetzt nicht Wilhelm Tell, vierter Akt, geboten ist, wann denn. Nostra res agitur. In Kunterkastens Lungen ist noch die frische Luft des Waldnachmittags, und auf seiner Zunge warten die schneidenden S-Laute. Er drängt sich vor die anderen.
„Kommt alle, kommt, legt Hand an, Männer und Weiber !
Brecht das Gerüste ! Sprengt die Bogen !„
Die Flößer wissen nicht, dass das aus einem ganz anderen Stück hergeholt ist. Ihnen gefällt der junge Kerl, der sich da einsetzt und nicht mit einem Holzschwert fuchtelt, sondern nur mit zuverlässig geballten Fäusten.
„Reißt die Mauern ein ! Kein Stein bleib auf dem andern.
Der Tyrann ist fort, der Tag der Freiheit ist erschienen.“
Sie haben ihn heute bei der Bergung des Viehs gesehen, sie sind auf seiner Seite, welche auch immer das sein mag. Die Feinde sind zahlreich, sie habens vernommen, sie ziehen ihre Hirschfänger aus den ledernen Hosen und strecken sie ihm hin.
„Du wiegst ja gar nicht mehr den Oberkörper“ flüstert Schuff.
Herein Gmeinwieser, er hat alle seine Kühe untergebracht, alle ! Zu guten Händen so wie er selber eine ist, obwohl er hinausgedrängt worden ist in die Nachtkältn, man weiß ja warum und von wem. Aber die Floßknechte wollens nicht hören, sie wollen den Bruderkampf mit entscheiden, jetzt wo der junge Bursch das Heft an sich gerissen hat, und er mit ihren Messern ausgerüstet ist.
Aber Gmeinwieser will die Spielführung nicht den Komödianten überlassen, er lädt die Floßknechte zum Umtrunk ein, drüben im Wirtshaus, wega der Errettung von meine Küah aus Seenot. Zu einem Umtrunk lässt sich kein Flößer lang bitten, aber sie wollen ihn hier im Lagerschuppen verabreicht haben, und dazu soll sich nun endlich Weib-lichkeit blicken lassen.
„Des schöne Deandl wollma sehng !“
Die Demoiselle Pfrenhuber.
„Recht hoda, net owei bloß Mannsbilder !“
Die Forderung wird mit Zungenschnalzen und Pfeifen auf den Fin-gern untermauert. Gmeinwieser hat seine Geißel zum Schnalzen.
„Nacha verlang i –„er verschafft sich Gehör, indem er seine Geißel so dicht über ihnen knallen lässt dass alle die Köpfe einziehen „– dass derjenige nackert vor uns eine Komedi aufführt von dem man net woaß is er a Manderl oder is er a Weiberl.“
Strönebald ! Gejohle.
Der Prinzipal tut Unerwartetes. Stumm. Zunächst schaut noch keiner hin, als er einen grauen Packen Stoff auseinanderfaltet. Er lässt sich Zeit dabei, vielleicht hat er auch schon damit begonnen als Langebehn flühtete. In dem Grau des Stoffes, den er auseinander nestelt, scheinen Farben auf, Vorhangfalten aus blauem Samt erscheinen, die gar keine Falten und kein Samt, mit Leimfarbe auf Leinwand gemalt und der trotzdem pludrige Falten wirft, lasziv wie das Negligée einer Kurtisane. Eine pathetisch goldene Bordüre schmückt ihn an der Unterkante, viele goldene Quasten baumeln von ihm herab an dicken goldenen Kordeln und werfen violette Schatten.
In der Mitte ist der blaue Vorhang gerafft, auseinandergezogen so wie Propodonsky vorhin die unsichtbare Courtine auseinandergezogen hat, und man erblickt einen Hügel, auf dem sich, von Pinien und Olivenbäu-men umstanden wie von einer Ehrenwache, in vornehmer Zentralper-spektive ein Rundbau erhebt. Viele schlanke Säulen haben sein Dach zu tragen, das wie ein Kronreifen aussieht und die Säulen werfen dabei elegante Schlagschatten auf die weiße Mauer. Im Hintergrund, in blau-mattem Dunst, lässt sich der Vesuv bestaunen. Der mit einem kleinen klassischen Räuchlein zu erkennen gibt dass er ein rechtschaffener Vulkan ist comme il faut.
Von dem man aber weiter nichts zu befürchten hat, denn es herrscht Sonntag, bukolischer Nachmittag, Götter-Nachmittag. Zwei Gestalten in Togen stehen in gestenlosem Gespräch, je ein Bein locker auf den Tempelstufen. Sie stehen dermaßen in der Mitte des Arrangements, dass sie jedermann dazu erziehen eine ebenso antikische Haltung einzu-nehmen wie sie.
Der Prinzipal hängt den Prospekt zwischen zwei Balken auf, so dass ihn nun alle betrachten können. Und so wie vorhin zunächst niemand wahrnahm, dass er dieses Wunderwerk entfaltet, so nimmt zunächst niemand wahr dass der Prinzipal vor sich hin murmelt. Er steht vor den beiden gemalten Gestalten als wäre er der gemalte Dritte, und die es sehen, zischen sich gegenseitig nieder.
„Seids do staad da hinten !“
Der Prinzipal murmelt die Rolle des Timotheus vor sich hin und sein Bekümmernis über den bastardischen Bruder. Selbst die Schauspieler die den Text oft genug gehört haben, rücken näher als gebe der Prinzipal zum erstenmal das Geheimnis preis, dass Timotheus sein Volk ohne Gewalt und einen Schwertstreich befreien will von Barbarei und Aberglauben, den hexerischen Finsterlingen und der Blutrache, und seine Untertanen hineinführen in die große sittigende Ordnung der weisen Herrschaft.
Das ist die Huldigung an den Kaiser, der in der ersten Reihe sitzen wird. Und der Prinzipal wird zwischen den Rampenlichtern knien, die Majestät vor der Majestät.
„Du wiegst schon wieder mit dem Oberkörper“ flüstert Schuff Kunterkasten zu.

Regensburg

Ein Theatergerücht ist keine Botschaft des lebendigen Tages. Ein The-atergerücht hat lange im Alptraumdusel dahingedämmert, zwischen geflickten Kostümen, vor Schwitze speckigen Helmen aus Pappe, in Blechnäpfen mit ranzigem Abschminkfett, in Haarteilen in denen zu-sammen mit dem Theatergerücht die Milben hausen. Um dann zu erwa-chen, ohne Anlass und ohne Stichwort, eine Fledermaus der Zwietracht nach dem Verglimmen des Lichtes der Vernunft. Alt und stinkig, aber neu aufgeschminkt und kostümiert. Hast du auch schon gehört ringel-nattert es sich durch die Umkleidekämmerchen, was ich da hab hören müssen dass da ganz bestimmte Personen die Namen darf niemals wer erfahren es pestilenzt gen Himmel, vor lauter Nasezuhalten kommt man gar nicht dazu es wiederzugeben Ehrenwort drauf dass es diese Gar-derobe hier in drei Ewigkeiten nicht verlässt.
Ein Theatergerücht weht stets zur unzeitigsten Unzeit herein. Wenn eine Probe beglückend verlaufen ist, wenn der Prinzipal sich im Einver-ständnis mit seiner Truppe wähnt, wenn schon nach dem zweiten Auftritt der erste Applaus im Parkett aufrauscht, wenn die Journale die Auffüh-rung preisen und den Vorverkäufern die Billetts ausgehen.
Ja wer sind wir denn.
Wer das Theatergerücht weiterträgt, schwört zugleich dass er ihm zu-tiefst misstraut, dass er es nur unter zugespitztestem Vorbehalt weiter-tuschelt, auf dass er wegen dieser Schwäre in seiner Mundhöhle nicht Schaden nehme an seiner Seele sowie Leib und Leben.
Ein Theatergerücht hat keinen Verfasser, dessen Name auf dem Um-schlagblatt vermerkt wäre wie der Schillers auf der Braut von Messina oder Kotzebues auf seinen Jüngsten Kindern meiner Laune. Die Fratze des Theatergerüchts ist grauschimmelig und grell überschminkt zugleich, sein Inhalt giftdurchsäuert wie Knollenblättersuppe und kein Zauber-kräutlein ist gegen es gewachsen unterm Bühnenhimmel. Ist es schon 1779 erfunden worden, in der Kaschemme hinterm Comödienhaus zu Merseburg ? Oder hat es erst 1751 ein Kulissenschieber in Greitz-Lo-benstein ausgespuckt, als der aus der Versenkung drei übergewichtige Heroinen hochkurbeln musste ? Ist es mit den Milben aus der Perücke ge-rieselt, die ein verdrossener Mime 1802 sich vom Kopf riss, ehe er um-sattelte auf die gewerbsmäßige Destillation von Kräuteressig ?
Auf der Fahrt auf Vilshofen zu weht es wieder einmal herbei.
„Hast du gehört, es hat eben doch eine Aufführung stattgefunden im Hoftheater.“
Wie ist das Gerücht aufs Floß gelangt ? Wer von den Viehtreibern, Bauern, Floßknechten weiß von einem Theater, gar einem Hoftheater ? Und doch gerinnt es zur Gewissheit : es ist da ein Stück über die Hofbüh-ne gegangen, die doch angeblich verschlossen gewesen sein soll.
Angeblich. Ja wer sind wir denn.
Langebehn, zwischen den Schränken, weiß auch schon wer ihnen den Auftritt vermasselt hat. Der Prinzipal. Langebehns Handschuh peitscht die andere, nackte Hand. Schuff, zwischen den Ziegen, weiß : der Prinzipal hat die nichtsahnenden Schutzbefohlenen auf das Floß ge-trieben, damit sie um Himmelswillen nicht auftreten. Vor Napoleon, dem Siegreichen, dem Spendablen, dem Freigebigen und seinem aus Paris herbeigeeilten Hofstaat. Empört sich Strönebald, zwischen den Schafen.
Dem Hofstaat ! Ja wer sind wir denn.
Propodonsky lässt sie eiskalt die eisige Isar hinunter fahren, während sich andere auf der Bühne der Residenzstadt großtun dürfen mit ihrem, hast du schon gehört ? der Propodonskyschen Truppe ureigenstem Stück. Welches ureigenste Stück wars denn nur gleich, weggewischt der Name, was spielt er schon für eine Rolle wenn sie es nicht selber haben spielen dürfen, so wie sie‘s so erfolgreich zur Uraufführung gebracht haben in Düsseldorf, du erinnerst dich doch, oder wars Osnabrück, jedenfalls wars die Premiere, die Ohren klingen ihnen noch vom Beifall, siebzehn Vor-hänge, und der Rang hat getobt, Käpernick hat es in Serie gespielt, Lan-gebehn sollte daraufhin nach Weimar verpflichtet werden, Schuff wurden Chrysanthemen vor die Füße geworfen bei offenem Vorhang, oder wa-rens Aurikeln ?
Alle die sich noch gestern aus dem Wege gegangen sind, bilden auf einmal wieder ein Ensemble, eine Gemeinschaft, der das Recht zuge-kommen wäre auf der Bühne des Hoftheaters vor Bonaparte aufzutreten. Sogar die la Brée klinkt sich mit ein. Das Ensemble soll nicht wähnen, dass sie ihrem Prinzipalsmänne treutramplig durch dick und dünn blinden Gehorsam hält. Die Brée erinnert sich wehmütig, dass das Stück nament-lich im dritten Akt Dialogstellen von einer Innigkeit enthält, die die Damen im Parkett zu Tränen gerührt hat, nein : gerührt hätte, wenn nicht…
Wer sind wir denn.
Propodonsky wird, so verlangt es das Strafrecht der Umkleidekabuffs, vor kein Tribunal gestellt. Es wird ihm keine Verteidigung zuteil, nur ein Urteil, gegen das eine Berufung unmöglich ist : Gehasstwerden, ver-schärft durch Angeschwiegenwerden, in erster und letzter Instanz.
Die Geschworenen ziehen sich in ihre Innenkämmerlein zurück und wüten dort so gnadenlos wie stumm gegen den princeps spectoculorum, noch mehr aber gegen sich selbst. Stiekum stiekum den Bach runter solls gehen mit uns abwärts Stufe um Stufe Welle um Welle ins Abwasser in den Abtritt ins Ochsische läßt er uns triften in den Strudel des Verges-senwerdens zwischen Kuhdörfern links und Kuhdörfern rechts zwischen Mistheim und Wiederkäuerhausen man sagt uns ja nicht einmal mehr was der nächste Halt stromabwärts für einen Namen hat wenn er denn überhaupt einen hat -
Ja wer sind wir denn.
Wer sind wir denn, dass wir uns selber kundig machen müssen, wo wir nächstens anlanden. Eine dieser Ansiedlungen da stromabwärts, hast du gehört, das soll Regensburg sein.
Regensburg, die freie Reichsstadt ?
„Regensburg, Bischofssitz, sag ich doch.“
„Und Sitz vom immerwährenden Reichstag.“
„Aber geht mir doch weg mitm Reichstag. Reichstag ist doch passé. Hast du nicht gehört der Reichstag gotthabihnselig ist auseinandergejagt von der Faust des Bonaparte.“
„Des Bonaparte, vor dem wir in München nicht haben auftreten dürfen“.
Ja das ist ein Prinzipal, dieser Napoleon, von ganz andrem Schrot und Korn als der unsrige, der legt grande force an den Tag der schafft freie Bahn für Kavallerie wie für Künstler, bei dem sind die von der Kavallerie die Künstler, der scheucht den gichtigen Reichstag zum Bühnenausgang hinaus, der erschafft neue Stücke, neue Kostüme, neue Rollen !
„Und modelt sogar Regensburg um in ein Fürstentum.“
Diesmal ist das Theatergerücht nicht aus ranzigem Abschminkfett und milbenverseuchten Perücken hervorgekrochen, es ist gar kein Theaterge-rücht mehr, es ist nicht einmal ein Gerücht.
Ein Holzhändler hat mit einem Holzkunden geschachert, es ging um etliche Kommoden, um Preis und Preisnachlass, ungebeizt, aus Zirbel-holz, aber die Schubladen mit zu vielen Astlöchern. Fand der Kunde. Und als der Händler schon dabei war runterzugehen eben wegen der Astlöcher ging’s en passent um einen gewissen Mössjöh von Dallberg oder so ähnlich, der von Bonaparte jüngst zum Herrn über Regensburg eingesetzt worden ist.
„Etwa gar der Dalberg aus dem Pfälzischen ?“
Eben der. Vordem aber hat er ein ganz anderes Amt innegehabt, und was den Preisnachlass für die Kommoden angeht, Astlöcher hin Ast-löcher her, mehr als vier Kreuzer sind der Ruin. Der Ruin des Holz-händlers.
Und damit war der Disput zu Ende und das Geschäft perfekt.
Aber Schuff hats, wozu bekleidet er das Amt des Intriganten und He-rumhörers, in die Ohren gekriegt, und man erlebt nun das Theatermi-rakel, wie ein Allerweltsgerede umkostümiert wird zum Theatergerücht.
„Habt ihr gehört, der neue Fürst von Regensburg, das ist der Dalberg.“
Der Freiherr von Dalberg ?
Der Reichsfreiherr von Dalberg, Schuff hat es aus allererster Quelle, der weiland Directeur des Nationaltheaters war zu Mannheim am Rhein. Käpernick hat es zuverlässig erlauscht, unser Dalberg trägt die Fürsten-krone von Regensburg an der Donau.
Anderer Fluss. Andere Stadt. Gleicher Dalberg.
Und Langebehn weiß, es wird sein Nationaltheater sein, das durch ihn, Langebehn zur teutschen Musterbühne reifen darf. Dalberg, eben gefür-stet, hat zu Regensburg ein neues Theater erstehen lassen, dafür verbürgt sich nun auch Lucille de Brée mit allen Schwurfingern, die sie je in ihren Rollen hochgestreckt hat, eine fürstlichere Bühne als die vorige, und die Theaterwelt schaut erwartungsvoll darauf, von Berlin wie von Weimar her.
Nun ist es keine Fama mehr, nun ist es auch aus dem Mund der Prinzi-palin gekommen, nun ist es beglaubigt, mit dem Amts- und Glaubwür-digkeitssiegel des Reichstags, was verschlägts dass der eben grade aus-einandergejagt worden ist.
Auseinandergejagt sein soll ! Denn womöglich sitzt er ja, wenn der Prinzipal das nicht auch noch hintertrieben hat, nach wie vor in Regens-burg, im noch leeren Theater, auf roten Polstersesseln und wartet drauf, dass wir es seiner Bestimmung zuführen.
Als Fürstentheater.
Plötzlich lachen sich die eben noch dumpftristen Mimen wieder ins Gesicht, rotwangig nicht vom Frost sondern von Zuversicht. Und der Hoffnung, die in München so grausam beschnitten wurde, wachsen neue Arme und Beine und sogar Flügel.
„Ich war, das kann Dalberg nicht vergessen haben, als Spiegelberg besetzt damals in der Uraufführung.“
Jeder in der Compagnie weiß, welche Uraufführung gemeint ist.
Dreizehnter Januar 1782 ! Der Zuschauerraum ein Irrenhaus ! Gerollte Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Schreie ! Wildfremde fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, der Ohnmacht nahe, zu den Ausgängen.
Haben es so die Gazetten berichtet oder haben die nur wiedergegeben, was Propodonsky, der Augenzeuge ihnen souffliert hat ?
Und nun wiederum berichtet. Denn Propodonsky hat sich selbst begnadigt von der Strafe des Angeschwiegen- und Gehasstwerdens. Sein Instinkt für dramatische Zuspitzungen treibt ihn in die Mitte seines Ensembles und er zitiert auswendig, was seinerzeit in den Journalen. Von ihm verbürgt, denn es war Propodonsky, der es den Rezensenten in die Feder diktiert hat. Eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht. Und Propodonsky mittendrin im Auge des Orkans. Histrio primus. Rex leonorum. Damals wie heute.
Und wie er den dünnen Schiller Fritz, den Verschreckten, den Neuling im dramatischen Gewerbe, den zwischen den Kulissen Schlotternden väterlich aufgerichtet hat und daneben seine Rolle gemeistert.
„Dalberg hat mir daraufhin den Don Carlos versprochen“ gibt er der Nachwelt zu Protokoll, auch wenn diesmal keiner von der Journaille mit-schreibt.
„Ich bin es gewesen, der dem Schiller den Carlos in die Kielfeder diktiert hat.“
Diesem bübchenhaften Militärchirurgus aus dem Schwäbischen, der ohne Dispens seines Herzogs herüber geirrlichtert war ins Pfälzische, Ar-rest drohte ihm und Schreibverbot, aber nun ward ihm Refugium und Halt :
„Ich war es, aber das muss unter uns bleiben – „ Propodonskys Stimme fällt in eine Versenkung, und alle folgen ihr „- ich bin es gewesen der Schiller von der Prosa zu den Jamben gebracht hat ! Ich habe das Metrum gestampft, und er hat mitgeschrieben. Ich habe auf der Bühne gestanden, und er hatte sein Pult in der zweiten Reihe Parkett stehen“.
„Uraufgeführt wurde das Stück dann allerdings erst vor zwei Jahren“ erlaubt sich Langebehn süffisant als Fußnote.
„Man höre und staune in Weimar“.
Als hätte er in seinem Pelzkragenmantel einen Schauspielführer ste-cken.
“Und in der Titelrolle war besetzt ein gewisser – „
Diese zweite Fußnote zu beenden ist Langebehn nicht gegönnt, denn Strönebald greift auf einmal furios in seine Harfe. Er macht die Sturm-glocken hörbar, wie sie damals in Mannheim erklungen sind bei der Plünderung des Klosters im dritten Akt.
Flammen züngeln, Raubgut poltert, und der Prinzipal, hinter dem Lärmschleier aus Bühneneffekten, den der getreue Strönebald auf seinen Darmsaiten vor ihm aufzieht, kann in Ruhe nach dem Text des Spiegel-berg gründeln um damit zu belegen, dass er damals mit dabei war.
„Pfui ! Pfui über …“
„Pfui ! Pfui übeh das schlappe Kastatenjahhundet !“
Strönebald kommt es hart an, ausgerechnet diesen Satz zu soufflieren, aber für seinen Meister meistert er ihn.
„Pfui über das schlappe Kastratenjahrhundert ! Die Kraft seiner Lenden ist versiegen gegangen und nun muss Bierhefe den Menschen fortpflan-zen helfen.“
Was war er doch für ein Spiegelberg, spiegelt Propodonsky sich selber vor, und was für ein Franz Moor, erinnert Schuff sich beseligt. Und was Käpernick für ein praller Schufterle und zugleich ein anrührend aus-gehungerter alter Moor. Beide treten ja nicht zusammen auf, so konnte er sich ohne Hast von beleibt auf hungerleiderisch umkleiden. Und Lan-gebehn stand als Karl Moor turmhoch über den Mannheimer Darstel-lungslakaien, wenn er einmal beiseite lässt dass er dazumal erst ein Grün-ling weit vor dem Stimmbruch und Konistorialratssohn im Braun-schwei-gischen war. Und Dalberg hat in der ersten Kulissengasse gestanden, bibbrig schwitzend wie seine Mimen, hat sie freundschaftlich zum Auf-tritt hinausgeschoben und nach ihrem Abgang in die Arme geschlossen. Einzigartig warst du, merveilleux, du bist der Stützpfeiler des ganzen Abends.
Ja, da waren wir noch wer.
„Was soll uns Wien, wenn Dalberg in Regensburg auf uns wartet !“
An diesem Tag gibt es keine Sandbänke und keinen Schnee. Vorweg-genommener Vorfrühling zieht in die Gemüter ein. Das Unheil nimmt seinen Lauf.
„Wir kemman aber net über Regensburg“
Der Floßmeister schmatzt seinen Tabak.
„Die Weltenburger Enge, Regensburg vorgelagert, ist aber von einzig-artiger landschaftlicher Schönheit“ belehrt ihn Langebehn, als hätte er in seinem Pelzkragenmantel auch noch einen Reiseführer stecken.
„Die Felsen tragen ausdrucksstarke Gesichter dort in der Felsen-schlucht. Schon die Römer haben darin ein gutes Omen gesehen für glückhaftes Neubeginnen.“
Und die Römer sind immerhin feste Posten im Repertoire der Propodonskyschen Truppe.
Nirgendwo, weiß dagegen der Floßmeister, sind so viele Flößer ertrun-ken wie in der Weltenburger Enge. Die Strudel dort gehören zu den heim-tückischsten im ganzen Flusslauf.
„Mit mir an Bord sind Sie gegen jede Unbill gewappnet“ weiß nun wieder Langebehn.
Kautabak. Der braune Speichel rinnt. Der Floßmeister brummelt etwas was Langebehn besser nicht versteht.
„Wie kommen Sie drauf, wir kommen über Regensburg“ schaltet Gmeinwieser sich ein. „Schaun Ihnen doch doch de Landkartn an.“
„Der da“ - Langebehn meint den Floßmeister - “fährt doch gar nicht nach einer Karte!“
Mit der Muttermilch eingesogen hats so ein Flößermeister, wie die Route geht. Ererbt vom Vater und Großvater her. Aber wer ist denn ein Langebehn, dass er sich vom niederen Volk belehren lässt.
„Es geht nicht um irgendwelche Altvordere. Es geht um meine Karrie-re ! Sie bringen uns ohne Verzug nach Regensburg, oder – „
Nach dem hochgezwirbelten oder verzichtet Langebehn darauf die Spannung weiter ins Drohende zu treiben. Nur der Handschuh, den das Pferd ihm nicht weggefressen hat, peitscht dicht vor dem Gesicht des Floßmeisters in Langebehns andere, bloße Hand. Er steht, findet Lange-behn, als eindrucksvolle Verkörperung heldischen Forderns vor dem ver-stockten Landmann, das Hellocker seines Mantels trefflich umrahmt vom eisblauen Winterhimmel.
Egmont in Grönland.
Der Floßmeister vermeidet es, zu dem weit Größeren hinauf zu schau-en. Von der unterschiedlich verteilten Schönheit gar nicht zu reden.
„Sag eam“ knautscht der Floßmeister Gmeinwieser zwischen Tabak-bissen zu, als wäre der Schauspieler gar nicht vorhanden „wann er si net vazupft, nacha fallt er ins Wasser und koana is weit und breit der wo‘n derrettet.“
Für Langebehn war der Auftritt ohnehin zu Ende. Darstellerische Satis-faktion ist von dem zu kurz gewachsenen Tabaklutscher mit seiner dürf-tigen Phonetik ohnehin nicht gewärtigen. Langebehn geht federnd ab, federnd wie die Kriegsleute im Wallenstein und zieht sich in seine pro-visorische Garderobe zurück. Mit einem der Möbelhändler ist er handels-eins geworden, dass ihm ein Bauernschrank als Logis zur Verfügung steht.
„Des is fei oaner“ warnt Gmeinwieser den Floßmeister “der is mitm Satanas persönlich speziell.“
Das ist einer der sich die Klauen schärft in aller Öffentlichkeit. So einem widerständig sein heißt ein Verhängnis heraufbeschwören, das sich über jedermann ergießen kann und nicht bloß den ahnungslosen christ-katholischen Schiffer, und auf einmal fährt das Floss eben doch flussauf-und bergwärts, vom Sparifankerl kichernd umgesteuert, und die Misch-poche, die komödiantische landet pfeigrad dorten an, wo sie sich hin-wünscht.
Eben in Regensburg.
Der Flossmeister hat heute so viel geredet und seinen Tabak darüber vernachlässigt, dass er sich weitere Gegenreden spart. Er belässt es bei einem Lachen, von dem der Tabaksud dem Viehhändler auf die Wange spritzt. Der achtets nicht, so wie der Sankt Sebastian den Flitzepfeilen keinen Blick geschenkt hat, die in seinen heiligen Corpus gesaust sind. Weil ein Gottesstreiter sich in Demut übt und im Verzeihen. Also schweigt Gmeinwieser von dem Votivbild das er jüngst gesehen hat. Der Schiffer der es gestiftet hat und sich drauf abbilden ließ, war wider Willen den Fluss bergauf getrieben worden samt seiner Fracht, sechs Krautfässern und zwei Hammeln. Erst ein Stoßgebet zum Heiligen Nikolaus hat die Strömung wieder umgedreht. Aber das Wasser blieb auch danach noch bedrohlich verfärbt ins widernatürlich Schwarzgrüne.
„Ich schließ dich ein in meine Fürbitte“ verspricht Gmeinwieser dem
Floßmeister.
„Damit der Fluss net schwarzgrün wird und der Leibhaftige bergwärts fahrt mit dir.“
„Weihrauchseppl, bigotter“ knurrt der Floßmeister.
Gmeinwieser wird einen Rosenkranz beten mit dem letzten, so scheints ihm, gläubigen Christenmenschen auf diesem gottlosen Gefährt. Der Bauersfrau, die den eckigen Segeltuchsack mit sich führt. Vier Kinder sind ihr weggestorben, ihr Mann ist letzthin vom Schlagfluss gerührt worden, wie ein Brett liegt er daheim auf ihrem Hof.
Nun ist sie auf Winter-Wallfahrt. Denn wann sonst hat ein Bauersleut schon Zeit für eine Reise als eben im Winter, wenn Acker und Weidevieh nicht versorgt werden müssen, um an dem berühmten Gnadenort isarabwärts die Allerheiligste Jungfrau um Beistand anzuflehen. Der Sinn aller Gottesfürchtigen im Land ist auf diesen Gnadenort ausgerichtet, ein jeder will einmal im Leben dort vor der Jungfrau gekniet haben.
Bei der Landbevölkerung, auch wenn die in der Stadt drüber spotten, ist die allerheiligste Jungfrau ins alltägliche Gebet eingeschlossen. Und die Landbevölkerung ist es doch, die all die neumodischen Reformen auf ihrem Buckel zu schleppen hat und zu bezahlen und sich neuerdings mit neumodischen Nadeln stechen lassen muss gegen Krankheiten, die es auf dem Dorf gar nicht gibt. Und dabei trotzdem den Freigeistern in der Stadt den Roggen liefern muss, Butter, Speck und Eier. Die Passionsspiele hat die Regierung allbereits überall verboten, die Klöster aufgehoben, die Kirchenschätze beschlagnahmt, die Evangelischen hereingelassen, bald wird sie auch noch das Wallfahrten unter Strafe stellen, und danach den Kirchenbesuch überhaupt.
Tempus non erit amplius, von nun an wird keine Zeit mehr sein, sagen Johannes der Evangelist und der Gmeinwieser Johann Baptist mit einer Stimme, die Apokalypse ist hinter uns her und der Höllenrachen aufgesperrt.
„Wir fahren bei Deggendorf in die Donau hinein, gell Meister“.
Die Demoiselle und Lucille de Brée stehen vor dem Floßmeister. Seit-dem sie bei ihm auf dem Floß sind, hat er noch nicht die Ehre gehabt, von den Damen der Compagnie angesprochen zu werden. Die eine hält die andere um die Taille gefasst, um das Schwanken des Floßes abzufangen.
„Und wieviel Meilen bitte liegt dieses Deggendorf entfernt von Regens-burg ?“
„Circa neunahalb“ sagt der Floßmeister, galant für seine Verhältnisse, weil er nicht weiß dass er Mutter und Tochter vor sich hat.
„Aber das ist doch keine Distanz, Herr Kapitän, wo man groß was her-machen müsste drüber.“
„Wenn die Donau schon einmal so am Dahinfließen ist, kann man sich das doch zunutze machen und auf ihr noch ein bisschen weiter hoch fahren.“
Der Floßmeister unterbricht sogar sein Tabakkauen, weil er meint sein Geschmatze verhindere, dass er die besondere Logik der Damen er- schmeckt.
„Ein Fluss, eine Reise, gell.“
„An der Donau ist doch auch Wien gelegen, was unser Reiseziel eigentlich ja ist. Regensburg wäre dann nur ein minimales Abstecherlein, quasi.“
„Husch eine Fingerspitze weit um die Ecke.“
Die Damen haben propere Gesichtchen, wie der Floßmeister sie an seinem aus rohen Stämmen gefügten Arbeitsplatz noch nicht gesehen hat. Ihre Münder und Wangen leuchten pudrig in einer Rosenfarbe wie er sie noch seltener gesehen hat. Und aufgeklebte Leberflecke, schwarzlila und bei beiden wohlgezielt an der gleichen Stelle hat er überhaupt nach gar nie gesehen.
„Wir bewundern Sie die ganze Reisezeit lang ja schon. Wie Sie die Ge-schicke dieses Schiffes in der Gewalt haben, Sie und ihre Mannen...“
Und wie die Damen sich ausdrücken ! Beider Blicke mit weiten Pupil-len auf seinem Gesicht festgesogen, von dem er sich jetzt eben wünscht, es säße höher oben und wäre nicht gar so üppig verziert mit Rinnsalen aus Tabakschleim.
„Das setzt eine herkulische Energie voraus, wie man sie auf dem fes-ten Land lange nach suchen muss.“
Da gibt’s kein Vertun, die Damen haben ein Aug auf ihn. Er weiß nicht, was gockeln ist, aber dass er jetzt gockeln muss, ist gewiss.
„Mit a paar Ross als Vorspann gangerts scho.“
Mit einigen vorgespannten Pferden ließe es sich wohl bewerkstelligen.
„Parbleu ! Wenn Sie das sagen, ein Herkules der Gewässer…“
Wenn die Damen ausreichend Pferde beibrächten, würde auch er seinen Teil beisteuern und sie bergwärts kutschieren dass‘s bloß so spritzt, um ihnen zu gefallen. Die Damen gicksen irritiert. Und genüsslich betrachtet der Floßmeister, was von ihren hochgeschnürten Brüsten zu sehen oder doch zu erahnen ist.
Wieviele Pferde da denn wohl benötigt würden?
„A grade Zahl rechnet ma auf jedn Fall. Oawei zwoa und zwoa, übern Daumen g’rechnet, auf jeder Seitn.“
Je zwei und zwei, streng symmetrisch. Und dabei hüpfen seine Augen vom Busen der einen zum Busen der andren, ebenfalls streng sym-metrisch.
„Sie veranschlagen also summa summarum vier Stück ?“
Als könnte Strönebald beliebig viele aus seiner Requisitenkiste hervor kramen. Von wegen vier, grinst der Floßmeister, bei der Größe seines Floßes sind zwölf auf jedem Ufer grade angemessen. Zwei weitere für die Vorreiter nicht gerechnet, wiederum streng symmetrisch.
An dieser Stelle möchte die Demoiselle einen ohnmachtsnahen Seuf-zer aus sich herauslassen und abgehen. Aber die Prinzipalin, die schon viele aussichtslose Dispute zu ihrem Vorteil entschieden hat, mit Fuhr-leuten, Grenzwächtern, Steuervögten, Zöllnern, Zensurbeamten und Ofenheizern während ihr Propodonsky längst zur Tür hinaus war – Lu-cille de Brée gibt nicht auf.
„Seine Durchlaucht der Fürst Dalberg erwartet uns mit allerhöchster Ungeduld. Durchlaucht wird sich bei Ihnen erkenntlich zeigen. Fürstlich versteht sich. Nicht zu reden von der Ehre für Sie, wenn Sie ihm uns vor die Tore expedieren. Mit ihren kraftstrotzenden Ruderern in seinen fürstlichen Hafen.“
Kitzeln täts den Floßmeister schon. Sein Vater, sein Großvater, sein Urgroßvater sind ein Flößerleben lang talwärts gefahren, niemals berg-wärts, wenn sie auch bis Belgrad gefahren sind und noch weiter hinunter dem Schwarzen Meer zu. Was für eine Herausforderung, einmal den verwegenen Kerl heraus zu kehren der auf alle Strömung scheißt, wenn zwei so gescheckte und geschleckte Theaterzeisige ihn anhimmeln als wäre er der wundertätige Antonius von Padua. Ohne dem sein Keusch-theitsgelöbnis, versteht sich. Keine große Kunst also, den Damen nun hoch und heilig Versprechungen daher zu flunkern, keine davon zu halten und abzuwarten, was die Weibsbilder ihrerseits einlösen.
Vorweg und à conto.
„Wir wären auch alle zusammen behilflich.“
Und sie vollführen weit ausholende Ruderbewegungen dazu.
“ Aus vollen Leibeskräften, drei…. vier…. !“
Worüber sie selber lachen müssen.
Im Floßmeister besiegt die Verwegenheit den Griesgram des ewigen Tabakbeißers. Und ob er die beiden wupsigen Vögeleinchen an den Rudern sehen möchte ! Gnadenlos möchte er sie scheuchen. Aus vollen Leibeskräften. Ihren und seinen. Drei, vier, fünf, sieben, zehn …
„Vor allem Käpernick gibt einen baumstarken Ruderer ab“ brüstet sich die Demoiselle, als brauche der Floßmeister seine nautischen Hoffnun-gen nicht allein auf die beiden Damen zu beschränken, und zeigt mit ausgestrecktem Finger hinüber auf den schwergewichtigen Kollegen.
“Unser Käpernick ist ein veritabler Herkules.“
Der dicke Derbleckhansel, der den Floßmeister nachgemacht hat zum Gaudium seiner Flößer. Den dienen sie ihm an, statt sich selbst ! Der Floßmeister hat seine Grobheit unter Verschluss halten wollen, aus-nahmsweise, im Umgang mit kapriziösen Flatterlieserln ist er nicht recht firm. Jetzt holt ihn seine Grobheit wieder ein, und er spuckt knapp an ich-nen vorbei eine Ladung Tabaksud ins Wasser.
„Zuchtln.“
„Vergenung, aber wir haben Sie nicht verstanden, Herr Kapitän.“
Grimmig abwinkend lässt er sie stehen.
„Mitm Gottseibeiuns derfts bergwärts fahrn, und euer Herr Kuhles da kann mich kreuzweis.“
Der Prinzipal, histrio primus, rex leonorum, hat kein Wort für die Bergfahrt eingelegt. Er sitzt mit sich allein, stiert einen Putenkäfig an und wendet den Seinigen den Rücken zu.
„Die Verhandlungen dass wir Regensburg anlaufen stehen günstig“ meldet ihm die Prinzipalin.
„Er ist ein Plusterich, aber ich hab ihn so gut wie rumgekriegt.“
So wie auch ihr Propodonsky ein Plusterich ist. Sie tätschelt ihn wie einen Fünfjährigen.
„Du wirst nicht bloß den Spiegelberg spielen. Diesmal kriegst du den Karl Moor“.
Sie versetzt ihm einen Kuss auf die Stirn, à conto. Der künftige Karl Moor nimmts als vorweggenommene Huldigung. Er wird nach Regens-burg gerudert werden, und mag noch so viel Strömung es hindern wollen. Es steht ihm zu, so wie ihm der Karl Moor und eine Extravorstellung vor dem Kaiser zusteht. Er rudert sich selbst, er rudert den ihm zustehenden Franz Moor aus sich heraus. Und sein eigener Karl Moor rudert ihn nach Regensburg. Schon geht die Courtine für ihn auseinander, unter ihm in der ersten Reihe muss der Fürst Dalberg stillesitzen während Propodonsky zu ihm hinunter donnert, stimmmächtiger als damals in Mannheim :
„Oh über mich Narren, der ich wähnete die Welt durch Greuel zu ver-schönern, und die Gesetze durch Gesetzlo¬sigkeit aufrecht zu halten. Ich nannte es Rache und Recht….“
Und er spürt, er wird zwanzig Jahre jünger dabei. Lucille möchte ihn noch einmal küssen, aber er schiebt sie beiseite, nun ist er ganz Karl Moor geworden und als Oberräuber zugange in den böhmischen Wäl-dern, und Lucille steht als Amalia auf dem Söller ihres Schlosses und sehnsüchtet zu ihm hinunter :
„Was hab ich getan, ich unschuldiges Lamm? Ich hab diesen geliebt!“
Was wäre sie in ihrer Jugend für eine Amalia gewesen. Was Käpernick für ein Schufterle und zugleich ein alter verhungernder Moor. Sie schau-keln sich alle in Rollen hinein, die sie nie gespielt haben. Schuff springt über die Stämme, seine Pelerine weht, er schleudert jedermann und jederfrau seinen Franz Moor entgegen. Den Kollegen, den Bauern, den Ziegen, die als einzige auf dem Quivive sind und ihm mit der selben gepressten Intrigantenstimme antworten.
Und Schuff gibt ihnen genauso ziegisch heraus.
„Hier nimm diesen Degen. Hurtig. Jag ihn mir hinterrücks in den Bauch, dass nicht diese Buben kommen und treiben ihren Spott mit mir.“
Das Ensemble verwandelt sich in Raubgesellen. Erst jeder für sich, an verschiedenen Ecken des Floßes, mit Einzelsätzen, in den Winterwind ge-schmettert. Dann rücken sie dichter aufeinander, damit ihre Sätze nicht nur ins Leere fallen, auf dem Langholz balancierend ( auf einmal glückts ihnen, wo sie Übelbolde sind ) nehmen dem und jenem Kollegen die Replik ab, werfen sich über Ochsenrücken hinweg die Stichworte zu.
Die Holzleute, die Bauersleute, die Viehleute wissen nicht wie ihnen geschieht. Noch nie haben sie eine Theateraufführung gesehen. Dafür hat Strönebald erfasst, dass die Nichtstuerei in Arbeit umgeschlagen ist und eine Stückprobe ausgebrochen. Er setzt sich zu Füßen seines Meisters und souffliert.
„Oh eitle…“
„Oh eitle Kinderei - da steh ich am Rand eines entsetzlichen Lebens, und erfahre nun mit Zähnklap¬pern und Heulen, dass zwei Menschen wie ich den ganzen Bau der sittlichen Welt zu Grund richten würden.“
„Legt ihn…“
„Legt ihn an Ketten! Er ist rasend worden.“
“Das ist meh als…”
„Das ist mehr als ein Mann erduldet. Hab ich doch ….hab ich doch…hab ich… “
„…hab ich doch den Tod…“
„…hab ich doch den Tod aus mehr denn tausend Röhren auf mich zu-pfeifen gehört, und bin ihm keinen Fußbreit gewichen.“
Parbleu, das ist anderes Kraftfutter als dieses Tortengebrösel von Rö-merdrama, das sie im Gepäck nach Wien zu schleppen haben.
„Soll ich jetzt lernen beben wie ein Weib? Nein, ein Weib erschüttert meine Mannheit nicht - Blut, Blut! Blut muss ich saufen.“
Die Kartenspieler haben ihre Karten in Sicherheit gebracht, die Hühner-steigen werden zugehängt. Der Schafsbesitzer stellt sich vor seinen Scha-fen auf, die Hand in der Tasche umklammert sein Stilett. Flößer und Bau-ern rücken in weitem Abstand von den Schauspielern ab. Gmeinwieser, den Arm um die Wallfahrerin gelegt, hilft ihr den Segeltuckasten hinter der Hütte zu bergen. Ihrer beider frommer Gesang steigt auf wie dünner Weihrauch. Propodonsky kommts gerade recht, just in dieser Sequenz braucht er Choräle als Hintergrund, wie sie in einem Kloster gesungen werden .
„Wir gehn weiter von Zelle zu Zelle, nehmen einer Schwester nach der andern die Kleider, endlich auch der Äbtissin - „
Sogar der leise Strönebald wird schrill. Er der sonst nie schrill wird. Er schlägt auf seiner Harfe Klostersturm, Plünderung und Feuersbrunst. Wie damals in Mannheim, als es den Zuschauern im Hoftheater grauste.
Nun graust den Zuschauern wieder, auf dem Floß.
„- jetzt pfeif ich, und meine Kerls draußen fangen an zu stürmen und zu hasselieren -“
In seinem Schrank hat sich Langebehn warm gesungen für seinen künftigen Direktor Dalberg, der ihn als Karl besetzen wird. Als er durch die Bretter hört, dass ein anderer sich in seiner Paraderolle produziert, reißt er beide Türen auf und springt heraus.
„ - als käm der jüngste Tag, und hinein mit bestialischem Gepolter in die Zellen der zehn Schwestern! – hahaha! –„
Nun gibt es zwei Karl Moors auf dem Floß, die sich gegenseitig überschreien.
„ - da hättest du die Hatz sehen sollen, wie die armen Tierchen in der Finstere nach ihren Röcken tappten, und sich jämmerlich gebärdeten, wie sie zum Teufel waren –„
Zuerst halten die beiden Karl Moors weiten Abstand voneinander. Der eine bei den Kühen, der andere bei den Kalkbottichen.
„- und wie sie sich vor Schreck und Bestürzung in fünfzehn Bettlaken wickelten, oder unter dem Ofen zusammenkrochen wie Katzen, andere in der Angst ihres Herzens die Stube so besprenzten, daß du hättest das Schwimmen drin lernen können, und das erbärmliche Gezetter und La-mento – „
Dann bewegen sie sich aufeinander zu, schreien sich von weitem nieder.
„- und endlich gar die alte Schnurre die Äbtissin, angezogen wie Eva vor dem Fall - „
Nun sind sie auf gleicher Höhe, auf dem selben Holzstapel, ihre erhitz-
ten Gesichter fast Nase an Nase. Die Kollegenschaft ist stumm geworden und beobachtet angewidert, wie die beiden sich mit Spucke besprenzen.
„Du weißt, Bruder, dass mir auf diesem weiten Erdenrund kein Ge-schöpf so zuwider ist, als eine Spinne und ein altes
Weib – „
Welchem wird zuerst die Stimme wegbleiben ?
„ - und nun denk dir die schwarzbraune, runzlichte, zottige Vettel vor mir herumtanzen, und mich bei ihrer jungfräulichen Sittsamkeit beschwören – alle Teufel ! Alle Teufel !!!! Alle -“
Beide haben keinen Text mehr. Sogar Strönebald hat in der Hitze des Hahnenkampfes vergessen, in sein Büchlein zu schauen. Welcher Moor sich nun seine Stimme zerschrieen hat, ist nicht auszumachen, weil beide schweigen und finsterlich unter sich sehen. Und kein Schiedsrichter erlöst sie aus ihrer feindseligen Zweisamkeit.
Das Wort übernimmt dafür eine Schar Möven, die sich unter Gekreische auf dem Wasser niederlässt. Langebehn schaut zu ihnen hinüber, als beziehe er ihr Gekreisch als Applaus auf sich, wenn schon alle andern schweigen. Und weil alle dem Halswenden Langebehns folgen, weil er nun einmal einen so langen Hals hat und den auch einzusetzen weiß, sehen alle zu den Möven hin, die durch spiegelglattes Wasser gleiten, auf dem die einzigen Wellen von den Schwimmzügen der Vögel herrühren.
Das Floß, von keiner Strömung mehr getrieben, kreist um sich selbst. Keine Welle, kein noch so kleines Wellchen leckt mehr an ihm. Der Fluss ruht sich aus und benimmt sich als wäre er ein See.
„Herrgottsakrament, sonst war doch a Gumpn seit eh und jeh, brunn-tiaf ! “
Der Floßmeister befiehlt seine Flößer an die Ruder, vor sich hinschim-pfend und alles verfluchend was ihm vor die Augen kommt, um seine Hilflosigkeit zu verstecken. Denn ein Floßmeister, dem so viele Ster Holz und so viel Vieh anvertraut sind, die Schauspieler nicht gerechnet, der hat nicht hilflos zu sein.
„Wann`s Wasser net fliasst wia’s in Gottes Ordnung vorg’sehn ist“ belehrt Gmeinwieser den Floßmeister und steht dabei da, wie ein Pro-phet dazustehen hat “nacha handelt es sich um ein Warnzeichen vom Herrgott“.
Und bekreuzigt sich.
„Im Namen des Vaters und des Sohnes und des…“
Dem Floßmeister kommt er gerade recht als Ziel seiner Be-schimp-fungen. Den Viehhändler mit Hostienjackl hin und Weihrauchlutscher her übergießen bringt mehr Labsal als umständlich den heiligen Nikolaus anzuflehen, der weit weg ist.
Scheinheiliger Joseph ! spritzt er, mit Tabakschleim vermengt als Weihwasser, und Rosenkranzwichser verdruckster während die Ruder-blätter seiner Floßknechte das stille Wasser zerhacken und das Floß trotzdem nicht in Fahrt bringen.
Gmeinwieser erleidet die Tortur der Schmähungen so gleichmütig wie demütig. Er, Johann Baptist, ist der Schutz und Schirm alles Lebendi-gen wie auch der Tier- und Holzfracht auf diesem Floß, er ist die gute schützende Hand des Floßes schlechthin. Wenn es auch nicht alle verdienen, dass dieselbe über sie gehalten wird.
„De Bagasch, de g`wisse, de san gar koane Schauspieler net. Die san a Verbrechergschwerl, de san zur Fahndung ausg’schriebn.“
Und wer das nicht wahrhaben will, ist von Gott vorsätzlich mit Blind-heit geschlagen. Und wen der Herr mit Blindheit schlägt ma brauchts gar net extrig zum betonen laut Heiliger Schrift der ist zum Untergang bestimmt.
Da kanns nur eins geben -
„Fahr morgen ohne de Bagasch davo.“
Und das Lumpengesindel steht an der Lände, ausgschmiert und behumpst, weil das Floß seit einer Stunde fort ist. Der Floßmeister wirft sich selber auf einen Ruderbalken und macht mit Gebrüll wett, was seine Stämme nicht an Strömung gewinnen.
„Kommst jetz ins Rinnen, du Luadaviech du verreckts…“
Er schmäht die Stämme auf denen er steht. Aber Gmeinwieser setzt nach. Ob der Floßmeister etwa nicht gehört hat, dass der Tandler Kajetan zwei Rollen bunter Seidenbänder verlustig gegangen ist ? Und ob er die Hühner gezählt hat, die auf und davon geflattert sind, obwohl ihre Steigen fest verschlossen waren ? Und die Kartenblätter, die den Knechten auf einmal fehlen in ihrem Spiel ? Und ob er drauf schwört ( hier stipft er den Floßmeister mit seiner Geißel vor den Bauch ) dass die Münzen und Hirschzähne und das andere Charivari noch vollzählig sind, die an der Uhrkette da vor seinem Floßmeisterswanst hängen ?
„Das nennt ma fei Begünstigung, wann einer der wo fürs Gesetz steht Straftaten duldet de wo vor seine Augn passiern.“
Des Floßmeisters Beschimpfungen wurden an Gmeinwiesers ange-maßtem Inquisitorengeschaftel zuschanden. Dersticken sollst, Weihwas-serpritschler, an deiner eigenen Heiligkeit beißt der Floßmeister unhörbar in seinen Tabak hinein, aber hörbar sagt er, es sei ordnungsgemäß alles bezahlt worden für die Schauspieler.
„Von dene Schlawiner ?!“
Von einer dritten Person, feit si nixn, und zwar inkognito und im voraus.
Inkognito, da hört si ja alles auf, inkognito öffnet allem Obskurantischen Tür und Tor, und ob in des Floßmeisters Hirnkastl da etwa kein Verdacht rieselt, woher diese dreißig Silberlinge wohl ge-flossen sind.
„Es war koa Geld net aus deiner Bibel. Es war hiesig gültige Währung.“
Und wieder Schweigen, in das des Floßmeisters brauner Speichel rinnt, und weitere Schläge mit dem Ruderbaum, die nichts ausrichten.
Gmeinwieser wird nun auch gegen den Floßmeister Verdächte hegen. Und Verdächte sammeln. Denn siehe, die Verstockten rudern den Untä-tigen in die Arme, so wird das Schifflein derer die reinen Herzens sind, mit hinein gerissen in den Strudel der Verdammnis.
Paxvobiscum drauf und Amen.

Zutiefst auf dem Grund die Götzen die die guten Geister des Flusses waren, die um gute Fahrt angefleht worden sind vor Antritt der Fahrt, denen Opfer dargebracht wurden und die nun darben, nicht einmal mehr das Aas das im Fluss treibt sinkt zu ihnen hinunter, die Ruderblätter der Schiffer zerschneiden es, es geht ein in die gierigen Mäuler der Hechte und Welse und Krebse und aus ihrem After wird ihnen nur noch ein dürftiger Anteil davon überlassen.

Die Flaute weicht bis zum Abend nicht. Das Wasser weigert sich, das Floß weiterhin den Strom hinunter zu tragen. Der Strom verlangt sein Opfer nach altem Flößerglauben, ob christlich oder aus heidnischer Vor-zeit, da drauf is gschissn. Auch die Heiden waren schon Flößer und haben gewusst wenn der Strom ein Gelüsten zeigt auf ein Menschen-opfer, und ehe zwanzig Christenleut ewig und drei Tage festsitzen und in der Kälte, ist es christenmäßig, es gibt sich einer als Märtyrer her.
Der Fluß mag Weiberfleisch, warum sonst hätte er all die heiliggespro-chenen Jungfrauen verdaut, die seither die frommen Legenden bevölkern. Also wird dem Fluß auch die etepetete Schachtel aus der Schauspielerbagasch schmecken, der es keiner von den Knechten wert ist dass sie ihm auch nur ein Grüßgott sagt.
„Gebn ma ihr wir ihr an Grund zum Plärren nacha brauchst koam mehr Grüßgott sagn.“.
Sie greifen sie sich während ein Schneeschauer niedergeht und alle zusammengekauert sitzen, mit tief übergezogenen Mänteln und Hüten. Kaum dass sie auszumachen ist zwischen Schafen und Holzbeigen, allein ihre Harfe ragt aus dem frischen Schnee. Einer hält ihr den Mund zu und lässt erst los, als sie sie auf drei ! an Händen und Füßen kräftig hin und her schwingen und ins Wasser platschen lassen.

Die Aale fallen über das frische Fleisch her noch ehe es zum Grund sinkt, was immer da sinkt muss den Weg durch ihren Schlund nehmen, die Krebse haben sich in den Waden hochgefressen, aber die Grund-schwämme und Medusen haben was es bereits besetzt und an sich ge-bracht, Schwimmfarne sind an ihm festgewachsen, das Opfer ist un-kenntlich geworden und zu einem weiteren Klumpen Grundschlamm –

Strönebald wird flussabwärts davongetragen. Durch das Schneetreiben ist zu sehen, dass er seine dicklichen Frauenarme einsetzt.
„Dö Matz kann schwimma !“
Die Flößer, die Beweger gewaltiger Stämme, können es nicht.
„Wiara Hund, a vareckta…“
„Do verreck…”
Strönebald, ob aus eigener Kraft oder von den Stromschnellen getragen, bleibt an einem Kiesbrett hängen, fünf Steinwürfe voraus.
„Verreckn sollst, Matz ! Vareckn…“
„Vareckn !“
„Vareckn !“
Aber Strönebald leistet ihrer Aufforderung keine Folge, Wasser rinnt aus seinem grauen Wollzeug, seine Füße gleiten ab auf den vereisten Schotter, er zieht die Beine an sich bis er selber aussieht wie ein Steinhaufen.
Aber schweigen tut er noch immer.
„Vareckn !“
Sie drohen ihm mit ihren Flößerstangen. Eine Schande ist die Matz, bleibt seine Pflicht als Opfer schuldig, und auch das das herzzerreißende Gekreisch auf das sie sich gefreut haben.
Recht geschehe ihnen, müssen sie sich von Gmeinwieser belehren lassen.
„Weil ös habts des Bittgebet vergessen beim Hineinschmeißen, ihr Schneitzer.“
Wie hätte der Fluß denn derschmecken sollen, dass die Dickmamsell ein Weihopfer ist, ha ös Prackn, ös gottvergessnen ? wenn der Fluss nicht in aller Form durch ein Gebet drauf aufmerksam gemacht wird.
„Eine Rücksichtslosigkeit is des sondersgleichen, gegenüber dem Jenseits, schaamts euch !“
Dass Strönebald keine Wasserleiche geworden ist sondern errettet, hält nun wiederum die Wallfahrerin für ein gutes Vorzeichen und ein Mirakel, beides in einem. Ein gutes Vorzeichen für ihr eigenes Anliegen, erweist sich doch daran, dass vom Himmel herunter auf einen aufgepasst wird und die Schutzheiligen, allzeit auf der Wacht sind. Als die Floßknechte sich ein passendes Gebet zurechtgelegt haben und sich verständigen, die Dickmamsell mit ihren Haken einzufangen um sie ein zweites Mal zu tränken, lässt das Floß jeden seiner Stämme einzeln knarren, und Wellen gluckern von unten ans Holz.
„Mir san wieda am Rinnen !“
Jetzt ist das Wunder also doch eingetroffen, nach wundersam kurzer Anstandsfrist. Gmeinwieser bestätigt es dem Floßmeister.
„Die allerheiligste Jungfrau und der heilige Nikolaus san tätig worn. Paxvobiscum drauf, und Amen.“
Und wer hat sie darum angefleht ? Gmeinwieser, die allzeit gute Hand, hat die der Jungfrau und dem Sankt Nikolaus zustehenden Gebete ver-richtet.
Aber hat nicht grade vorhin wer bittschön was von einem Betbruder gegiftet ? Während der Floßmeister die Zunge statt zum Beten nur bewegt hat, um seinen Tabak um und um zu schaufeln.
„Du Herr, fahr uns voran,
Du bester Steuermann !“
Die Flößer, gottesfürchtig wie sie sind, wollen Gmeinwiesers Tadel nicht auf sich sitzen lassen und singen, im Takt ihrer Ruderschläge mit dem sie sich Strönebald nähern, ihren Bittgesang.
„Lass uns durch Seichten und durch Wellen
Nicht die gebahnten Fährten fehlen.
Denn unser Leben, Hab und Gut
Ist Herr in deiner Hut“.
Das Floß hält auf Strönebald zu. Die Flößer, wenngleich schier blind vom Schnee, sind guten Mutes. Sie bewirken wieder ein Vorankommen mit ihren Ruderschlägen.

Schwimmfarne wuchern auf dem Kadaver, der noch keiner ist, noch regt er sich, noch strebt er mit letzter Lebensenergie zurück an die Oberfläche um Luft in seine Lungen zu saugen statt dem Grundwasser das in sie einsickert, aber schon schwemmt sich Fischlaich darin breit, schon verwandeln sich die Lungen in Kiemen, schon bohren sich Krebse in die Adern, füllen Schwämme den Rachen aus und ersticken das letzte Gurgeln, senken sich Quellmooswurzeln zwischen Augenhöhlen und den Augäpfeln, die fassungslos zu den Schiffsbäuchen hinauf starren die hoch über dem Versunkenen dahinziehen.

Als das Schneetreiben vorüber ist, zieht Gmeinwieser eine Grenze zwischen dem, was er fortan für sein Revier erklärt und dem was er den Schauspielern zuweist. Eine Fahrt auf dem Wasser ist allemal eine harte Prüfung der Seele, man denke daran wie Christus gerudert ist mit seinen Jüngern auf dem See Genezareth.
Denn wo kein fester Erdboden mehr unter den Füßen selbigen eine Stütze bietet, da wird sogar einer wie der Sankt Petrus schwach, der Fels auf den wo doch die Kirche erbaut ist. Nachzulesen bei Markus und Matthäus, bei letzterem im vierzehnten Kapitel.
Obs einer aufschlagen will, und dazu ein Haferl Milch ? Und Gmein-wieser bewirtet die, die er mit einem gespannten Strick als Grenze von dene Grattler da getrennt hat, mit frischer Milch, euterwarm von seinen Kühen. Und die Bagasch, die gottlose geht leer aus und muss zusehen wie die anderen sich laben Nur mit Kunterkasten macht Gmeinwieser eine Ausnahme und rechnet ihn vorerst noch nicht zu den Gottlosen.
„Weil, Sie möchten noch zum derretten sein, junger Mensch.“
Aber nur wenn Kunterkasten im Gebet selber mit anpackt und sich heraus betet aus der Schlangengrube der Kunst. Steht doch geschrieben schon im vierten Buch der Genesis, dass die Künstler wie die Schwert-schlucker und Scherenschleifer und Schlangenbeschwörer vom Kain abstammen. Dem Brudermörder, der von Gottes Fluch um den Erdkreis gehetzt wird bis ans Ende der Zeiten. Und mit ihm seine Brut. Wahrlich, sie soll keine bleibende Statt haben auf Erden, keinen Hof und kein Vieh und rein kein gar nix. So wie der Propodonsky,
Paxvobis drauf und Amen.
Mit dem Glaubenssatz, Melken sei immerdar Frauendienst, bringt die wallfahrende Bauersfrau auch der Prinzipalin das Melken bei. Lachhaft dass eine Weibsperson nicht melken können soll auch wenn sie eine Städtische ist. Ans Euter, Städtische !
Aber so, dass Gmeinwieser, der Herr der Kühe, es nicht derkneißt und merkt. Mit dem Thema Milch Stadt wie Land sind da gleich, gell ist die Wallfahrerin von Frau zu Frau stracks beim Thema Stillen. Auch über die Brustmilch wacht eine eigene Heilige. Eulalia heißt sie, und die Wall-fahrerin Notburga hat sie angerufen wie es sich gehört selbigsmal als sie Wöchnerin war und ihren Sohn Blasius gestillt hat. Auch Sankt Blasius ist einer von den heiligen vierzehn Nothelfern. Und die Wallfahrerin hangelt sich von einem Heiligen zum anderen wie durch das Ensemble eines Hoftheaters ( findet Lucille ), von einem Akteur zum nächsten, und auch hier hat jeder sein ganz spezielles Fach, seine Macken und Manieren und Manierismen, seine Eitelkeiten und seinen Rollen-Starrsinn.
Und grad heute ist, wie der Herrgott es halt so fügen tut, der Tag des Heiligen Sebastian, auch er einer von den vierzehn Nothelfern, die im Himmel in steter Bereitschaft sind für die Christenmenschen. Bei der Zeugung ihres Jüngsten, gesteht Notburga bei einem weiteren selbstgemolkenen Haferl, da hat sie an eben diesen Heiligen Sebastian gedacht.
„Weil der is das einzige Mannsbild g`wesen das wo i jemals nackert gsehn hab als Kind.“
Abgesehen vom Heiland selber vastehngaS scho wia i des moan, aber an Jesus denken bei der Fleischeslust, das gehört sich nun einmal nicht. Eine Fleischeslust muss aber halt amal mit dabei sein bei einer Zeugung, sonst bleibts trocken unterwärts, und ihren Ehemann hat sie eh immer bloß im Hemd erblickt. Also hat der heilige Sebastian aushelfen müssen, lustmäßig, obwohl er rundumadum von Pfeilen durchbohrt ist und leiden muss sodass es einem durch und durch geht. Aber vielleicht war die Fleischeslust gerade darum eine erhebliche so dass es zu einer Empfängnis gekommen ist.
„Und wia zur Straf is der Sohn dann…“
Sie bricht ab. Und wie erschrocken über das Bekenntnis, das sie da fast abgelegt hätte, schiebt sie drüber, nach dem Sebastian habe sie ihren Jüngsten dann doch nicht taufen lassen, obwohl eben dieser Heilige auf der Pass war beim Geschlechtsakt. Mit zugeschaut und sie gewacht hat also, und auch mit Hand angelegt oder wia ma da sagt und sich dann zurückgesetzt fühlte, weil der Bub nicht Sebastian getauft worden ist sondern Blasius. Weil bei dem zwar keine Lust dabei war, bloß halt dass es halt der Sankt Blasius-Tag war an dem der kleine Blasius ans Licht der Welt gezogen wurde.
„Aber ein Heiliger, der rächt si doch net, scho gar net ein Märtyrer…“
Das mit dem Märtyrer geht in einem jähen Weinkrampf unter. Lucille muss die Wallfahrerin an sich drücken, und die zeigt sich erkenntlich für die zärtliche Geste indem sie noch hemmungsloser heult.

Es ist Nacht und eisig, wenn sie anlegen, von Rauhreif überzogen. Fackeln müssen her beim Aussteigen, und als Kunterkasten mit Käpernick die Kostümtruhe an Land trägt, schreit der :
„Pustelkasten ! Du ahnst nicht wie entstellt du aussiehst. So recht igitt igittig siehst du aus.“
Kunterkasten fasst sich ins Gesicht, in eine hubbelige Hügellandschaft auf beiden Backen. Das muss der Frost sein gewesen sein, der ihm das angetan hat.
„Keine falsche Beschuldigung ! Das kommt, du hast von Gmeinwie-sers Milch geschlabbert, verleg dich bloß nicht aufs Leugnen. Euter-warm bekommt dir nicht, Kleiner, mit deiner Konfirmandenkonstitution.“
Als hätte die Milch in seinem Pastorensohnmagen reklamiert bei den katholischen Heiligen, die sie vorweg gesegnet hatten. Unter dem Vorbe-halt allerdings dass ein Katholik sie trinkt. Während Kunterkasten ein unbefugter ungesegneter Milchschlotzer ist, ein Segensschmarotzer.
Als Gmeinwieser sieht ( beim Schein einer Fackel ) was sein milchernes Präsent bewirkt hat, ist er sogleich zur Hand mit Wortprügeln wie alle Heiligen stehts mir bei ! und wie er sich getäuscht hat in dem Buben, dem nun vom Schicksal sein wahres Wesen ins Gesicht geschrieben worden ist hütet euch vor den Gezeichneten ! wie weiland dem König Usia im Alten Testament, welcher vom Herrn verstoßen ward weil ihm die Bosheit seiner Seele sichtbar aus der Stirn gesprungen ist als Aussatz. Wie nun auch diesem Räuberburschen.
Lauter derlogene Judenmärchen tische er da auf, geben die Floß-knechte kontra, und Gmeinwieser wiederum hält dagegen ( mit triefender Nase ) da sei allerhand zum derlernen von den Juden im Alten Testament., gerade weil sie Sündendunkel gewandelt seien, Anwärter auf die Ewige Verdammnis, giftkundig, wucherkundig, mordlustig, Experten allsamt des Unheils. Aber akkrat aus dem Giftpfuhl steigen Giftblasen auf und zeigen dem Gottesfürchtigen wo er sich hüten soll dass er nicht selber hineintritt.
Paxvobiscum drauf, und Amen.
Und wenn die Schauspieler heute ihr Spektakel aufgeführt haben auf dem Floß, führt Gmeinwieser nun ein christenfrommes Spektakel auf und drängt jedes einzelne seiner Rinder verkehrt herum in den Heuschober der Herberge. Denen die lachen ( und es lachen die allermeisten, Kajetan führt sie an ) droht er, ihr Gelächter werde ihnen als Stein in der Gurgel steckenbleiben. Denn das Verkehrtrumführen sei ein todsicherer Schutz gegen Raub-Anschläge wie auch gegen Verwünschungszauber. Der bekanntlich arschwärts eindringt in die Kühe, und bei de Weiberleut von unten rauf.
Wenn Zauber und Räuber nun also in der Nacht eindringen wollen in den Stall, ist ihre Macht huidiwams zunichte und flattert giftig zurück zu den Urhebern und tut diesen selber Böses an, und man werde schon sehen morgen wem !
Gleichwie man heute den Ausschlag gesehen hat in dem Gfries von dem gewissen Dingsda.
Paxvobiscum drauf, und Amen.
Die Herberge ist längst belegt, der Stall auch, darum bleibt Gmeinwieser nur der Heuschober. Der Herr des anderen Floßes, Gmeinwieser schon wieder einige Stunden voraus, hat ihn besetzt mit seinen Rindern und schläft droben in der Kammer den Schlaf des Ungerechten, von Gmeinwieser verflucht. Die allerletzte Kammer hat Kajetan Jasomirgott grade noch ergattern können, weil er in die Herberge gerannt ist und nicht geschritten wie Langebehn, der ihn dafür nun seinerseits verflucht. Die Schauspielerschar stürmt zur Scheune. Wenigstens ein Lager im Heu ! Stachlig aber warm, sie sind ohnehin auf dem Wege zur Verochsung.
Hinter dem Scheunentor aber verwehrt ihnen der Grenadier den Eintritt. Gmeinwieser hat ihn auf seine Seite gebracht mit Milchgaben und geradebrechten Zauberwarnungen. Und so bewacht Napoleons Soldat nun als Gegendienst neben den Fässern Napoleons auch die Rinder, die in den Mägen von Napoleons Armee ihre Ruhe finden sollen.
Wo also, ja wer sind wir denn, die Nacht verbringen ? Aus der Hütte auf dem Floß steigt wieder das Räuchlein, wie eine herausgestreckte Zunge. Und aus den Fenstern der Wirtsstube steigt Gelächter. Als Schuff sein Gesicht gegen die Scheiben drückt, sieht er Käpernick, der kein reichliches Publikum hat, aber ein Publikum eben doch. Der Wirt sitzt ihm zu Füßen, Käpernick steht auf dem Tisch und übt so fidel seinen Beruf aus, als hätte er nicht den ganzen Tag durchfrieren müssen. Als er Schuff bemerkt, beugt er sich zum Wirt hinunter, nimmt dessen Hand und winkt damit den Seinigen. Der Wirt prustet, gibt seine Hand dazu her ohne Widerstand, das Weinglas vor ihm ist leer getrunken und sein Lachgesicht voll Wonne. Bei ihm hat Gmeinwieser noch nicht Gelegenheit gehabt, die Wiese seiner Warnungen zu mähen.
Als die Komödianten sich in die Herberge tasten ( keine Fackel hilft ihnen dabei ) stolpern sie im Windfang über quergestellte Hölzer und Säcke, die in die Mauerwinkel geworfen sind. Aber es sind keine Säcke, es sind Leiber, und die Querhölzer die Schienbeine von Mönchen. Sie hocken eng beeinander wie eine Herde Wachteln und tragen den Schauspielern fromme Hilfestellungen an, verschämt und im Flüsterton. Im Gegenwert eines halben Broteweckens, einer Handvoll Dörrbirnen.
Und nichts davon fehlinvestiert, denn der Herrgott im Himmel hört nach wie vor auf seine Minoriten. Auch wenn sich die Ohren der weltlichen Obrigkeit ihnen verschlossen haben. Ein Ave Maria für drei Kreuzer, wird gezischelt, eine Eingabe beim Sankt Ägidius gegen Ischias für sieben Kreuzer. Eine Beichte gehört extra ausgehandelt, und für die Absolution wäre eine Knoblauchwurst das rechte Entgelt.
Langebehn macht sich ein Vergnügen daraus ( sein erstes an diesem Tag ) verachtungsvoll über sie hinwegzuspringen. Aber das Vergnügen wendet sich gegen ihn, er kommt verbittert in der Wirtsstube an, denn die sanften Trottel von Mönchen haben ihm einen Abendsegen nachgerufen.
„Mönchsgerippe ! Kirchenasseln !“
In der Wirtsstube gibt es kein Licht mehr, nur eine Talgkerze, und auch keine Speisung. Aber es gibt ein Nachtlager. Käpernick mit seinen Spas-settln hat es für sie alle erwirkt. Langebehn geht ein so erschlichenes Almosen contre coeur, es drängt ihn, will er vor sich selbst bestehen, wieder nach draußen. Aber dann müsste er noch einmal über die Mönche springen und die würden ihm, die Kirchenasseln, noch einmal einen Abendsegen hinterher rufen. Schon ist die einzige Bank besetzt und das nicht von ihm, Langebehn kann gerade noch die Kostümkiste für sich annektieren, auf der er seinen Mantel als Hoheitszeichen ausbreitet. Die anderen nesteln sich die Kostüme als Schlafdecken zurecht, die sie schon den ganzen Tag um sich gewickelt hatten, und lassen sich in der Wirtsstube nieder wo es sie gerade stehen.
„Ah, heut schlummere ich unter Falstaff mit Pantalone als Zudeck“ brummt Käpernick.“ Ich hoffe, sie bekeifen sich nicht wieder die ganze Nacht.“
Und wälzt sich neben Kunterkasten vors Ofenloch, in dem noch die Asche glüht.
„Was sind wir doch für Glückskinder !“
Die Glut beleuchtet wärmend sein Grinsgesicht. Und, gedämpft und nur noch für Kunterkasten : “Gräm dich nicht weil der Betbruder uns das Fürstenzimmer weggeschnappt hat und sein Rindvieh auf Seidenkissen schnarchen lässt. Ich hab dafür deine Pusteln gerächt und ein paar von seinen Kühen die Schwänze zusammengeknotet.“
Der Demoiselle, Schuff, und der Prinzipalin bleiben als Kopfkissen nur die eigenen Arme, auf den Wirtstisch gelegt. Die Salzstreuer, die dort standen, werden morgen früh ebenso vermisst werden wie das Bierseidel des Wirts und die Zinnfiguren der Heiligen im Herrgottswinkel. Wenn sich die Schauspieler leidlich zum Schlafen eingerichtet haben und das Talglicht nur noch ein gelber Punkt ist, der stinkend verrräuchert, wagt sich als letzter der Prinzipal herein.
Er hat, wispert er Lucille zu, den Posthalter aus dem Schlaf geklopft. Vergebens. Die gewisse Botschaft von seinem gewissen Vertrauten, dem du-weißt-schon-Aktuarius zu Wien, lässt und lässt und lässt auf sich warten. Bei dem Schnee ist halt kein Durchkommen, tröstet ihn Lucille, die Postpferde versinken im Harsch. Der Prinzipal verflucht die verweichlihten Schindmähren, die sich in Schneewehen sacken lassen statt ihm, dem rex leonorum im Galopp herbei zu tragen, was ihm zusteht. Er ruft nach Brieftauben, er bestellt Brieftauben ein zu dieser nächtlichen Stunde in diese schlafende Flößerherberge, wie Schauspieler zur Stückprobe. Weil ihm aber keine Textstelle einfallen will in der Brieftauben und faule Postpferde vorkommen, nicht bei Racine, nicht bei Gottsched, nicht einmal bei Kotzebue, beschränkt er sich darauf, ihnen allen mit geballter Faust zu drohen.
Sogar Kotzebue.
Und weil er weiß, dass sein Ensemble nicht schläft, wenn ihr Prinzipal pantomimisch agiert, teilt er Lucille im Flüsterton mit was alle wissen sollen :
„Das Spektakel da das sie dem Napoleon geboten haben im Hoftheater, das war kein Schauspiel. Das war La clemenza di Tito. Diese aufge-takelten Singstörche von der Opera schon wieder ! Die hat man uns vorgezogen.“
Ja wer sind wir denn.
Und lässt einen Löwenfluch hinterher rollen wie einen herkulischen Furz. Dann, während er seine Unterarme auf den Tisch legt und darauf auch sein Löwenhaupt, brummelt er was ihm an der Floßlände zugetragen worden ist. Dieser gewisse Dalberg, hat er gehört, über den sich seine Kinderlein so ungesund echauffiert haben, der ist diesen Herbst verstorben.
„Der gewisse Dalberg lebt, und wie er lebt !“ Scharf und süffisant zischelt Langebehn aus dem Dunkel.
„Er ist nämlich grade Kurfürst geworden !“
Langebehn hat heute Post erhalten, nicht sein Prinzipal.
„Dalberg, Karl Theodor, ist der Bruder von Wolfgang Heribert von Dalberg.“
„Bruder ! Seit wann hat unser Dalberg einen Bruder !“
„Der eine war von jeher Bischof, und der unsere von jeher beim Thea-ter. Umsichtiger können Eltern ihre Sprösslinge aufs Erwerbsleben nicht verteilen.“
Und nun ist der eine abgegangen von der Schaubühne des Lebens. Und der andere avanciert auf der Schaubühne der Politik als Diadoche des Napoleon.
„Obwohl er doch eigentlich Bischof ist ?“
„Gestern Gottesmann, heute Staatsmann. Neue Zeit, neue Rollen. Bona-parte hat ihn schwuppdich umbesetzt.“
„Nach Regensburg ! In die allertiefste Provinz“.
Schweigen, in dem an den Rändern Erbarmen mitschwingt. Für sich selbst, dass man nun doch nicht nach Regensburg engagiert wird.
„Soll Regensburg doch bleiben wo es will auf der Landkarte.“
„Oder im Schietkübel.“
Verdammte Geographie ! Die Umstände der Welt richten sich aller-weilen gegen den Künstler, die Geographie macht da keine Ausnahme. Heute wird die bemalte Leinwand nicht entfaltet.
Und Strönebald ist nicht bei ihnen.
Das erste Mal seitdem die Truppe gemeinsam auf Reisen ist. Abge-trieben, erfroren. Unser Freund unser Tröster unser Tausendsassa der Geräusche treibt dahin unbestattet, unter den namenlosen Gründlingen selber namenlos zwischen dem Gewusel der Schmerlen, der Bitterlinge, der Nerflinge und Zingeln und Schleien und Schlammpitzgern und Rotaugen, ein verwesender Mitwanderer der Wandermuscheln und Molche und Wasserspinnen, Kaulquappen, Kugelmu-scheln, Wasserlinsen -
Niemand schläft.
Gegen die Kälte draußen und gegen die Kälte, die in ihnen allen hochkriecht, holt der Prinzipal die Geschichte herauf, wie Strönebald einmal so heftig auf seiner Harfe illusioniert hat, dass tatsächlich ein Feuer ausgebrochen ist hinter der Bühne, und die Flammen aus den Saiten seiner Harfe heraus auf die Bühne schossen.
„Als die Kulissen damals Feuer fingen…“
Alle kennen die Geschichte. Alle hören zu. Denn es wirkt wie eine Grabrede auf Strönebald. Einmal haben die Kulissen in Schwerin Feuer gefangen, ein anderes Mal in Parchim, dann wieder in Osnabrück. Es war auch nicht immer in den Räubern, dass sie brannten, auch in Theoderich oder Die Umkehr des Marquis Laconte loderte es, und sogar bei Racine.
Aber immer hat Propodonsky vorne an der Rampe so kraftvoll weiter agiert, dass das Publikum nicht in Panik fiel, weil es der Schauspielkunst folgte und nicht den Rauchzeichen. Die Flammen fraßen bereits an Propodonskys Kostüm, die Zuschauer saßen gebannt. Nicht nur dieses eine Theater ist abgebrannt, auch jenes andere in dem Propodonsky aufgetreten ist, und auch noch ein drittes. Allmählich lässt er alle Theater abgebrannt sein auf deren Bühne er gestanden hat. Die Bretter verkohlt, die Logen verwüstet, die Kulissen zu Asche, sein In-genium allein hielt stand, versengt und verrußt, aber gekräftigt.
Hat nicht jemand Phoenix ! gerufen, wer ruft endlich Phoenix, nur ihm, Propodonsky war es gegeben, all diese Feuersbrünste zu entfachen, Glut aus dem Dichterwort zu schlagen, bis es sich in helle Flammen verwandelt hat. Die Balken der Schnürböden knistern, der vielen Schnür-böden die Propodonsky mit seinem Löwenorgan in Brand gesetzt hat.
Der Brand-Monolog wärmt die ganze Compagnie. Sogar Langebehn, gegen dessen Willen. Die Stichflammen aus den Versenkungen machen es Lucille und der Demoiselle mollig, Schuff räkelt sich im Wohl-temperierten, Käpernick grunzt und wünscht sich der Prinzipal möge gleich auch noch das nächste Theater anstecken.
Propodonsky sieht mit Entsetzen, dass er auch den Kaiser in Brand gesetzt hat. Der Kaiser sitzt in seinem Fauteuil vor ihm und himmelt ihn an. Das Polster raucht, der Kaiser wird zur Fackel, der Kaiser ist ein verkohlter Strunk, der Hofstaat hinter ihm glimmt nur noch schwach, ein paar Flämmchen kleckern durchs Parkett.
Propodonsky steht an der Rampe, unversehrt bis auf einen schmalen Streifen von Flammen, die am Ärmel seines Kostüms züngeln wie eine Zierborte.
Der erkaltete Talg der Unschlittkerze klebt an der Hand des Prinzipals. Er schläft, den Kopf auf der Tischplatte.

Die Kette

Als Lucille de Brée erwacht, sind ihre Finger starr und ihre Nase sitzt in ihrem Gesicht wie ein vereister Tannenzapfen. Gmeinwiesers Pfer-dedecke umfängt sie nicht mehr, auch von der Demoiselle hat Gmeinwieser sich die andere Pferdecke abgeholt. Sie schlingen sich die Damenkostüme um den Leib, die Roben der Königinnen und Heroinen. Zunächst nur je zwei übereinander, und als die kaum Wärme geben, wahllos viele, bis zur Unbeweglichkeit.
Die Männer haben es schon seit dem zweiten Reisetag genauso ge-halten, sind genauso unbeweglich geworden, tappen wie aufgeplusterte Mumien zur Lände, wegen des Schneetreibens mit tief geduckten Köp-fen. Nur Käpernick, als er die nun leere Kostümtruhe von seinen Schul-tern auf das Floß hebt und dabei kurz den Blick nach oben richtet, sieht das besondere Begrüßungszeichen das da über Nacht aufgehängt worden ist.
Er weiß auf der Stelle, es gilt vor allem ihm und dann erst den anderen Schauspielern Dem Raubgesindel, das nächtens als Handlanger des Sparifankerl durch die Ställe schleicht und den Kühen die Schwänze zusammenbindet, sodass diese anfällig werden für Milzbrand, Maul- und Klauenseuche und Harnruhr.
An einem quer gespannten Strick hängt ein toter Rabe, der Kopf nach unten, wider gegen den bösen Blick und die schwarze Kunst. Der Schnabel ist weit aufgerissen, als wollte der Kadaver alle verschlingen, die an diesen Gegenzauber aus der Hausapotheke der guten Hand nicht glauben wollen. Der Strick spannt sich von der oberen Floßkante bis zur unteren, als seien noch viele tote Raben zu erwarten.
Oder viel böser Blick.
Wenn Käpernick genau unter dem Raben ist, greift er sich an den Hals, die Füße rutschen ihm weg, Kunterkasten muss ihn auffangen. Alle die zusteigen wollen, versammeln sich um ihn.
Er hat Publikum.
„Weh mir ! Ich fühle mich verwandelt. Ich bin ein Ochsenfrosch !“
Er torkelt, er hüpft zwischen die Floßknechte, die ihm in gespieltem Schrecken ausweichen. Gelächter, Belustigung, indessen der Rabe stumm schreiend im Schneewind hin und her schaukelt. Pathetisch ein-drucksvoll, aber unbeachtet. Ein Tort für die gute Hand, und ein dop-pelter Tort, weil auch der Floßmeister zuschaut und lacht. Gegen seinen Willen, aber er lacht, und der Rabe sperrt umso verzweifelter den Schnabel auf, nun schon so, als wollte er sich übergeben.
„Oder bin ich nicht doch eher eine Fledermaus ?“ kreischt Käpernick und flattert, so dass ihm alle unter Gelächter ausweihen müssen.
“So leistest du auch noch Beihilfe zu diesem Hokuspokus“ schmäht Langebehn und drängt sich brüsk vorbei.
Langebehn hat sich als einziger der Truppe keine Kostüme umge-wickelt, sein Pelzkragenmantel ist ihm FrostAbwehr genug, aber seine beiden Hände hat er in den ihm verbliebenen Handschuh gezwängt. Kaum ist er an Käpernick vorbei, stolziert der, im Gestus des großen Vorwurfs, vier Schritte hinter ihm her, blasierten Angesichts und mit zwei Händen in einem unsichtbaren Handschuh.
Wieder belohnt ihn allseitiges Gelächter, allen voran Kajetan Jasomir-gott und dem Grenadier. Langebehn hörts im Rücken, aber wer ist er denn, dass er sich wegen einem Käpernick umschaute. Der ist beim Krokodil angelangt, in das Gmeinwiesers Rabe ihn verwandelt hat, seine Unterarme schnappen als Riesenmaul nach Schafen und Floßknechten. Die Schafe geben vielstimmig Contra, die Floßknechte lassen selber das Gekreisch hören, das sie von Strönebald nicht zu hören bekommen haben und fordern damit Käpernick heraus zur nächsten Darbietung.
Aber die, der Orang Utan, der sich an den Holzbeigen hinauf hangelt, wird unterbrochen, weil der Floßmeister in sein Stierhorn stößt. Die Knechte müssen an ihre Ruder.
Während sich die Passagiere mit den Händen einen Sitzplatz im Schnee freischaufeln, bleibt Gmeinwieser aufrecht stehen. Er hält sich an einem Balkenstapel fest und wirft, mit seiner Geißel drohend, die Warnung übers Floß
„Ös werdts euch no wundern was eich alles zuastoßt !“
Denn der Fluß sei heute unheilvoll grün. grüner als an den anderen Tagen.
„Fast ins Schwarze sticht er scho, schauts doch gnau hin, ös Verstockte.“
Dem Fluss hat das Opfer des halbseidenen Weiberleuts nicht genügt, der Fluß fordert noch ein Opfer, der Fluss will rechtschaffene Speisung und nicht mit einer fauligen Birne abgespeist werden. Bei der nächsten Sandbank, bei der nächsten Flaute wird er sich schadlos halten. Der Rabe kreist über Gmeinwieser und bestätigt, stumm schreiend Gmeinwiesers Prophezeiungen.
Aber der Rauch aus der Hütte ringelt gleichmütig weiter, unbeeindruckt auch vom Schneefall, als pfiffe jemand frech ein Lied während der Karfreitagspredigt.
Gmeinwieser fühlt sich derbleckt. Wie, schnalzt er mit seiner Geißel, wenn die Herren Flößer eine Horde Juden befördern, da in der Hütte, und ahnens nicht einmal, in ihrer Dummbeutligkeit ?
„Der Napoleon hat de Judn auf d‘ Christenmenschen los lassen damit uns de Kinder ausbluatn für dene ihr Matzenbrot.“
Schon werden, fuchtelt Gmeinwieser mit seiner Geißel, Krallen ge-schliffen mitten unter uns, Spielkartenkarten gestohlen und legefähige Hennen, und die Eier sowieso. Nächtens flicht der Gottseibeiuns den Kühen die Schwänze ineinander und tagsüber fährt er hohnkichernd mit auf dem Floß, weil ihm kein Glocken-Klang mehr etwas anhaben kann und -
Langebehn kommt gestürmt als personifizierte Empörung. Man hat ihn des Schranks verwiesen, seiner Wärmeloge, der Zeigefinger seiner nackten Hand richtet sich spitz auf Gmeinwieser.
„Das habe ich Ihnen zu verdanken !“
Die Floßknechte sind auf der Pass. Der schöne Große, der Langhaxerte und Vornehme ist immer noch ihr Held. Sein Gesicht ist einschüchternd weit oben, höher als das vom Gmeinwieser; obwohl der seinen Filzzylinder auf dem Kopf hat und Langebehn keinen.
Dafür strähniges Haar, das im Schneewind züngelt.
„Welcher Ruach hot ajch gehejssn kumen ?“ grinst Gmeinwieser.
Er will den Souveränen geben, aber wer zu seinem Kontrahenten hi-naufschauen muss und der auch noch blond ist, hat sich schon degradiert zum jämmerlichen Kulissenreißer.
“Was soll das Kauderwelsch, Sie drittklassige Kreatur.”
Der Schneefall hat aufgehört, als sei auch er gespannt darauf was sich da entspinnt.
„ Men wejst as ir sent a jid.“
Der Schauspieler soll zugeben, dass Johann Baptist sein Idiom kennt. Du bist durchschaut, Jud, brauchst dich nicht mehr verstellen. Schau-spieler heißt Versteller auf Jiddisch.
„Sie veranlassen auf der Stelle, dass mir der Schrank wieder geöffnet wird, oder – „
Langebehns verbliebener Handschuh wirbelt Kreise in die Luft.
„As du sollst wern farbrennt !“
Gmeinwiesers Geißel kreist auch in der Luft.
„Sie weihrauchstinkiges Aas !“
Jetz gibt’s a Hetz ! frohlocken die Floßknechte. Der Handschuh wirbelt nicht mehr, er fährt in Gmeinwiesers klobiges Gesicht. Nein, nicht ins Gesicht. Er flutscht, professionell gekonnt, einen Daumenbreit daran vor-bei und erzeugt danach einen Knall, als wäre Gmeinwieser getroffen. Die Geißel der guten Hand dagegen trifft den anderen voll ins Gesicht und reißt seinen Handschuh ins Wasser.
In diesem Augenblick wird das Floß von einem Gebilde aufgefangen, das keine Brücke und kein Balken ist und trotzdem bedrohlich.
Einer Eisenkette, in Mannshöhe von Ufer zu Ufer zu gespannt, da und dort leuchtet etwas Rotes vor dem grauen Himmel, als fliegen rote Vögel über den Fluß. Die Flößer, die abgelenkt waren durch das Schauspiel zwischen Gmeinwieser und Langebehn, springen auf ihre Posten, ver-suchen das Floß mit den Rudern abzufangen. Aber so sehr sie sich auch anstrengen, es rammt sich in die Kette hinein und die Kette wiederum reißt die vordersten Balkenstapel auf und ein paar Kühe nieder.
Als die Kette bis zur Hütte alles niedergemäht hat, kommt das Floß zum Halten, wird von der Kette gehindert, sich mit der Strömung des Flusses weiterziehen zu lassen. Die Kette kratzt an den Brettern der Hütte, knurrend, wie ein Hund der einen Knochen beschimpft, weil der schon abgenagt ist.
Ausgebrochene Schafe werden von ihren Hirten verfolgt, und jeder der eine Stimme im Leib hat, schreit aus Leibeskräften.
Von der Kette Niedergerissene, weil sie verletzt sind und andere, weil sie sich für verletzt halten, wieder andere, weil die Kette dicht über ihren Köpfen schwankt und daran Gmeinwiesers Rabe.
Nur Langebehn hat ein tête à tête mit sich selbst gehalten, betrachtet in einem Taschenspiegel die rote Linie, die sich quer über seine Wange, Nase und Backenknochen zum rechten Ohr zieht.
„Ich bin auf ewig entstellt…auf ewig…“
Hinter den Weidengebüschen am Ufer ist der Aufprall bemerkt wor-den. Einige Männer, Militärs, springen die Böschung herunter.
„Jetzt werden sie uns alle massakrieren“ schüttelt es die Prinzipalin.
Die Männer haben französische Uniformen an. Kein Schwadron dies-mal, nur wenige Mann. Sie legen grüßend die Hände an die Zweispitze, eine Geste der Courtoisie die hier so deplaziert wirkt, dass sogar Schuff lachen muss. Kunterkasten ringt mit sich, ob er nochmal ein Vivat wagen soll.
„Lass deine Devotion nur munter aus dir heraus“. Langebehn stößt ihm die Kante seines Spiegels in den Rücken.
„Vielleicht erweisen dir die Kretins dieses Bonaparte ja diesmal die Eh-re und sagen dir auch noch merci.“
Er sei Capitain Brousseaud, ruft der Ranghöchste, vor Verstörung noch immer die Rechte am Zweispitz. Diese Begegnung, so gänzlich unver-hofft, bedeute ihm hohes plaisir. Das freilich ganz auf seiner Seite sei, er bedaure zutiefst diese carambolage.
„Die werden uns doch noch massakrieren“ schrillt die Prinzipalin, und Langebehn hämt zu Kunterkasten „na dann tritt schon vor und stell dich zur Verfügung damit uns wenigstens die Madame de Brée erhalten bleibt.“
Diesmal stößt er Kunterkasten den Spiegel sogar ins Gesicht. Der Jakobiner nimmt Rache am Napoleonjünger, weil der nicht entstellt ist. Noch nicht. Aber Kunterkasten pariert den Angriff und ruft nun um so lauter :
„Vive l’empereur !“
Der Capitain hats vernommen und legt die flache Hand noch einmal an seinen Zweispitz, nun wieder im Vollbesitz seiner Contenance.
„Grand merci.”
Eben des empereurs wegen sei man hier unterwegs, lächelt der Capi-tain, in einer mission spéciale, abkommandiert von seiner Majestät höchst persönlich.
Das neue Königreich solle vermessen werden, in seinen weiten neuen Grenzen, die es Bonaparte verdankt. Dem Friedenskaiser der Befreiten, der bereits Ägypten der Welt erschlossen hat und in die Gemeinschaft der zivilisierten Völker hereingeholt. Nun erschließt er auch das royaume de Baviére nicht nur der Welt, sondern auch sich selbst. Rastlos reicht er links und rechts die Errungenschaften der neuen Zeit über die Demar-kationslinien, welche er soeben beiseite geräumt hat. Nicht mit dem Säbel in der Faust reicht er sie, sondern mit dem Zollstock.
Aber malhereusement, man missdeutet den Kaiser und überzieht ihn malveillant mit einem Krieg nach dem anderen.
„Das hat der Krieger wirklich gesagt, das mit dem Zollstock und mit dem Missdeuten ?“ feixt Käpernick, der von links und rechts her von Kunterkasten und Langebehn übersetzt bekommt.
Als die Kette wieder straff gezogen wird und hochratscht, schaukelt Gmeinwiesers Rabe daran und gibt noch einmal eine Vorstellung als Un-glücks- und Zaubervogel, stumm schreiend. Jedes zehnte Kettenglied, zählt Schuff ab, ist mit Mennige bestrichen. Das muss eine Maßeinheit bedeuten, trägt Kunterkasten bei.
„Wenn du mich fragst“ meint Käpernick, „soll das ein Meter sein.“
Das Meter ist das neue Längenmaß, weiß nun sogar Langebehn, das die Revolution der Welt geschenkt hat. Die Kette erschlafft, fällt noch einmal polternd nieder und wird endlich die Uferböschung hinauf und weg-gezogen.
Der Rabe fällt ins Wasser und treibt flußabwärts davon.
Die Kette, so der Capitain aus dem Munde des Adjutanten, sei wort-wörtlich ein Glied in der Kette des Fortschritts, Symbol de la technicité nouvelle. Stellt sie doch die Verlängerung jener Grundlinie dar, die auf Befehl Napoleons errichtet wurde vom Hauptplatz der Residenzstadt hinaus in die Wildnis, ins Landesinnere, von dem man derzeit noch gar nicht wisse wie groß es sei.
Ein genialischer Strich hinein ins Unbekannte !
Was die verehrten messsieursdames soeben mit erlebten, sei die Fort-führung der Grundlinie über die ersten zehn Kilometer hinaus. Oui, kilo-mètres, mit griechischem K, ein neues Längenmaß auch das ! Bahn-brechend auch dies nun schon wieder. Une nouvelle invention. Aber nun, justement bei Kilometer zweiundfünfzig Komma siebzehn, sei die Grund-linie unsanft den verehrten Herrschaften begegnet, die den Vorzug genös-sen zu Wasser reisen zu dürfen. Une aventure des sciences techniques.
Ein Rendezvous wie zwischen Odysseus und den Sirenen, versucht der Captiaine vorzulachen, als müsse der Capitain sich rechtfertigen vor den Zivilisten, aber niemand von denen lacht ihm nach. Diese segensreichen Linien, schwadroniert der Capitain weiter, überzögen unter seinem Kom-mando das Land, ein Segen auch für die Herrschaften auf dem Floß.
Stadt um Stadt, Feld um Feld, Gemüsegarten um Gemüsegarten würden so eingefangen, in peniblen Quadraten, und künftige Generationen könnten mit dem Finger drauf deuten, wo der Birnbaum ihres Großvaters steht.
Propodonsky entzückt es, wie der Capitain elegant vom Standbein zum Spielbein wechselt und zurück. Lucille de Brée entzückt es, welche span-nend enge Beinkleider der Capitain trägt, weiße noch dazu. Auch wenn sie nur hin und wieder unter dem Umhängemantel hervorblitzen, der viel geräumiger ist als der von Langebehn, was diesen heftig verbittert.
Kartierung nenne man, so der Capitain, dieses Verfahren mit den Qua-draten ( Standbein ), fleißige Stifte im fliegenden Feldquartier skizzierten Wassergraben um Wassergraben und Hügel um Hügel ( Spielbein ) flei-ßige Stichel übertrügen dies ( Standbein ) dann im Hauptquartier auf Schieferstein ( Spielbein ) und toute de suite fliege es, gedruckt als Kartenwerk hierher zurück und zeige jedermann sein Woher und ( Stand-bein ) Wohin .
„Damit seine Armee noch zügiger vorankommt“ schnödet Langebehn, „beim nächsten Feldzug.“
“Damit der Fortschritt schneller vorankommt, mein lieber Herr Vorlaut“ hält Brousseauds Adjutant lächelnd dagegen, “und das metrische Sys-tem“.
Gmeinwiesers Geißel ruckelt auf und nieder. Die Franzosen sind seine Kundschaft, das geweihte Fleisch seiner Rinder soll in Mägen landen, die in der selben Uniform stecken wie der Capitain Brousseaud. So belässt er es dabei, seine Geißel hoch zu recken wie Jeremias seinen dürren Prophe-tenarm. Auch wenn der ein Jude war, aber eben einer, der den Untergang verlässlich vorausgesehen hat.
“Gottlos ist das“ schimpft er zur Wallfahrerin hin und meint die Land-vermesser“ erz-gottlos is des wann aso eing‘riffen werd in die Schöp-fung“.
Hat Gottvater doch gesprochen in der Bibel, dass er es ist und nur er allein der wo einen geleitet und beschirmt auf allen Wegen.
“Aber wenn ma a so a Landkarten als Wegweisung nimmt, a so a win-digs Stückerl Papier“, dann sei gleich der Teufel zur Stelle, und kritzelt hinterrücks seine Irrwege und Fallgruben drauf.
Propodonsky, als sei er der Hausherr auf dem Floß, reißt es an sich, den Offizieren der Siegermacht die Honneurs zu machen wie lange er-warteten Gästen.
„Endlich distinguierte Gesellschaft hier auf diesem schwimmenden Holzlager, mon géneral“.
„Capitain“ rückt sein Adjutant zurecht.
Wo man, scharmiert Propodonsky, bisher nur in der Gesellschaft von Knödeln war, mon géneral. Der Capitain weiß nicht, was Knödel sind. Wohl aber was Geduld mit Zivilisten ist, wenn sie einem nicht gerade ins Schussfeld laufen.
„Capitain“ rückt er darum nun selbst zurecht.
Wo er doch, der Prinzipal, die Ehre gehabt in Frankreich aufgetreten zu sein, auf den renommiertesten Bühnen. Hauptrollen, Titelrollen, und nichts darunter.
„Ah, eine Schauspieltruppe ?“
Der Adjutant wird hellhörig.
„Allerdings eingeschränkt derzeit“ buckelt Propodonsky “beklagens-wert eingeschränkt durch die kriegerischen Umstände.“
„Wir sind alle eingeschränkt, mon chèr patron“ erwidert der Adjutant, nun seinerseits mit einer kleinen Verbeugung.
“Wir sind schließlich alle en campagne. Auf dem Marsch.“
Wie man sieht. Ihre Monturen sind bis über die Bäuche herauf mit Dreckspritzern gesprenkelt. Komfortabel, scherzt der Prinzipal, reist eben nur die Aristokratie hier in den Kisten. Seine Requisiten-Kronen aus Pappe und die Diademe aus Blech. Die Franzosen belachen es. Der eine lacht höflich auf provencalisch und der andere lacht höflich auf pfälzisch, und Gmeinwieser wie Langebehn ( plötzlich eines Sinnes ) sind verbit-tert, dass die Stimmung immer mehr ins Aufgeräumte gleitet.
Der Capitain lässt erwidern, solche gewisse Kisten seien ihm wohl-bekannt, auch er führe eine Aristokratie mit sich. Wieder wird höflich gelacht, provencalisch wie pfälzisch. Pappkronen und Blechdiademe allerdings habe er nicht das Vergnügen zu expedieren, aber auch seine Fracht sei höchst kapriziös in ihren Ansprüchen. Der edelsteinbesetzte Fingerring einer Herzogin sei nur ein Bachkiesel, verglichen mit ihr. Zumal Napoleon höchstselbst sie hat anfertigen lassen.
Napoleon höchstselbst ! Kunterkastens Herz macht einen Sprung.
Überbehutsam wie Kronjuwelen wird aufs Floß geschleppt, wovon die Rede war. Wohlverwahrte Kronjuwelen müssen das sein, denn es ist nichts zu weiter sehen als Holzkästen, längst nicht so groß wie Propodonskys Kostümtruhe und nicht einmal wie die Hühnersteigen der mitreisenden Bauern.
Aber, wie jedermann begreift, das Floß ist hiermit stillschweigend requiriert, ehe noch der Adjutant ein Schreiben vorgewiesen hat, das die prompte Hilfsleistung für die Geodäten zur Untertanenpflicht macht. Ausgefertigt und gezeichnet submissest von der königlichen Oberhof-kammer.
An fünf Fingern war das doch auszurechnen, maulen die Schauspieler, die Hütte ist von Anfang an reserviert gewesen für diese französische Konterbande.. Guckt doch nur wie der da Rauch auf einmal aufsteigt uns zum Hohn. Die Kisten dürfen in die Kuschelwärme, aber uns lassen sie Eiszapfen werden währenddem der Prinzipal sich anranzt bei diesen Canaillen.
Ja wer sind wir denn.
Aber nichts da, falsch gemurrt, kein Franzose holt einen Schlüssel aus der Tasche. Die Hütte bleibt zugesperrt.
Es wird Segeltuch über die Kisten der Franzosen gebreitet, ein Gre-nadier dazugestellt, et fini. Der neue Grenadier und der andere, der seit der Abfahrt die Weinfässer zu bewachen hat, scheinen sich nicht einmal wahrzunehmen. Mit leeren Gesichtern, wie zwei in verschiedenen Farben gestrichene Schilderhäuschen lehnen sie vis-á-vis auf ihren Posten, in der Aufrechten gehalten nur von ihren Musketen aus der ( das nun doch wieder ) selben Fabrikation.
Gmeinwieser sieht Anlass, sich ein weiteres Mal kassandrisch einzu-bringen und schwummert denen, die auf ihn hören ( oder ihm hörig sind ) von Schwarzpulver vor, das in den französischen Kisten verwahrt ist, von Sprengmitteln und von giftigen Dämpfen, die, des garantier i eich aus ihnen entweichen. Ehe das Schwarzpulver selber in die Luft fliegt, und alle auf dem Floß mit ihm.
„Wegga da ! Wann eich’s Leben liab is.“
Und scheucht seine Gemeinde mit der Geißel hinter den schützenden Strick den er net blos für’d Katz gespannt haben will. Sondern zum Schutz der bedrohten Christenheit auf dem Floß. Und jetzt wird wieder gebetet !
„GegrüßetseistduMariaderHerristmitdirund…“
Diesseits des Strickes lässt der Capitain seine Soldaten flitzen, er hat gutzumachen wie fatal er die Fahrgäste inkommodiert hat, befiehlt ein Pique-Nique aufzutischen und fordert jedermann auf sich eingeladen zu fühlen und.
Eine neue Errungenschaft auch das, ein fliegendes Dîner gewisser-maßen, ein Mahl im Felde. Improvisiert, aber mit bruchsicherem Geschirr aus Stahl, das in handlichen Körben herbeigetragen wird, Besteck, auch Servietten, sogar Tische und Stühlchen werden auseinandergeklappt. Diese Franzosen gönnen sich jeden erdenklichen Luxus, selbst wenn sie auf Kriegszug sind.
„Sogar noch ihre Granaten“, weiß Käpernick, „parfümieren die mit Lavendel.“
Zu seiner Tischdame bestimmt der Capitain die Demoiselle. Er hebt sein Glas zu ihr, und sieht lächelnd zu wie sie aus dem ihren trinkt, während seine Grenadiere oben am Steilufer die Kette auf große Holz-trommeln rollen. Der Demoiselle, tief beschämt dass sie kein Rouge aufgelegt und ihre Schönheitsflecken im Täschchen gelassen hat, steigt Wangenröte auf weil ein Monsieur Befehlshaber sie hofiert, dem so viele goldene Tressen an die Uniform genäht sind wie sie nie zuvor gesehen hat. Und diese Wangenröte hält sich ausdauernder als künstliches Rouge, das ihr der kaltfeuchte Wind alsbald fortgebürstet hätte.
Ihr Tischherr bleibt insofern auf seinem speziellen Feldzug, als er keinerlei Anstalten macht ihretwegen ins Schäkerige zu wechseln. Unbe-irrbar fährt er, ein Haudegen des Ingenieurwesens, in der Beschreibung seiner Mission fort, setzt auf seine ( findet die Demoiselle ) wetter-gegerbte Mannhaftigkeit als erotisches Lockparfüm, sonst legte er sich nicht derart ins Zeug als Missionar des Zollstocks.
Und sie bemerkt wohlig, dass darüber ihre Echauffiertheit anhält und damit auch ihre natürliche Wangenröte.
Die Erde werde es fortan doppelt geben, führt der Capitain aus, zum einen als diese Realität hier ringsum. Und er umfasst sie mit weiter Geste als umfasse er das ganze Universum.
Die Demoiselle kribbelts.
Sowie ein zweites Mal. Und nun das eigentliche Mal, voici : der Capitain zeichnet mit Kreide ein Quadrat auf das Klapptischchen. Als korrekt in Kalkschiefer nachgestichelte Parzellierung werde es tous le monde fortan geben, aus der Vogelschau, wie sie vordem allein Gott vorbehalten war und heute allenfalls dem Cäsar Bonaparte, wenn er in einer Mongolfiere darüber hin fliegt.
Propodonsky beobachtet eifersüchtig, wie der Mund der Demoiselle offen steht, feucht und staunend, hart am Rand der Verzückung. Er muss sich dazwischen werfen, muss seine Bühnenerfolge in Strasbourg, Metz und bei den Emigranten in Koblenz ins Treffen führen, bevor seine Erste Liebhaberin ihr Rollenfach allzu gewissenhaft erfüllt, und das außerhalb des Ensembles.
Aber was vermag der Komödiant mit seinen Großtaten, die alle in der Vergangenheit liegen, gegen einen goldbetressten Gegenwartssieger, der zwischen seinen Sätzen nicht einmal Luft holen muss.
Und sich nun bereits in die Lineatur der histoire mondiale einordnet. Landvermessung nämlich sei eine zivilisatorische Tat allererster Priorität, prunkt er bei Demoiselle. Die das Gelüsten niederkämpft, das ihr vorge-legte Omelett so hastig zu verschlingen wie ihr Heißhunger es ihr befiehlt.
Während der Capitain sein Omelett erkalten und sein volles Glas ste-hen lässt. Der Bürger ( citoyen ist sein Wort ) der neuen Zeit habe das Recht endlich exakt zu erfahren, auf welchem Punkt des Globus er lebt und wie er sich und seine Güter auf dem kürzesten Weg von A nach B verfrachten kann.
Die Demoiselle schlingt ein zweites Omelett hinunter und bekommt dazu vom Capitain serviert, Erschließung sei heute alles, Erschließung weiter Räume ! Verkürzung der Reisezeiten, Beschleunigung, Effizienz, demoiselle, Effizienz !
Et alors, Capitain Brousseaud ist ihr Vollbringer.
Die Demoiselle hat nun bereits das vierte Glas leergetrunken, das ihr die neben ihr stehende Ordonnanz sogleich wieder vollschenkt und mampft das dritte, dann das vierte Omelett.
„Ich habe in Nancy mehrfach Racine gespielt !“
Propodonsky, selbst beim zweiten Omelett und beim achten Glas, bringt sich mit vollem Mund in Erinnerung.
„Den Cato von Raine, eine knifflige Rolle, fast den ganzen Abend auf der Bühne, die Blankverse fordern das äußerste –„
„Racine ? Connais pas.“
Der Capitain kennt keine Dichter. Der Capitain kennt Ingenieure wie Franklin, Lambert, Isaac Newton. Und ehe Propodonsky nachschieben kann, mit Molière habe er ebenso brilliert wie mit Racine, vor allem als Clitandre, preist Capitain Brousseaud seinen Newton für die Erkenntnis, die Erde sei weder flach noch eine Kugel sondern ein sanftes Ellipsoid, am Äquator gebaucht und an den Polen abgeplattet..
„Und erst mein Cid ! Ich meine natürlich den Cid von Corneille…“,
Anfangs sei Newton für diese Theorie verlacht worden, wie alle die voraus preschen, mais voilà, der Landvermessung hat er damit Beine gemacht. Sonst säße der Capitain nicht hier. Und erhebt er doch sein Glas, auf die Landvermessung.
„Für den Cid habe ich siebzehn Vorhänge bekommen ! Siebzehn Vorhänge…“
Der Erdumfang beträgt exakt 40.076 komma sechs in neuen kilomèt-res. Nach dem ebenfalls neuen Dezimalsystem. Und gleichsam zum Dank an Monsieur Newton pickt sich nun französischer Erfindergeist ein Vierzigtausendstel des Erdumfangs heraus und erschafft hieraus die Urmutter aller Maß-Einheiten, das Meter ! Tableau !
Das Glas, das der Capitain erhoben hat, stellt er unberührt genau vor Propodonskys Gesicht. Propodonskys Schlund ist ausgetrocknet von den Omeletts. Aber die Ordonnanz, um die Demoiselle bemüht, beachtet ihn nicht.
„Siebzehn Vorhänge…“
Mit dem Meter, mit dem Dezimalsystem beschenkt Frankreich die Welt. Sie wird zu beweisen haben, dass sie beschenkt sein will. Die Demoiselle hat von Anfang an nichts verstanden. Sie schiebt es dem Umstand zu, dass sie pumpsatt ist. Es ist ihr nach einem Verdauungschläfchen. Hintenüber kippen und weg sein. Aber der Klappsitz hat keine Lehne, und ihr Stiefvater wird sie nicht auffangen, in seinem Grimm über die Nichtachtung des Capitains vernichtet er dessen sämtliche Omeletts zu vernichten.
Die Demoiselle bleibt aufrecht. Aber wenn sie reglos sitzt, werden ihr die Wangen auskühlen. Wieder ausbleichen, und der Capitain soll doch ihre Echauffiertheit bemerken. Endlich ! Sie zerquetscht stiekum Kir-schen aus dem zum Dessert gereichten Kompott und tupft sich den Saft auf die Backen.
Nur Propodonsky, nicht der Capitain nimmt es wahr. Die Augen wollen ihr zufallen, ihr Blick rutscht ab. Aber auch unter dem Tischchen gibt es etwas zu sehen. Die beträchtlichen Oberschenkel des Capitains in seinen engen weißen Hosen schieben sich, im Rhythmus seiner Rede, rastlos übereinander. Wie er Stand- und Spielbein gewechselt hat, so verlagert er im Sitzen schwungvoll sein Körpergewicht von Schenkel zu Schenkel. Die weißen Hosen sind zum Platzen gespannt, und das natürliche Wan-genrot der Demoiselle tritt nun doch wieder seinen Dienst an.
Drei Klapptischchen weiter findet Kunterkasten, während er sein sech-stes Omelett verzehrt, dem Capitain gehöre eine Toga um die Schultern drapiert. Der Capitain ist ein Römer. Ein Römer zum Herzeigen, wie Brutus und Cassius Römer waren. Nur dass das Pathos des Capitain seine rhetorische Energie nicht mehr von den Cäsaren bezieht, die längst tot sind oder von Göttern, die vor zweitausend Jahren in den Austrag geschickt worden sind und deren Wiedergänger nur noch auf dem The-ater herum geistern, wie es der Prinzipal Kunterkasten aufzwingt.
Das römische Pathos des Capitain ist das Pathos des Banalen und der puren Brauchbarkeit : zusätzlich zu den Uneben¬heiten durch Berge und Täler gilt es eine noch weit größere Abweichung von der Kugelgestalt durch die Erdrotation zu berücksichtigen. Die Empathie des Capitain gilt nicht Jupiter oder dem Untergang Trojas, nicht einmal der schönen Helena, sondern dem Fortkommen jedermanns und der Kartierung der Welt, auf dass sie eine zivilisierte werde. So wie die Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten herstellt oder die kürzeste Route zwischen zwei Punkten auf einer Ku-gel die Großkreisroute ist, so ist allgemein der kürzeste Weg…
Kunterkasten vergisst vor Bewunderung fast, sein nächstes Omelett zu bestellen. Und als es ihm vorgelegt wird, verrühren sich für ihn der Welt-geist und die französische Feldküche in eins, wie Mehl und Ei.
Wiederum einen Klapptisch weiter lässt Langebehn die Landvermes-sung gar nicht erst an sich heran. Wo Langebehn ist, ist Theaterreich, besteckt mit Rampenlichtern, und er preist dem Adjutanten des Capitains ( als Belohnchen dafür dass der vorhin so aufmerksam gerufen hat ah ! eine Schauspieltruppe ! und damit auf Anhieb die Spreu vom Weizen getrennt ) das Theater der grande nation. Der Adjutant hat sich damit als connaisseur zu erkennen gegeben und Langebehn genießt es ( mehr als sein Omelett, dass er zusammengerollt zwischen Daumen und Zeige-finger hält und von dem er nur dann und wann einen Bissen hascht, um seine Rede zu akzentuieren ) ihn teilnehmen zu lassen an seiner Ersteigung des theatralischen Olymps. Vor Zeiten in Paris. Um dort die oberste Gottheit agieren zu sehen.
Jean-Francois Talma.
„Ah ! Talma, le divine !“
Alles an Talma ist Dynamik, stimmt der Adjutant ihm zu, seine Soli sind Kavallerie, und wenn Talma geritten käme als Tamerlan le grand, wäre das Zarenreich bereits unterworfen und das osmanische streckte die Waffen vor den Wurfspeeren seiner Stimme.
Langebehn schweigt dazu und nagt pikiert von seinem Omelett drei schnelle Bissen. Der Adjutant, schwärmt weiter, wie Talma die comédie francaise mitgerissen hat in die Revolution.
„Mitgerissen ?“ knabbert Langebehn mokant, „diese Nachttopfaus-leerer des ancien régimes ?“
Die Heroine und der Erste Komiker waren Girondisten, der Souffleur und die Mehrheit des Ensembles war dem König ergeben. Ab aufs Scha-fott hat das Revolutionsgericht mit vollstem Recht erkannt, grinst Lange-behn und leckt sich ekliges Fett von den langen Fingern.
Schafott, gewiss, weiß der Adjutant, aber den Delinquenten wurde eine allerletzte Vorstellung gewährt, Charles IX von André Chenier, schon im Auslieferungsprison, schon in Fußfesseln. Talma selbst springt zwischen sie, spielt mit auf Deibelkommraus, spielt um die Köpfe der Kollegen die diese fast schon unter den Armen haben. Bis der Souffleur, der Royalist, die Marseillaise anstimt, der Erste Komiker Rotz und Wasser heult und de anderen mit ansteckt bis das allons enfants de la patrie in Tränen er-stickt.
„Le jour de gloire est arrivé“ singt Langebehn weiter, ebenso tränen-erstickt.
Nur Schuff, der neben ihm sitzt, merkt dass Langebehns Schluchzen kalt technisch ist und den Adjutanten verarschen soll.
„Warum weinen Sie ?“ fragt der.
„Ich weine um die Revolution. “
Denn seit sechs Jahren ist die comédie francaise Staatstheater des Usurpators Bonaparte.
„Ein Beamtentheater ! Was für ein Verrat an der Revolution.“
Schuff fürchtet nicht für Langebehn, er fürhtet für den Adjutanten.

Omelette sind reich an Proteinen. Proteine beflügeln die Potenz und unterstützen nährstoffreich den Vollzug. Aber Eierkuchen, wie er so strictement aus Feldküchen auf die Teller geklatscht wird, ist einseitige Kost. Der Capitain wird von einem Verlangen nach den Filets der heimi-schen Chalot-Rinder heimgesucht. Anders als das Hornvieh Germaniens tragen diese weißen weibischen Weidewesen pralle Hinterbacken zur Schau. Fleischige Ärsche, wo die hiesigen nur schlaffe Senkrechten herzeigen, mistverklebt.
Die Demoiselle in ihrem engen weißen Kleid wird dem Capitain zum Charolais, das Charolais wird ihm zur Demoiselle. Sein Appetit pocht gierig in den Lenden, seine Hosen sind so hauteng wie das Fell der Charolais, das Enge verbirgt nichts. Seine Männlichkeit gehorcht nicht mehr seinen militärischen Ordnungsrufen. Fleisch will zu Fleisch, da hilft kein Beineübereinanderschlagen mehr.
Der Capitain wird sich als Kavalier erweisen und der Demoiselle ein Nachtlager antragen. In einem Bauernhof, den er eigens dafür requirieren wird.
Das Volk hinter dem Strick hat längst aufgehört zu beten. Es steht dichtgedrängt an der Sperre und starrt die Essenden an. Keiner hat auch nur einen Happen verlangt, darum haben die Franzosen sie nicht aus der Feldkühe verköstigt, die oben hinter dem Ufergebüsch steht.
Langebehn steigt heiliger Ekel in den Hals. Er schleudert, was er auf dem Teller hat, in die glotzende Herde. Mit aller Wucht, weil es zu sei-nem Bedauern keine Schottersteine sind. Aber die Herde, jenseits jeder Würde, bückt sich und sammelt Langebehns Wurfgeschosse von den Fichtenstämmen des Floßes auf. Wer etwas aufgefischt hat, beknabbert es mit dem selben Schafsgesicht mit dem er zuvor geglotzt hat.
Langebehns Ekel überschlägt sich. Als er auch den Teller schleudern will, hält ihm der Adjutant die Hand fest .
„Arrête ! Es handelt sich um eingetragenes Inventar der Armee.“
Der Griff an der Hand Langebehns bleibt, als der Adjutant ein Urteil im Namen dieser Armee spricht. Monsieur Vorlaut wird morgen zur Strafe bei der Landvermessung zu Diensten sein.
„Oder soll ich sagen Monsieur demi parti ?“
Wegen des blutunterlaufenen Strichs, der Langebehns obere Gesichts-hälfte von der unteren trennt.

Dieser nächste Morgen ist der des siebzehnten Nivoise des Jahres fünf-zehn der Großen Revolution. So schreibt Langebehn es in sein Tagebuch, das XV in betont kantiger Schrift, wie in Marmor gemeißelt. Der Tag sei-ner Indienstnahme, seines Gastspiels bei der Armee.
„Leiste mir heute Abenteuer Geodäsie“ notiert er. „Nach den endlos kuhblöden Tagen, die ich im Pferch des Floßes zuzubringen gezwungen war. „
Der Adjutant, der ihm von hinten in die Zeilen schaut, erhebt Ein-spruch. Der Revolutionskalender sei soeben zur Jahreswend abgeschafft, mithin ein gewöhnlicher Donnerstag zu verzeichnen. Der ganz ge-wöhnliche sechste Januar 1806, und Frankreich damit kalendarisch wieder eingereiht in die Völkergemeinschaft. Freilich weit vorne, wie es ihr gebührt weit vorne. In der avantgarde, wie anders könne sie die Nationen sonst auch anführen.
„Erschlafft der kühne Griff der Revolution !“ notiert Langebehn.
“ Im kleinklein verendet durch diesen Feldwebel Napoleon“.
„Sie sind ja noch immer störrisch“ lächelt der Adjutant.
Es sind die besten Pferde, die sich nicht satteln lassen.
„Quel matin plein de soleil !“
Der Capitain tritt zwischen seine Leute, auch Gast Langebehn wird mit einem Gruß bedacht, indem der Capitain nonchalant mit zwei Fingern an seinen Zweispitz tippt. Langebehn drückt sein Kreuz durch. Endlich wird er wieder Regieanweisungen bekommen. Ob er ihnen folgt oder nicht wird sich weisen.
Die anderen Schauspieler, heute nicht besetzt und ohne Regieanwie-sungen, stehen ochsisch und unnütz herum im Hin- und Hergeeile der Franzosen mit ihren Gestängen und Kisten. Und weitab vom Feuer, das die Floßknechte an der Uferböschung mit Treibholz füttern.
„Der Demoiselle ist unbegrenzt serviert worden, aber mir ?“ beschwert sich Käpernick, der als einziger der Truppe zwischen den Flößern sitzen darf.
„Ich hungere mich noch aus meinem Fach heraus. Nie mehr werd ich mehr den Falstaff spielen. Und was war ich für ein Falstaff ! Ehrensache, dass ich mich nie hab ausstopfen müssen in der Rolle.“
Aber er sei doch noch immer der Dickste von ihnen allen, fordert ihn Kajetan heraus.
„Aber nicht mehr mit eigenem Fett ! Ich muss mir sogar beim Leibes-umfang helfen lassen.“
Und lässt die Katze des Flößers aus seinem Falstaff-Kostüm hervor-lugen, das ohne sie noch schlottriger wäre. Sie hat sich selber eingeladen, er hat sie unters Wams gelassen, sie hat ihn bezogen. Wieder kassiert er Lacher.
„Fast hätte ich sie verspeist gestern, zum Dessert. Da haben die Franzosen erst meinen Hunger geweckt und dann vor lauter Höflichkeit zu stillen vergessen.“
Wieder Lacher, auch von dem Flößer zu dem die Katze gehört.
„Aber von wegen ! Das Biest angelt mir mit seinen Krallen das Beste von der Gabel runter.“
Hätte er die Katze doch aufgegessen. So wäre wenigstens alles in einem, nämlich seinem Magen gelandet. Der Flößer langt sich seine Katze aus Käpernicks Verwahrung.Wieder wird gelacht, denn Käpernick jault wie ein Bärenkind, das die Bärenmutter ausgesetzt hat. Was wollt ihr, jammert Käpernick, unser Prinzipal hat schuld, der schleift unsereinen durch diese Kältehölle bis man entmenscht ist und nur noch von Katzenbraten träumt.
Es ist der Geodät, so der Morgenappell des Capitain, der die Welt recht eigentlich erschafft, indem er sie auf dem Messtischblatt neu erstehen lässt. Gesäubert, mes fidéles, gereinigt, entschmutzt von Lehm und Gestrüpp, Unkraut und Bevölkerung.
Sätze, die Langebehn wohltun, weil er nun selbst ein Eroberer und Entschmutzer sein wird. Auf Propodonskys Schmierenbühne waren Langebehns Wortfanfaren immer nur Blankvers-Gefuchtel, vergeudet an ein Publikum von Pfahlbürgern und Pfeffersäcken.
„Vive l’empereur !“ ruft der Capitain. Der Kaiser wird hochleben ge-lassen, der Schutzgott der Landvermessung, und alle wiederholen den Hochruf.
Auch Kunterkasten, obwohl er heute nicht besetzt ist.
„Vive l’empereur !“
Nur Langebehn schweigt.
Wo früher das Amen war, ist nun der Kaiser. Und Langebehn hat schon dieses frühere Amen verweigert. Als die Arbeitsgeräte geschultert wer-den, sind auf einmal die kuttenlosen Mönche da, graue Mahnvögel der alten Zeit. Langebehn springt zwischen ihnen hindurch, dreimal, viermal, als wollte er ihnen auf die Zehen treten. Sie weichen ihm erschrocken aus, stumm wie Fledermäuse, und Langebehn trifft keinen einzigen Zeh.
Als er sich dem aufbrechenden Capitain anschließt, sieht Langebehn über die Schulter, wie sehr Kunterkasten sich bemüht, ihm nicht hinterher zu starren. Kunterkasten steht zwischen den Mönchen, eine nutzlose Vogelscheuche zwischen anderen nutzlosen Vogelscheuchen, und beide geben sich nichts anderem hin als einem nutzlosen Frieren.
Nicht einmal durch das Heranschaffen von Feuerholz die Kläglichkeit ihrer Rollen aufzubessern sind sie in der Lage. Ihr Restchen Gestaltungs-vermögen legen sie in die Darstellung schlotternden Leidens.
Aber Langebehn, der Erste Held, darf aufs Schlachtfeld. Sein sieb-zehnter Nivoise des Jahres XV beginnt verheißungsvoll, die Sonne lässt den gefrorenen Schnee silbersternig erglänzen, die edelsten Eiskristalle sammeln sich an seinem, Langebehns Pelzkragen. Er hat es von sich gewiesen, zu den Schleppern zu gehören, die dem Capitain die Geräte hinterhertragen müssen. Langebehn will es auskosten, nach dem Einge-pferchtsein auf dem Floß leichthin über den Schnee zu eilen.
Raureif liegt über der Landschaft, der Schnee ist nicht allzu tief und fordert Langebehn dazu heraus lange schnelle Schritte auszuführen ohne dass sein Schuhwerk einsinkt. Die oberste Schneeschicht, für Langebehn individuell vorbereitet, ist elegant gefroren. Seine Sohlen sind schon je-weils weiter geeilt, wenn die vereiste Kruste kräckernd hinter ihm ein-bricht. Die Schneefläche wirft das Licht gleißend auf seine Erscheinung zurück, der Widerschein des beraureiften Schnees umkleidet ihn von allen Seiten. Die weißsilbrige Landschaft bietet ihm just das Passe-partout, das ihn und seine Behändigkeit zur Geltung bringt. Die er bitter vermisst hat auf dem Floß, mit eingeschlafenen Füßen zwischen dem selbstzufriedenen Wiederkäuen der Mimen und Muhkühe, Kuhmimen und Mimenkühe.
Der Messtisch wird auf einer Anhöhe aufgebaut, die damit zum Feld-herrnhügel aufgewertet ist, der Capitain nimmt daran Platz. Hier soll der trigonometrische Punkt des Dreiecksnetzes sein, lässt der Adjutant Langebehn wissen, von dem aus ein weiteres Stück des nagelneuen Kö-nigreiches erschlossen wird. Der Capitain späht durch ein Instrument, das nur der innerste Zirkel der Begleitmannschaft berühren darf. Langebehn ist unter die aufgenommen, die wie Planeten um diesen innersten Zirkel kreisen.
Der Adjutant weiht ihn ein, was eine Bussole ist und was ein Kroki, ein Passpunkt, Kataster und Nivellierpunkt, und es steigert Langebens Genuss, dass die anderen Komödianten, mit denen er zusammen-gepfercht war, es nicht erfahren werden zwischen ihren Holzbalken und Ochsen.
Ja wer sind sie denn.
Die verschneite Ebene betupft sich mit Farbpunkten, die vom Feld-herrnhügel fort ins Weite wandern. Soldaten, in ihren blauweißroten Uniformen jeder für sich eine Trikolore auf zwei Beinen, mit bunt-bewimpelten Stangen über den Schultern. Ein Zuruf des Capitain zu sei-nem Adjutanten, der zückt eine kleine Fahnenstange, winkt den trikoloren Soldaten da weit draußen, und die Trikoloren winken gelb, rot, grün zu-rück. Die Wimpelsignale gleiten hierhin und dorthin, nichts hält sie auf ; die altvertrauten Begrenzungen durch Gebüschstreifen, Wasserläufe, Zäune und Gräben werden außer Kraft gesetzt von den Geraden und Winkeln, die das metrische System der Großen Revolution über sie legt wie die Schrift einer allmächtigen Systemgottheit über das schrumpelige Tohuwabohu des verantwortungslos Zufälligen.
Langebehn, eine Kegelkreuzscheibe mit Stockstativ in der Armbeuge, fühlt sich zum erstenmal in seiner Karriere angemessen und nach Be-gabung besetzt, all den Kunterkästchen entrückt, die ihm den Hamlet streitig machen wollten.
Das Rollenfach des Geodäten tritt eben erst ins Licht, während immer schon ganze Generationen von vermoderten Romeos auf Langebehns Schultern hockten. Das Rollenfach ist so jung wie Langebehn jung ist. Er ist mit ihm Avantgarde, Langebehn ist la flèche des flèches de l’epoche, und die Eiskristalle in seinem Pelzkragen funkeln.
„Seize pas a la droite !”
Die Texte sind knapp, sind nur Silben, wie Pfeile weithin geschleudert als Clairons, hart und klar. Ein Langebehn vertrauter Ton, sein Inneres gerät dabei metallisch ins Schwingen. Die Clairons lassen ein Corps von Schlanken und Großen ausschwärmen, Kerlen wie er selber, und die Hügel, die sie leichthin erstürmen, sind wirkliche Erhebungen, eines Lan-gebehn würdig, und nicht nur gemalt wie auf dem Theater. Und hinten mit einer Holzlatte ausgesteift, die ein Sandsack beschwert, damit sie nicht umkippen.
Das Instrument von dem aus der Capitain seine Scharen dirigiert, ist so edel, dass ein Schirm darüber gestellt wird, damit ihm die Sonne nichts anhaben kann. Vor wenigen Wochen gab es dieses Instrument noch gar nicht, es war nur ein Gedanke in einem Ingenieurgehirn, eine Formel auf einem Blatt Papier, eben erst ist es in Paris zurecht geschliffen und verschraubt worden.
Mit Werkzeugen, die vordem der Herstellung von Juwelen für die Bourbonen vorbehalten waren, ehe die ihre Köpfe abliefern mussten. Wenn der Capitain nun hindurch blickt, erschließt sich ihm was noch nie vor ihm jemand gesehen hat. Auch Langebehn darf durch den Theo-doliten schauen. Er sieht nicht nur das Weiß des Schnees und darauf die Sprenkel der blauweißroten Brigade mit ihren Wimpelstangen, er sieht das große Abstraktum schlechthin, die Linien ins Unendliche. Der Adjutant führt ihm die Hände an dem Instrument ; die Schwungrädchen, die Kuppelwellen gehorchen dem geringsten Druck seiner Finger, er spürt etwas wie Zärtlichkeit in dem goldschimmernden Metall, die Schräubchen sind ihm dienstbar, das Kunstwerk aus Streben, Rädern und Stellschrauben gibt sich ihm hin, lässt sich willig drehen und schwenken wohin er es auch drängt.
Langebehn verlangt es danach selbst in dieses keusche Weiß hinein auszuschwärmen und sich gleichzeitig dabei durch das Okular zu beobachten. Dieser siebzehnter Nivoise ist ein Langebehns Festtag, und weitere sollen ihm folgen.

Zwei Männer stapfen durch den verschneiten Wald. Ob der andere das auch hört, fragt der eine Stapfer. Was denn solls zu hören geben, fragt der
andere Stapfer. Dass da wer singt. Ach geh zu, im Wald da singt doch keiner. Doch singt da einer. Sie bleiben stehen, damit das Knirschen ihrer Schritte im Schnee die Singerei nicht zudeckt. Und, scheißdieWandan, da singt doch wirklich einer.
„Ha! wenn sie euch unter dem Beile so zucken,
Ausbrüllen wie Kälber umfallen wie Mucken -“
So einen Schmarren singt da einer mitten im Wald. Als wenn ihm der ganz allein gehören tät.
„Das kitzelt unsern Augenstern,
Das schmeichelt unsern Ohren gern -“
Singen allein, meint der eine, singen allein ist noch nicht gegen das Gesetz.
Gesetz, was heißt da Gesetz, meint der andere, das Gesetz ist neu und französisch, da gilt was anderes als wie früher wo das Kloster noch Herr war im Wald. Die beiden haben noch nicht alle Paragraphen durch von dem neuen Gesetzbuch, sie sind erst seit wenigen Tagen Wildhüter, aber ob man im Wald singen darf oder nicht, dafür kennen sie keinen Para-graphen. Außer es handelt sich um Wilddiebe, aber die schießen mit abgesägten Schrotflinten herum oder sie stellen Fallen auf. Aber singen tun die bestimmt nicht.
„Das Wehgeheul geschlagner Väter
Der bangen Mütter Klaggezeter -“
Wenn mans aber recht bedenkt ( und sie bleiben beide stehen, um sich eben dieser Arbeit hinzugeben ) und die Wilderer singen eben doch, dann täten sie was singen was gegen die Obrigkeit gerichtet ist. Kloster hin, König her. Und dagegen gehört eingeschritten von seiten der Obrigkeit.
Die zwei Stapfer schauen sich ernst an, amtsernst, als sie so weit gelangt sind, denn besagte Obrigkeit ist nunmehr niemand andrer ist als sie beide. Auch wenn sie noch so neu sind auf ihren Posten.
Gerad ein Neuer aber muss sich bewähren, König hin Kloster her, als frisch bestallter königlicher Forstaufseher, damit der Anarchie nicht Tür und Tor geöffnet werde.
„Das Winseln der verlassnen Braut
Ist Schmaus für unsre Trommelhaut !“
Aber wenn da nun kein Wilderer, sondern bloß ein einfacher Holz-sammler singt ? So einer, der Reisig sammelt für den Ofen daheim ? Dann sind sie doch blamiert als königliche Organe, wenn sie gegen den einschreiten mit beamteter Unnachsichtigkeit. Und ihren oberen Organen nur einen armen Hansel präsentieren, mit Fichtenzapfen in den Taschen. Daxnudeln in der Landessprache. Wie stehen sie dann da ?
Selber wie Daxnudeln.
Früher, vor anno Napoleon, hat man noch Holz stehlen können in aller Scheinheiligkeit, und gleich drauf hat man es den bestohlenen Kloster-brüdern gebeichtet und allemal Absolution erlangt von ihnen. Seit anno Napoleon gibts keine Klosterbrüder mehr. Folglich auch keine Abso-lution, sondern bloß noch das Gesetz. Auch wenn sie es noch gar nicht kennen.
„Ein freies Leben führen wir
Ein Leben voller Wonne …“
Ein freies Leben, das kann kein Napoleon wollen, auch wenn er viel-leicht bei den Daxnudeln ein Auge zudrückt. Ein freies Leben ist gegen einen jeglichen Paragraphen, nicht bloß gegen das Exerzierreglement das wo sie sehr wohl kennen als Veteranen des Feldzugs bei Ulm. Und jetzt, als Demobilisierte, sind sie fronterfahrene Defenseure des Wildbestandes seiner königlichen Majestät, da hat jede Wildsau und jedes Eichkatzel stramm zu stehen. Und selbst dem Eichelhäher gehört zugerufen :
„Halt ! Wer da !“
Es ist Kunterkasten, den sie stellen.
“ Parole !“
Aber Kunterkasten weiß keine Parole. Auch aus seinem Wilhelm Tell hat er kein Zitat zur Hand, die Schultern dafür vollgepackt mit dürren Ästen. Die Herrenknechte etwa betreffend, die dem gemeinen Mann die freien Wälder rauben. Stattdessen macht er einen Abgang im Laufschritt, denn der eine Herrenknecht hat eine Flinte.
„Hundskrüppel !“
Kunterkasten verliert das meiste von dem Holz das er aufgesammelt hat, ein corpus delicti nach dem anderen liegt auf seinen Fußspuren und die beiden stolpern nicht einmal darüber.
„Den Haderlump kaffma uns !“
„Bleib Er stehen oder es wird g‘schossen !“
Der diese Drohung ausgestoßen hat, erschrickt selber am meisten da-rüber. Wie soll er rechtfertigen vor ihrem obersten Waldhüter, einem demobilisierten Sergeanten, dass er an einen Holzdieb eine teure könig-liche Patrone verschwendet hat, in der bataille von Ulm aber keinen Schuss abgefeuert.
Kunterkasten, der von solchen Zwiespälten nichts weiß, fürchtet für sein Leben. Wirft den letzten Prügel fort, schlägt einen Hasenhaken nach rechts querwaldein. Dann einen nach noch weiter rechts, dann wieder nach links, bis er sich nicht mehr auskennt zwischen all den fremden Stämmen. In welcher Himmelsrichtung wartet Käpernick mit den anderen auf das Brennholz, das er nicht mehr hat ? Und wo sind Floß und Fluss ?
Die beiden Veteranen von Ulm gehen leer aus. Ihr Hase ist ihnen ent-wischt, und sie loben ihn insgeheim dafür, denn ihm weiter nachsetzen wäre ihnen sauer geworden mit ihren Steckschüssen in Schienbein und Steiß. Auch aus Ulm, denn anders als sie haben Napoleons Truppen geschossen. Und getroffen.
Und hätten sie den Haderlump erst beim Schlafittchen gehabt, wie macht man amtlich korrekt Meldung nach dem Buchstaben des neuen Gesetzes ? Und verpflichtet dieses Gesetz sie am Ende auch noch dazu, die expropriierten Holzobjekte säuberlich wieder einzusammeln, zu sor-tieren, einzuhändigen, und wem und wo ?
Der Wald liegt still und legt keinerlei Zeugenschaft ab, nicht für und nicht gegen sie. Sie haben doch ihres Amtes übergenug gewaltet ( einer nickt es schweigend und amtlich dem anderen zu ) und die Steckschüsse, die sich schmerzhaft melden, beurkunden es auch ihren Leibern : sie haben sich eine Einkehr in ihrer Waldhüterhütte verdient.
Zuzüglich Pfeifchen und Schmalzbrot zur Belohnung ihres Eifers beim Sieg über einen Insurgenten, der wo aa no aufrührerisch gsungen hat.
Aber auf der Schwelle zu dem Unterstand liegt unbefugt ein fremder Mantel mit einem Pelzkragen daran. Und darüber geschmissen ein zwei-ter Mantel, aber dieser ist ein militärischer.
Und damit befugt.
„Blau weiß rot. Woasst ja was des bedeut.“
„A Franzos.“
„Dem Napoleon die seinigen spionieren uns nach im Wald ob mir Wachleut zack auf Posten san.“
Alte Soldatenängste vor belfernden Vorgesetzten steigen in ihnen auf. Da drin in der Rindenhütte wird ihnen kein Schmalzbrot und kein Pfeif-chen gegönnt sein, wo sie den Code Napoleon noch nicht einmal dem Buchstaben nach kennen.
Kunterkasten ist unter Hasenhaken und Hasenwiderhaken durch den Wald geirrt, nun findet er sich wieder im Rücken der Wildhüter, ihre Flinte starrt ihm entgegen wie einem alten Bekannten. Als sie sich umdrehen, weil sie den Schnee knirschen hören, erkennen sie ihren Holz-dieb nicht wieder und salutieren. Der Unbekannte kann nur der mit dem Franzosenmantel sein. Und von ihnen verlangen, dass sie das Napoleon-gesetz aufsagen.
Höchste Zeit, geistert es in allen drei Köpfen, sich davon zu machen. Aber die beiden Veteranen sind die rückzugserfahreneren, auch brennen die Steckschüsse noch grimmiger vor Schreck. Und schon sind sie wohl-geordnet en retraite und davonmarschiert.
Kunterkasten ist sich selber dankbar, dass er sie nicht mit dem Wilhelm Tell gegen sich aufgebracht hat und sieht zugleich, auf einmal wieder umtriebig, einen angenehmen Stapel gespaltener Fichtenscheiter an der Hüttenwand gestapelt. Und erst dann, nachdem er sich so viel davon aufgeladen hat wie er nur fassen kann, sieht er die beiden Mäntel liegen, der eine ist ihm wohlbekannt. Er drückt die Tür, ein Brett nur, ein wenig auf. Sie hängt nicht in Eisenangeln, sondern in Weidengeflechten, die un-wirsch knarzen.
Zwei nackte männliche Unterhälften ruckeln dahinter, die rosigen Är-sche sind das einzig Helle in der Hütte, und darüber Stöhngeschrei in gurgelndem Duett. Kunterkastens Scheiter verfangen sich in den Riemen des Koppelzeugs und des Säbels, die über dem Türbrett hängen. Die poltern herunter, den beiden samt den Scheitern auf die Waden.
„Der Zivilist“ brüllt der Adjutant „hat eine Militäraktion gestört !“
Wieder ist Kunterkasten auf der Flucht, und der Adjutant zwar splitternackt, aber mit einer Trillerpfeife ausgerüstet. Wieder muss Kun-terkasten sich in Hasenhaken üben, aber diesmal sind die Verfolger in der Überzahl, brechen in der Stärke einer section aus weit entferntem Unter-holz, in dem Kunterkasten niemand vermutete. Auch Wilhelm Tell rich-tete hier nichts aus, nicht mit Schillers Sermonen und nicht mit seiner Armbrust, denn jeder hat eine Muskete und noch keinen Steckschuss in den Beinen.
Als sie Kunterkasten in die Mitte genommen haben ( sie kennen den Weg, Kunterkasten kennt ihn nicht ) setzt ihm Langebehn nach, mit über-geworfenem Mantel, seine übrige Garderobe im Arm.
„C’est pas permis“ schnauzt der Grenadier hinter Kunterkasten “de parler avec un prisonier.“
„Mir schon“ beharrt Langebehn und steckt den Bewachern Papiergeld zu. Er muss nur in sein Mantelfutter fassen, schon ist Geld in seiner Hand. Schuff hat immer schon vermutet, dass dort eine Geheimtasche eingenäht ist.
„Ich habe nicht gewollt, glaub mir, dass sie dich fortzerren wie Jesus auf den Kreuzweg.“
„Da dran kannst du dich doch nicht sattsehen, du Natter.“
„Du bist es doch den ich begehre von Anfang an, Kunterkasten ! Dieser Vermessungsoffizier hat mich bloß geblendet mit einer Halsmus-kulatur, die mich so lala an Marc Anton erinnert hat. Aber sie ist schlaff beim Hinfassen, glaub mir, sie ist sowas von schlaff. Sogar quarkig, glaub mir, sie ist quarkig. Weißkäsig wie die Landschaft. Glaub mir, der Schnee hat durch ihn hindurch geschienen. Aber du…du bist der wahre Marc Anton ! Deine Halsmuskeln spielen wie…spielen wie…“
Die Gangart der Soldaten ist zügig. Langebehn, der sich beim Gehen die Hosen anzieht, hat Mühe mitzuhalten. Aber seine Metaphern halten Schritt :
„Sie spielen wie Pferdeflanken ! Glaub mir, wie Pferdeflanken.“
Jetzt hat er die Hosen geschafft, über die Schuhe.
„Ich meine natürlich von einem Fuchshengst“.
An Rock, Weste und chemise scheitert er fürs erste. Dazu müsste er den Mantel ablegen.
„Du bist mein Marc Anton ! Ich gebe doch nur einen Cassius ab, wenns hoch kommt.“
Wenn der Zug auch nur einen Moment anhielte, könnte er es schaffen Weste, chemise und Rock überzustreifen.
„Arrêt tous la formation !“ ruft er. So geläufig militärisch, dass die Gre-nadiere mit einem Ruck stehen bleiben wie Zinnsoldaten.
„Mach mir den Marc Anton, Kunterkasten, sei mein Marc Anton…“
Kunterkasten ist verlassen von allem, was er sagen könnte. Nicht nur Strönebald fehlt ihm, der Souffleur, sondern einige Labyrinthe in seinem Ober- wie Unterbewussten, um Langebehn zu erwidern.
Der kniet vor ihm im Schnee.
„Du bist der Begnadete, Kunterkasten, und ich bin die ewige Zweit-besetzung.“
Der Mantel liegt neben ihm, Langebehn zieht sich das Hemd über den Kopf.
„Ein eitler Windbeutel von einem Klassizisten bin ich, glaub mir, und die Ratten nagen an mir.“
Dabei knöpft er sich die Weste zu.
„Als dieser Vemessungsgehilfe gestern von Talma gesprochen hat, habe ich dich vor mir gesehen. Dich, Christian Asmus, dich dich dich ! Du bist der wahre Talma, du bist mein Talma.“
Beide Arme fahren in den Rock.
„Leg dir die Toga um, und sei’s von mir aus ein Bettlaken, ich muss dich in der Toga sehen, Christian Asmus. Wie sie fließend deinen Körper umspielt…“
Da kein Bettlaken zur Hand ist, legt er Kunterkasten seinen Mantel um die Schultern. Die Grenadiere sehen verlegen seitwärts, spähen irgend-wohin, zählen die Baumstämme. Ob die zwei da überhaupt noch vom Militär reden ?
Von was, merde, reden die ?
Dienst ist Eid ist Disziplin ist Gehorsam, gewiss, aber der Sold steht aus, das Bestechungsgeld des fremden Kerls der da im Schnee dübelt die Lücke. Wenigstens ein bisschen. Aber ist es wirklich noch grenadiers-würdig in Habachtstellung um zwei solche Schwuchteln herumzustehen ?
„Du bist der Acteur der neuen Epoche.“
Langebehn kniet immer noch. Er genießt seine große Gebärde großer Devotion, wie er den Schnee genießt, der seine Knie umfängt und an ihrer Wärme wässrig wird.
„In dieser Epoche gilt nicht das Verharren in den Festungswerken des Althergebrachten. Hinausgestürmt muss werden in den großen Raum des Unbekannten. Sturmschritt sei die alltägliche Gangart !. Sturmschritt, Christian Asmus ! So ist es mir heute Erfahrung geworden auf dem eisigen Parkett des Schnees.
Kunterkasten tastet nach Langebehns Geheimtasche. Der Bengel soll Strafgeld zahlen. Aber Kunterkasten, tapsig auch hier, wird nicht fündig.
„Nicht mehr Rhetorik, Christian, sondern Dynamik ! Dynamik der Körper ! Zweier Körper, hörst du. Zweier ! Und was hast du für einen herrlichen Körper…“
Langebehn nimmt den Mantel wieder von Kunterkastens Schultern. Kaum hat er ihn sich selber übergezogen, knistern wieder Scheine in seiner Hand, und die Grenadiere empfangen eine weitere Löhnung abseits des Reglements.
Seine andere Hand knetet Kunterkastens Hals.
„Und was für eine Muskulatur…“
„Marchez !“ grinst der Anführer, und die trikoloren Uniformen ent-fernen sich über das Schneefeld hin, sind bald klein wie Kokarden und verschwinden als winzige bunte Punkte gänzlich im Gehölz.

Als Langebehn und Kunterkasten wieder zum Fluss gelangt sind, ist die Kette fort und alles auf dem Floß versammelt wie vordem, nur ge-zeichnet und befräst von den Schnittkerben, die die Kette gerissen hat. Eine blessierte Kuh da, Schrunden an der Hütte dort, aber insgesamt zum Ablegen bereit. Nur die Geodäten bleiben unsichtbar mitsamt ihren Kisten. Der Floßmeister lässt die Ruderer vom Ufer abstoßen, sein Tabaksaft rinnt wie immer und Gmeinwiesers Vieh nimmt es gelassen wie immer.
Käpernick grinst, weil Kunterkasten sich in Langebehns Gesellschaft einstellt statt in der von Brennholz.
„Fehlt nur noch dass ihr Händchen haltet.“
Langebehn lässt nicht von Kunterkasten.
„Wir mieten uns eine chambre separée beim nächsten Halt, eine Klause für uns allein, und du wirst Talma für mich sein. Ca ira ! „

Die Franzosen sind fort ?
Die Franzosen sind wieder da. Diesmal bringen sie das Floß nicht mit einer Kette zum Stillstand, diesmal ist es ein Gewehrschuss in die Luft und dann der von weiten geschriene Befehl das Floß toute de suite auf den Kies zu setzen.
Diesmal ruft Kunterkasten nicht sein vive l’empereur ! Diesmal gibt es auch keine Einladung zu einer Bewirtung aus der Feldküche. Sechs Mann mit zugesperrten Gesichtern und aufgepfanzten Bajonetten entern das Floß und machen sich ohne weitere Fisimatenten, erklärende wie ent-schuldigende, an eine Razzia.
Bauernschränke werden aufgerissen, zwischen den Heuballen und Schafen steigen die Soldaten herum, hinter den Holzbeigen, auch in die Hühnerkäfige wird hinein gelinst. Ohne dass ihr Kommandeur seinen Posten oben auf der Uferböschung verlässt. Ist der nun Capitain Brousseaud oder ist ers nicht ?
Kajetan wettet, er ist es. Der Floßmeister wettet dagegen. Entschieden aber wird die Wette nicht, weil Kajetan kein Fernrohr in seinem Sortiment hat. Schuff wird von zwei Grenadieren festgehalten, seinen Pelerinenmantel klopft ein dritter ab, und als er dann noch immer nicht verhaftet ist, lässt er seinen blauen Vogel vor den Franzosen schwirren. Die haschen mit einem amüsierten aaaah ! danach, aber als der Kom-mandant herunterbrüllt discipline ! wendet sich die ganze Formation der Fahndung zwischen den Ochsen zu.
Kunterkasten hat sich geduckt, kaum dass die Soldaten über den Kies heran gerannt kamen. Nur auf ihn können sie es abgesehen haben. Und er muss sich tief ducken, denn ein anderes Versteck als eine von Gmein-wiesers Kühen ist nicht da. Käpernick leistet Beihilfe, stellt sich breit vor
Kuntrkasten und Kuh, breitet seine Arme weit auf ihrem Rücken aus, und die Kostüme die er sich um den Leib gewickelt hat, fallen daran herunter wie ein Theatervorhang.
Käpernick fällt damit auf, weil Käpernick immer auffällt, und schon ist Kunterkasten entdeckt. Nun wird er abgeführt werden. Aber die Soldaten, alle noch jünger als Kunterkasten, belustigen sich über ihn wie einen Spielkameraden, der sich hinter einem Kuheuter versteckt und wenden sich der Hütte zu.
Neugieriges Volk hat sich dort versammelt. wie schon einmal. Diesmal wird sie aufgebrochen werden, jede Wette, diesmal zwischen Kajetan und Käpernick. Kajetan beschreibt gennüsslich schmatzend und im voraus, wie gleich die Bajonette in die Ritzen fahren und die Tür herausspringen wird. Und Käpernick macht die Geräusche nach, die zu erwarten sind, sie reden sich in Hitze, sie lachen sich in Hitze und haben darüber das eigentliche Spektakel verpasst.
Denn am Ufer wird geschossen.
Diesmal nicht in die Luft. Querschläger prallen am Schotter ab. Die Schüsse gelten einem, der durchs seichte Wasser rennt. Sein Mantel verfängt sich im Gestrüpp der Uferweiden wie in einer Wildfalle. Der Flüchtende schält sich aus dem Mantel heraus, Schüsse pfeifen über ihn hinweg. Gebückt rennt er weiter die Uferböschung hinauf. Der Mantel, als wehklage er, dass sein Herrn ihn verlassen hat, spreizt sich mit pathetisch hochgereckten Ärmeln in den Ästen, nur der Pelzkragen hängt jämmerlich durch wie das Genick eines Gehenkten, den man vom Galgen geholt hat und schwankt im Wind.
Die Soldaten auf dem Floß lassen von der Suche ab. Sie galt allein dem, der dort auf der Höhe der Böschung verschwindet, die Soldaten setzen ihm nach, feuern dort oben auf ihn, wo die Floßfahrer nicht mehr hinsehen können. Schon wird wieder gewettet, nun sind auch die Flößer mit dabei : den hams nimmer derwischt ( Einsatz drei Kreuzer ) den hams troffen ( Einsatz ebenfalls drei Kreuzer ) den hams derschossen. Einsatz fünf Kreuzer.
Bei so viel Geld können weder Schuff noch Käpernick mithalten.
Kunterkasten klaubt den Mantel aus dem Weidengeäst, ohne sich ir-gendjemandes Widerspruch einzuhandeln, er redet sich ein, dass er ein Anrecht darauf hat. Hinter den Uferweiden wird noch immer geschossen.
„Hörts auf, hörts doch auf…“ fleht die Wallfahrerin.
Denn die Schüsse haben jemand in Todesangst versetzt, den man nicht sehen kann.
„Nimmer schiassn, um Christi willen nimma schiassn…“
Neben ihr schreit etwas, spitz und unerträglich, wie ein Tier das selber angeschossen ist. Sogar die Schüsse übertönt es noch, die sich immer mehr entfernen.
Auf dem Floß wird es still. Das Publikum, das eben noch gelüstig war auf das Aufbrechen der Hütte strömt nun dorthin, wo die Schreie her-kommen. Der mit Segeltuch umspannte Kasten der Wallfahrerin wälzt sich über die Baumstämme des Floßes.
Die Schüsse haben aufgehört, aber der Kasten schreit weiter.
Oben an der Uferkante lassen sich die Soldaten wieder blicken, als wollten sie denen auf dem Floß stolz ihre Jagdbeute vorführen. Sie haben Langebehn in die Mitte genommen, seine Hände liegen auf seinem Kopf. Ein paar Flößer erheben ein Geheul, nicht um ihn zu schmähen, sondern weil sie seinetwegen ihr Wettgeld verspielt haben. Die anderen, die ge-wonnen haben, grölen schon lauter und rufen ihm höhnische Dan-keschöns hinauf. Langebehn lässt sich nicht anmerken ob er das eine oder das andere verstanden hat. Plötzlich dreht er sich um, streckt die Zunge heraus und ruft etwas, das nicht nur untergeht weil die Soldaten ihn weiterstoßen.
Langebehn, weiß Schuff und sagt niemand woher, ist aus der Armee Napoleons desertiert. Falsch, mischt Käpernick sich ein, und auch seine Quelle bleibt im Dunklen, er ist schon vorher desertiert, aus der Revo-lutionsarmee.
Wieder werden Wetten abgeschlossen. Diesmal, nur unter den Schauspielern, um Hosenknöpfe, die als Gutscheine gehandelt werden für je einen Schoppen Wein, einlösbar an dem Tag da sie endlich Wien erreicht haben werden. Denkma, der hat sich freiwillig gemeldet, der Dussel, und denn türmt er. Selber Dussel, was soll er nich türmen, wenn er für die Jakobiner kämpfen will und dann is mit einemmal Napoleon vorn dran. Die Wette fällt damit in sich zusammen.
Die Hosenknöpfe werden ordentlich retourniert, bedeuten sie doch eigentlich, recht betrachtet, baren Wein. Und davon darf kein Tröpfchen verschüttet werden, auch nicht vorweg. Befindet vor allem Käpernick, mit begehrlichem Blick auf den französischen Grenadier, dem keine Aufregung hat zusetzen können, weil er unentwegt wachhabend bei sei-nen Fässern geblieben ist.
Die Wallfahrerin wollte anfangs die Leute verscheuchen, die ihren tanzenden Tuchkasten umstanden. Bis der in den Veitstanz verfiel, sich aufbäumte, bis von innen gegen die Verspannung getreten wurde und eine Naht zerriss. Dann noch eine, und dann kam ein rotes Brüllgesicht zum Vorschein.
Es ist gar nicht die Mutter, die ihn zuerst umfasst, der Junge fällt einer Schafhirtin vor die Füße, die nimmt ihn auf und schließt ihn in die Arme. Es ist ihr nicht anzusehen, ob sie ihn liebkosen will oder ersticken, denn zu beruhigen ist das Schreikind nicht. Erst als die Mutter ihm einen Strumpf über den Kopf stülpt, lässt der Furor nach, und das Geschrei geht über in Greinen und Rotzziehen. Die Schafsfrau zieht dem Jungen den Strumpf wieder halb vom Kinn hoch. Nun sehen alle, trotz Rotz und Tränen, dass er Mongolenaugen hat.
Als der Floßmeister wieder anfahren lässt, ist nicht einmal Gmein-wieser mehr nach Betenlassen zumut. Er weist die Schauspieler grob mit der Geißel in das Revier, das er ihnen hinterm Strick zugewiesen hat, aber auch Afra, der Wallfahrerin ist er nicht gewogen.
„Wenn de Missgeburt ein Kalb wär, tät mans nicht am Leben lassen.“
Und schon gar nicht mitfahren lassen auf einem Floß, unter so vielen Leuten und zwishen so viel Vieh. Weil das ein Unglück bringt. Zwei, drei, viele Unglücke. Und so betet er allein.
Paxvobiscum drauf, und Amen.
Propodonsky reißt Kunterkasten ohne ein Wort Langebehns Mantel von den Schultern. Kunterkasten müsste dem Prinzipal jetzt ins Gesicht schleudern Ha, Hasardeur ! Im Krönungsmantel eurer Eitelkeit ernied-rigt Ihr Euch selbst !
Aber da fällt ihm ein, dass das bei Schiller gar nicht vorkommt und wie die Stelle bei Shakespeare heißt, will ihm nicht einfallen. Dafür stellt er sich mannhaft, als hätte das Innenfutter des edlen Mantels seinen Mut aufgewärmt, vor den Prinzipal und versucht es mit eigenem Text.
„Den Mantel können Sie mir nehmen, aber von jetzt an nicht mehr mein Anrecht auf den Ersten Helden“.
Der Prinzipal richtet sich in Langebehns Mantel ein und erwidert nichts. Erst als sie einige Meilen zurückgelegt haben, knurrt Käpernick Kunterkasten zu : „Bau dich nicht so auf an der Rampe. Die sehen dich doch jetzt alle als Madam Langebehn an.“
„Du auch ?“
Nun erwidert auch Käpernick nichts. Nach wiederum einigen Meilen beginnt er mit Schuff zu erörtern, was Langebehn ihnen eigentlich zuletzt zugerufen hat. Dazu werden weder Hosenknöpfe gebraucht noch Wein. Eine Verwünschung Propodonskys war es allemal, kein Zweifel, wegen der vielen Oooos, die darin vorkamen.
„Da sieht man mal wieder, wie wenig weit dem seine Stimme trägt, fürs Freilichtheater wäre der nicht im entferntesten geeignet gewesen.“
Aber damit Langebehns Verfluchung zitierfähig werde, wüsste man gerne den genauen Wortlaut, denn eine Niedertracht gegen den Prinzipal hat jedes Ensemblemitglied gerne im Repertoire. In Kunterkasten ge-winnt der Pfarrerssohn, der ihm versichert, der Fluch habe allein ihm gegolten, Christian Asmus Fürchtegott Kummerkasten.
Gänzlich ohne einen Felix.
Das Floß überholt die Mönche die am Hochufer dahinziehen, nicht mehr in Kutten, aber immer noch erkennbar an ihren Tonsuren und an der Schafsdemut, mit der einer hinter dem anderen her tapert, mit gefalteten Händen, den Blick nach unten. Geschmeiß ist das, knurrt Gmeinwieser und unterbricht dazu kurz sein Gebet. Der Ausschuss Gottes, der sich vor der Arbeit drückt, und die Flößer schicken ihnen grelle Pfiffe hinauf.

Demoiselle Pfrenhuber

Die Demoiselle drückt ein metallenes Kreuzchen an sich, das einem der Mönche um den Hals gehangen hat. Das erinnert sie daran wie er ihr Gebetsangebote ins Ohr geraunt hat ein Ave Maria für drei Kreuzer als sie sich in der Herberge über ihn weghangelte. In der es so finster war, dass sie sein Gesicht nicht erkennen konnte. Und nun ist sie ist zu weit weg um zu sehen, welchem von den Mönchen da oben am Hochufer ein Umhängekreuz fehlt.
Sie wünscht sich, dass es nicht der Alte ist, der den Zug anführt. Auch nicht der bucklige vierte, um den ein geschenkter Jägerumhang schlottert. Sondern der gleich dahinter, der mit dem breiten Kutscherkreuz. Aber als der im Schnee stolpert und ohne jegliche Grandezza täppisch vornüber fällt, wünscht sich die Demoiselle, dass der leere Hals dem letzten in der Reihe gehören möge. Dieser letzte ist auch der Jüngste, also muss er ein Novize sein. Die Kniehosen, die man ihm geschenkt hat, spannen über seinen bäuerischen Waden.
Die Demoiselle weidet sich an seinem kraftvollen Ausschreiten, wie unklösterlich ! und der Novize, als spürte er ihren Blick auf seinen Gehwerkzeugen, schaut zu ihr herunter. Er will die Kutte über seine Beine ziehen, über seine unschickliche Blöße, aber seine Hände fassen ins Leere, denn da ist ja keine Kutte mehr, und die Demoiselle lacht laut gackernd.
Hat ers gehört, errötet er ?
Nun stolpert der Novize, weil er zur Demoiselle schaut und nicht auf den Weg. Aber was ist das für ein Stolpern ! Als ob ein junger Stier sich verstolpert, und die Demoiselle ist hingerissen, wie stierig er sich sogleich wieder abfängt und unverwandt zu ihr herunterschaut. Als hole er sich von ihr den Applaus ab, von dem er als Mönch nichts wissen darf.
Sie küsst das Kreuzchen inbrünstig und wirft den Kuss durch die Luft zu dem Novizen hinauf. Ihr Stiefvater ( sie hatte vergessen dass er neben ihr sitzt ) fragt knurrig was es da bittschön zu schmatzen gebe, entreißt ihr das Kreuzchen und wirft es ins Wasser.
Kein Aufbegehren, auch keine Verzweiflung bei der Demoiselle. Sie hat bereits Ersatz in der Hand. Ein Klappmesser aus dem Tornister des Capitain, und der Prinzipal begreift, dass dieses Messer ihr Grenz-pflock ist, mit dem sie ihr geheimes Reich absteckt. Das Messer, ebenfalls geküsst ( denn es hat einem anbetungswürdigen Mann ge-dient ), wird sorgfältig versorgt in ihrer Schatzkammer.
Einem Imperium ohne weitläufige Ländereien, ein Schattenreich in doppelten Böden, Kleidersäumen und Astlöchern. Für die Bauers-leute auf dem Floß, für alle Welt sieht es so aus, als wühle die Demoiselle gedankenverloren nach einem Schneuztüchlein, einer verirrten Haarnadel oder einem dreisten Floh. Sie aber ist herzinnig bei ihren Sächelchen, die sie wieder einmal erbeutet hat. Haar-bändern, Münzen mit abhanden gekommenem Kaufwert, halben Scheren, einer verdorrten Birne oder auch nur einem abgenagten Kernhaus, leeren Bonbonpapierchen oder Spielkarten.
Spielkarten ! Seit sie auf dem Floß ist hat sie eine bunte Sippe von Eicheln, Damen und Schellenobern eingeheimst, und kein Blatt passt zum andern.
Der neue Bewohner ihres Reiches wird jeweils befühlt ( befühlt vor allem ), sortiert ( achtlos ), beträumt ( gründlich ), es wird mit ihm gespielt mit der ganzen Ernsthaftigkeit, derer ein Kind fähig ist. Dann umwickelt und eingemummelt bis zur Unkenntlichkeit und schließlich zwischen den anderen, älteren Schätzen verstaut.
Seit sie denken kann hat sie des petits choses zu sich hereingeholt, Sächelchen ergrapscht, sie in ihren winzigen Fäustchen geborgen. Schon als Wiegenkind, das keine Wiege hatte, dafür einen Streifen ausgemusterter Leinwand, rückseitig bemalt mit einem Wol-ken-himmel aus einer längst abgesetzten Inszenierung.
An vier Stricken hing diese Leinwandwiege neben dem Frisier-spiegel ihrer Mutter. Die versetzte der Wiege einen Klaps, wenn sie ihr Ge-sicht bemalte und dabei ihre Rollen lernte, versetzte das Kind darin ins Schwingen, und an dem schaukelnden Kind vorbei schoben sich die Schauspieler zur Bühne.
Grausliche Fratzen beugten sich über die Kleine, mit wüsten Bär-ten, unter Blechhelmen mit wogendem Federschmuck, auch komi-sche, mit rotgefärbten Nasen und rotgefärbten Pausbacken und rotgefärbten Wuschelhaaren. Das Kind entsetzte sich und schrie, das Kind wurde zutraulich, wenn die Fürchterlichen ein OjOj quietschten oder ein Hiiiihii-idadadididu, es getraute sich ihnen in die Bärte zu fassen, in die angeklebten Nasenlöcher, in die Helmbüsche. Das Kind greinte, wenn sich Bärte, Wuschelhaare, Helmbüsche ihm ent-zogen und draußen auf der Bühne ein Humstertumster veranstaltet wurde, über das das Kind sich wiederum entsetzte.
Bis die, die da draußen gelärmt hatten sich wieder über die schwingende Leinwandwiege beugten, ihren Schweiß auf das Kind tropfen ließen, und sich mit einem Ojoj oder Hiiiihiii-dadadi-di-duuuuuuuu zurückmeldeten.
So verging die Demoiselle eine Wickelkindheit lang vor Ängsten. So zerfloss das Wickelkind eine Kindheit lang in Wonnen.
Und rächte sich an den Bärten, Nasenlöchern und Helmbüschen dafür, dass die nicht bei ihm blieben, indem es hier einen Knopf abdrehte, dort eine Feder aus dem Helmbusch zupfte, eine papierene Blume aus dem künstlichen Blumenbukett der Minna von Barnhelm bei sich behielt oder auch ein Briefchen aus der Tasche angelte, dessen Inhalt zu verlesen dem Treulosen mit der rotgefärbten Nase dann da draußen auf der Bühne nicht mehr möglich war. Sie behielt von jedem einen Pfand, den er auszulösen hatte, wenn er von der Bühne zurück kehrte. Aber wenn es soweit war, hatten beide das Geiselgeschäft vergessen, die Diebin wie der Bestohlene. So be-siedelte sie ihre Wiege aus Theaterleinen mit Tand, den sie früh schon über Bord zu werfen lernte wie die Kuckucksküken die fremden Eier, um Platz zu schaffen für neue Gelege.
Gesäugt wurde Isabelle Beatrice zwischen Schminkspiegel und Treppchen zum Bühnenpodest, zwischen zwei Auftritten der Mutter. Ratschratsch aufgerissen die Robe der Königin, das grünwurzelige Mieder der Waldfee, die Rüstung der Jungfrau von Orleans, und nuckelnuckelnuckenuckel, und was die Mutter ihm dabei zuwisperte, war nicht eigene Zuneigung, sondern geborgter Text, sondern die Anrede der Königin oder das Geschmeichel der Soubrette, die sie gleich draußen darzubieten hatte. Schon zum Bäuerchenmachen wur-de das Kleine irgendeinem Kollegen auf die Arme geladen Mein Stichwort ! Pass auf dass es bloß nicht plärrt. Und wenn es doch plärrte, in eine Szene hinein zwischen dem Sultan und dem Kreuz-ritter, Orlando und Karl dem Großen, Romeo und Julia, dann wars an einem beliebigen Darsteller, der grade weder als Julia noch als Kreuzritter noch als Romeo oder Karl der Große vor dem Publikum stand, hinter dem Bühnenprospekt die Verzweifelte zu trösten und in den Schlaf zu schunkeln.
Einmal hat Käpernick, mitten im Wickeln, um ein Haar auf sein Stichwort vergessen und auch auf den Säugling in seinem Arm. Rechts die frische Windel schwenkend, links das Kind, eilte er auf die Bühne und den Herzog Sigismund zu und beschwor ihn, noch diese Nacht die feindliche Stadt zu erstürmen. Und die Demoiselle in seinem Arm wurde zum ersten Mal eines Publikums ansichtig.
Seither müssen Käpernick und der Prinzipal an jedem neuen Gast-spielort allen, die es noch immer hören wollen, wieder und wieder den Gesichtsausdruck der Halbgewindelten schildern, und wie der vom vollgeheulten Grausen in höchste Beglückung mündete und endlich in ein Freudegicksen, welches nach und nach auf die Ge-sichter das Publikums drunten im Saal übersprang.
Als das Demoisellchen sich dann schon auf allen Vieren fort zu bewegen verstand wie eine Erdkröte, kroch es selbständig zurück an den Ort seiner Beglückung. Dorthin, wo das grässliche Gebrause ver-anstaltet wurde, das sie geängstigt hatte, wenn sie ihm, tatenlos und und hin und her schwingend, in ihrer Hängewiege zuhören musste.
Nun, da dieses Stück Tuch schon wieder weiterverarbeitet war zum Kittel eines Galeerensklaven im gleichnamigen Drama von Gottlieb Stephanie dem Jüngeren, rutschte das Theaterkleinchen unbemerkt über die Bühnenbretter zu den geräumigen Röcken der Mutter, unbe-merkt, und von da weiter unter den Krönungsmantel des Königs Claudius von Dänemark. Um endlich, immer noch unbemerkt, bis zur Bühnenkante zu robben und das Publikum anzuquäken. Ganz vorne, zwischen den Rampenkerzen, knapp am Abgrund zur ersten Reihe hin.
Nie hat die Demoiselle andere Kinder um sich gehabt, der Prin-zipal duldete kein weiteres Kleinzeug an seinem Hof, und nie hatte sie Puppen, Katzen, Brummkreisel. Dennoch widerfuhr ihr ausge-dehnteres Amüsement als irgendeinem Bürgerkind. Ihre Spielsachen miauten und grunzten, sangen und psalmodierten. Schuff, Strönebald und Käpernick hüpften brummkreiselnd ein in die Rollen der Pup-pen, Hampelmänner, Schaukelpferde und Sprungreifen, des Kroko-dils und des Nussknackers. Sagten ihr die großen Monologe der Bühnenliteratur auf, wenn es das Demoisellchen, auf ihnen reitend, verlangte, hottehottehotte ! röhrten wie Zettel der Handwerker, zum Esel verzaubert, und klöterten grausig aus dem Jenseits wie Hamlets Vater.
Halbgewindelt war ihr erster Auftritt gewesen, auf Käpernicks Ar-men, und einige Monate später, einige Gastspiele weiter, wurde sie schon mit angehefteten Engelsflügelchen hinausgetragen als Seele einer im ersten Akt verstorbenen Prinzessin. Noch bevor Isabelle Be-atrice leben lernte, lernte sie schon Gestorbensein, Hinsinken und Verröcheln.
Als fröhlicher Holzfällerzwerg stand sie dann bereits auf eigenen Wackelbeinchen, heulte Rotz und Wasser weil ihr Bart sie piekste, aber Käpernick fings auf, holte Applaus heraus für sie beide und so strahlte sie doch wieder, als sie in die Garderobe getragen wurde.
Wenn nun die Mutter auf der Bühne war, saß Demoisellchen vor dem Schminkspiegel, bemalte sich das Gesicht mit der Farbe aus all den kleinen Töpfen, die da herumstanden, erkannte sich selbst nicht wieder, fürchtete sich vor der fremden Fratze. Presste, damit die Angst vergehe, eins der vielen Amulette an sich, die die Mutter am Rahmen des Spiegels hängen hatte, einszweidreimachmichfrei, Kreuzchen, Porzellanscherben, wundertätige Schleifchen, Liebes-schwüre wildfremder Bürgerleins aus Gotha, Lüneburg oder Lauch-städt, einen fast leeren Topf mit vertrockneter Abschminke, in dem eine Haarnadel steckte, die vor Jahren eine Kartenschlägerin mit ihrer Spucke geweiht hatte. Ein Ausschnitt aus der Quedlinburgi-schen Zeitung für die gebildeten Stände mit einer durchgestrichenen Eloge auf eine Konkurrentin, die der Mutter die Rolle einer längst vergessenen Charlotte in einem längst vergessenen Stück wegge-spielt hatte. Ein zerknüllter Zauberspruch voller Ohrenschmalz, der nur wirkte, wenn man ihn sich vor dem Auftritt dreimal in den linken Gehörgang stopfte.
Und der hinterher verschwunden sein würde wie so vieles andere aus diesem Museum des Aberglaubens, und die Mutter stöhnte wo ist nur mein Amulett geblieben, ohne das hab ich doch auf Seite dreiundsechzig todsicher immer denselben Hänger. Eine Schach-figur, die Goethe darstellte, um seinen Hals einen wundertätigen Schnürsenkel gewickelt, ein Kupferstich der Iffland als Hamlet zeig-te und dem jemand, wer weiß warum, eine gelbe Ziegenmaske aufge-malt hatte.
Sie alle wurden Demoisellchens Spielsachen bis ihr die Milchzäh-ne ausfielen, und danach dann wurden sie die Beichtväter ihrer Ge-heimnisse, Tagträume und Verwundungen. Und, als ihr Schamhaare zu wachsen begannen, ihrer Sehnsüchte und Verwünschungen.
Nun, wenn die Mutter draußen ihren Part agierte, setzte Isabelle Beatrice sich vor Mutters Spiegel, bewegte die Arme zu Mutters Text, und wenn Propodonsky der Mutter draußen repilizierte, machte die Tochter dazu Propodonskys Gesten. Und Schuffs Gesten, und Langebehns Gesten, und Käpernicks Gesten. Fürchtete sich als Fünf-jährige, wenn ihr Stiefvater schwor, diesem und jenem sein Schwert in den Bauch zu rammen. Empörte sich als Siebenjährige, wenn Schuff der eben noch lieb zu ihr gewesen war, da draußen heiser näselnd Lügen unters Volk spie, verliebte sich in Langebehn als ihr die Zähne wieder wuchsen, beroch seine Kostüme und den unver-gleichlichen Duft, der daraus strömte. Hasste ihn zutiefst, als ihr Brüstchen wuchsen, weil er diese nicht wahrnahm und nicht ahnte dass sie zu seinen Deklamationen die ausgesuchtest edelsten Gesten vollführte die ihr einfallen wollten. Verliebte sich aufs Neue in ihn mit fünfzehn und blieb es. Kroch in seine Kostüme wenn er auf der Bühne war, masturbierte darin, erlebte ihren ersten großen Orgasmus in seinem Mantel mit dem Pelzkragen und riss dabei mit ihren Zähnen an dessen Haaren, als Langebehn draußen stand und den Monolog des Prinzen Eusthytes sprach. Ihre Finger wühlten in ihr im Gleichtakt mit seinen Vokalen.
Und als er zurück kam und sie in seinem Mantel erwischte, die Pelzhaare im Mund, ohrfeigte er sie, und sie hatte ihren zweiten Orgasmus.
Die Pfänder, die sie mauste, waren das einzig Beständige beim von-Ort-zu-Ort-Ziehen, darum bewahrte sie zärtlich in ihren ver-schwiegenen Hamsterhöhlen. In der Draußenwelt erfuhr sie nur die Herablassung der Bürgersleute, die wetterwendische Wertschätzung der Honoratioren, Apotheker, Gerichtschargen, das matte Bravo ! der Ratsherren, die von ihren Gattinnen bewacht wurden, wenn Demoi-selle Isabelle als kecke Zwölfjährige vor ihnen herumhopste. Das verdruckste Gestarre der Stadtschreiberjünglinge und Residenzstadt-Hähnchen. Die Verachtung für das Gewerbe der Verkleider und ambulanten Komödianten, wenn sie aus dem Bärenkäfig der Wander-bühne zu kurzen Erkundungsreisen aufbrach in die exotische Welt der Sittsamkeiten, Lateinschulen, Bibelstunden, Stickrahmen und Spülsteine.
Eine befremdliche Welt, in der die Frauen am Traualtar ihre Na-men wegwarfen wie die Schauspieler das Papier, mit dem sie sich den Abschminkglibber aus dem Gesicht wischten um dann ein Leben lang immerzu und immerfort ein und dieselbe Rolle zu spielen ohne Gage, Applaus und Aussicht auf ein anderes Stück.
Während die Demoiselle Isabelle Beatrice am Dienstag ein Wai-senmädchen sein durfte, das vom Herzog heimgeführt wurde, am Donnerstag eine Quellnymphe und am Samstag der Engel der Frei-heit im Egmont.
Ihr Leben war ein einziger Wandelprospekt, der im Hintergrund an ihr vorbeigekurbelt wurde. Wenn sie in einer fremden Stadt die Hand an die Häuserwände legte, erstaunte es sie, dass die aus Backsteinen errichtet waren und nicht mit Knochenleimfarbe auf Nesselstoff ge-malt. Und um sich das selbst zu beweisen, musste sie ein Teilchen davon als Beutestück mitgehen lassen, einen Fensterriegel, einen Backsteinsplitter, eine Glaskugel aus dem Rosengarten, und in ihre Schatzkammer einreihen.
Auch um ihr Erschrecken untenzuhalten vor der kruden Wirk-lichkeit leibhaftiger Rosengärten, Bäume, Häuser und der Menschen, die darin hausten. Und um daraus die Kraft zu gewinnen, diesen Ein-schüchterungen ihre eigene Wirklichkeit entgegen zu stemmen, in-dem sie diese andere auf dem Theater einfach nachmachte. Und da-mit in ihre Tasche steckte.
Propodonsky hatte sie, da war sie gerade vierzehn, sich hörig ge-macht als er in Strasbourg den Tod in einem Gruselstück spielte. Das Gruselige am Knochenmann war für die Halbwüchsige purer Mum-menschanz, der schreckte sie so wenig wie Propodonsky sie im Bä-renkostüm beeindruckt hatte oder als Richard III., wenn aber das Skelett sich das schwarze Trikot aufriss, und unter dem Schwarz die sommersprossige Brusthaut Propodonskys erschien, vom Tod zum Leben, rot behaart und schweißdampfend, dann zuckte es in ihrem Unterleib und sie wusste nicht einmal was da zuckte.
Er verlangte, dass sie ihre Finger durch sein Brusthaar zog, in seinem Schweiß tränkte, der Sterbeglitsche, der Schwitze des Sen-senmannes, des Sehnsuchtsbildes eines Mannskerls, der aus dem aufgerissenen Tod herausblitzte.
Und gar nicht mehr nach Verwesung roch sondern nach Geilheit. Fass tiefer befahl er mit seiner sonoren Stiefvaterstimme. Und tiefer fassen musste sie fortan immer öfter, und auch er fasste tiefer, warf sie auf einen Haufen Kostüme und warf sich selbst auf sie.
Wenn sie jetzt mit Propodonsky schläft, gibt sie sich nicht ihrem Stiefvater hin, sondern allen denen, die er auf der Bühne gewesen ist. König Ödipus hat ihre rechte Brust zwischen den Zähnen, Timon von Athen ihre linke. Fiesco zieht ihr die Schamlippen auseinander, Wal-lenstein dringt in sie ein, und König Claudius von Dänemark hält ihre Schenkel dicht unter den Hinterbacken fest umklammert in dem Schraubstock seiner Pranken.
Während sie sich als Wanda, König der Sarmaten von Zacharias Werner über den erbeuteten Fingerring freut, den sie mit ihrer weit aus dem Bett gestreckten Hand umschließt.
Keiner ihrer Liebhaber hat je dieses Zweitvergnügen am Rande des Beischlafs eingeklagt. Die Helden der Nacht zogen es vielmehr vor, anderntags höchst unheldisch stammelnd den Verlust des rech-ten Seidenstrumpfs zu rechtfertigen oder des Aufziehschlüssels aus-gerechnet jener Westentaschenuhr, die ihnen die Gattin jüngsthin zum Hochzeitstag regaliert hatte. Dafür, dass die klandestinen Bett-Gespielen sich ebenso klandestin wieder davonmachten wie seiner-zeit die Mimen von ihrem Kinderbett, hatten sie bei der Demoiselle unnachsichtig Leibzoll zu entrichten und mehr zurück zu lassen als ein paar Spritzerchen Sperma.
Lucille de Brée war ihr nie Mutter gewesen, und Propodonsky schon gar nicht Vater. Dafür hatte auch das Prinzipalspaar Tribut zu erstatten und wurde gerecht, sorgfältig und ausgewogen beklaut. Al-lein Strönebald erließ die Demoiselle jede Rachesteuer. Bei Ströne-bald gab es nichts zu rächen, dem Flüsterhelfer und Hauche-Engel, der nur für die anderen lebte, denen er ihre Text aus der Kulisse auf die Bühne zu schlenzte wie auf Zaunkönigsflügeln. Immer auf dem Quivive, immer im Dienst, ein freundlicher Schatten jedermanns.
Aber wenn niemand die beiden beobachtete, wurde er mit der Demoiselle vom Schatten wieder zum Körper, wurde wieder zehnjährig, ließ sich von ihr schminken, schminkte sie und kostü-mierte sich einträchtig zusammen mit seiner Spießgesellin.
Strönebald wurde damit ihr eigentlicher Unterweiser im Darstel-lungshandwerk und ihr Präzeptor in der Deklamationskunst. Die Demoiselle Isabelle Beatrice hat die Bühnensprache erlernt nach Strönebalds seltsam tirilierenden Singsang, in dem die Vokale die Alleinherrschaft ausübten, sie hat sich darin geübt, seinen ebenso seltsam hellen Obertönen hinterher zu schweben. Sie flüsterte mit ihm, las ihm die Worte von den weibischen Lippen, konnte bald sämtliche Sätze auswendig auswendig hersagen, die er den anderen zureichte und die den Kollegen aus dem Gedächtnis gerutscht waren.
Dabei hat sie nie eigentlich lesen gelernt.
Strönebald stand ihr als Wörterwart bei, wenn es um Gedrucktes ging, unsichtbar allgegenwärtig, flüsterte ihr die Worte nicht nur leise zu, sondern zwitscherte sie ihr Vokal um Vokal ins Ohr und als hätten sie gar nicht die Gräten der Konsonanten in sich, die sie so schwerfällig werden ließen.
Zum Lohne durfte sich Strönebald ( stillschweigend, stillschnat-ternd ) über ihre ganz besonderen Depots hermachen.
Aber sie hatte ihn stets im Auge, wenn er mauste was sie gemaust hatte, und er wusste es. Wie er auch wusste, dass sie sich daran ergötzte, ihn dabei zu beobachten. Sie weidete sich daran, wenn er in ihrem Plundergewimmel wühlte, sie stöhnte dabei, erlebte die Freuden des Beischlafdiebstahls noch einmal, wenn sie ihm am Rücken ansah, wie sehr er sich an ihrem Diebesgut delektierte.
Und ihre Finger in der Vagina arbeiteten so hitzig wie seinerzeit bei Langebehns Monolog des Prinzen Eusthytes.
Strönebald sinnierte bei jedem Beutestück dem abgefeimten His-törchen nach, das es wohl umgeben mochte. Machte sich seinen Reim darauf, wenn er auf ein Stück Borte von einem Kostüm Propo-donskys stieß, fünf seiner Knöpfe, seinen Kamm oder Seiten aus den Textbüchern des Prinzipals.
Und erst einem Büschel seiner roten Haare. Um diesen Trouvaillen sogleich gnädiges Versenktwerden angedeihen zu lassen im Nirgend-wo und Nimmerwiedersehen. Der Fluss war ihm dabei ein zuverläs-siger Komplize gewesen. Schwimm voraus, Socke, und meld uns an in Wien !
Am meisten aber hat es Strönebald immer erfreut, wenn die De-moiselle mit einem Uhrmacher oder Instrumentenbauer geschlafen hatte. Die danach anfallenden Trophäen sortierte er unter inneren Juchzern in sein eigenes Arsenal aus Schrott und Krimskrams ein und versprach ihm, es werde noch Großes aus ihm entstehen.
Denn Strönebald trug sich mit einem ganz besonderen projet secret, das er nicht einmal der Demoiselle Pfrenhuber verriet.

Der Prinzipal greift sich seine Stieftochter und verschleppt sie in den soeben errungenen Pelzkragenmantel. Zur Feier, dass der nun demjenigen gehörte, dem er immer schon zustand. Der neue Herr-scher zieht ein in den Palast des gestürzten Vorgängers, stülpt sich dessen Krone über, und als erste Herrschaftstat vollbringt er die Ver-gewaltigung der Küchenmägde.
Die Demoiselle hat es kommen sehen. Und es war ihr recht, sie hatte sogar ungestüm darauf gewartet, obwohl der rothaarige Geil-bock sie nur noch anwidert. Denn in dem Pelzkragenmantel hängt der Duft Langebehns, seine Leiblichkeit ist in ihm anwesend, die barbarische Kühle seiner Männlichkeit, nirgendwo ist der unerreich-bare Prinz Eusthytes ihr näher als in diesem seinen abgezogenen Fell. Nirgends ist Langebehn ihr ausgelieferter als hier, während der Klotz Propodonsky sie rammelt in dem Wahn, sie sei es, die ihm ausgeliefert ist.
Schon als Zwölfjährige war sie gierig darauf sich am Parfüm von Langebehns Schwitzflecken zu berauschen. Nun darf sie es endlich, schreiend, und der Klotz Propodonsky hält sich ihren Orgasmus sel-ber zugute, seine Brunst trägt ihn von einem Erguss zum nächsten. Als befeuerndes Aphrosidiakum streichelt ihm Langebehns seidenes Innenfutter Rücken, Hintern, Schenkel, Waden, das Beilager wird zur mehraktigen Aufführung unter der Begleitmusik kehligen Ge-brülls beiderseits, und füllt die Herbergsscheune bis unter den Dach-balken.
Als Propodonsky in ihr eingeschlafen ist ( beider frischer Schweiß vereinigt sich mit Langebehns eingetrocknetem Schweiß ) spitzt sie aus dem Mantel heraus und sieht den Novizen, den mit dem kreuzlosen Hals, so nah vor ihrem Gesicht, dass sie zurückzuckt und sich wieder in Langebehns Duft und Propodonskys Schnarchen ver-barrikadiert. Ihre Hände wandern, alter Gepflogenheit folgend, wie nach jedem Beischlaf über das Seidenfutter ihres Lustgehäuses. Das Futter wird ihr zur Seidenhaut des Prinzen Eusthytes, der Beischlaf zum Beischlaf mit Langebehn ihre zärtlichen Finger loben und danken ihm, indem sie seine Haut streicheln.
Und machen unter dem rechten Ärmelloch eine Entdeckung. Hinter einer doppelten Stoffschicht, spürt die Demoiselle etwas Eingenähtes. Zunächst leistet noch ein ausgefuchstes System von Verknöpfelungen Widerstand, dann fährt ( unter wildem Herz-klopfen ) ihre Hand in eine flauschige Kammer und holt ein Wachstuchheft hervor, in das ein Packen Papier eingeklemmt ist.
Als sie Propodonsky zurücklässt und mit dem Mantel zudeckt, gilt es nicht dem Stiefvater, sondern ihrem Prinzen. Ihr Prinz hat gute Arbeit in ihr verrichtet, sich verausgabt, nun soll er sich erholen. Mein Amadé traut sie sich sogar zu flüstern, was er früher mit Back-pfeifen geahndet hätte. In ihrer Hand sein hinterlassenes Besitztum, das Heft und die bedruckten Papierchen mit denen sie nichts anzufangen weiß. Allein Strönebald, den Welterfahrenen und Lese-kundigen hätte sie befragen können, was es mit diesem Fang auf sich hat. Sein Verschwinden hat eine Wunde bei ihr gerissen, die erst jetzt, da ihr sein Beistand fehlt zu schmerzen beginnt.
Neben ihr schnauft der Novize. Wenn er sich denn getraut hätte, wäre er davon gesprungen, als sie aus dem Mantel kroch. Jetzt ist es zu spät, und er kauert hilflos dicht bei ihr und umklammert seine Beine in den zu kurzen Kniehosen. Nichts in seinem hageren Gesicht lässt wiederscheinen, was er mit angehört hat. Wenn ers denn begriffen hat, was da zu hören war.
Da er nicht wagt, sie anzuschauen, starrt er auf ihre, Langebehns Kladde. Einen Moment lang will sie drauflos sprudeln gell, bei uns da ist es hoch hergegangen. Und sie sinniert laut tierische Laute waren das, gell, und betrachtet dabei seine starken Waden, die es ihr schon auf der Uferböschung angetan hatten, wirklich viehisch. Unzumutbar viehisch, gell. Sowas kommt aus der Tiefe der Gier und des Zwerchfells.
So ein Zwerchfell muss man sich erst einmal draufschaffen, dann kann man Säle füllen damit, bis hinauf zum letzten Rang. Sein Blick bleibt auf ihren Händen. Aber er sieht nicht die Hände, sondern das Papierbündel darin.
Es ist der wache Blick des Besitzlosen der erkennt, dass es Geldscheine sind, die sie aus der Kladde gerissen hat.
„Gell, Sie nehmen mir jetzt die Beichte ab ?“
Wo er doch so ein Klerikus ist. So einer, der fremde Sünden hinunterwürgt und verzeiht. Der Novize wird rot wie eine Kardinalsrobe und dreht sich weg.
Das war der falsche Satz, Isabellchen. Immerzu sagt die Demoiselle falsche Sätze, wenn ihr Strönebald nicht souffliert.
„Sehen Sie mir ins Gesicht, Hochwürden.“
Das war der richtige Satz. Der Novize tut es, wenn auch nicht willent-lich, sondern aus Verwirrung.
„Du hast ja graublaue Augen !“
Wie Langebehn. Der Entfernte, der ihr Weggerissene. Und schon rin-nen ihr beiderseits Tränen über die Backen, zuerst um ihre Schönheits-pflästerchen herum, dann über die Pflästerchen drüber und wässern deren Farbe aus. Violette Rinnsale laufen ihr die Backen hinunter und in den Hals hinein. Sie zerknüllt die fremden dummen Zettel nein zerknüllen reicht nicht, sie müssen für dich büßen, du musst büßen, der Prinzipal muss büßen, der Prinz muss büßen.
Sie reißt die Zettel in Fetzen, lauter lange Streifen.
„Nicht weinen, gnädiges Fräulein …nicht, ich…“
Einem solchen Schauspiel weiblicher Wehklage ist er nicht gewachsen, er schluckt an eigenen Tränen. Die Demoiselle wirft die Schnipsel in den Fluss.
Die stellen sich an wie Sperlinge, die noch rasch das Fliegen lernen möchten ehe sie ersaufen. Das bringt die Demoiselle zum Lachen.
„Das ist so unsagbar komisch, was ich da mache, entschuldigen Sie Eminenz, so unsagbar dämlich saukomisch saukomisch saukomisch….“
Ihr postkoitales Gelächter muss aus ihr heraus. Immer muss es heraus nach durchgestandenem Beischlaf. Die Demoiselle ist ein undichtes Ven-til ( aber das wäre schon wieder der falsche Satz ) und Propodonsky hat ihr heißen Wasserdampf in den Schoß gepumpt.
„Was bin ich doch -“ Lachkoller „ - doch für ein-“ Lachkoller „- kon-fuses Miststück -“
Lachkoller.
Plötzlich ist Lucille da und landet vier wohlgezielte Schläge auf den Backen ihrer Tochter, zwei links, zwei rechts. Ein letzter Katarakt von überkippender Lache, für eine Sekunde blitzt Rachelust bei der De-moiselle auf, dann ebenso unvermittelt Schweigen.
Das Mönchlein hält sich die Hände vors Gesicht, als sei er geprügelt worden.
Alles Routine, kleiner Novize, alles nur ein Gewitterchen zwischen zwei Auftritten in einer Charakterkomödie. Das Wohl des Ensembles hat das Primat, du wirst es nicht begreifen. Das Ensemble ist löchrig ge-worden, Personal ist abhanden gekommen. Das Ensemble ist Demoiselles Leben und Behausung, ihre von den Mutterhänden brennenden Backen zeigen jetzt eben jenes echauffierte Rot, das sie sich beim Capitain gewünscht hat und das nun den Novizen beeindruckt.
„Schau ihn dir bloß an, Mama. Er ist genau so keusch wie Lange-behn“.
Sie verhindert seine Flucht, indem sie ihn am Handgelenk festhält. Und dabei denkt ist der aber mager. Der Satz dagegen, den sie an die Mutter richtet lautet „Sowas von einem Naturtalent gehört ins Ensemble aufgenommen.“
Lucille mustert den Novizen, als wäre er eine Hammel-Lende auf dem Wochenmarkt.
Ihre Tochter die Hure, hat recht. Diese Jochbögen, diese Wangen ! Ein Pathos-Gesicht. Der Novize hat darstellerisches Reservoir, das umso eindrucksvoller ist als er nichts davon weiß.
„Sagen Sie doch mal pharnizische Höhenzüge ziehen die Züge der Kibitze an.“
„Pharnizische Höhenzüge ziehen die Züge der Kibitze an, Hochwürden.“
„Pharnizische Höhen…“
Der Novize ist so verschüchtert, dass ihm nicht einmal die ersten drei Wörter des Vaterunsers einfielen.
„Stehen Sie aufrecht, Hochwürden.“
„Und drücken Sie das Kreuz durch.“
Er begreift nichts. Aber er drückt das Kreuz durch.
„Sie sind in einem festem Engagement ?“
„Unser Kloster ist aufgehoben.“
Die Prinzipalin nimmt mit den Augen Maß. Ein Adamsapfel wie der von Langebehn. Eine Halsmuskulatur von vergleichbarer Quali-tät, nur gedrungener.
„Lassen wir ihn doch was vorlesen.“
Die feinen Damen, legt der Novize sich zurecht, wollen ein Gebet hören. Und dafür ein Scherflein springen lassen. Demoiselle legt ihm Langebehns Wachstuchheft in die Hand.
„Lesen Sie das.“
Die blättert eine beliebige Seite auf. Jetzt wird sie erfahren was Langebehn niedergeschrieben hat.
„Den neunzehnten Thermidor -“
Der Novize liest fast ohne Dialektfärbung.
„Wieder einmal, wie so oft schon beim Umkleiden, erkenne ich : ich bete sie an – „
Ein Gebet also ! Er fährt mit beiden Zeigefingern die Zeilen entlang. Ein ungewohntes Gebet, aber wenn ers zur Zufriedenheit hersagt, wird er fünfzehn Kreuzer dafür kriegen, mag sein zwanzig.
„ – ich bete sie an, diese meine alleine mir eigene –„
Die Damen machen Gesichter, aus denen er Zufriedenheit liest. Der Auftrag ist ihm gewiss. Am Ende springen sogar fünfund-zwanzig Kreuzer heraus.
„- mir eigene diese Relief-Zeichnung auf meinem Oberbauch, namentlich bei Schlagschatten von links. Niemand verfügt, wie ich mich tagtäglich in der Garderobe überzeuge über einen auch nur entfernt so durchgemeißelten Tho..Tho…– „
Der Novize scheitert an dem Wort das ihm noch nie begegnet ist.
„- einen auch nur entfernt durchgemeißelten Thorax“.
Lucille vollendet die letzte hinterlassene Botschaft des Ersten Hel-den. Seine Zettel schwimmen zu Recht im Fluss. Aber das spricht sie nicht aus, sondern -
„Die Schleiflaute lassen zu wünschen übrig bei ihm“.
Ihre Tochter wird nun auch Langebehns Aufzeichnungen mit Er-tränken bestrafen.
„Aber du musst zugeben, der hat eine Röhre wie sie noch nie einer gehabt hat bei uns.“
Dann nimmt Lucille nimmt Maß an dem Neuen. Dem Novizen passt jedes Kostüm das auch Langebehn getragen hat. Keinen Zoll wird sie anstückeln oder auftrennen müssen.

Um die Wallfahrerin ist ein Rudel von Betern versammelt, der sie und ihren Sohn nicht mehr verlässt. Auch offenes Feuer wird den Betern nicht mehr verweigert, die Rauchschwaden eines Holz-kohlenbeckens hüllen sie ein.
Beten hilft gegen die Kälte, trübe Frostgedanken stellen sich gar nicht erst ein wenn man betet. Sogar der Frost selber will einem nicht so recht mehr ans Gebein, solange man die Himmlischen anfleht. Die Gebetshoheit freilich ist Gmeinwieser entglitten, er hält sich bei seinen Rindern, für die er nun alle Decken braucht, denn der Schnee traktiert sie mit dicken Flocken. Wenn die Himmlischen schon nicht Gnade gewähren, so gewähren sie doch üppig Schnee.
Ein vorerst undeutbares, aber gewiss Verhängnis verheißendes Zeichen von dort oben, schwant Gmeinwieser. Hinter Plattling mündet die Isar bald in die Donau, ein schleichiges Gewässer. Bis Ulm bloß ein Ketzer-Bach, der sich zwischen lauter Protestanten daher schlängelt. Wenn er aber durch das katholische Grundstück muss, verstellt er sich und tut scheinheilig, besonders wenn er an einem Kloster vorbeikommt. Weil, er schwoabt, er schwemmt Juden mit daher.
„Juden ! hep hep hep !“
Die bis vor kurzem in den Reichsstädten eingemauert gewesen sind und daselbst streng bewacht. Zum Angelusläuten sind die Tore jeden Abend hinter ihnen verschlossen worden damit die Christenheit ruhig hat schlafen können.
Bis der Bonaparte die Mauern niedergerissen hat, die die Christen vor den Itzigs geschützt haben. Und jetzt schwärmen sie aus wie die Giftspinnen.
Wäre Gmeinwieser ein Schauspieler, dann würde man seine Finster-reden dem Lampenfieber zuschreiben. Denn beim nächsten Anlanden hat er seine Rinder bei den Franzosen an den Mann zu bringen. Eine Erstaufführung mit hohem Einsatz.
Paxvobiscum drauf, und Amen.
Die Einfahrt in die Donau bringt das Floß in reichliche schwimmende Gesellschaft. Auf der Isar war es allein, hier stößt es auf Geschäftigkeit am Ufer wie auf dem Wasser. Es gibt rechtschaffene Schiffe zu sehen, nicht bloß zusammengebundene Baumstämme, die sich dummschlau von der Strömung dahintreiben lassen. Schiffe mit kunstvoll gezimmerten Spanten und Kielen. Schiffe, bei denen schon die Fachausdrücke etwas hermachen, Namen wie Inngamsen, Stockpletten, Ulmer Schachteln. Schiffe mit schwarzweiß gestreiften Bordwänden und beliebig vielen Rudern zum beliebigen Stromaufwärtsschippern.
Ja wer sind wir denn, bricht es aus Schuff und Kunterkasten heraus, eine Personenschiffahrt mit allem Komfort spielt sich hier ab, und der Prinzipal lässt seine Schauspieler zwischen Bauholz erfrieren wie Vieh, zwischen erfrorenem Vieh.
„Sobald wir die erste Viermastbark sichten“ versucht Käpernick sie wieder aufzurichten “ lassen wir uns anheuern. Und dann wird auf und davon gesegelt nach Ostindien.“
Und schon ergeht er sich in Dönskes vom Klabautermann, warum soll der auch in der Donau sein Wesen treiben, und warum soll Käpernick nicht bei ihm anmustern als Schiffskoch.
„Wenn der meinen Wanst sieht, kriegt er gleich Appetit“, und schon malt er den Kollegen ein Menu aus mit Flußkrebsen, Miesmuscheln und Filets aus Gmeinwieserschen Ochsen in gedünsteten Algen.
Aber niemand hört ihm zu, die Umtriebigkeit der Lände springt auch aufs Floß und reißt die Passagiere auseinander. Wer Schutz vor dem Schneefall sucht und sich unterstellen will wird gescheucht, öha schleichts eich, denn was bisher Unterschlupf bot wird nun fortge-schleppt, und von den selben Schleppern wird mit dem selben Öha schleichts eich anderes herbeigetragen.
Wer untätig und ohne Regieanweisung herumsteht wird grob gestaucht, ob er denn nichts zu tun habe, dabei haben alle schon damit zu tun, ihre Waren aufzuwerten indem sie die anderen anherrschen und deren Waren niedermachen, die Holzhändler den Imkern, die Schafhirten den Ziegenhirten, die Maurer den Bauersleuten.
Und über alles legt sich gleichmacherisch Schnee ; Güter, Mensch, Tier, Holz sind ununterscheidbar geworden, weiße Massen, die sich hierhin und dorthin schieben. Nur der Flößer, dem seine Katze abhanden gekommen ist, wirft sich dem Geschiebe der Bienenkörbe, Schafe, Möbel, Kanthölzer und Gänseställe entgegen. Mit ausgebreiteten Armen versucht er zu verhindern, dass seine Freundin unbemerkt an Land verschleppt wird, gefangen in einem Schrank oder zwischen Geflügel in einer Hühnersteige.
Der Viehtransport aus dem Oberland ? Ist ja eine Gnade dass der über-haupt noch eintrifft, bekommt Gmeinwieser zu hören.
Der Uniformierte der ihn anherrscht ist kein Franzose, deshalb erspart er sich jede Höflichkeit.
„Der gnä Herr Ochsentreiber aus Landshut strawanzt gemächlich durch die Gegend, schaut sich vom Fluß aus geruhsam Land und Leut an, und was bitte stellt er sich vor, soll die Truppe fressen währenddem, hä ?“
Mit Verlaub ( die Geißel fährt in die Luft ) Gmeinwieser kommt nicht aus Landshut, er kommt aus München !
Auf beschwerlichster Reise. Der Uniformierte pariert mit einer Verwün-schung, in der er alles in die Hölle schickt was aus München kommt, ist aber dennoch auf seine Weise gnädig und wirft einen misslaunigen Blick auf seine Listen. Siebzehn Stück Fleckvieh hat er avisiert gekriegt, per Lieferung Johann Baptist Gmeinwieser, seines Zeichens marchand de bestiaux.
Korrekt ?
Aber Gmeinwieser kann keine siebzehn Rinder mehr bieten, eine tü-ckische Sandbank hat seinen Bestand dezimiert. Naturgewalten, Eis-gang. Diebstahl. Der Herr Fourier muss ein Einsehen haben. Und Fleck-vieh notabene war es schon vorher nicht, sondern Allgäuer gemischt mit Braunen.
Aber die Ohren des Uniformierten unter der Bärenfellmütze werden auch von anderen beansprucht, sechs Mastsauen san grad kemman aus Straubing wird hineingeschrien, de Sauerkrautfassln ! wohi damit, und wenn er nicht hört wird an dem Uniformierten gezerrt, seinen Ärmeln, seinen Epauletten, sogar an seinen Papieren.
„Des Dörrfleisch wird g‘liefert für die Brigade drei !“
Das Schneetreiben lässt die, die vorher schon keine Manieren hatten, noch grobianischer werden.
„Saxndi, wo solln ma jetz des Dörrfleisch hiladn ?!“
Und der Uniformierte wird Gmeinwieser einfach weggerissen.

Lucille de Brée hat lange in ihren Schriften geblättert, bis sie den rechten Text für den Novizen fand. Dem gar nicht schwant dass er, eben noch Gottesschüler, nun Schauspielschüler ist.
„Siehe mich, o Holde, wie ich dir zu Füßen …“
Ein Demutstext, so viel versteht er. Wenn die Dame bei ihm ihre son-derwünschlichen Gebete in Auftrag gibt, wird sie noch mehr springen lassen als fünfundzwanzig Kreuzer.
„Siehe mich o Holde, wie ich dir zu Füßen / erflehe was mein Innerstes begehrt -“
Melotus oder Der Tag der Vergebung, zweiter Akt, sechster Auftritt.
Langebehn pflegte die Stelle mit zurückgebeugtem Haupt dazubieten, und halb geschlossenen Augen. Aller Blicke lagen auf seinem Adams-apfel, und er wusste es.
„- deine Erhörung ! Deine schwesterlich und zugleich mütterliche Herzensgüte / sie fällt herab auf mich als einen, ach ! den das Leben aufs schnödeste bedrängt hat - “
Der Adamsapfel des Novizen ist nicht zu sehen, so tief zieht er den Kopf zwischen die Schultern. Die Arme sind angewinkelt, die Hände gefaltet. Er meint zu niemand anderem zu sprechen als zur Mutter Maria.
Noch nie hat er so hohe Wort an jemand anderen gerichtet als an die Mutter Maria. Nun schauen seine großen Augen die Prinzipalin an. Nun ist sie auf einmal die Mutter Maria, und der Novize weiß nicht wie ihm geschieht.
Lucille reicht ihm ein Schneuztüchlein, weil er flennt.

Gmeinwieser stößt seine Geißel in die Luft, als wollte er alle Hei-ligen im Himmel damit in den Bauch stechen. Neunhundertdreißig Pfund ist jeder von seinen Ochsen schwer. Keiner kann ihm was anderes erzählen und kein Unzen weniger. Neunhundertdreißig Pfund, bairisch taxiert, wo sich das Pfund auf sechzehn Unzen rechnet. Und das nach dem Metzgergewicht, wie es althergebracht Usus ist.
Paxvobiscum drauf, und Amen. Her mit den Gewichten, und her mit einem Fourier, der ihm recht gibt !
Aber kein Fourier stellt sich ein. Gmeinwiesers Geißel peitscht panisch die Schneeflocken, und ein Schwabe ( an seiner Geißel als Viehkundiger kenntlich auch er ) muss ihn aufklären, dass Gmeinwieser eine Waage mit Unzengewichten hier nicht findet wird. Denn hier ist ressort und Geschäftsbereich der französischen Armee, hier wird mit der zuverlässig-sten Maßeinheit gearbeitet die es gibt.
„Und des isch das Kilo.“
Kilo mit K. Schon wieder was mit K ! Exactément, genau wie die neumodischen Kilometer, weiß der Schwabe, dessen Ländle die Gunst der Geografie näher ans Kaiserreich Frankreich gerückt als das weiter hinten gelegene Baiern Gmeinwiesers.
„Exactément, des isch ebbe elles des neue mätrische Syschtem.“
Obs nun um Ländereien geht, um Wasser oder Tuch oder Fleisch oder Erbsen, alles Maß mündet säuberlich in der zehn, geschrieben wie ein großes X.
„Was mr au viel loichtr im Kopf behalte kaa, als wia des krumme Dutzend vo früra.“
„Metrisches System !“ brüllt Gmeinwieser, vor allem in Wut, weil der andere auch eine Geißel hat, beim Reden aber nicht damit fuchtelt. Weil er seinen eigenen Argumenten nicht traut.
Typische schwäbisch-protestantische Verdruckstheit.
„Des sogenannte metrische Scheißdrauf da is gegen de Schöpfung !“
Paxvobiscum drauf und Amen.
Denn die Woche hat noch immer sieben Tage, oder ? Gott der Herr hats persönlich so angeordnet, oder ? Und die vierzehn Nothelfer, was ist mit denen, hä ? Und die heilige Dreifaltigkeit ? Die sieben Todsünden ?
„Aber denket Sie amal an de zähn Gebote !“
„Von dene ma grad amal drei braucht. Oder siebne, höchstens ! Und des aa bloß, wann oaner a extrig Gottloser is.“
„Und dia zähn Finger ?“
Gmeinwiesers lässt seine Geißel über dem Kopf des anderen kreisen, der seine Geißel nicht einsetzt.
„Ihr Fall wird zurückgestellt“ brüllt eine Ordonnanz Gmeinwieser an.
Die Geißel sinkt herab, aber ehe Gmeinwieser sein warum ? zurückbrüllen kann, ist die Ordonnanz schon in einem Gewühl ver-schwunden, das sich um ein eben anlegendes Floß bildet. Die Rinder, die darauf stehen, murren unterm Schnee.

Der Novize findet in seinem Kopf kein Gebot das ihm sagt dass er nicht tun darf was die feinen Damen von ihm verlangen. Hoheitsvoll schreiten, bei ausgesteiftem Kreuz die Arme weit von sich strecken, psalmodieren, sogar singen.
Gregorianisch. Er kann nur gregorianisch.
Er wartet nicht mehr auf Gebete, die sie von ihm verlangen könnten. An den Sätzen die sie nun von ihm verlangen findet er weit mehr Gefallen. Und statt Kupfermünzen in die Hand legt ihm die Prinzipalin ein Gewand um die Schultern. Zupft es sorgsam zurecht, rüschelt den Stoff um seinen Hals. Lobt diesen Hals dabei und bindet den Rüschenkragen mit einem blauen Band zu. Der Stoff ist so ganz anders, schmeicheliger und weicher als seine Kutte.
Ein Damenkostüm. Ihn schauderts. Er entsetzt sich. Er schlottert. Nein, er traut sich nicht einmal mehr zu schlottern.
„So nah die Schlangenhaut der Eva“ fällt der Demoiselle ein, aus einem abgespielten Stück “und so fern die Tugend früh’rer Zeit.“
Aber für Widerstand ist es zu spät. Und er hat es endlich warm.

Das dritte Armeekorps, wird gemeldet, ist im Anmarsch, in vier Tagen wird es hier sein, aber ausreichend Rind und Schwein ist noch lang nicht aufmarschiert, um das dritte Ameekorps zu verpflegen Da erinnert sich Gmeinwiesers, jetzt hat es vitement vite zu gehen. Beiläufig streckt der Fourier in der Bärenfellmütze die Hand nach den Dokumenten mit den attestations aus.
Er wird, ist ihm anzusehen, nicht allzu genau drin lesen, und das mit dem fiäwre affftös versteht sich eh von selber, gell. Aber wie soll ein Gmeinwieser, die gute Hand, wissen was ein fiäwre affftös ist ?
„Fièvre aphteuse“ springt der Schwabe wohlgelaunt ein, er hat heute seine ganzen Bestände geräumt, “fièvre aphteuse isch de Maul- und Klauenseuche.“
Gefürchtet von der Armeeküche. Aber was denn warum denn gefürchtet, Gmeinwiesers Geißel tanzt frohgemut, ein jedes seiner Rind-viecher ist versorgt mit Kräutersegen, die im Stall über ihm gehangen haben. Jedem seiner Viecher hat er mit eigener Hand das altbewährte Ge-bräu infusiert aus einem Teil Enzianwurzel und je zwei Teilen Salpeter und Schwefel.
Und das alles wäre Larifari, wenn er nicht auch noch dazu gebetet hätte zum Heiligen Leonhard und zum Sankt Sylvester, welcher der Patron des Bauernstandes insgesamt ist und Mensch wie Vieh umgreift mit seiner guten Hand.
Paxvobiscum drauf und Amen.
Aber der Schwabe lässts nicht gelten, verweist auch noch auf den charbon, den Milzbrand, der ausgetilgt sein muss, was wiederum militärärztlich beglaubigt gehört. Viehkrankeiten sind heimtückisch wie Flankenangriffe der kaiserlich Österreichischen, bloß dass sie nicht über die französische Kavallerie herfallen, sondern über die französischen Mägen.
Aber kulant wie der Bonaparte ist, er vergilt Heimtücke nicht mit Heimtücke.
„Er kauft bloß koi Floisch net in dem Krankheite drinne nischte tuen.“
Er verlangt ein certificat über die allfälligen inoculations, und das meint Impfungen, verabreicht von den Doctores der Vetrinärmedizin.
„Vetrinärmedizin, was solln des scho wieda sei ?“
Das ist Tierheilkunde, die Franzosen haben sie soeben erfunden.
Gmeinwieser ist in Panik, Gmeinwieser ist die Apokalypse auf zwei Beinen. Verkannt, verleumdet, übers Ohr gehauen, und wer steht ihm grade für die Schäden, die er erlitten hat ?
Von seiten der Naturgewalten, von der Schauspielerbegasch, von einem Holzschädel von Floßmeister, der ihn noch und noch auf Sandbänke schiebt und schiffbrüchig werden lässt. Gmeinwieser mäht mit der Geißel durch die Luft, als stünden alle diese Feinde eng aufgereiht um ihn herum.
„Wer koane Papiere net hat wia’s sa si g’hört“ sagt der Floßmeister und schiebt sich frischen Tabak zwischen die Zähne, „dem g’hört auf der Stell Adieu g’sagt.“
Hat ihm der Fourier mit der Bärenfellmütze gesagt. Bei Zuwider-hand-lung Entzug des Floßmeisterpatent. Gmeinwiesers Vieh muss herunter vom Floß.
Noch mehr Schnee. Gmeinwieser rettet sich nicht einmal mehr ins Beten. Von allen Worten verlassen steht er, die Geißel hängt schlaff in seinem Arm. Der Floßmeister lutscht sein Fuder Tabak geschmeidig und lässt seine Knechte wissen dass er jetzt bis zwanzig zählt, ganz gmüatli. Und danach wüssten sie ja was zu tun sei. Die Ruderbalken aus dem Schnee holen und das Vieh ins Wasser prügeln
„Oans…zwoa…“
Aus der Hütte kringelt sich Rauch wie der Schriftzug unter einem unwiderrufbaren Kontrakt.
„Drei…viere…fimfe…“
Als der Floßmeister bei zwölfe…dreizehni angelangt ist, wird ihm etwas zugeflüstert. Als er siebzehni anlangt, hört er auf zu zählen, denn es ist ein Handel zustande gekommen.
Der Schwabe, hört man, wird Gmeinwiesers Vieh übernehmen. Er hat ohnehin noch zwei weitere Flöße aus dem Schwäbischen über die Donau her zu erwarten, zusätzlich zu demjenigen, mit dem er selber aus Freising gekommen ist und das ihm leergekauft wurde. Und was Schlachtung und Verwurstung angeht, seien Gmeinwiesers Tiere immer noch allererste dritte Wahl. Und nicht etwa Abdeckerware, auch ohne Zertifikate.
Denn Häute werden dringlichst gebraucht gerade jetzt in der Armee, als Sattelzeug und Riemen aller Art, ebenso Knochen für den Tischler-leim bei den Pionieren und Kuhhörner für die Knöpfe der Grenadiere und Talg für die Kerzen in den Mannschaftszelten.
Und somit geht jedem ein Licht auf.
Das Aufbegehren Gmeinwiesers, erzählt man sich, soll nur kurz gewesen sein, so in der Art : dafür hat er sein Vieh nicht geweiht ( hier wird wieder gelacht ) Aber do net wege doim Herrgöttle, soll der Schwabe gelacht haben, sondern weilscht a Gwinnle hesch mache wolle.
Und einen Gewinn hat der Schwabe ihn doch auch machen lassen. Über die Summe werden erneut Wetten abgeschlossen. Und die Ruder wieder weggeräumt, denn nun darf das Vieh auf dem Floß bleiben.
Schließlich hat der Schwabe den Gmeinwieser sogar an seinem Sinnie-ren teilhaben lassen, dass er, mit der Rendite von den Franzosen in der Portokasse, das Viehgeschäft gänzlich aufgibt. Nicht mehr jedermanns Gerherda sein will als Händler und Pfandleiher, wie seine Vorväter. Sich in anderen Gewerbszweige ausprobieren will, wie sie neuerdings überall erblühen, dem Code Napoleon sei‘s gedankt.
Schiffahrtsbeteiligungen, bloß amal so als Boischpiel, täten ihn reizen. Ulm-Linz etwa, am Ende gar Wien, dreimal im Monat, später vielleicht auch Pressburg. Und wenn sich das als einträglich erweist, sogar Buda-pest.
Ein Schiff ist immer auch eine Arche. Und eine Arche, siehe Noah, ist immer ein Anfang. Man muss trachten dass man beim Anfang mit dabei ist und nicht in der Sintflut ersäuft. Und ob der Gmeinwieser nicht auch mit dabei sein will, statt zu ersaufen in der Sintflut der napoleonischen Kriege.
Als dritter Noah, i moin als Compagnon im Güterverkehr, neben ihm, dem Schwaben, als zweitem Noah.
Gmeinwieser der ehedem hämisch das Schwäbische nachgemacht hat, unterlässt es nun standhaft. Denn siehe, Noah fand Gnade vor dem Herrn. Erstes Buch Mose. Nicht etwa weil Noah der sittsamste Tugendlöffel von ganz Mesopotamien gewesen wäre -
„Noi ! Weil des Bürschle untrnähmerisch der Woitblickendschte gwäse isch vo ganz Mesopotamie.“
So einen hat Gott lang gesucht. Mache dir einen Kasten von Tannenholz und verschmiere ihn mit Pech hat der Gott der Herr gesprochen zu seinem Sozius Noah. So ist das erste Schiff entstanden auf Erden, und dieses erste Schiff ist ein Schiff zum Viehtransport gewesen. Darum steht, wer sich auf dem Wasser umtut, in Jahwes guter Hand welcher gelobt sei ( der Schwabe macht kleine schnelle Verbeugungen dazu ) und welcher den Regenbogen gesetzt hat als Zeichen des Bundes zwischen ihm und der Sippe des Noah. Der Schwabe holt sein heiliges Büchlein hervor, um diese Stelle vorzulesen. Und Gmeinwieser soll ihm sagen, wo das steht in des Schwaben Büchlein.
Gmeinwieser sticht mit dem Fingernagel in die Seiten
„Akkrat doda“.
Getroffen ! Nathan Teitelboim Glickzelig, der Schwabe, freut sich. Ers-tes Buch Mose, neuntes Kapitel. Gedruckt in großen, fremdartig vier-kantigen Lettern.
„Und jetzet sent mr olle zwoi Sippe des Noah“ lacht der Schwabe.
„Und du bisch mei Bluetsbruder, Baptischtleben.“
Jetzt wo sie Blutsbrüder sind, kann Teitelboim Glickzelig ihn endlich fragen was Gmeinwieser ihm immer zugerufen hat, wenn ihre Flöße sich wieder einmal begegnet sind.
„Kenig von de ganowim“ hat Gmeinwieser gerufen.
„Bei uns in Sigmaringen schwätzet mir bloss schwäbisch. Was hoisstn des ?“
„Was Hundsg‘meines“.
Teitelboim Glickzelig freut sich diebisch. Und will mehr hören.
„As ale zjn soln dir arossfaln, nor ejn zon soll dir blajbn for zejn-wejtog.“
„Isch des au ebbes Hundsg‘meines ?“
Teitelboim ist glückselig.
„Du bringsch mir jiddisch boi, und ich bring dir moderns G’schäfts-wäse boi, gilt der Handel ?“
Gmeinwieser fängt an mit Mischpoche.
„Und was hoisst des ?“
Sippe. Geschlecht des Noah. Sie trinken drauf und auch auf Noah und auf ihre Pläne, und in denen die Franzosen die Arche sind. Die bringen nicht nur den Krieg ins Land, sondern allerhand was es zu verschiffen gilt. Wein, Parfüm, Bücher. Und Seidenstoffe, Galanteriewaren, Zucht-hengste.
„Und Manieren, Bapitischläwe, Manieren !
„Zum Manieren transportirn brauchtma koan Schiffsverkehr net.“
Aber Nathan Teitelboim Glickzelig besteht drauf, gerade für Manieren brauche man Transportmittel und Archen.
„Du kannsch au Gesittung draufschreibe. Rechtlichkeit. Egalité…“
Darauf muss wieder getrunken werden. Haberschlachter Trollinger aus Teitelboims Reserven, und als die nichts mehr hergeben, holt Gmein-wieser aus dem Schränkchen, in dem er seine speziellen Tränklein zur Gesundung von Tier und Mensch verwahrt, Hausgebrautes hervor.
Paxvobiscum drauf, und Amen.
„Her mitm nächschtn Wörtle auf jiddisch !“
„Gesrochnes.“
„Und was hoißt des jetz widder - ?“
Gmeinwieser grinst und entkorkt sein Fläschchen.

Der einsame Grenadier hat mit angesehen, wie Schafe und Ziegen das Floß verließen, wie Gmeinwiesers Rinder an Land getrieben wurden, wie Balken von fluchenden Trägern davon geschleppt und wie andere Balken von anderen Trägern, die genauso fluchten, neben ihm abgeladen wurden, wie es Propodonsky zur Poststation trieb und die Flößer ins Wirtshaus.
Nur für ihn und das Räuchlein aus der Hütte ist keine Ablösung gekommen. Bis, als er unterm Schnee kaum noch sichtbar war, ein grobianischer Caporal ( einer von den Kürassieren, den die Infanterie noch mehr anekelte als der Schnee, der den armen Grenadier bedeckte ) ihn, ohne sein Sprüchlein abzuwarten Melde gehorsamst fünf Fässer Rotwein vollzählig angetreten brüsk fragte, ob er Analphabet sei.
Wie alle von der Infantrie. Denn in dem Papier, das man ihm mitge-geben, sei VIN verzeichnet. Militäramtlich Aber was steht da auf den Fässern, militäramtlich ?
VINAIGRE.
Grußlos machte sich der Caporal wieder davon und der Grenadier bewachte nicht mehr eingeschneite Weinfässer, sondern eingeschneite Essigfässer. Bis zwei andere Militärische ihn davon erlösten, diesmal Gemeine und von der Infantrie wie er, und zur Bewährung an der Front anholten.
Die Fässer mussten sich nun selbst bewachen.

Notburga, die Wallfahrerin, hat ihren Sohn Blasius in seinen guten Anzug gezwängt, sein Sonntagsg’wand. Befreit aus seinem Segeltuch-kasten, herausgeputzt wie ein kleiner Hochzeiter, steht er wie zum Kirch-gang bereit.
Und es soll ja auch ein Kirchgang werden. In gelben Kniehosen, rotem Wams überm runden Bäuchlein, silberne Knöpfe an der Joppe. Man soll ihm ansehen, es ist kein minderer Bauernhof, aus dem er kommt und den der Blasius erben soll, nur eben ein Hof noch ohne Bauer.
Sogar die Schneefloken tun so als wollten sie an der Ausschmückung dieser stattlichen Erscheinung mitwirken und lassen sich als weißer Perlschmuck auf seinem Hut und seiner Joppe nieder.
Blasius schnappt nach ihnen und gluckst vor Freude.
„Wunderschön prächtige“ singt seine Mutter.
„Holde und mächtige
Himmlische Frau“
Aber so hingebungsvoll sie singt, oder grade darum, es klingt klageweiberisch krächzig. Als fräße der Schneefall ihren Gesang auf, kaum dass er aus ihrem Mund heraus ist. So wie ihr Sohn die Flocken auffrisst, noch bevor sie in seinen Mund gelangt sind, denn er fängt sie schon vorher mit der Zunge auf.
Schuff erbarmt sich, denn er hat selber eine krächzige Stimme. Er steht hinter der Bauersfrau in seiner ganzen Länge und schaut auf sie hinunter wie auf ein Betpult. Denn in der Hand hält sie das Gesangbuch, aus dem nun auch Schuff mitsingt :
„Gut Blut und Leben
Will ich dir geben…“
Schuff erbarmt nun wiederum Käpernick. Wie zwei heisere Krähen kommen ihm die beiden Singenden vor, die sich an einer Opera seria versuchen, und er greift sich das Gesangbuch und stimmt mit ein. Nun ist da nichts Klageweiberisches mehr, sondern ein cantus firmus, der über die Schneelandschaft hin schallt fast wie der Schlusschoral eines Oratoriums von Georg Friedrich Händel :
„Alles was immer
ich hab was ich bin
geb ich mit Freuden
Maria dir hin.“
Käpernick schraubt seine Stimme so weit auf als wollte er damit errei-chen dass der Schnee aufhört zu fallen. Wo Käpernick doch Einstand fei-ert in einem für ihn neuen Fach.
Dem des Pilgers.
Aber die Flocken bedecken nun erst recht Blasius, seine Mutter, Schuff und Käpernick mit üppigem Flaum, der Geräusche und Gesänge dämpft. Käpernick nimmts, sanguinisch aufgelegt wie stets, als Zuspruch und stummes Da capo-Rufen. Die Schneewolken verlangen mehr von ihm zu hören ! Und auch die Bauersfrau ist dankbar für die Sangeshilfe und bettelt, mit ihr und dem Blasius den Weg zu tun.
„Fein feierlich gesagt, Frau, aber wo solls denn hin gehen ?“
Zum Bittgang für den Buben. Das letzte Stück bis zur Wallfahrtskirche hinauf, auf dös drauf kommts o. Bis hierher hat sie, à conto gewisser-massen, immerzu vorausgebetet und vorausgefleht. Aber nun, auf dieser letzten Strecke an den steinernen Kreuzwegstationen vorbei, soll die al-lergnädigste Gottesmutter endgültig überzeugt werden von der Dring-lichkeit ihres Anliegens.
Könnt doch sein, nein gewisslich sogar hat die Gottesmutter so hohen Schnee aufgetürmt, damit die beiden Wallfahrer ihr Letztes geben. Die Gottesmutter will Buß-Eifer sehen. Ist doch der letzte Weg ihres eigenen Sohnes nach Golgatha hinauf einer gewesen, bei dem er sein Letztes hat geben müssen.
Wenn die Herren das Singen übernehmen täten gleich dem Joseph von Arimathia, der ein Wegstück lang das Kreuz übernommen hat, wie‘s in der Heiligen Schrift geschrieben steht, dann könnten sie und der Blasius sich umso beflissener dem Beten widmen. Und dem Niederwerfen, wie es sich für eine Bittprozession gehört. Wo das Gewerbe der Herren Schauspieler doch die Inbrunst ist, und wie man sie weithin sichtbar macht.
Blasius schnappt noch immer nach den Flocken, bis die Mutter es ihm verwehrt. Was soll sich sich denn die gnadenspendende Gottesmutter denken, wenn das Wallfahrtskind vor sich hin frisst, und die allerheiligste Jungfrau muss zuschauen. Blasius murrt, aber als die Mutter ihm eine gerahmte Holztafel um den Hals hängt ist er schon wieder umgestimmt ins Lustige und trommelt mit allen zehn Fingern drauf.
Zirngibl Blasius ward errettet ist da aufgemalt von der Maria von der Gnad von dem angeborenen Gebresten im Jänner anno domini 1806.
Blasius weiß, dass er auf der Tafel dargestellt ist.
„Da da Blasius !“ tippt er auf das Holz, auf seine rote Weste, in Ka-seinfarben abgemalt, und dann tippt er auf die andere rote Weste, die er auf dem Leib trägt.
„Schens Westerl, scheeeeeeeeeeeeeeeeeeeee !“
Ihm zu Häupten ist die Mutter Maria gemalt, wie sie auf bauschigen Wolken sitzt. Sie schaut rotbackig und gnädig herab auf den ebenso rot-backigen Blasius, der vor seinem Hof kniet, neben seiner Mutter und zwischen vier Kühen, fünf Schweinen, zwölf Gänsen, die allesamt him-melwärts blicken und fein aufgereiht stehen, weil sie wissen, dass sie von den Himmlischen genau durchgezählt werden, ehe man sich dort zu einem Wunder entschließt.
Käpernick gefällt die Erlösungsgewissheit der frommen Darstellung und lacht. Und weil er lacht, lacht auch Blasius, fühlt sich aufgefordert, vor Freude auf und nieder zu hüpfen und die Arme dabei in die Luft zu werfen. Und als Käpernick die Mutter umarmt ich bin mit von der Partie, gute Frau, trommelt Blasius auf die Holztafel vor seiner Brust und kräht vor Ausgelassenheit.
Die Bauersfrau entzündet eine Kerze und schiebt ihren Sohn auf den Weg.
Wunderschön prächtige/ Holde und mächtige / himmlische Frau. Blasius lallt den Gesang mit und verziert ihn mit tiefen schnorchelnden Tönen, als hätte er ein Bombardon in seinem Bauch und stapft den Gnadenweg aufwärts, die Beine links und rechts so glücklich wie weit hinaus schleudernd. Gut Blut und Leben will ich dir geben.
Und Käpernick lacht.
„Wie kannst du dich auf so einen frommen Zirkus einlassen“ träufelt Schuff leise Saures in die Ausgelassenheit „keiner von uns ist gläubig, und du schon gar nicht.“
Aber was denn, lacht Käpernick, und er hat Atem genug um zwischen dem Singen Schuff herauszugeben, warum nicht einspringen bei einer auswärtigen Inszenierung, wenn bei den andern die Besetzung nicht reicht, wir laufen uns doch warm dabei.
Ein Intrigant und ein Komiker auf Wallfahrt ! Wie neugierig die himmlischen Herrschaften da werden. Und die Schneewolken beiseite schieben von ihrer himmlischen Loge. Gar Bravo rufen wenn die zwei Gast-Chargen das Stamm-Ensemble überbieten. Spielastisch, verstehst du. Und er pustet Schuff ins Ohr :
„Dem Affen endlich mal wieder Zucker geben, Alter, sonst vergessen wir noch dass wir Komödianten sind.“
Aus dem Schnee ragen die grauen Kreuzwegstationen, ungnädige moosige Ungetüme inmitten von bettlakenbleichem Weiß. Vor der ersten kniet die Wallfahrerin nieder und betet. Auch Blasius muss knien. Er schleckt schon wieder Schnee. Sonnenumglänzete Sternenbekränzete. Damit er die Schneeschleckerei endlich lässt, bekommt auch Blasius eine Kerze angezündet. Die muss er nun hüten. Er tuts mit großen Staune-Augen. Leuchte und Trost auf der nächtlichen Fahrt.
Bis nur noch Käpernick singt. Schuff ist außer Atem und der Schnee wird immer tiefer. Jungfrauen hat Käpernick immer schon freudig ange-sungen, nun erst recht, wo er eine becircen soll damit sie einen Hoferben erlöse, auf den dreißig Tagwerk warten und sechs Stück Vieh, da wärs doch ein Jammer dass er im Mongolenmorbus dahingurckst, wo er im Stall und auf dem Viehmarkt seinen Mann stehen soll und wiederum einen Hoferben zeugen, hörst du da oben, heiligste Jungfrau auf deiner himmlischen Betbank ?
Forte also, vibrato du makellose himmlische Rose zumal bei der Bäuerin eine kräftige Bauernbrotzeit zu gewärtigen ist als Entgelt für Käpernicks Mitwirkung.
„Krone der Erde
der himmlischen Zier – „
Blasius lässt seinen Kopf schlenkern und summt dazu eine Melodie, die nur er allein hört, aber die Kerze gerät ihm nicht ins Schiefe dabei. Schlenkert er im Takt, weil er betet ? Und was er sabberig vor sich hin brummelt, meint ers als etwas das einer Bitte um Hilfe ähnlich sein mag ? Käpernick hat er herzhaft gebissen, Käpernick erinnert sich daran mit rauer Zärtlichkeit. Wie für einen beißfreudigen Welpen, der dann zu einem stattlichen Vorstehhund heranwächst ist, und dieser Biss lässt ihn um so zärtlicher singen.
„ - Himmel und Erde
sie huldigen dir.“
Aber Schuff advokatet ( wozu auch ist er Intrigant ) Mongolismus sei von Geburt an einem Menschen mitgegeben und weder weg zu beten noch weg zu mirakeln. Als es vom Throne / der ewigen Macht / Gnade und Rettung / den Menschen gebracht. In Frankreich tun sie solche neuerdings in eigene Pflegehäuser, und da bringt man ihnen wenigstens ein Handwerk bei und nicht bloß dieses meilenlange Litaneiengebrabbel.
Und schon bleibt Schuff, beim Ausschreiten durch den Schnee, wieder die Puste weg.
Käpernick dagegen kostet es aus, wie sich sein alter Adam behauptet gegen Kälte und winterliches Ungemach, stimmlich wie körperlich. Wie die Flocken respektvoll in seinem warmen Singe-Atem schmelzen, wie der Schnee unter ihm quietscht, wie Blasius der Beißer immer wieder die Kerze hochstößt auf geht’s wir machen einen Ausflug !
Während seine Mutter vor der nächsten Station niederkniet.
Käpernick spürt dankbar, wie die kalte Luft in seinen Lungen heiß wird und ihm den Brustkorb aufheizt. Schuffs Lungen, im Theaterbrodem nur zu bescheidener Größe erstarkt, schmerzen von der Eisluft.
„Halleluja rufen halleluja halleluja, lautet die Regieanweisung, alter Graubalg !“
Der Graubalg Schuff wird von Käpernick durchgeklopft, er reißt ihm die Arme hoch auf-nieder-auf-nieder-auf ! und wird wieder durchgeklopft, bis er japst.
„Wir wollen mit voller Kraft zupacken bei der Wundermacherei, Schuff. Wir sind doch selber Wundertäter bei uns auf der Bühne !“
Jetzt ist ihre Bühne der zugeschneite Wallfahrtsweg.
„Zwdrrrrrssssssvieh gangen Fuhs !“ schreit Blasius.
Schuff und Käpernick verstehen. Blasius freut sich dass er so weit zu Fuß gegangen ist, einen so weiten Weg auf seinen Füßen zurückgelegt hat, befreit aus dem Leinwandkasten.
Aber Blasius klopft ihnen mit seinen dicken Fäustlingen wütig vor die Brust, dass er eben das nicht meint.
„Zwdrrrrrssssssviiiieh gangen Fuhs !“
Ist doch leicht zu verstehen, ihr Deppen.
„Zwdrrrrrssss…“ wiederholt Schuff, aber kann sich keinen Reim darauf machen. Bis Blasius zwei Finger hebt. Zwei, ihr Deppen !
„Zwei -“ übersetzt Käpernick.
„Drrrrrssssss…“
„Dreißig - ?“ rät nun auch Schuff.
Blasius frohlockt.
„Und viiiiieh !“
„ Meint er vielleicht vier ?“
Blasius gluckert vor Behagen, aber die Kerze hält er still.
„Zwdrrrrrssssssviiiieh Fuhs…“
Zweihundertvierunddreißig Fuß, ihr Deppen. Zweihundertdreiundvier-zig Fuß sind sie bis jetzt gewallfahrtet. Blasius hats mitgezählt. Blasius zählt immerzu alles mit, ohne dass die anderen es merken, bewahrt es in seinem Kopf auf und multipliziert es mit anderem, das er dort bereits kreuz und quer gestapelt hat. Um damit wieder neue Rechnungen anzu-stellen. Solche : vier Wallfahrer sind sie, an siebenundachtzig Bäumen sind sie schon vorbei gekommen, das macht 348mal 234 Fuß, das sind schon -
„Achhunnnnnnnvizzzzdrrrrzwei !“
81432 Fuß sind das. Er freut sich so über das Ergebnis, dass er die Zahl aus sich heraus prustet, aus sich heraus spuckt bis ihm Schaumblasen vor dem Mund tanzen.
„Er ist ein Meister im Rechnen“.
Die Wallfahrerin gibt sich so mürrisch, als wäre das begnadete Rech-nenkönnen nur ein weiteres Siechtum, das es weg zu beten gilt.
81432 geteilt durch drei, denn es sind drei Finger, die aus dem Loch in seinem Fäustling schauen. Das ergibt 2714. Und jetzt die Wurzel daraus gezogen, das macht 285. Blasius teilts wieder freudeschäumend mit, aber wieder versteht nie-mand, was ihm da aus dem Mund gischtet.
Lauter Deppen. Dafür kriegen sie Schneebälle vor die Bäuche.
Als Käpernick sich revanchiert und seinerseits Schneebälle knetet, flüchtet Blasius. Glucksend pflügt er sich durch den Schnee. Die Kerze geht ihm dabei nicht aus, er hütet die Flamme mit der flachen Hand. Auch wenn der Fäustling dabei ankokelt. Das Gekokel gefällt Blasius so sehr, dass er mitten im Tiefschnee stehen bleibt. Er muss die rauchende Wolle an seiner Hand bestaunen und vergisst Flucht, Schneeballerei und Wallfahrt.
„Du Haderlump ! Hab ich dich erwischt !“
Käpernick packt ihn von hinten und kitzelt ihn. Blasius qäkt, seine Bei-ne strampeln in der Luft, der Schnee stiebt, aber die Kerze bleibt hoch-gereckt. Auch als sie beide ausrutschen und den Abhang hinunter sausen. Dabei entdeckt Blasius, wie wonniglich so ein Schneegerutsche ist, und wenn er sich das Holzbild von seinem Hals unter den Hintern schiebt, werden die Wonnen noch größer und beschreienswerter und er kann seinem bösen bösen bösen Verfolger entrinnen.
Käpernick. Denn der will ihn fressen, er röhrt schon wie ein hungriger Bär und stößt die Arme in die Luft. Aber Blasius will sich nicht fressen lassen und seine Kerze schon gar nicht. Also Reißaus nehmen, die Kerze retten, einen noch steileren Hang hinunter. Und noch einen.
Und noch einen.
Die Mutter kniet derweil vor der vierzehnten Kreuzwegstation. Der letzten. Der vierzehnte Kniefall, das vierzehnte Vaterunser. Und danach O du einst selbst so tief erniedrigter und jetzt erhöhter Jesus !
Auch zum vierzehnten Mal Auf dich will ich hinsehen im Leben Leiden und Sterben…
Oben auf der Höhe die Wallfahrtskirche. Unsere Liebe Frau zur Gnad. Wie eine weiße Heilige, die ihren Mantel auftut, steht sie da. Der Mantel ist der Schneefall, der nun eben aufhört, als wollten die Himmlischen auf sich hinweisen : wir stehen bereit. Fällts dir schwer nach Gottes Willen / Deine Pflichten zu erfüllen/ Denke : Jesus saget dir/ Nimm dein Kreuz und folge mir. Händchenfaltende Versenkung jetzt, Hingabe ans Gött-liche verdammtnochamal, und Schluss mit der Schneebalgerei !
Blasius wird von seiner Mutter eingefangen, der Schnee von ihm abgeklopft. Und Käpernick mit Nichtachtung gestraft.
Aber wo ist das Votivbild, das seine Heilung vorweg darstellt, das als Instrument der Mirakelvollziehung mit eingeplant war ? Als Hilfsschlit-ten missbraucht, ist es im Schnee versunken. Wie sollen die Himmlischen da noch Lust zu einem Gnaden- und Wunderakt verspüren wenn sie im vorhinein schon sehen dass für sie nicht einmal ein Fleißbilett dabei herausschaut ?
Zuzüglich zur Nichtachtung versetzt die Wallfahrerin Käpernick auch noch einen Fußtritt.
Auf Schuff aber ist Verlass. Noch immer sind er und Käpernick ein Ensemble, der Torso eines Ensembles zumindest, in dem einer dem an-deren aus der Bredouille hilft.
„Die Kerze, Frau !“ ruft er, um ihren Zorn zu dämpfen. „Schaut die Kerze !“
Sie reckt sich immer noch in des Blasius Hand, den man selber kaum erkennen kann unter den Placken von angefrorenem Schnee die er sich bei der Schlittenpartie erworben hat.
Aber die Kerze brennt.
Ein hoffnungsreiches Omen sei das, redet Schuff auf Notburga ein. Schuff, der vorhin noch die Wallfahrt einen frommer Zirkus genannt hat. Ein Fingerzeig des Überirdischen sei das mit der Kerze, um nicht zu sagen ein Mirakel, wie es sonst nur in einem Rührstück von Ernst Raupach vorkommt. Der Kaiser, der in einem solchen Stück gewisslich auch vorkäme, würde angesichts der brennenden Kerze die kaiserlichen Fanfaren blasen lassen und auch die Kirchenglocken wären im Einsatz, von Strönebald auf der Harfe zum Läuten gebracht.
Notburga, rotgesichtig und großäugig, betrachtet die Flamme und hat schon ein Gebet auf den Lippen, in dem sie Abbitte für ihren Jähzorn leistet. Schuff winkt hinter ihrem Rücken Käpernick, er solle zur Buße das verlorene Votivbild suchen gehen.
Nun pufft die Pilgermutter einen kleinen Pilgerzug zurecht. Blasius in der Mitte, dahinter Schuff Fällts dir schwer nach Gottes Willen / Deine Pflichten zu erfüllen, denke : Jesus saget dir / Nimm dein Kreuz und folge mir. Einer muss hinter dem anderen gehen, den Blick demütig nach unten. Vor ihnen lässt sich Notburga, den Rosenkranz eng um die Hände gewickelt, auf die Knie nieder wie vor den Kreuzwegstationen, nur dass sie jetzt auf den Knien bleibt und sich so voran schiebt, wobei sie steile Schneebuckel aufwirft. Der du für uns Blut geschwitzt hast. Noch einmal alles Erbarmungswürdige bündeln, der für uns ist gegeißelt worden, damit die Muttergottes den Blick nicht mehr losreißen kann von so viel Elend, der für uns mit Dornen ist gekrönt worden, bis sie den Anblick der durch den Schnee Krauchenden nicht mehr erträgt und abwinkt : ich helf dir ja, aber hab Mitleid mit deinen Knien.
Der für uns das Kreuz getragen hat
Aus den Fenstern des Klosterbaus wird heruntergeschaut. Wir haben Publikum, bemerkt Schuff. Ich der Graue, habe Publikum ! Und Käper-nick ist nicht mit auf der Bühne.
Der für uns ist gekreuziget worden
Käpernick hat sich fahrlässig um diesen Schluss-Auftritt gebracht.
Der für uns von den Toten auferstanden ist
Seit eh und je hat der dünne Schuff hinter dem fülligen Käpernick zurückstehen müssen, die Rampensau hat ihm noch immer die aasigsten Trümpfe vor der Nase weggespielt. Aber jetzt -
Der in den Himmel aufgefahren ist
- erteilt der Graue sich selbst die Regie-Anweisung : auf die Knie, Schuff !. Auch vor seinen Oberschenkeln wachsen nun zwei Schneeberge hoch, die immer höher werden und die ihn fast nicht mehr vorankommen lassen. Es ist mühselig, es ist beschwerlich, es tut weh.
Aber es zieht immer Publikum an.
Der dich o Jungfrau ! in den Himmel aufgenommen hat
Die da oben in den Fenstern tippen mit den Fingern an ihre kahlge-schorenen Köpfe. Dafür wirft ihnen Blasius Schneebälle ins Gesicht und Bejubelt quiekend, wie genau er die trifft. Verzweifelt aber im nächsten Augenblick daran, dass seine Geschosse knapp vor diesen Gesichtern vom Fensterglas abgefangen werden und zerplatzt an den Scheiben he-runterrutschen.
Die hinter den Scheiben lachen, spotten, schneiden Grimassen.
Der dich o Jungfrau ! in den Himmel aufgenommen hat
Die Schneeberge, die Blasius beim Rutschen vor sich herschiebt, haben alle seine Kräfte aufgezehrt. Er fällt vornüber in sie hinein und bleibt liegen. Als Notburga es bemerkt, hat Schuff ihn sich schon auf die Schul-tern gesetzt und rutscht knielings weiter, Blasius im Huckepack. Für den sich wieder einmal flott Verzweiflung in Glück verwandelt.
„Kuh reitn !“
Denn nun ist Schuff seine Kuh, wie er sie zu Hause zum Draufsteigen hat. Und Blasius ist zum Riesen geworden mit Schuff als Beinen, hopp hopp ! Blasius darf der Großkotz sein, der denen hinter den Fenstern seine Zunge zum Gruß entbietet und ihnen nun seinerseits Grimassen schneidet. Und er kann weißgott grauslichere, schaut her ! Wenn das Lachen sie ihm nicht aus dem Gesicht wischt. Und sogleich ist er wieder der blubbernde Rechenmeister.
„Achtttthunnnnnnzwwwwwwww….“
8219 Fuß ! 82318 Fuß ! 8217 Fuß ! 8218 Fuß von der Floßlände bis hierher herauf, hoch drei, und dann die Wurzel draus…
Bei einem Wall aus Schnee, vom Dach heruntergerutscht und wie eine Schanze vor der Toreinfahrt aufgetürmt, sackt Schuff seiner ganzen Länge nach in den Schneehaufen. Dem Jungen bleibt das Einsinken erspart, er reitet ja auf Schuffs Nacken und feiert seine Landung mit Gegluckse und hochgestemmter Kerze. Der Wunder-stängel brennt noch immer.
Blasius hat sie mit der anderen Hand gegen die bösen Blasewinde verteidigt, nun streckt er sie vor sich her wie eine Laterne und späht durch den dunklen Torbogen in den Vorhof der Kirche. Ehe Schuff sich aus dem Schnee hochgerappelt hat, ist Blasius hineingestürmt. Reißt Tür nach Tür auf, findet hinter allen nur Leere, haut sie wieder zu, bis er in einer Stube mit einem warmen Ofen auf zwei Männer trifft, die an einem Tisch sitzen.
Er legt psssssst ! den Finger auf den Mund.
„Blasius Wallfffffahhh……“
Er ist auf Wallfahrt, hat er gelernt. Darum kniet er vor den beiden Un-bekannten nieder, es könnten ja Heilige sein oder andere himmlische Herrschaften, und legt die brennende Kerze neben sich. Wenn es Heilige sind, gehört es sich dass er die Hände faltet. Er blinzelt gutwetterma-cherisch zu den beiden hinauf und murmelt, wie er seine Mutter hat mur-meln hören -
„Dehinhimmmmmmauffffffahhhhis…..“
Der in den Himmel aufgefahren ist.
„DehhhdihhhoooooJummmmpfrrrrrr…“
Der dich o Jungfrau ! in den Himmel aufgenommen hat.
Und wartet darauf, dass die beiden Heiligen als Gegengabe nun ein Wunder spendieren. Aber die sind in Eigenes vertieft. Der eine diktiert, der andere schreibt.
„Da die Klosterumfangsmauern weder gleich dick noch gleich gut, so könnte der Klafter… haben Sie’s ?„
Die Kielfeder ratscht übers Papier und hinterläßt zackige Männlein, die sich gegenseitig die Hände geben und so gemeinsam auf dem Wei-ßen hin wandern, zu fünft, zu siebent, zu zehnt. Fünf mal sieben mal zehn, rechnet Blasius, und das in elf Reihen, das macht –
„Dreeeeiiiachtfumzzzzzi.“
Andere Männlein aber sind nicht behände gewesen mit dem Hände-geben und müssen bescheiden zu zweit hinterher zuckeln. Und hier und da steht sogar einer ganz allein. Und tut Blasius leid.
„- so könnte der Klafter in der Länge nach Höhe als auf einen Gulden dreißig angenommen werden -“
Blasius zieht einen Fäustling aus, damit er mit seinen Fingerchen die schwarzen Linien entlang fahren kann und die trösten, die alleine geblie-ben sind. Die beiden am Tisch lächeln und machen weiter.
„ - angenommen werden weil beym Abbrechen Arbeit und viele Steine zu Verlust gehen würden - “
Blasius möchte den einsamen Männlein Brüderchen beigeben, damit sie nicht so allein auf dem großen Weiß herumstehen müssen. Dazu braucht er dieses schwarze Wasser, das die kracksige Gänsefeder auf das Weiß schmiert. Das Schwarze ist in einem gläsernen Topf gefangen. Blasius steckt einen Zeigefinger hinein, bis die Verengung des Fla-schenhalses sein Vordringen aufhält.
„- zu Verlust gehen würden. Nach 533 Klaftern wäre also der Wert 799 Gulden 30 Kreuzer.“
Blasius drückt mit aller Kraft seinen Finger in die Öffnung, hält das Tintenfass mit der anderen Hand fest dabei und erreicht die Tinte mit der Fingerkuppe. Stolz zieht er den schwarzen Finger hervor und verkündet :
„Fümmmfffhunnertdreiissigdrei Klafter mal ssssiebenhunnnnneun-zigneun is viiersigtausendundzweitausendzweihunnert– „
425867. Ein Wunder ist geschehen. Nicht das Wunder seiner Gene-sung, aber ein Zungenwunder. Er kann auf einmal Zahlen so ausspre-chen, dass man sie versteht.
„ - geteilt durch dreissig Kreuzer ist 14195 ! Ava Maria und Amen-amenamen !“
Der eine Beamte hört auf zu schreiben, der andere vergisst zu diktie-ren. Blasius sonnt sich in beider Aufmerksamkeit und gickst, als würde er von beiden gleichzeitig gekitzelt.
„Mal dreiundreißich Amen is ….“
Nicht dass er die nächste Zahl nicht schon in seinem Kopf bereit hätte, er hat auch bereits die Wurzel aus ihr gezogen, aber noch mehr in An-spruch nimmt ihn jetzt das schwarze Häubchen Tinte auf seinem Finger und wie es an seiner Haut herunterläuft. Er lässt es auf seiner Finger-kup-pe reiten es, ohne das kleinste Tröpfchen davon zu verschütten, und über-führt es an das Ende der Zeile, die der Protokollbeamte zuletzt geschrie-ben hat. Unter tiefen Schnauferern überdenkt Blasius, mit welchem Krakel er die unvollständige Reihe angemessen fortsetzen soll. Aber die flache Hand des Protokollanten fängt seinen Tintenfinger ab. Freilich kann der nicht verhindern, dass aus des Blasius Nase ein dicker Strahl Rotz niedertropft auf die säuberlich kalligrafierte Kalkulation.
Draußen wird gesungen.
„Schuldlos Geborene
einzig Erkorene
du Gottes Tochter und Mutter und Braut – „
Der Beamte reißt die Tür auf.Über die Fliesen her rutscht knielings die Bäuerin, hinter ihr Schuff.
„ - die aus der Reinen Schar
Reinste wie keine war
die selbst der Herr sich zum Tempel gebaut.“
Sie ziehen zwei Bahnen aus schmutzigem Schneewasser hinter sich her.
„Was nehmt ihr Bettelvolk euch heraus ! Ich lasse euch in Gewahrsam nehmen !“
Die beiden wissen nicht, wie kurz der Weg ins Gefängnis ist, nur eine halbe Stiege höher, denn das Kloster ist zum Kerker umgewidmet wor-den.
Blasius hat seine Kerze aus der Amtsstube geholt, die er dort verba-selt hatte. Nun ist sie doch erloschen. Die Trauer darüber ist groß, aber ehe ihn das dazu passende Greinen schon wieder überkommt, fährt sein schwarzer Zeigefinger auf den Beamten zu und er stippst ihm die Kerze unters Kinn.
„Feeeeeuu machn !“
Und deutet mit dem schwarzen Finger auf den Docht, wo er das Feuer hin haben will. Blasius hat den Beamten mit so vielem nutzbringenden Zahlenwerk versorgt, der muss dafür seine Gegenleistung erbringen und ein Flämmchen springen lassen, gilt er ihm doch nun schon als Kumpan und Spielgefährte. Und als der Beamte seine Schwefelhölzer hervorgeholt hat, findet auch ein blauer Vogel den Mut, aus Schuffs nassem Pelerinen-mantel hervorzuflattern, schlägt aufmunternd mit den Flügeln, dreht eine Runde über dem Scheitel des Blasius und piepst eine kleine Melodie.
Der Beamte dreht sich um, damit man sein Lachen nicht sieht und kehrt zu seinen Amtspflichten zurück. Blasius stampft mit den Füßen auf und ist beleidigt. Ist aber sogleich umgestimmt, als er vertraute Geräu-sche aus der Kirche vernimmt, das Schnauben und Heumampfen von Kühen wie daheim auf dem Hof. Und er quiekt begeistert, als er auf dem Marmorboden des Gotteshauses warme Kuhfladen entdeckt. Sie schme-cken ihm vorzüglich und tun seinen Magen wohl nach all der Kälte und es schmeichelt ihm, dass die Kühe ihre Köpfe nach ihm drehen, so ver-traut als wäre Blasius ihr Kalb.
Weil sie an den Beichtstühlen vertäut sind, erreichen sie ihn nicht mit ihren Zungen, um ihn gehörig abzuwaschen. Wie ers von daheim ge-wohnt ist. Er hält ihnen seine Kerze hin zum Willkomm, und der ersten Kuh, die höflich daran schnuppert, malt er mit seinem tintenschwarzen Finger jene Zeichen und geheimen Mitteilungen auf die Nüstern, die er eigentlich in das Protokoll hatte malen wollen.
Die Kerze hat er kippsicher in einem Kuhfladen versorgt, inmitten der Streu, die den Kirchenboden bedeckt. Ihre Flamme, nun nicht mehr be-helligt von den Winden draußen und der schnaubenden Neugier der Kühe hier drinnen deutet erwartungsvoll steil hinauf ins Kirchenschiff : das für ihn bestimmte Wunder hat noch immer Gelegenheit nun endlich zu geschehen.
Von der Kanzel hängt nur noch der Rumpf als vergoldeter Bottich an der Wand. Rostige Eisenträger ragen aus den rohen Backsteinen, wo der Schalldeckel gewesen ist. Von den Altären sind nur noch die Mensen geblieben. Sie nehmen sich wie Kommoden aus, die man bei einem Umzug vergessen hat. Das rohe Backsteinwerk darüber deutet an, wie weit ausgreifend die Aufbauten der verschwundenen Altäre einmal gewesen sind.
Was die Kirche anbetrifft, so ist diese ganz gut und dauer¬haft bestellt, mit doppeltem Plattendach versehen, auch die Kirchenthüren ganz von Sandquaderstein, und obwohl dieses Gebäude, wie es gegenwärtig steht, unter 70 bis 80 000 Gulden nicht aufzuführen wäre, so kann man doch den gegenwärtigen Werth nicht höher be¬stimmen als etwa auf 15 000 fl.
Weil Schuff zum ersten Mal in einer katholischen Kirche steht, weiß er nicht, dass der Beichtstuhl, aus dem die Kühe ihr Heu rupfen, vordem ganz anderen Zwecken gedient hat. Wie auch die Weihwasserbecken, als Muscheln in roten Marmor gehauen, nicht von jeher Viehtränken waren. Er hält sich an einem fest, denn ihm schwindelt beim Hinaufschauen.
Über ihm spannt sich nicht der offene Himmel, wie es ihm beim ersten flüchtigen Blick erschienen wr, sondern ein Himmel aus Farben. Was für eine verschwenderische Ausleuchtung. Kein Theater, in dem Schuff aufgetreten ist und bei denen im Halbdunkel funzlig Talglichter blakten, hätte da mithalten können, auch nicht alle zusammengenommen.
Durch weite Fenster stürzt das Tageslicht in den Raum, aber der nimmt sich schon wieder fast dämmrig aus gegen die Helligkeit, die aus dem Deckenfresko strahlt. Hoch oben in der Kuppel, behauptet des Malers Pinsel, platzt vor lauter Überschwang sogar der Zenit entzwei und erbricht Gold.
Von goldenen Strahlen übergossen, sitzen, nein : thronen dort die allerheiligsten der heiligen Hauptdarsteller der himmlischen Haupt- und Staatsaktion und halten, mit kapriziösen Gesten wie Schuff sie bisher nur bei den Schönen vom Ballett gesehen hat, teure Requisiten in das allge-meine Gestrahle.
So üppig viele Rollen, Roben, Dekors. Keine von Schuffs Schmieren-klitschen konnte sich solch einen Auftrieb an Figuranten leisten, an Dro-medaren und Baldachinen und Pferden und Rauchpfannen. Solche Maschinerien, die, mit Wolken verkleidet, das wimmelnde Völkchen der Solisten und Kleindarsteller höher und immer noch höher in den Plafond des mittelmeerisch azuren freskierten Himmels hieven. Schuff achtets nicht, dass die Kühe an ihm lecken, er legt den Kopf weit ins Genick und setzt für sich zusammen, was da oben wohl aufgeführt wird. Die Sze-nerie, entziffert er, muss dem öffentlichen Tod eines Märtyrers gelten.
Blutzeuge des Glaubens, was für eine Prachtrolle ! Wer bei diesem Hinmetzeln dabei war, wird noch seinen Enkeln und Urenkeln davon erzählen. Sogar die Sperlinge tun kund, wie aufgewühlt sie sind indem sie sich stumm kreischend durch den azurnen Fresko-Himmel fast bis auf den Kirchenboden herab stürzen.
Gli spettacoli divini sind abgesetzt für immer, Grauer, so wie auch deine Zeit vorbei ist ohne dass du je eine hattest. Nie hast du in solchem Licht gestanden, nie auf den Fürstenbühnen, dem Göttertheater, zwischen Wolken und Wolkenmaschinen und Flügelwesen, Lanzenträgern, Rauch-beckenschwingern, Dromedaren, aufgeschlitzten Märtyrern. Und nie vor mehr als zweihundert Zuschauern. Du warst immer nur am unteren Rand Schuff, und bei Propodonsky, alter Freund, da war nicht einmal mehr ein Rand.
Schuffs Genick tut weh vom Hinaufschauen, aber davon nicht allein. Grauer Neid reitet ihn, wo vorhin Blasius geritten ist.
„Aaaaaaaaaaah ! Was für eine Akustik !“
Käpernick ist eingetreten, das wiedergefundene Votivbild in der Hand. Käpernick muss sich nicht erst zurechtfinden. Käpernick fühlt sich wie der Dotter im Eiweiß. Die Kirche vervielfacht sogar sein Schnaufen. Zur Belohnung für den einen so willigen Resonanzboden lässt Käpernick seine Stimme im tiefen Register gurgeln.
Dann rollen, rrrrrrrrrrrroooooollllllllleeeen ! Und siehe da, und höre da : das Kirchenschiff zollt Käpernicks die Achtung, wie sie ihm vorher noch nie zuteil geworden ist unter den viel zu niedrigen, viel zu stickigen Holzdecken kleinstädtischer Komödienhäuser.
„Tonne Nonne Sonne so ne Woooooooooooooooonnnnnneeeeee !“
Käpernicks Stimme erobert sich das Gewölbe, verzweigt sich in die Kapellen und Seitenschiffe. Sogar die ferne Sakristei gibt ihm Antwort. Sein Organ spielt mit dem Raum wie die Bälge und Windladen mit den Orgelpfeifen, schlürft seine eigenen Echos wie die Antworten einer jubelnden Zuschauerschar.
„Hör dir das an, Schuff ! Sei doch auch mal Klöppel in dieser Glocke ! Trau dich !“
Und schubst Schuff. Und Schuff traut sich :
„Laaaaaaaaaang lauscht Lilliiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii….“
Sogar Schuffs Stimmchen wird hier mit einem Echo beschenkt, um-kleidet von einem Passepartout von Klängen und Nachklängen. Was er ins Gewölbe hinaufwirft, wird, wie von einem schäkrigen Hündchen aufgesammelt und ihm wieder vor die Füße gelegt. Wirf nochmal !
Und Schuff wirft.
„Lirizi larizi Zissifuuuuuuuuuuuuuuuhhh…“
Die Reibelaute bleiben irgendwo in den Bögen hängen, aber die Iiiiiis kriegen dort oben Junge und flattern munter umher wie die Sperlinge auf dem Deckenfresko.
„Lurizi liiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii…“
Nun ist Käpernick wieder dabei mit seinen Oooooohs, die Gewölbe gebens ihm zurück, die Kühe haben schon lang mit eingestimmt, Schuff steuert seine Iiiiiiis bei und es versteht sich, dass sie dabei beide nicht stille stehen können. Sie tanzen umeinander ein maliziöses Menuett. Käpernick röhrend, Schuff fiepsend und schrippschrappschrillend.
Schuffs lange Spindelbeine säbeln durch die Luft und Käpernick schlägt quer über sie Purzelbäume. Käpernicks Purzelbäume haben im-mer großes Hallo ausgelöst, meistens hat Propodonsky sie eben darum gestreng unterbunden. Die Grazie seiner Purzelbäume besteht darin, dass beim Springen Käpernicks Masse unheilvoll durch die Luft saust, seine Patschhände ihn aber kurz vor dem Aufprall abfangen und sein Körpersack flaumweich auf dem Boden landet.
Mit so weit gegrätschten Beinen wie keiner sie ihm zugetraut hätte. Am wenigsten, so scheint es, er sich selber, der mit nun komischem Ent-setzen um seine Zehen barmt, die sich so unfasslich weit von ihm entfernt haben und ihm frech herüberwinken.
Er winkt ihnen befehlshaberisch zurück : her mit euch, werdet ihr gefälligst zu Herrchen 0kommen ! Aber sie wackeln frech mit den Ohren. Ja, Käpernicks Zehen haben auf einmal Ohren, sie sind bockige Maul-tiere, und wollen nicht in den Stall.
Schuff liegt auf den Marmorfliesen, hämmert mit den Fäusten und kringelt sich vor Lachen.
„Ssschttt doch, Pietät bitt ich mir aus. Wir sind doch auf Wallfahrt.“ zischt Käpernick „ Madame Henriette da hinten kuckt schon gestreng und nimmt Anstoß.“
Mit Henriette meint Käpernick ist ein Skelett, das in einem Glaskasten liegt, auf einem leer geräumten Altar. Der Glaskasten strotzt von reichem Schnitzwerk, aber seine Scheiben sind herausgebrochen. Und wenn Henriette mit einer reich bestickten Robe angetan gewesen sein sollte, so ist sie jetzt so entblößt wie ein Gerippe nur entblößt sein kann.
“Oh, man hat mich beraubt !“ Schuff spricht Henriettes Text. Gerippe, das fällt just in sein Fach. “Ausgeraubt bis auf die Knochen !“
Schuff ergreift eine Knochenhand und führt sie vor Henriettes leere Augenhöhlen. Das Gerippe schämt sich, aber in tiefem Groll.
„Und ich hab nicht mal schreien können, als sie mich gefleddert haben. Schamlos haben es die Barbaren, dass ich schon seit zweitausend Jahren keine Zunge mehr habe.“
Schuff läßt den Schädel verhärmt das Kinn senken. Das Unterkiefer ist mit einem Draht festgezurrt und gibt ein betrübtes Knirren von sich.
„Sie hätten mich sehen sollen, junger Mann damals, in meinen großen Zeiten ! Smaragde und Rubine und Korallen und Türkise und Perlen rundum. Ich war der attraktivste Kadaver von ganz Alexandria.
„Ich habe sogar mit diesem Jesus eine Poussage gehabt, denken Sie nur. Als anerkannt gottselige Jungfrau. Als Kaiser Nero davon erfuhr hat er mich selbstverständlich auf der Stelle rädern lassen. Und dann zweimal enthaupten, des großen Zuspruchs wegen. Mit Ballett und Orchester !“
Käpernick nimmt die Knochenfinger zwischen seine Pranken und küsst sie.
„Nicht zu reden von meiner heißen Liaison mit diesem hysterischen Apostel, wie hat er gleich noch geheißen…ach ja Paulus. Er hat immer ein Stück für mich schreiben wollen. Es käme en masse was mit Sodomie drin vor, hat er mir versprochen, und mit Göttererscheinungen,. Aber dann hat er’s liegen lassen und sich verzettelt mit Prosa. Evangelien hat er’s genannt. Postum erst veröffentlicht, in hohen Auflagen, aber da war er längst tot und ich warte immer noch auf nein Stück.“
Sie haben nie dalbern dürfen bei Propodonsky, auf Extempores stand Arrest bei Wasser und Brot. Die höchste Instanz auf den Brettern ist gedruckte Wort des Dichters ! schrie Propodonsky wie Jahwe vom Sinai herab. Dabei wusste jeder, noch viel höhere Instanz hatte ihn beim Wickel. Die Zensurbeamten von Erfurt, Dessau, Leiningen, von Wo-auch-immer-man-hinkam, schnüffelten die Stücke des Repertoires Zeile für Zeile durch. Gleichviel, ob Goethe auf dem Deckblatt stand, Lessing, Shakespeare oder Kotzebue. Jeder nicht gedruckte Satz, jedes frei hinge-worfene Apercu bedeutete Bepissung der Obrigkeit und wurde geahndet mit strackser Verweisung aus der Stadt..
Jetzt wo Schuff und Käpernick nur noch Kühe als Publikum haben, halten sie sich dafür schadlos.
„Ich schleudere Ihnen jetzt eine nackte Wahrheit ins ebenso be-schaffene Gesicht, Sie heiliges Huschi.“
„Schonen Sie mich nicht. Gott wird es Ihnen lohnen am jüngsten Tag“
„Die Perlen die man Ihnen weggeräubert hat, die waren alle aus Glas .“
„Man hat mich betrogen ?“ wackelt der Schädel.
„Nach Strich und Faden“.
„Das trifft sich vortrefflich. Ich habe mein frommes Publikum ja auch betrogen ! Denn wahrlich, ich bin weder Märtyrerin noch Jungfrau noch ägyptisch. Ich bin ein Bauernbursche aus dem Münsterländischen.“
Eine Knochenhand patscht spitzbübisch aufs Knochenknie. Es klirrt bis hoch ins Gewölbe.
„Meinem Vetter Jockel hat mich erwischt, wie ich gerade auf seiner Liese lag. Zusätzlich, dass er mich erschlagen hat, hat er mich als Reliquie verramscht und den Erlös versoffen im Dorfkrug.“
Jetzt hat Schuff es heraus, die Kinnlade spitzbübisch lachen zu lassen. In der Mundhöhle sitzt der blaue Vogel und lacht mit.
„Seither ist mein Künstlername Sankta Hirundomirifica.“
“Hi…rund…Wenn Sie das buchstabieren könnten, bitte.“
„Du bist gemein“.
Schuff fällt aus der Rolle.
„Du nützt es aus dass Strönebald nicht da ist zum Soufflieren.“
Nun lachen sie zu dritt, Schuff, Käpernick und der Totenschädel.
Und noch ein vierter lacht mit, der schon eine Weile zwischen den Kühen gestanden hat als ihr Publikum. Der Beamte, der nun seine Virginia zwischen die Lippen klemmt, damit er die Hände frei hat, spendet Applaus.
Es hallt nach bis unter die Kuppel und in die Sakristei.
„Herzerfrischend, dass die Immobilie hier zum Abschluss nochmal prallvoll mit Leben gefüllt wird.“
Die Pfeifen der Orgel sind bereits umgegossen zu neuen Läufen für die frisch mobilisierte Armee. Die Immobilie wird gleichfalls mobilisiert werden, gewissermaßen. Abgetragen, in ihre Bestandteile zerlegt, seinen Berechnungen nach für 15.000 Gulden. Die Kühe, item mobil, werden mithin dieses Quartier zum Frühjahr verlassen. Der Beamte fühlt sich ihnen warm verbunden, avec des sentiments délicats.
Wie auch den Schauspielern.
“Umweglose Kreaturen beides, wenn Sie mir die Einschätzung gestat-ten. Kreatürliche Kreaturen !“
Er bietet Schuff wie Käpernick eine Virginia an. Nur Käpernick greift zu, mit schleckrigem Grinsen.
„Lob dem Leben und Wirken hier auf dem Lande !“ lacht der Beamte, während er Käpernick die Virginia ansteckt. Wie er den Sauerstoff ge-nießt hier draußen in freier Wildbahn, die Dramatik im Wechsel der Jah-reszeiten.
„Und das Ungeschlachte bei Nutzvieh und Mundart !“
Öd und aktenfahl ist seine Existenz gewesen bislang, aber jetzt erlaubt es sein Amt, dem Fortschritt noch und noch Bahn zu schaffen. In diesem Abbbruchobjekt hier par exemple wird er eine Meierei etablieren. Einen Milchbetrieb, in dem modernste chemotechnische Methoden zur An-wendung gebracht werden. Und bläst den Rauch seiner Virginia hoch ins Gewölbe als fröhlichen Furz der Zukunftshoffnung.
„Zwischenzeitlich sei Ihnen diese gipserne Kulissenwelt zur Nutzung überlassen, messieurs artistes!“
Mit der Virginia deutet er auf die Säulenstaffelungen und Kapitelle, den Stuck, das Deckengemälde.
„Machen Sie Erquickendes daraus. Ich habe ein Herz für die Dar-stellenden Künste.“
Wenn sein Papa selig ihn nicht in die Beamtenkarriere beordert hätte – Tradition, Familientradition ! – hätte er gleichfalls den Schauspielerberuf gewagt und würde die selbe Unbeschwertheit an den Tag legen wie die messieurs artistes.
„Dieses freie, dieses so viel freiere Leben in der Kunst ! Nichts für un-gut, aber ich neid‘s den Herren“.
Und ob Käpernick noch einmal sein Organ rollen lassen könnte wie vorhin ? Das mit den vielen Rs und Os ?
Und ob Käpernick kann.
„Tonne Nonne Sonne so ne Woooooooooooooooonnnnnneeeeee !“
Käpernick erobert sich das Gewölbe, die Kapellen und Seitenschiffe. „Wenn das Gewölbe einen Respekt hat vor Ihrem Können stürzt es jetzt ein und erspart dem Fiskus 15.000 Gulden.“
Aber es stürzt nicht. Es liefert nur Käpernicks Echos ab, vom Gewölbe bis in die Sakristei.
„Und jetzt Sie, Kunstfreund“ lacht Käpernick. “Lassen Sie hören, ob Sie das Zeug zum Othello gehabt hätten.“
Der Beamte räuspert sich die Stimme frei, verscheucht den Rauch sei-ner Virginia und setzt an :
„Tonne Nonne Sonne so ne Wo -“
Aber nichts kommt zurück aus Gewölbe und Kapellen, schon gar nicht aus der Sakristei. Die Kühe wackeln geringschätzig mit den Ohren.
„Da hören Sie, warum ich mich gar nicht erst bemüht habe Privatstunden bei Ihrem Gott Iffland zu nehmen. Adieu.“
Als er, mit schier betreten höflich gezogenem Hut hinaus ist, sieht Schuff auf den Fliesen zwischen Kuhfladen und Streu das hölzerne Votivbild der Wallfahrerin liegen. Zirngibl Blasius ward errettet von der Maria von der Gnad von dem angeborenen Gebresten im Jänner anno domini 1806.
Als das Bild Schlitten unter dem Hintern des Blasius war, wurde es arg mitgenommen. Jetzt ist es nur noch ein zerkratztes Stück Holz. Den gemalten Bauernhof der Notburga kerben tiefe Rillen. Wo die allerheilig-ste Jungfrau gesessen hat, ragt ein Splitter heraus, auf dem gerade noch ihr Wolkenthron zu erkennen ist, und fährt Schuff in den Handballen.
“Man soll halt nicht vorweg Kredit nehmen auf Wunder“ grient Käper-nick und bläst den Rauch der geschenkten Virginia zum Kuppelfresko hinauf.
„Wunder sind wie Theateraufführungen. Erst wenn der Vorhang wieder zu ist, kann man verlässlich drauf wetten dass es kein Debakel geworden sein wird.“
Und hängt das Votivbild, damit es nicht gänzlich für die Katz gemalt worden ist, an den leeren Eisenträger, der die Kanzel gestützt hat. Nun darf er das Wunderbild tragen und braucht nicht mehr trübsinnig aus der Wand zu stehen als würde er um Hilfe schreien.
Die Kerze des Blasius ist endlich heruntergebrannt. Und hat nicht, wie Schuff sich auf einmal wünscht, die Streu auf dem Boden entzündet und damit die ganze Kirche.
„Du wirst doch nicht flennen, Schuff.“
Schuff dreht sich weg.
„Woher denn. Das ist bloß Schnee. Der taut in meiner Mütze.“

Kirchenbänke, zu je dreien übereinander, daran gelehnt die Holzver-kleidung der Orgel, und daran wieder gelehnt die Brüstung der Orgel-empore.
Auf dem Klosterhof ist gestapelt, was amtlich als meublement superflu geführt wird. Grundsolides trockenes Eichenholz, so steht es im Be-standsaufnahmeprotokoll, das grundsolide Ofenwärme liefern wird.
In einem Beichtstuhl, im Schilderhäuschen Gottes, wo vordem der Pater die Sünden entgegennahm und gegen Absolution eintauschte, hat sich der Aufseher eingerichtet samt einem Kohlebecken für seine Füße. Vor drei Jahren war er noch der Kalfaktor des Klosters und hat eigen-händig und eigenbucklig das Brennholz heranschaffen müssen aus den Waldungen der Mönchsgemeinschaft.
Dann, nach dem Reichsdeputationshauptschluss, ist er erhöht worden vom Klosterknecht zur Amts- und Respektsperson. Und nun liegt ihm das Holz zu Füßen wie der Herrschaft das erlegte Wild, ohne mühseliges Herbeigeschleppe von weither und weist, der langen Trocknung in der Kirche sei’s gedankt, eine ergiebigere Brennqualität auf als seinerzeit die frischgeschlagenen Bäume aus dem Forst. Schon beim Anschauen freut sich der Aufseher, wie das Feuer bei so nahrhaftem Futter zubeißen wird.
Wie Winzlinge nehmen sich die Sträflinge aus, wenn sie zu dritt und zu viert eine Heiligenfigur schultern, die sie um viele Köpfe überragt. Die Arme der Apostel in ihren pathetischen weiten Faltengewändern deuten mit großen Gesten ins Leere. Mag sein in die Heiligen Schrift, mag sein auf die Leiden Christi oder auch die Sündigkeit der Welt.
Strizzi alter Saubär elendiger werden sie beschimpft wie Betrüger beim Kartenspiel, Herzjesusstinker scheinheiliger, und gescholten wegen ihres Gewichts. No schwaarer hatten‘s di net schnitzln kenna, hundsheiterner Betbruader, und werden zu Schragen geschleppt, die im Klosterhof bereit stehen.
„Gwamperter Ablassruach gwamperter“.
Die aufgeschraubten Heiligenscheine halten sich nicht lange auf den Köpfen der Apostel. Ein paar Axthiebe, und sie springen in hohem Bogen davon. Viele Messer haben vorher schon versucht, das Blattgold von ihnen abzukratzen, unter den Schabespuren schaut die ockerfarbene Grundierung heraus. Glücksverheißend wie Sonnenscheiben, hilflos wie versprengte Spiegeleier, landen sie nun im Schnee. Blasius, um den Mund noch verschmierte Kuhfladen, hüpft von einem Heiligenschein zum nächsten. Bestaunt ihn, gluckst, hält die Hände über ihn, um sich an ihm zu wärmen.
„Sonne ! Waaaaaaaaaaaaaaahmmm…“
Aber erst als ein Gefangener, er ist wegen heimlichen Versetzens ei-nes Grenzsteines hier, eine von den Scheiben über den Kopf von Blasius hält, kommt der darauf, dass der Heiligenschein ihm als Kopfbedeckung taugen könnte.
Ein anderer Gefangener, inhaftiert wegen Schwarzbrennerei, bindet ihm eine Sonnenscheibe auf dem Schädel fest, und alle, Messerstecher wie Zechpreller und Wilddiebe, delektieren sich daran, dass Blasius nun ein König ist und ihre Fußketten klirrren vor Freude mit.
Ein König mit Kuhscheiße am Kinn, der das Gelächter seiner Unter-tanen genießt, zwischen denen er hechelnd herumspringt und von denen er sich sogar huldigen lässt.
Bis der Aufseher auf zwei Fingern pfeift und sie wieder zu ihrer Säge-Arbeit ruft. Blasius aber darf seinen Heiligenschein behalten.
Jeder Apostel, frotzeln die Gefangenen, hat schon das Werkzeug bei sich, das ihn vom Leben zum Tode gebracht hat. Damit er überhaupt ein heiliger Märtyrer hat werden können, verbunden mit dem Privilegium, von einem hohem Postamentl auf die Kirchengemeinde herabzuschauen. Ein Schwert zum Köpfen der eine, ein Messer zum Hautabziehen der andre. Warum, wird weitergefrotzelt, hilft er nicht selber mit beim Sich-Tranchieren zu Kantscheitern ?
„Aber na, er lassts uns machen, der Pfaff der odraahte…“
Blasius steht dabei, lutscht an den an seinen Lippen, und schauz mit gibbelnder Lust zu, wie je drei oder fünf Gefangene einen riesigen Weißen an seinen Gewandfalten festhalten und zwei andere ihre Säge ansetzen.
Die Säge hat achtundneunzig Zähne und zwei Männer ratzeratzen damit an dem riesigen Weißen herum. Das macht schon hundertsechs-undneunzig. Jetzt ratzeratzen sie schon das sechste Mal hin, jetzt das sechste Mal her. Jetzt sind es schon siebentausendeinhundertachtund-zwanzig Ratzeratzer..
„Siemtausendhunnertachtnzwannnnnnnzzzzz…“
Rotz rinnt ihm in Strömen in den vor Staunen offenen Mund und vermischt sich mit der Kuhscheiße. Der Heiligenschein ist ihm über die Backe gerutscht. Aus dem Heiligen regnet Sägemehl in den Schnee, ockergrau ins Weiße. Begierig kostet Blasius davon. Schmeckt es hui, oder schmeckt es wie Blut ?
Es schmeckt unbekömmlich, trockener Holzgrieß, und Blasius spuckt ihn zurück in den Schnee.
„Wer da sagt des ist ein altes morsches G’raffel, dem schlag i‘s Kreuz krumm.“
Der Aufseher stopft seine Pfeife, die Wallfahrerin steht neben ihm am Beichtstuhl.
„Weil, des Holz da, des is für mi Familiensach.“
Sein Urgroßvater, Kistlermeister dahier, hat die hölzernen Bildwerke hergestellt, die nun zersägt werden. Dahier bedeutet, der Urgroßvater war eingesessen hier im Dorf, das zum Kloster gehört hat.
Herrgottsakra, das war noch grundsolide Arbeit !
“Da hat si über Generationen koa Holzwurm net neitraut.“
Stolz auf den Urgroßvater stopft der Aufseher an seiner Pfeife, und gibt der Wallfahrerin zu bedenken, wie auch der Urgroßvater jetzt stolz sein könnte. Auf seinen Enkel, weil der ein Avancement gemacht hat vom Häuslersbuben hinauf zum Beamten Seiner Majestät. Wo er selber, der Urgroßvater sein Leben lang bloß ein Holzhandwerker hat bleiben müssen mit kleiner Landwirtschaft und einer einzigen Kuh für elf Kinder.
Und die Wallfahrerin gibt dem nunmehr königlichen Beamten zu bedenken, dass es womöglich eine göttliche Verhängung gewesen ist oder wia ma si da ausdruckt, dass ihr Blasius nun doh nicht erlöst wird.
Denn wenn der Himmel nichts unternimmt gegen das Zersägen des Kirchenmobiliars, dann ist auch für den Blasius nicht mehr zu erhoffen, dass er Erbbauer wird und den Hof übernimmt und angemessen viel Kinder zeugt..
Zu Klötzern zerschnitten liegen nun Petrus, Andreas, Jakobus Zebedäi, Johannes Evangelist, Jakobus der Ältere und der Jüngere, Matthias, Philippus, Bartholomäus und Thomas, der nichts hat glauben wollen und deswegen bis nach Indien hat wandern müssen. Nun ist er in lauter gleich starke Rundlinge zersägt wie Thaddäus und Simon der Eiferer, und ist nicht zu unterscheiden, wer einmal der eine und wer der andere war.
Aus dem Holz der Orgelverschalung ist das Pange lingua herausge-fahren. Aus den Beichtstühlen sind die Sünden herausgefahren, die sie haben anhören müssen. Aus den Kirchenbänken die Gebete, und aus den Aposteln das Gehet hin und lehret alle Völker. Säuberlich aufgeschichtet liegt einer über dem anderen.
Blasius hat auf einem Schragen jemand Weißes entdeckt, feinglied-riger als die Apostel. Durch die Fassung und das Gold hindurch atmet noch immer das Lindenholz.
„Frau Eeeeeeeeengel…“
Blasius hat noch nie ein schöneres Gesicht gesehen und noch nie solche Locken, die sich den Hals hinunter bis auf die Schultern kräuseln. Er setzt dem Engel seinen Heiligenschein auf, ihm gebührt er, er singt für ihn und lauscht, ob er zurück singt.
Aber der Engel bleibt stumm, und Blasius lässt ein Gedröhn aus sich heraus, das sich anhört wie die Bass-Tuba beim Kirchweihfest. Blasius legt sein Ohr an das Holz, aber da dröhnt nichts zurück und wird mit keinem noch so kleinen Ton erwidert. Blasius versteht, dass er zu laut und zu grob war. Er hat die Schöne verschreckt, er muss seine dröhnigen Überschwang wieder gutmachen.
Wenn er eine Margarite zur Hand hätte, könnte er sie ihr in die Locken stecken oder in den Mund, aber der Schnee hat alle Blumen zugedeckt. Blasius bleibt nur der Rest Kuhfladen an seinen Lippen, und den macht er der Schönen zum Geschenk, indem er ihr einen Kuss auf die geschnitzten Lippen pappt. Die Kuhschmiere bleibt dort haften. Der Engel hat sein Geschenk angenommen und nicht das Gesicht von ihm abgewandt. Stolz zieht Blasius den Kuhdung mit dem Finger als braunen Strich weiter über die Wangen des Engels, den Nasenrücken hinauf und über die Augenbrauen zu hinüber zu den engelischen Ohren.
„Schööööööööööön….“
Und wartet, dass der Engel ihm dankt. Aber der schweigt.
„Mit Blasius reden…“
Als die Mutter ihn am Arm fortziehen will, tritt er nach ihr, denn er muss dem Engel ins Ohr flüstern, dass er sechsundzwanzig Federn an seinem Flügel wahrgenommen hat, an dem andern aber dreiunddreißig, das macht zusammen achthunderachtundfünfzig, und dass er achthundert-rachtundfünfzig Gebete darbringen wird damit das schöne stumme We-sen mit ihm singt.
Dann lauscht er, das Ohr ans Holz gedrückt, ob der Engel ihn nun endlich erhört. Erst als das Holz vibriert, merkt er, dass es zersägt wird. Achtundneunzig Sägezähne hat er gezählt, achtundneunzigfach ist der Schmerz, wenn die Säge durch das Fleisch schneidet.
„Nicht weh tuuuuuuun …“
Blasius kreischt und wirft sich der Säge entgegen, ihr Blech dröhnt unter dem Hämmern seiner Fäuste. Zuerst wird noch grob gelacht, dann nur noch verlegen, schließlich sind alle still. Blasius steckt einen Finger in das Sägemehl, das aus dem Engel herausgerieselt ist.
„Bluuuuuuuuuuuuuuut…..“
Notburga kann Blasius nun bei der Hand nehmen, ohne Widerstand. Er ist bei seinem Schmerz. Er schreit so gellend, das sogar der Aufseher in seinem Beichtstuhl sich die Ohren zuhält. Und die Sträflinge werfen sich ins Zeug, damit ihr Sägen den Schmerz übertönt, aber der Schmerz gewinnt.

Bis in die halbe Nacht hinein werden Stämme aus dem Floß herausgenommen. Bauholz hat Nachfrage, das Floß hätte gut dreimal um-fänglicher sein können. Am Ufer deuten Pionieroffiziere mit ihren Reit-peitschen auf Langholz voici le tronc de hêtre la ! das sie für die Armee ausgemustert haben möchten et les deux sapins ! und daneben steht schon dienstbereit der bairische Zahlmeister.
Kunterkasten macht sich nützlich, um das Versprechen von ein paar Schluck Bier. Nun braucht er nicht mehr tagediebisch und ohne Regiean-weisung herumlungern. Wenn er den Stichel in einen Stamm hacken darf und den mit den Knechten ans Ufer zerren, fühlt er sich unter Wilhelm Tells Leuten und werkelt mit dem Volk von Uri.
Schiffe mit Soldaten ziehen vorbei, die Franzosen am Ufer begrüßen die Franzosen zu Wasser, als wären beide auf einer Landpartie. Wenn ein Schiff weitergefahren ist, werden seine Essensdüfte herübergeweht, und Kunterkasten rät aus, ob es da drüben Linseneintopf gibt Lungenhachée.
Das Holz, das auf dem Floß verblieben ist, soll von einer Nachtwache gehütet werden. Getroffen hat es den Floßknecht dem die Katze abhanden gekommen ist. Der Flößer friert, die Katze könnte ihn dabei wärmen, sie hat ihn noch immer gewärmt. Und aus seiner Trübsal heraus holen, wie sie ihn noch immer aus seiner Trübsal bei der Nachtwache herausgeholt hat, wenn sie auf ihm herum kletterte und sich hat kraulen lassen. Und zum Dank dafür schnurrte. Wenn er denjenigen ausfindig macht, der sie gefressen hat, muss der sterben.
„Wann no oaner weniger is aufm Floß, nacha woass ma wenigstens warum.“
Das Weib bei den Schauspielern ist abgängig, der Lange mit dem Pelz-kragen ist abgängig. Der dicke Spaßmacher wird der nächste Abgang sein. Ihn hat der Flößer in Verdacht als Katzenfresser.
Todesstrafe wegen Fresssucht.
„Obst du s’Bier überhaubz bei dira g’halten kannst“ sagt er zu Kunterkasten und haut ihm auf die Schulter „des muas si erst no weisen.“
Diesem groben Spruch hört man die Einladung zum Umtrunk nicht an, trotzdem ist es eine. Sie haben den Tag über zusammen Stämme aus dem Floß gelöst und an Land geschafft, nun darf Kunterkasten dem Flößer auch dabei helfen, die
Wärme seiner Katze mit Bier zu ersetzen.
Als Kunterkasten dem Flößer zur Schenke am Ufer folgen will, hört er Musik. Keinen Soldatengesang, sondern gezupfte Saiten. Und nicht vom Fluss her, sondern vom Floß. Kunterkastens Ohren führen ihn zu der Hütte. Hinter den Brettern war eben noch etwas wie Harfentöne, nun sind da die Stimmen einer Frau und eines brummbassigen Mannes.
„Strönebald ?“sagt Kunterkasten zu den Brettern.
Drinnen ist es still. Er pocht an die Bretter. Niemand antwortet, keine Saitenklänge. Seine Ohren können ihn getäuscht haben, seine Ohrmu-scheln sind glasig vom Frost. In der Ferne wird immer noch gesungen, auf einem fernen Schiff amüsiert sich ein Dudelsack. Kunterkasten tastet sich im Dunkeln zu der Luke, durch die sie alle so oft gespäht haben, das einzige Glas an der Hütte. Hinter dem es aber nichts weiter zu sehen gab als einen Vorhang aus Sackleinwand. Jetzt klopft er mit den Knöcheln dagegen.
„Strönebald !“
Hinter der Scheibe starrt einer zurück, der rothaarig ist. Seine breite Nase bekommt von der Seite her mattes Licht weil er den Vorhang hinter der Scheibe halb weggezogen hat.
„Schere Er sich von dannen !“
Die ganze Reise lang haben Schuff, Käpernick, Langebehn und alle die auf dem Floß fuhren, diesen Bretterverschlag aufgebläht zur Räubertruhe, zum Spukschloss, zum Kabinett eines geheimen Kuriers. Und nun schrumpfen diese
bubenseligen Hirnfürze auf einmal das Maß eines Scheiß- und Taubenhauses, aus dem der histrio primus herauskeift wie ein
Tagelöhner, der mit einer gestohlenen Pfeffermühle unterm Hemd ertappt worden ist.
„Fort mit ihm vom Floß ! Das ist ein Territorium, das ihm zur Nacht-zeit verboten ist !“
Ein Löwe, der sich den Fauxpas leistet aus einer Mausefalle heraus zu brüllen und damit die von ihm beherrschten Tiere zum Lachen bringt. Wie jetzt Kunterkasten. Der muss seine Hände und Füße mitlachen lassen und mit wüten, sie traktieren die Fluchtburg des histrio primus mit Tritten und Fausthieben.
„Ich werd ihm Mores lehren…“
Der Prinzipal entblödet sich nicht, seinen schützenden Stall zu ver-lassen, um seinen aufmuckenden Jungmimen beim Genick zu packen. Er muss höher hinauf fassen als es einem Löwen von Prinzipal ansteht.
Aber seine Wut wächst gerade an diesen zwei Handbreit die ihm fehlen, um Kunterkastens Genick zu erreichen.
Steht jetzt ein Kampf zu erwarten? Unter der Regieanweisung der Prinzipal ringt mit dem Insurgenten unter allen Anzeichen entfesselten Zornes und stößt denselben in den Strom ?
Die Szenerie wäre bestens vorbereitet, die Stämme sind günstig vereist, um beide darauf ausgleiten zu lassen, die Strömung ist angemessen dra-matisch hastig. Her also mit Ringenden, die ineinander verkrallt ins Was-ser klatschen und von der Strömung fortgerissen werden.
„Wir bitten den unverhofften Gast herein.“
Das kommt von einer Gestalt, die als schwarze Silhouette in der offenen Tür steht, ein silbernes Kreuz vor der Brust. Das wir ist ihr pluralis maiestatis. Nicht der Prinzipal lädt in die Hütte, sondern die schwarze Silhouette, die ihren Auftritt anlegt wie König Philipp im Richter von Zalamea, letzter Akt.
Die wahre Obrigkeit, die den Gewalttätigen als Tölpel dastehen lässt. Propodonsky, nun der Tölpel, lässt Kunterkasten sogar den Vortritt, damit der eine hingestreckte, sehr weiße Hand entgegennehmen kann.
An der der Ring ungeküsst bleibt, weil dem Pastorensohn Christian Asmus Fürchtegott nicht gesagt wurde dass der geküsst gehört.
„Mein Sohn…“
„Man redet die Dame mit Ehrwürdige Mutter an“.
Propodonsky hat sich im Rollenfach zum Souffleur heruntergestuft.
„Es ehrt dich, mein Sohn,„ lobt die Ehrwürdige Mutter “dass du unserm Kranken die Aufwartung machst.“
Die Ehrwürdige Mutter zieht die Tür zu, es strömt Eiseskälte herein, und hinten im Winkel hockt ein Kranker. Seine Arme hängen in seiner Harfe wie in einem Gitternetz. Aber er bringt ein müheloses Lächeln zu-stande, als er Kunterkasten sieht und greift ein paar Akkorde, die wie ein Vogelzwitschern klingen sollen : dank der Nachfrage, bin aus dem Gröb-sten heraus ! Und das in einem f-dur, wie für einen Frühlingsabend.
Der ferne Dudelsack der Franzosen antwortet.
Die Ehrwürdige Mutter hat Strönebald, als am Erfrieren war, mit The-riak geatzt nach altem Klosterrezept, heißer Suppe mit geröstetem Sem-melbrot darin und Butter, und ihn mit Kranewetswurzeln durch das Meer der Fieberanfälle geführt
„Wahrlich durch ein Meer. Er hat immerzu vom Atlantischen Ozean geradebrecht.“
„Hab ich ?“
„Du hast nach Amerika wollen.“
Und sich auf einen Schoner geträumt, woher hatte er nur das Wort, der ihn über den Atlantik trägt.
„Bin ich jetzt seekhank ? hast du mich gefragt.“
Und ob er die Schiffsreise noch durchstünde bis Boston oder Loui-siana.
„Die warten da schon alle auf mich, hast du gelallt. Sie schätzen da noch die Kunst der weißen Stimmen.“
Was sind das, weiße Stimmen ? Aber statt einer Antwort greift Strönebald in die Saiten, dass die Hütte dröhnt.
„Ich hoffe auf deine unendliche Güte und Barmherzigkeit hat die Ehwühdige Mutter mit mih gebetet. Ich kann meine Sünden nicht mehh ungeschehn sein lassen, aber beheuen kann ich sie, als dein unge-hohsames undankbahes Kind. Und schau, Kuntehkasten, um mich hehum ist schon wiedeh Licht.“
Er meint die Kerzen auf silbernen Kandelabern, die ihn umstehen wie einen Aufgebahrten. Und ein Kohlenbecken, wie Langebehn es verge-bens gefordert hatte, das nun Strönebald die Füße wärmt.

Die Prinzipalin hat kein Kohlebecken, sie muss dem Novizen die Füße mit den Händen rubbeln. Sie knetet ihm dabei den Rhythmus der Verse ein, an denen er sich versucht.
„Wenn Phöbus hell des Morgens weiht den Himmel / mit seinen hurt‘gen Beinen …“
Aber wer ist bloß Phöbus, kleiner Novize ? Und was ist Phöbus dir, abtrünniges Mönchlein? Auch Lucille de Brée kennt den Griechenknaben nur vom Hörensagen. Die in Mythengewölk verirrte Lucille, klandestine Niederschreiberin gischtender Großgefühle. Viel zu groß für eine klein-geborene Bretznerische. Die sie aber dennoch alle einmal selber verspürt zu haben glaubt. Und denen sie unter Mühen mit der Kielfeder hinterher geeilt ist, um sie im Kaninchenstall ihrer Bühnensprache einzubuchten.
„Wenn Phöbus hell des Morges den Himmel weiht / mit seinen flinken Beinen schreitend hin, den Tag eröffnend …“
Was für harte Sehnen das Mönchlein hat. Einen dürren Leib, verspannt von Kälte, Fastenriten und Gebeten, aber harte Sehnen. Wie gut der Phöbusmorgen zu ihm passt, wenn auch nicht so recht der Sonnenaufgang, in seinen zusammengebettelten Klamotten. Die immer noch aussehen, als trüge er eine Kutte.
Unter Lucilles rubbelnden Händen werden seine Zehen warm bis herauf zum Spann, und sie stellt ihn sich vor, wie er auf der Bühne aussehen wird, wenn das Rampenlicht ihn von unten beleuchtet.
Vorab seine bäuerischen Waden, die sie so erhitzen.
„…mit seinen hurt‘gen Beinen schreitend hin, den Tag eröffnend / auf-tuend auch den Sinn der Menschen tief dort unten / die nicht ahnen noch was der Tag für sie bereit hält …“
Sein Kopf ist noch immer geschoren, obwohl sein Kloster schon vor drei Jahren wurde. Er ist unschuldig treu, wo alle untreu schuldig sind. Nein, er ist nicht treu. Unschuldig allein ist ihr auch schon genug. Er genießt ihr Geknete an seinen Füßen und dass er ihre Verse sprechen darf. Er ist verführbar, aber er weiß es nicht. Ein junger Feldhase, der von der Fallenschlinge nichts ahnt, obwohl er den Drahtbügel schon um den Hals hat.
Dieser Hals ! Über den gehören eigene Verse gemacht. Erzen gegossen muss darin vorkommen, auch vorausgereckt schon ins Abenteuer das ihm erst noch soll begegnen. Der Hirsch gehört herangezogen, metaphorisch, der den Hals weit vor sich auskragen lässt sehniger Stamm daraus das Kinn wächst / Klüverbaum du eines kühn voraneilenden Seglers. Und was andere verstecken unter Perücken, Haarteilen, Zöpfen, mit Krägen, Jabots und Vatermördern verhüllen, stellt das Mönchlein unschuldig stolz zur Schau : Vermummte Krummlinge ihr / seht mit welcher Anmut dieser hier euch Jugend vorlebt in der Kraft des Säulenschaftes / welcher bestimmt ist ihm das Haupt zu tragen !
„Wenn Phöbus hell am Morgen…“
Wenn er es in den Mund nimmt, klingt es gegrüßet seist du Maria. Ein Singsang, um dabei einzuschlafen.
GegrüßetseistduMariavollderGnadenderHerristmitdir.
Der Litaneienton, den er im Kloster gelernt hat. Der Geist des Betenden schläft und leiert trotzdem weiter. So lange bis die Angebeteten erwachen, die das Gebet erhören sollen. Und das kann Jahre dauern, Jahrzehnte, Jahrhunderte, denn sogar die Jenseitigen duseln fort und fort bei diesem Singsang.
„Mach ichs recht, Frau ?“
Ach Knabe, wer Lucilles mit Herzblut Geschriebenes so warmherzig in den Mund nimmt, wie kanns der unrecht machen.
„Das sind so viele Wörter mit dabei, die wo ich nicht gewohnt bin.“
Und bemüht sich, nun gewärmt von den Füßen herauf, den edlen Geist zu rühmen der in dem Text west den er in seinen unwürdigen Mund neh-men darf. Gleich wird er fragen, wer ihn geschrieben hat.
Aber er fragt nicht. Was so hehr geschrieben ist, kann nur vom Heiligen Geist kommen. Überhaupt alles was geschrieben ist, kommt vom Heiligen Geist. Der hat der irdischen Feder nur die Hand geführt, schon weil der Heilige Geist sich schwer tut mit der irdischen Orthographie.
Und darum nimmt der kleine Mönch die Worte der Lucille de Brée in den Mund wie eine Hostie.

Neinneinnein, alles keine Pretiosen das, nicht doch, keine Zierstücke, bewahre, kein Tand wie Juweliere ihn feilbieten !
Gott ist auf der Flucht heutzutage und muss sich verbergen. Kunter-kasten begreift, dass die Ehrwürdige Mutter die Kisten meint, mit denen die Kajüte vollgestapelt ist bis unters Bretterdach. Das Fluchtgepäck Gottes. Messkelche und Monstranzen seien in dieser Kiste dort, Kuss-Tafeln in der Kiste darüber. Pyxen, Hostienbüchsen also, in der da und in der da. Ziborien und Aquamanilen in denen unterm Dach.
Benamsungen die bald niemand mehr verstehen wird, die Herren Staatskommissare einmal ausgenommen, die diese erlauchten Gerätscha-ften in ihren Inventarlisten stehen haben als wären es Zinnbecher. Und recht besehen sind die erlauchten Gerätschaften in den Kisten der Äbtissin auch nur Becher und Näpfe. Freilich vom Tische des Herrn, der nicht will dass Verschwendung geübt werde in seiner Kirche. Nicht Protz will der über da uns, Bescheidung und Armut will er, Wasser und unge-säuertes Brot.
Denn was bedeuten Wasser und was Brot ? Jesu Blut bedeutet es, das aus seiner Brustwunde geflossen ist um unsretwillen. Und das Brot bedeutet jene Semmel, die er beim letzten Abendmahl in den Lammbra-ten getupft hat und gesprochen nehmet hin und esset dies ist mein Leib.
Sein Leib ! In Ehrfurcht umfasst von einem goldenen Rahmen in der Monstranz. So ist es das Tafelgeschirr zu Gold geworden. Wegen dem Symbolischen, wiewohl es eigentlich immer noch Blech ist, wegen der Demut.
In der Residenzstadt dieses neuen, gottunseligen Königreichs stehen Gottes Tafelgeschirr jetzt auf den Schlemmertischen der Gottlosen. Der jakobinischen Stiefelauszieher, die Napoleon zu seinen Feldmarschällen gemacht hat. Die Ehrwürdige Mutter hört ihr Geschmatze bis hierher aufs Floß, sie hört ihr Herumgekratze auf den Tellern, die geschaffen wurden fürs Allerheiligste Abendmahl. Sie hört sie furzen auf Polstersesseln, die die mit den Messgewändern der Erzbischöfe bespannt sind. Sie sieht sie schweinigeln auf die Tafeltücher, die vordem auf Altären lagen.
Aber die Ehrwürdige Mutter hat die Perlen vor den Säuen gerettet. Wenigstens eine Handvoll. Und die Säue vor dem Säuischen in sich selber. Das Altarsilber vor dem Einschmelzen, die Paramenten vor dem Verbrennen und die Monstranzen vor den Altwarenverramschern, die Eheringe daraus machen.
„Nun geleiten wir das Gottesgeschirr den Fluss hinunter wie das Kind Moses im Weidenkörbchen“
Mit wir meint sie wieder sich selbst. Strönebald lässt dazu auf seiner Harfe ein zuversichtliches Andante hören.
„Und wird werden an einem glückhaften Gestade landen, Gott mit uns.“
Während die Sündigen ersaufen, ohne einen rettenden Balken unterm Hintern.
„Mit dieser Monstranz in den Händen werden wir landen. Und der Leib des Herrn wird uns weiter geleiten.“
Der Schein des Talglichts bricht sich im Gold der Monstranz und weil Strönebald es ist, der sie in die Hand nehmen darf, geistert über sein Ge-sicht eine dünne goldene Sternschnuppe. Um die Monstranz rankt sich Weinlaub, in dem Trauben hängen. Auf den Trauben sitzen Vögel und lassen es sich schmecken, und nach den Vögeln haschen grinsende Putten.
Man nehme wahr, lächelt die Äbtissin, wie ein solches Gefäß die Hände adelt die es halten dürfen. Die Finger greifen ganz anders zu als bei einem, sagen wir Bierkrug. Die flache Linke schiebt sich wie von selbst unter den Fuß, lässt die Monstranz gleichsam schweben, und der Körper schwingt dabei mit, die gravitätische Gestik überträgt sich auf die Arme, auf die Beine, auf den ganzen homo pauper, der Gott dienen darf indem er seinen Leib Messkelch trägt.
„Pulchritudo coelestis, Kindlein !“
Auch Propodonsky darf die Monstranz in die Hände nehmen. Er hat viel zu vierschrötige Pranken dazu, finden Strönebald und Kunterkasten, ohne es sich erst zuflüstern zu müssen. Er ist nur den Umgang mit grob kaschierten Requisiten gewohnt, bei seinen Auftritten stößt er sie von sich als wollte er sie auf den Kehricht schleudern, weit fort von seiner Person die der Mittelpunkt seines Theateruniversums zu sein hat. Man soll den histrio primus bestaunen und nicht seine Requisiten, aber –
Aber ? Kunterkasten und Strönebald sehen sich an. Der rex leonorum zeigt sich als fügsamer Messdiener. Gemessen langsam soll er sich bewe-gen, verlangt die Ehrwürdige Mutter, die Beine eng beisammen halten, kein Aufstampfen, kein Hin- und Hergewoge von Standbein auf Spiel-bein. Nicht einmal Mimik erlaubt sie ihm, die schon gar nicht. Denn der Held des Stückes, in dem der Prinzipal jetzt auftreten darf, ist diesmal nicht Propodonsky. Wie sonst immer. Der princeps spectaculi ist ein ganz Anderer. Er ist anwesend, aber er tritt nicht auf. Er ist kein histrio, aber er ist der primus, der Allererste von allen.
Propodonskys rote Haare, die er sonst unter schwarzen oder blonden Perücken versteckt, seine roten Brauen, seine Sommersprossen werden eins mit dem warmen Gold des Kelches. Und Kunterkasten, er kann nicht anders, muss seinem Prinzipal eine kleine Ovation bereiten.
„Dabei ist dieser Jungstier immer ein Widerständler zu mir gewesen.“
„Verzeiht euch. Man muss sich jeden Tag verzeihen.“
Auch Kunterkasten darf die Monstranz in die Hände nehmen. Vor ihm da oben in der Höhe sind alle hier unten gleich. Aber wer sein Gold tragen darf, ist gleicher. Und wer von ihm angestrahlt wird, ist selber erhöht. Der König von Baiern lässt Gottes Sonnenpracht einschmelzen und zu einer Krone umpfuschen die er sich dann nicht einmal aufzusetzen traut. Weil sie aus Raubgut vom Tische des Herrn geschmiedet ist. Pferdeäpfel ihm dafür auf den jakobinischen Quadratschädel !
„Wir aber verbringen Gottes Sonnenstrahlen dorthin, wo sie unter ihresgleichen sind.“
In ein Stift im Oberösterreichischen, flüstert Propdonsky Kunterkasten zu. Und mit diesem kleinen Löffelchen Vertraulichkeit, das der Prinzipal ihm zuträufelt, bringt er Kunterkastens Gemüts-See zum Überlaufen.
Der Kulissenwechsel vom eisigen Hafengelände herein in die Geheimnistruhe der Äbtissin, die Verwandlung des Prinzipals vom Türsteher zum Katakomben-Weisen, die Verwandlung der Bretterbude in eine Arche der Liturgie ist mehr als ein Christian Asmus Fürchtegott verkraften kann, Pfarrerssohn aus dem tiefsten Niederdeutschen
Und wenn nun auch noch Strönebald, der bereits Ertrunkene und dazu Erfrorene, grinsend ein Weihrauchfass entzündet und es Kunterkasten zum Schwenken gibt, damit er selbst die Hände frei hat, um auf seiner Harfe Läufe zu spielen, die sich nach levitiertem Hochamt anhören, wenns auf die Wandlung ( schon wieder Wandlung ) zugeht, und sich dazu eine Tiara aufsetzt, die sein abgemagertes Gesicht darunter aussehen lässt aus wie den abgefleischte Schädel eines ersäuften Märtyrers in einem goldenen Reliquiar -
Dann bricht in Kunterkasten der Sohn durch. Ein dankbarer Sohn, in den innersten Kreis des Mysteriums aufgenommen. Der Pastorensohn, der dem Vater Prinzipal alle Zurücksetzung und Nichtachtung verzeiht und nur noch Liebe und Anbetung ist. Wie gut dem Prinzipal die Monstranz doch stünde, hört er sich sagen. Wie sie ihn veredelt. Wie sie sein wahres Wesen leuchten lässt, wie sie…
Vorübung für den Auftritt vorm Kaiser in Wien, Kunterkasten.
„Und wir bezahlen die Passage zum Kaiser.“
Mit wir meint sie wieder sich. Aber die Konviktsschatulle ihres aufge-hobenen Nonnenstifts. Dabei küsst sie ihren Ring, wenn es schon sonst niemand tut, obwohl es uralter Christenbrauch ist.
„Qui tacet numen dei conticet.“

Lucille de Brée

Käpernick greift sich aus der Requisitenkiste gleich mehrere Waffen. Munition haben er und Kunterkasten keine und ihre Waffen haben keine Schlösser und keine Schusskanäle, sie sind einfach nur Eisentangen. Aber Hunger haben der jugendliche Held und der Komiker um so mehr, und der treibt sie in den Wald.
Der Wald steht voller Wild, weiß Käpernick. Er ist oft genug als Sir John Falstaff aufgetreten um zu wissen, wie sehr Wildbret den prallen Macker im hungrigen Fettsack wieder aufrichtet. Wie es den Mannskerl adelt, wenn er gerüstet geht, wenn Schwerter, um seinen Wanst gegürtet, beim Ausschreiten gegen seine Schenkel klatschen. Alle Kraft, die in den Klingen aufgestaut ist, ballt sich im Mannskerl zusammen, und der wird zum jüngeren Bruder von Nimrod und Herkules.
„Parbleu, wir kleinkleckern nicht, wir sind heute Herkules persönlich ! “
Kunterkasten ist auch Herkules und Nimrod und muss für beide die Lanzen schleppen. Das mächtigste von allen Schwertern aus Propodonskys Arsenal gibt Käpernick nicht aus der Hand.
„Bidhänder nennt sich das. Mit dem durft ich einmal sogar den Prinzipal kaltmachen. In einem Ritterdrama, in Neustrelitz.“
Den Schmierenjockel Propodonsky in seinem Blut liegen zu sehen, das war Theaterglück. Nun muss der Bidhänder Jagdglück verheißen auch für heute. Propodonskys Blut seinerzeit war ein roter Seidenschal, und der Prinzipal hat sich immer und immer nochmal in Zuckungen gewunden damals in Neustrelitz, um die Aufmerksamkeit von Käpernick fort auf sich selbst wegzuschinden. Aber Käpernick ließt den Seidenschal verschwin-den, das Blut des Prinzipals war alle, und Käpernick rammte den Bid-händer so unwiderruflich in den Schmierenjockel, dass Neustrelitz allein ihm gehörte.
„Vitichab und Dankwart die alemannischen Brüder von Benjamin Eph-raim Krüger, ein herrliches Stück, man hätte es en suite jeden Tag zweimal spielen sollen. Aber nein, ganze zwei Vorstellungen. Dann hat der Prinzi-pal es abgesetzt, ist ja einleuchtig warum.“
In einer Lichtung wird das mitgebrachte Arsenal auf den Waldboden geworfen und Heerschau gehalten über Schwerter, Spieße, Hellebarden und Dolche. Auch ein Schild ist dabei, falls ein Rehbock zum Gegenangriff übergehen sollte. Sie sind gerüstet. Wie aber das Wild angehen ? Heda Bache, empfange meinen Hieb ! ! Verharret Hasen ! Wenn du ein Mann bist, Hirsch, so biete deine Flanke !
Ein Wald ist erhabener, zugegeben, als ein gemalter Prospekt, der einen Wald bloß andeutet. Der Wald prunkt mit seiner Unergründlichkeit, während der Prospekt auf dem Theater nach ein paar Ellen regelmäßig einen Schlitz hat, durch den man in die Garderobe schlüpfen kann. Des Waldes Unergründlichkeit ist seine Grandeur und seine Tücke zugleich. Denn vor dem Theaterprospekt, auf den die Bäume nur aufgemalt sind, trifft man inmitten tiefster Waldeinsamkeit günstigerweise alle anderen Akteure an, die der Dramenschreiber dorthin bestellt hat. Ha wen seh ich dort nahen / so gänzlich unvermutet ! Und niemand im Publikum ver-schwendet einen Gedanken daran, dass es von der Garderobe in die Wald-einsamkeit grade einmal elfeinhalb Schritte waren.
In dem leibhaftigen Walddickicht aber lässt sich niemand blicken.
Also müssen sich Käpernick und Kunterkasten an die Spuren im Schnee halten. Aber welches Tier hat sie verursacht ? Und wie lässt sich an der Spur bereits erkennen, ob das Tier essbar ist, und wann ist es hier durchge-wechselt ist. Vor drei Tagen, drei Minuten oder drei Wochen ?
Und wenn es denn gelungen sein sollte, mit dem Speer des Antiochus aus der Tragödie Melinda das Wildschwein zwischen die Augen zu spießen – wie wird sich die Szene dann weiter entwickeln, hin zu einem günstigen Aktschluss für Kunterkasten und Käpernick ?
Sie verabreden, dass jeder einer Spur folgen soll, bis er das zugehörige Tier findet. Der Waffenvorrat wird geteilt, und jeder sieht nun aus wie ein wandelndes Zeughaus. Und vor allem heißt es, scharf entgegen Bühnen-brauch ha, man höre mich nahen ! geräuschlos sein, piano, pianissime. Unhörbar.
Wie es nur einer in der Compagnie kann. Strönebald.
„Glückauf bei der Jagd, Käpernick.“
„Komm mir heil wieder, Kunterkästchen.“

Lucille hat den Novizen im Heu entjungfert. Er hat sich nicht gewehrt, hat nicht nach der Muttergottes geschrien, auch nicht nach der eigenen. Er hat gehalten, was seine sehnigen Waden versprachen.
Nun schläft er sich aus. Lucille streicht ihm über die schwitzige Glatze. Sie ist stolz auf seinen Schweiß, sie nimmt ihn als Liebesgeschenk, er hat ihn für sie vergossen. Ihre Finger spüren, dass aus seiner Kopfhaut Stop-peln heraus spitzen. Zarte Stoppeln, wie sie zu seinem Kinder-Blond ge-hören. Aber eben doch Stoppeln. Er schert sich nicht mehr, er will kein mehr Klosterbruder sein. Sondern ein Weltmensch, und sie schreibt es ihrer Erziehung zu. Für die sie ihn eben in Klausur genommen hat.
Ihr Kopf sinkt in ihre geöffnete Hand, sein Mund springt auf, lässt eine kleine dicke Kaskade aus Speichel rinnen. Als sie ihm den Mund wieder schließt, bringt sein Rachen ein Krächzknurren hervor, das nach wütigem Hofhund klingt. Der Mund springt wieder auf, der Speichel rinnt wieder, er wendet den Kopf weg. Als sie ihn sich wieder zurück holt, spürt ihre Tochter hinter der Scheunenwand, dass da drüben ein zärtlicher Kampf vor sich geht.
Die Demoiselle wird eifersüchtig. Ihr hat die Mutter nie Zärtlichkeit zukommen lassen. Die Mutter gehört bestraft. Die Demoiselle sucht eine Lücke zwischen Brettern, findet sie, schiebt ihre Klauhand hinüber in das Liebeslager aus Heu, und vertraut ihren geübten Fingern, dass sie die Kleider der Mutter ausfindig machen werden. Hingeworfen ins Grummet, die Mutter wird nicht drauf achten. Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen, her mit ihrem Mieder, drei Unterröcken, Strümpfen und Schuhen.
Aber ehe sie Beute machen kann, wird die Hand entdeckt und fünf Fingernägel fahren hinein. Der Rückzug hinter die Scheunenwand wird nicht von Schmerzgewimmer begleitet, sondern vom postkoitalen Gekicher der Demoiselle. Sie zerkichert den Beischlaf, den die Mutter gehabt hat. Wie heißer Wasserdampf stößt es aus ihr heraus, will zu keinem Ende kommen, und die Mutter muss dem Mönchlein die Ohren stopfen.

Wenn Kunterkasten wieder auf den Jagdkumpan trifft, hat Käpernick seine Beute längst schon gehäutet und zerwirkt. Auch zubereitet ist sie schon, ein Feuerchen brennt, und Kunterkasten wagt nicht, den Älteren, den Tausendsassa zu fragen wie er das alles angestellt hat. Umgeben von Holzvorrat, Fellfetzen und Propodonskys blutigen Schwertern sitzt Käper-nick und schmaust, gut käpernickisch..
Ein Wild, mit einer Hand zu tragen, baumelt auch an Kunterkasten. Aber Käpernicks Wild erheischt mehr Aufmerksamkeit. Obwohl schon fast verzehrt, ist es immer noch größer als Kunterkastens Beute, und der wird
( unter dramatischem Gemampf und mit dringlichen Gesten ) aufgefordert, sich einen Anteil daran zu sichern, sonst wird es gleich gänzlich in Käpernicks Bauch verschwunden sein, ohne je mit Salz, Öl oder Pfeffer gesalbt zu werden.
„Bloß als hors-d’oeuvre. Und danach deins als Hauptgericht.“
Welche Tierart Käpernick da verzehrt, will Kunterkasten aber schon wissen, ehe er zulangt. Die Katze des Flößers ? Käpernicks Gesten werfen den Zweifler mit beiden Händen hinauf in die Baumäste : was er ihm da zutraut ! Er solle einen Happen nehmen, ob der etwa nach Katze schmeckt, einem dürren Flößerbiest, das sich von Fischschwänzen und Kautabak ernährt hat ?
Kunterkasten, einen Schlegel in der Hand, rät weiter.
Fuchs ? Wildschwein ? Käpernick, kauend, damit er nicht reden muss, formt mit den Händen eine vierbeinige Kreatur.
Einen Luchs ? Einen Dachs ? Käpernicks hochgerissener Zeigefinger bestätigt dass ers getroffen hat. Und obwohl Kunterkastens Schlund erst Bedenken angemeldet hatte, mundet ihm das Wildbret nun doch. Wer Tierisches in sich eingehen lässt, und dazu noch ohne Öl und Salz und Salbei, räsoniert Käpernick, in dem aufersteht wieder der Urfreie des Goldenen Zeitalters.
Der Urfreie ? Etwa Wilhelm Tell ?
Getroffen, die ganzen Urigen aus den Ur-Kantonen. Denn nicht das Hausschwein, nicht der degenierte Stall-Ochse, nicht das schwindsüchtige Lamm sind die wahre Männernahrung und machen die Verdauungsorgane stark, sondern das Tier der Wildnis ! Das den Kampf fordert ehe es sich ergibt, Manntier gegen Tiermann. So wie dieser Dachs gotthabihnselig, der jetzt in seinem Magen rührt.
„Seinen letzten Bau bezogen hat, gewissermaßen.“
Wie Langebehn hat der Dachs sich gebärdet. Langebehn in seinen besten Momenten als Orlando furioso, du erinnerst dich. In Braunschweig. Eitel aber ritterlich !
„Den Bidhänder schon im Leib, hat der Rehbock noch einmal mit letzter Kraft – „
„Der Rehbock ? Eben wars doch noch ein Dachs“.
Kunterkasten soll da nicht kleinlich sein. Rehbock hin, Dachs her. Aber ihnen gegenüber steht ein Herkules, ein Nimrod von mir aus, mit was für Waffen in der Hand ? Propodonskys Requisiten. Beim ersten Aufprall aufs gegnerische Fell schon verbogen.
„Und mit sowas lässt der einen auf die Bühne, was sag ich, in den Wald.“
Ja wer sind wir denn.
„Trotzdem, auch die schwächliche Waffe wird zum starken Symbol. Wenn ein Mann eine Waffe in der Hand hat und das Tier ist unbewehrt, wird die alte Rangordnung der Natur wieder hergestellt, die Propodonksky uns vergessen machen wollte, und wir sind wieder Herren unserer selbst geworden durch die Ausübung des Waidwerks“.
Jagdrecht in den freien Wäldern ist Befreiung von Zwangsherrschaft, von Propodonsky und Gessler auf einmal.
„Den Brüdern gönn ichs, dass sie zusammen untergehn.“
Käpernick lutscht an den kahlen Knochen, das Fleisch daran hat er besiegt. Fett und Fasern pappen ihm an den Backen bis hinüber zu den Ohren, und der Wald um ihn herum wird ihm zum Dom der Freiheit. Er lässt Arminius den Cherusker hochleben, der über die Römer gesiegt hat wie er über den Dachs, und als er sich dessen letzte Fasern zwischen den Zähnen heraus stochert, auch noch das Volk von Uri.
„Von allen Völkern, die tief unter uns / schweratmend in dem Qualm der Städte / lasst uns den Eid des neuen Bundes schwören“.
Und wildert damit, schmatzend in Kunterkastens Revier. Der sich immer noch schwer tut mit dem Nichtbraten. Die Zähne zerlegen ihn brav, aber die Zunge leistet Widerstand.
„Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern / in keiner Not uns trennen und Gefahr.“
Käpernick wirft den abgenagten Knochen in feierlichem Bogen von sich. Sie sind Männer geworden im Wald, nicht mehr nur windige Mimen, die Sperenzchen machen vor jedem der sie bezahlt.
„Wir wollen frei sein wie die Väter waren“
Sie stehen lange. Jeder muss aufstoßen, der eine voller Behagen, der andere im Ekel.
„Eher den Tod als in der Knechtschaft leben.“
Kunterkasten presst sich die Hand vor den Mund damit er nicht brechen muss, als er Käpernick fragt :
„Und weißt du auch, wie Schiller die Szene weitergehen lässt ?“
„Sag.“
„Indem sie zu drei verschiednen Seiten in größter Ruhe abgehen, fällt das Orchester mit einem prachtvollen Schwung ein.“
Käpernick schluchzt. Mit dem Salz seiner reichlichen Tränen hätte er sein Fleischgericht würzen können.
„Wir haben kein Orchester. Und auch bald kein Feuer mehr.“
Her darum mit Kunterkastens Beute. Dem Hauptgericht, nach dem hors d‘oeuvre Ein Hase, weiß Kunterkasten, immerhin ein Hase, an dessen Hasentum kein Zweifel bestehen kann, denn es ist noch viel Balg dran.
„Ein recht dunkles Exemplar. Ein Nubier geradezu, unter den Hopplern. Und das mit weißen Flecken“
„Sein Winterfell. Im Januar haben sie Rammelzeit, da sind sie leicht zu überlisten.“
„Und, wie war dein Kampf ?“
Schneeknollen und Laub sind im Fell eingefroren.
„ Da war kein Kampf“. Kunterkasten schluckt. „Es war Aas.“
Er hat seine Beute aus einer Falle gezogen. Käpernick, ohne Ant-wort, päppelt mit dürren Ästen die Glut wieder zum Feuer hoch. Der Hase wird gehäutet. Mit einem Dolch, der auf Propodonskys Bühne bei der Ermordung Julius Cäsars gedient hat und dessen Schneide im Griff verschwindet. Es gehört Geschick dazu, die Spiralfeder mit einem Eisbrocken festzuklemmen.
„Wär doch gelacht. Wozu sind wir Komödianten.“
Kunterkasten braucht sich nicht zu schämen für sein gefrorenes Aas, das einen Hasen.darstellt. Hat je das Publikum dem Propodonsky den König Artus geglaubt, der Demoiselle jemand die Emilia Galotti ?
Das Tier, das nun bestattet wird in beider Komödiantenmagen dagegen war alles andere als ein Kulissenreißer, es war ein ehrlicher Bekenntnis-schauspieler wie sonst bloß noch der Schuff bei uns im Ensemble.
„Und der Braten hat schmeckt längst nicht so streng wie man immer sagt dass Hofhunde schmecken sollen.“
Indem sie zu drei verschiednen Seiten in größter Ruhe abgehen, fällt das Orchester mit einem prachtvollen Schwung ein, die leere Szene bleibt noch eine Zeitlang offen und zeigt das Schauspiel der aufge-henden Sonne über den Eisgebirgen.

Erst jetzt da sie den Prinzipal sehen, der sie gleich zur Rede stellen wird, schauen Kunterkasten und Käpernick auf ihre leeren Hände hinunter. Sie haben die Waffen aus seiner Rüstkiste in ihrem Jagdrevier zurück gelassen. Schlicht vergessen
Aber der Prinzipal, im Mantel Langebehns, in dessen unerforschten Tie-fen er Langebehns verschwiegenes Kapitalchen eingenäht weiß, stellt sie gar nicht zur Rede. Er späht hinunter zum Floß.
Die Tür der Hütte steht offen. Von weitem kann schon kann man es sehen, denn die Balkenlager sind abgeräumt und verkauft und Männer in griesgrämig grauem Tuch haben die Gaffer beiseite geschoben wie Gott das Wasser des Roten Meeres und einen erwartungsvoll leeren Raum geschaffen für einen großen Auftritt. Durch diese hohle Gasse muss er kommen fällt Kunterkasten ein, ganz ohne Strönebald.
Auftritt Ehrwürdige Mutter. Hinter ihr ein grauer Sergeant.
Keine große Geste, kein Pathos. Sie ist anzusehen wie eine Marktfrau, die alle ihre Rettiche verkauft hat und nur wer ( wie die Bühnenleute ) genau hinschaut, der bemerkt dass sie sich nicht von selbst bewegt sondern dass der graue Zweispitz hinter ihr sie vor sich herschiebt. Mit dem linken Arm. Mit dem rechten weist er ihr und den Gaffern wohin es gehen soll.
Kein Geraune, kein Gelächter, nicht einmal ein Grinsen, die Menge steht so grau wie die Monturen der Gendarmen grau sind. Nur ein Ochse brüllt als beschwere er sich, dass da eine hochdramatische Szene verschenkt wird, weil keiner einer Satz hat.
Der aufmüpfige Ochse gehört Gmeinwieser. Sein Vieh steht wieder vollzählig auf dem Floß. Aber nur Käpernick belacht dankbar den Einwand des Ochsen, der nach Possen verlangt, weil Possenreißerei Käpernicks Geschäft ist.
Alle, die die Hütte umstanden haben, trotten mit, die Uferböschung hinauf. Das stumme Gefolge wird durchpflügt – ausananda Leit, ausananda ! - von Gendarmen, die die Kisten aus der Hütte geräumt haben und nun zu je vieren oder fünfen den Hang hoch schleppen. Wie schwer die Kisten sind, hört man ihren Verwünschungen an. Kunter-kasten ist der einzige, der das Wort an die Äbtissin richtet.
„Ehrwürdige Mutter … „
Der Gendarm, der sie noch immer vor sich herschiebt, schiebt nun auch Kunterkasten weg, beiläufig, als mache er im Vorübergehn eine Stalltüre zu.
„Ehrwürdige Mutter, ich habe bei Ihnen großes Theater erlebt. Chapeau dafür, wie Sie Ihre Rolle gespielt haben.“
Sie spuckt nach ihm. Und trifft. Ihre Spucke gefriert an Kunterkastens Lippe. Der Prinzipal, an dem vorbei sie über die Kieskante geschoben wird, senkt den Blick und schweigt.
Seine Komödianten wissen noch nicht, dass sie ihn zum letzten Mal gesehen haben.

Nebel über dem Fluss. Der Novize flüchtet aus dem Heuschober der Herberge, als würde auch er von Gendarmen verfolgt. Aber es ist niemand hinter ihm her als der beobachtende Blick der Demoiselle. Der mit seinen bäuerischen Waden, die pure Verheißung. Sie, die Demoiselle, hat ihn entdeckt und engagiert wegen dieser verheißungsvollen Waden, mit denen er dann ihre Mutter bestieg.
Nach ein paar Schritten bleibt er stehen. Es ist ihm bewusst geworden, dass er noch immer in Theaterkostüme gewickelt ist. In Damenkostüme, mehrere, wegen der Kälte. Er reißt sie sich vom Leib. Die Roben der Königin von Saba, der Medea und der Euryanthe bleiben im Raureif liegen. Er rennt weiter, in den Nebel hinein. Der kann durchfährt es die Demoiselle, auf dem Wasser gehen wie Jesus.
Obwohl ihm die Heiligkeit abhanden gekommen ist in dieser Nacht. Erst jetzt bemerkt die Demoiselle, dass die Donau zugefroren ist. Wenn sie beten könnte, würde sie darum beten dass das Eis dünn ist wie ein Blatt Papier. Und der Novize einbricht und ersäuft.
Sogar das Tuten des Stierhorns, die Antworten der anderen Schiffer klingen durch den Nebel wie durch gebauschte Schafwolle hindurch. Habt ihr gehört, sie haben sie in die Hauptstadt gebracht. Veruntreuung von Klostergut, neuerdings ein Offizialdelikt. Da kann man aufgehängt werden dafür. Alles gedämpft, alles wie durch Schafwolle.
“Oder derschossen. Im Winter is eh besser ma wird derschossen, weil im Winter friert der Strick steif und du hängst stundenlang lebendig rum in der Kältn.“
Das Floß liegt eingefroren an der Lände fest. Gmeinwieser, gedämpft nun sogar er, weiß dass das Zufrieren ein Fluch ist. Wenn es keine Frömmigkeit mehr gibt, die wo sich im Wallfahrten erweist, verhängt der Herrgott Blindheit über Mensch und Tier, so dass niemand mehr erkennen kann, ob das da vorn ein Wegkreuz ist, ein Apfelbaum ohne Laub oder der Gottseibeiuns persönlich. Und niemand mehr seinen Weg findet, Mensch, Tier und Floß. Aber Gmeinwieser sagt nichts ( wie sonst immer ) von einem jüdischen Machwerk, und dass sich hier Jud und Teufel da zusam-mengetan haben und den Christenmenschen ins Nichts führen um ihn abzubringen vom Pfad Gottes.
Gmeinwieser bezieht die verwaiste Hütte der Ehrwürdigen Mutter. Er hat dem Floßmeister dafür frisch eingenommenes Geld zugeschoben und hält die Flößer bei Schreckenslaune mit Erzählungen von Treidelpferden ohne Kopf, die bei Nebel urplötzlich am Ufer auftauchen und Flöße geradewegs in die Hölle ziehen.
„Denkts dro, der Fluss hat eier Opfer verworfen.“
Der Fluss hat die zwielichtige Mamsell nicht angenommen, sondern wieder ausgespien mitsamt ihrer Harfe. Der Fluss umhüllt den Gesichts-sinn der Flößer mit Nebel weil er drauf wartet, dass sie dadurch sehend werden, weitsichtig, weitblickend, und er sein zweites Opfer kriegt. Ein solides diesmal. Derweil sich das Weiwaz mit der Harpfn im Nebel ver-steckt hat und sich eins kichert über die tumben Floßknechte.
Paxvobiscum drauf und Amen.
Aber das Eis macht das Laden auch leichter. Auf Floß, das nun schmaler geworden ist, steigen Kavalleristen zu mit ihren Pferden, die Nüstern des einen Pferdes am Schwanz des anderen, so finden sie sich auch im Nebel zurecht, und der Dampf der Pferde vermischt sich mit ihm. Artillerie-Lafetten werden aufgefahren, das Vieh muss zusammenrücken. Es ist mehr Vih als zuvor, denn Gmeinwiesers Bestand hat zugenommen.

Mit dem Prinzipal ist auch der Generalpass der Komödianten abhanden gekommen, der ihnen bis zur Residenzstadt ausgestellt worden war. Und, wenn die Obrigkeit denn gewogen war, auch weiter. Der Pass mag nun in Langebehns Mantel mit dem Pelzkragen stecken, auf Propodonsky Reise werweißwohin, aber Lucille de Brée ist so gut wie eine Witwe.
In der Nacht mit dem Novizen hat sie seine heißen großen Kinderohren gestreichelt, und er hat ihr wieder und wieder versichert, dass er niemals bisher von Geschriebenem so tief ergriffen worden sei wie von den Versen, die er ihr verlesen durfte. Als ob sie die Seraphim aufgesetzt hätten, und er meinte damit die Schreibstube der Engel im Himmel.
Litaneiartig, immer wieder und unentwegt, zwischen ihren Küssen auf den blonden Flaum seiner Oberlippe. Bis sie ihren Lobpreiser am Morgen über das Eis davonrennen sah. An alle die Männer, die ihr Lager geteilt hatten war sie geraten, weil sie nach einem suchte, der ihr Geschriebenes begutachten sollte. Lucille war im Sternzeichen Löwe geboren, von der Sonne regiert, und im fünften Haus stand ihr eingeschrieben dass sie eben zur Schreiberin bestimmt sei. Auch ihr Vater war ein Schreiber, ein peni-bler dazu, aber seine Feder diente dem Magistrat in den Betreffs Grund-buchwesen, Rechnungsführung und Leibsteuer. Seine Unterlängen waren beträchtlich und edel geformt wie Damaszener Klingen, seine Oberlängen ragten wie Ritterspornstengel auf und sein Geschriebenes insgesamt war in seiner Regelmäßigkeit von Gedruckten kaum zu unterscheiden, zumal wenn er es in Fraktur ausführte.
Lucille aber war es nicht um Kalligraphie zu tun, ihr ging es um die Niederschrift von Selbsterdachtem. Der Vater jedoch, von Stolz auf ein schreibbeflissenes Kind weit entfernt, lobte sie zwar für die energischen Unterlängen, die sie von ihm geerbt hatte, und hieb sie elendiglich durch für ihren Hang, Personen, Sachen und Ereignisse zu erfinden die es im Lippischen nicht gab.
Will sagen, alles was nicht Protokoll war, galt dem Secretarius Bretz-ner, ihrem Vater, als unnützes Larifari-Gefasel mit dem Stigma des Ver-derbten. Dass seine Tochter kostbare Papierbögen missbrauchte, um ihre Dönskes darauf zu sudeln versetzte den Schreibervater in alttesta-mentarische Wut und die Mutter hatte allwöchentlich Lucilles Kammer auf Sudelzeug zu filzen und Beschlagnahmtes zu verbrennen. Bis sich kaum noch ( da fand die Durchsuchung bereits alltäglich statt ) Papier im Haushalt des Schreibers Bretzner befand. Und Strafen über Lucille ver-hängt wurden wie heute kein Nachtmahl und Sonntag nicht auf die Promenade !
Und endlich, als grimmigste Strafe, das Anfertigen einer standesgemä-ßen Aussteuer. Wenn Lucille da nun an den endlosen Ellen Weißwaren nadelte, bespannen sich ihr die ödweißen Gevierte der Tischtücher und Bettbezüge bleich wie Grabtücher und gefertigt für einen künftigen Gatten, mit Buchstaben, die dreist übers Weiß spazierten, sich zu Sätzen und Versen formten, und sie kicherte beseligt vor sich hin. Hör dir das an, sprach die Mutter zum Vater, sie findet sich ins Schickliche und delektiert sich am Weiberwerk.
Aber Lucille delektierte sich nicht an den Laken, sondern an der Dicht-kunst, ersann Sonette und kleine Epchen. und je enger ihre Eltern sie ein-schnürten, desto ungestümer brach ihr Fabulieren aus ins gänzlich Un-Lippische und noch weiter hinaus ins Dramatische, und es wurden Co-moedien und Trauerspiele daraus, und sie hatte Anlass, immer zufriede-ner zu kichern dabei.
Des Nachts übertrug sie ihre Erfindungen an einen sicheren Ort, nämlich auf die Seitenränder ihres Gesangbuches. Und siehe da, dort blieben sie unentdeckt, Paul Gerhardt behütete die Werke der jungen Kollegin.
Als sie den Aktuarius Klöfkorn, Lippischem Ratssubistiut Zweiter Klasse, diese heimlichen Poetereien sehen ließ, erblasste der und färbte sich zugleich rosafarben, was auch im Lippischen eine pikante Melange ergibt, welcher er das Bekenntnis folgen ließ, er sei kein Mann des Dra-matischen, habe das Theaterwesen schon als Jüngling gemieden, habe man doch allzuviel vernommen auch beim letzten Gastspiel wieder hihi von gewissen Eclats mit liederlichen Soubretten hihi, dennoch brenne er darauf, Lucille seinerseits einzuweihen in sein eigenes heimliches Dich-ten. Verwahrt im Bettkasten seines Logis, einer junggesellischen Mansar-de, denn sein schmales Salär verunmögliche vorderhand Verehelichung, im Falle einer so musischen Mamsell jedoch wie Lucille hihihihi und von gleich zu gleich von Poet zu Poetin, hihihihihi….
Und lief rot an, diesmal ohne vorher zu erblassen.
Dies sollte ihr eine Lehre sein, wie sie ihre Dichtwerke bestimmt nicht an den Leser zu bringen hatte, der, zumindest im Lippischen, nur allemal männlichen Geschlechts sein konnte. Und sie überreichte dem Helden-vater der nächsten durchreisenden Schauspieltruppe ihr Drama Thertos oder Die Wandlung in dessen Garderobe, weil die Sterne ( Steinbock im zehnten Haus ) ihr günstig waren.
Günstig freilich auch für Frau Venus ( im vierten Haus ) denn der Heldenvater entjungferte Lucille auf der Stelle. Ungünstig für das Schrift-stellerische, denn als der Heldenvater acht Wochen später als Lessings Nathan der Weise wiederkam, hatte er ihr Manuskript nicht nur nicht gelesen, sondern verschludert, wollte aber trotzdem wieder, diesmal auf einem zusammengerollten Hauptvorhang.
Beim nächsten Gastspiel ( nun in der Titelrolle von Gottscheds Sterben-dem Cato ) war ihm ihr jüngstes Werk wiederum unterwegs abhanden gekommen. Ungelesen. Lucille, die nun aber wusste dass der Heldenvater Wassermann mit Aszendent Widder war, gab ihr neues Opus ( Sarzo und Sarzone Ein Schäferspiel ) nicht mehr aus der Hand, sondern trug es, während sich der Heldenvater und Kollegen schminkten, beherzt wenn auch mit umkippender Stimme selbst in der Garderobe vor.
„Was kann das Mädel trefflich rezitieren !“ wurde gerufen und sie geriet unversehens auf den Personenzettel. Denn es traf sich, dass einer Darstellerin, die in drei Nebenrollen aufzutreten hatte, die Leibesfrucht derart im Bauch rappelte dass Lucille stantepede ihren Part auf der Bühne übernehmen musste.
Und die Dichterin zur Aushilfe-Mimin mutierte.
So war sie aus dem Lippischen unters Theater geraten, wurde aus einer geborenen Bretzner zur la Brée, von Luzie zur Lucille, von einer Pome-ranze zur Weitgereisten, durfte bei der Neuberin fünf Sätze aufsagen und unter Ekhof im Schweriner Hoftheater schon eineinviertel Seiten. Freilich stets fremde Texte. Die Lesungen eigener ( vor den Honoratioren, Skri-benten oder Stadtschreibern der jeweiligen Gastspielorte ) führten zu nie zu anderem als dass die Herren Zuhörer ihr am Morgen danach Nasch-werk hinterließen, Zuckereier oder Löffelbiscuits.
Wenn sie diese auf der Bühne verzehrte ( etwa als Gräfin in Miss Sarah Sampson ) wurde der Spender entlarvt, denn in der zweiten Reihe wurde aufgeschrien und die Biscuits unweigerlich von seiner Gattin iden-tifiziert. Die Kleinstadt hatte ihren Skandal, und es konnten somit glückhaft drei, vier Vorstellungen mehr angesetzt werden, wenn auch ohne Löffelbiscuits. Dafür lag am Morgen nach der fünften Vorstellung ein vom Zuckerbäcker verfasstes Drama neben ihrem Bett, in fünf Akten und mit Vor- und Nachspiel, und die Titelrolle war Lucille gewidmet.
Beim Gastspiel in Halberstadt lächelte ihr Fortuna verheißungsvoll aus dem Tageshoroskop heraus entgegen, denn die Sonne stand mit seiner weiblichen Poralität im Steinbock, und der Mond im Exil. Folglich huschte Lucille an ihrem spielfreien Abend zum Haus des weitberühmten homme de lettre und befahl sich zu warten, bis der Gefeierte zufällig ans Fenster träte und sie ebenso zufällig auf der Gasse ein Veilchenbukett verlöre.
Vor seinen Augen.
Er würde herausstürzen und statt des Veilchenbuketts ihr neues Opus auflesen, das sie flink gegen das Veilchenbukett ausgetauscht hätte, wür-de stutzen, rufen Ha ! Ein Drama ! und das weitere beschmunzelte sie schon jetzt im voraus.
Sei es nun, dass das Tageshoroskop bereits das Horoskop des darauffolgenden Tages war oder dass es nur für Städte galt, die vom Saturn regiert werden, mithin nicht für Halberstadt, der Weitberühmte zeigte sich Stunde um Stunde nicht am Fenster. Die Zeit, da eine weibliche Komödienspielerin sich auf öffentlichen Straßen ergehen durfte, verstrich und bald auch diejenige für männliche Komödienspieler. Als die Stadtwache ihren Patrouillengang auf- und die Drohung der Karzer-Einweisung und Stadt-Verweisung mehr und mehr Gestalt an-nahm, hängte sie sich ans Fensterbord, linste ins Innere des berühmten Hauses und musste sich strikt verbieten wieder umzukehren, als sie hinter dem Fenster so einschüchternd viele Bücher drohen sah wie sie noch nie beisammen gesehen hatte. Hekatomben von Büchern, Miriaden von Bü-chern. Wenn der Berühmte auch nur ein Zehntel davon gelesen hatte, würde er Lucille noch unter der Tür als leeres Blatt Papier erkennen.
Von drinnen aber war ihr Hereinspähen wahrgenommen worden. Die Haustüre wurde geöffnet, und sie warf geschämig ihr Veilchenbukett fort. Als ihr der Berühmte, Ersehnte, Erhoffte nun gegenüber stand, erkannte sie dass die vielen Bücher die sie so ängstigten an ihm ihre Spuren hinter-lassen hatten. Sie hatten seine Augen ins Innere gezogen, die Augäpfel standen wie umgedreht im Schädel und der Lectorissimus war mit Verglasung geschlagen.
Die ihn noch tiefer in seine Bücher-Katakomben hinabsteigen ließ, weil er draußen auf der ruchlosen Gasse beständig über Hühner, Hunde und Sänftenträger gestürzt wäre. Lucilles Lampenfieber milderte sich erst, als sie sich in den Gläsern des Dickbrilligen gespiegelt sah, und es wuchs zugleich, denn in ihrer Männergalerie waren Brillenträger bislang rein gar nicht vorgekommen. Geschliffene Augengläser waren höchst kostspie-lig, und die uneingestanden Kurzsichtigen unter ihren Bisherigen bekann-ten sich schon deshalb nicht zu diesem ihrem Gebrechen, hätten sie sich doch als Habenichtse entlarvt. Und die Theaterer bekannten sich sowieso nicht, aus berufswüchsiger Eitelkeit, einem Romeo oder Egmont passt kein Brillengestell auf die Nase.
Der Berühmte aber, der mit Herder, Wieland und sogar Goethe im Briefwechsel stand, rieb nun wegen Lucille seine Augengläser blank, um ihr Geschriebenes in Augenschein zu nehmen. Und ihre Handschrift ( no-tabene die Unterlängen ihres Lippischen Vaters ) zu belobigen bis sie ihm gestand, sie sei nicht wegen Kalligrafie hergekommen. Sie habe Vorlie-gendes auch selbst erdacht.
„Die Mamsell hat selbst….“
Und putzte seine Augengläser ein weiteres Mal, senkte sie noch tiefer aufs Geschriebene und, da er gebundene Sprache vorfand, skandierte er sich bei der Lektüre selber zu, mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand.
„Verfasst mit höchster Kundigkeit, wenn Mamsell mir gestatten dies zum Ausdruck zu bringen. Schlechthin maiestoso.“
Seine Lippen bewegten sich stumm, als er sich weiter voran las, seine Finger dirigierten dabei, bis die Rechte plötzlich in der Luft stehen blieb und sie einen Ausruf des Missfallens gewärtigte.
„Nein doch, nein !“
Das Herz gefror ihr.
„Nein, dieses Textgewebe erschließt sich nicht im partnerlos ab-geschiedenen Lektorieren. Wir sollten ihm die Ehre erweisen und es zweisam angehen.“
„Mit verteilten Rollen ?“
„Mit verteilten Rollen.“
Wofür es ja auch geschrieben war. Á la bonne heure ! In der Schrift-stellerei mochte Lucille Lehrmädchen sein, allenfalls Kleingesellin, in der Deklamation war sie Herrenreiterin.
Eine neue Kerze wurde entzündet, eine ausreichend lange für lange Lektüre, und nun ritt die Herrenreiterin par force den Foliantenblässling, der ihre Silben in den Mund nahm wie Lebertran, und ließ ihn rhetorisch über Gräben springen.
Ihre Gräben, tief und voller Wasser der Inbrunst.
Während er an ihren Versen kaute, mannhaften Tiraden kraftstrotzender Römergriechen, meldete sich in ihm kleinlaut das Bewusstsein, ein wie bescheidenes Dasein das Kraftstrotzende und ganz allgemein das Mannhafte in seiner Bücherburg bislang doch gefristet hatte. Seine Stimme wuchs daran, wie auch sein Schatten an den Bücherwänden. Nicht nur, weil die Kerze sacht herunterbrannte, sondern auch weil er sich reck-te und immer mehr streckte, aufgebläht vom Feuer ihrer Metaphern.
Zur Erwärmung Lucilles hatte er eine Karaffe bereitgestellt mit Holun-derwein, selbstgezogenem, wie er anmerkte, woher auch anderen Wein nehmen im Südharz, aber ihre Hochgefühle wallten gleichwohl auf wie von Muskateller, ungeachtet der Kälte des Südharzes. Wie warm ihre Hände seien, die Hände einer Dichterin von feurigem Gemüt, hauchte er und ob er die seinen an den ihren wärmen dürfe.
„Sie erblühen mir wie eine Petunie“ getraute er sich nun schon zu gestehen.
“Eine Petunie im Winter“.
Denn es war Februar, unter dem Sternzeichen der Fische. Nun getraute er sich bereits an ihr zu schnuppern, als ob sie diese Blume leibhaftig sei, petunia violacea, und schenkte weiter das Glas voll mit selbstgezogenem Holunderwein. Was das sei, eine Petunie ? Eine Blume von sehr weit her. Nachtschattengewächs. Brasilien. Lucille wollte wissen, wie sie aussähe, Lucille, als Blume.
„Das Fräulein wünscht eine Abbildung ?“
Das Fräulein wünschte, der Holunderwein moussierte in ihm. Die Bibliothek war allumfassend, die Bände zur Botanik allerdings fast so entlegen wie Brasilien, und das Fräulein möge ihm folgen. Die Kerze, nun schon kürzer, blakte an nimmer endenden Buchreihen entlang treppauf das ist die Metallurgie hier und nochmals treppauf das ist die Abteilung Religionswissenschaft und nochmals treppauf …
Obs ihr nicht auch genügte, wenn er die Petinie skizzierte auf einem Blatt Papier ? Zum Schreibpult also. Das Fräulein möge folgen, abermals treppauf. Als er aber endlich die Feder eingetunkt hatte, war ihm entfallen wie die petunia violacea aussieht. Zumindest die in Brasilien.
Sie nahm ihm die Feder aus der Hand, fantasierte eine Petunie, also sich selber aufs leere Papier, und wie Blütenblätter aus ihr sprossen, petunia felix, bevölkerte sich mit Käfern und gefiederten Raupen und einem Heuschreck mit langen brasilianischen Fühlern. Ehe er sich ein weiteres Mal die Brille geputzt hatte um sich in dem Heuschreck wieder-zuerkennen und mit Fühlern wie eine Brille, war die Kerze gänzlich he-runter gebrannt.
Ihre Hände, flüsterte er, fühlten sich nunmehr noch wärmer als vorhin da er diese Bemerkung bereits einmal gemacht habe, die seinen würden an den ihren schier verbrennen.
Allerdings nur die Hände. So dass die Frage sich erhebe ob sie ihre Temperatur nicht mit ihm teilen wolle, dergestalt, dass sein, mit Verlaub, gesamter Adam mit derselben beschenkt werde. Als er diesen Adam nun umständlich zu befreien begann von Leibchen, Unterziehpantalons, Wa-denwärmern, all den Schutzwällen wider die Kälte des Südharzes, genoss sie nicht nur die Nach-und-nach-Enthüllung eines berühmten Skribenten sondern vor allem seinen Geruch nach Südharzer Kernseife.
Zum allerersten Mal roch einer ihrer Bettgesellen nicht nach wo-chenaltem Schweiß, Fußkäse, angetrocknetem Bier, Abschminke und talgigem Hodensack. Dieser Kandidat hier roch nach Saubersinn. Im Zentrum seines Körperdufts war rein gar nichts, dies aber als ein säuber-liches Nichts. Und drum herum Kernseife, und noch weiter drum herum der Duft von unendlich viel Papier, frisch aus der Papiermühle, gewalzt aus jungem Pappelholz.
Er war gesegnet mit dem Parfüm einer Buchseite. Bücher waren die Wollust schlechthin gewesen für Lucille als sie noch ein eingesperrter Backfisch im Lippischen war, Bücher raunten und schnurrten hinter der Mauer der neunhundertneunundneunzig Sünden. Bücher waren wie fer-nes Matratzenquietschen aus dem Serail. Außer der Bibel und dem Lip-pischen Handelsregister hatte nichts Gedrucktes Zutritt gehabt in ihrem Elternhaus. Nun roch sie, warum. Papierduft war Verführungsduft.
“Jetzt, Fräulein, halte ich bereits den Blütenkelch in der Hand“ sagte er. Er meinte der Petunie.
Und als er sich nun an die weitere Aufgabe wagte, auch eindringlich zu werden, kam Luille um die Erkenntnis nicht herum, dass der Berühmte in ihr ein Erstlingswerk zu verrichten sich anschickte. Und dass es ihr oblag, ihn umsichtig hinzuleiten zum Schauplatz seiner Bemühungen.
„Und ich halte den Blütenstengel“ sagte sie. Und meinte nicht die Petunie.
Als endlich die Ergießung vollbracht war, wusste noch nicht dass auch eine Zeugung vollbracht worden war, über der Mars und Venus günstig standen in dieser Nacht. Aber das bloße peut être, dass sie als Dichterin den Sohn eines Dichters austragen dürfte, der mithin ein gedoppelter Dichter würde, erhellte ihre Sinne wie ein Kometenschweif und das Licht ihrer Fantasie fiel wiederum auf petunia felix, einen Dschungel von sich aufstülpenden roten Petunien, rot und feucht wie Schamlippen und der Regenwald im Gran Sasso.
Unten wurde ein Kutschenschlag zugeworfen und dann die Haustür.
“Liesegang, wo steckst du denn ?“ rief jemand in der Diele.
Ihr Bettgenosse fuhr auf, mehr als zuvor nach Kernseife riechend und frisch gewalztem Papier.
„Liesegang ! Warum hast du nicht geheizt ?“
Lucille stellte sich schlafend als er aus dem Bett glitt und nur noch die Kernseife blieb. Er fand sogar noch die Zeit, ihr mit einer neu ent-zündeten Kerze ins Gesicht zu leuchten, ob sie auch sicherlich schliefe, als sein Herr drunter ein drittes und viertes Mal Liesegang ! rief, immer ungehaltener.
Während Lucilles Gespiele die Treppe hinunter stürzte, ja wortwörtlich stürzte, denn er wusste das Anziehen seiner Hose und das Abwärtsrennen nicht ersprießlich in eins zu bringen, so dass sein Herr ihn, den Stür-zenden und erst teilweise Behosten, am Fuß der Treppe auffangen muss-te.
Nun freilich lachend, denn Liesegang dauerte ihn wie er auch Lucille dauerte. Die bereits ihre Kleider gerafft und sich davongestohlen hatte. Erst draußen, als sie in der südharzischen Winterkälte die letzte Öse einhakte und ihrem Gespielen beim Ofenschüren durchs vereiste Fenster zusah, sah sie dass auf dem Schreibpult noch immer ihr Manuskript lag. Aufgeschlagen beim dritten Akt, siebente Szene.
Es erschien posthum unter des berühmten Hausherrn Namen. Als, so beklagten Herausgeber und Rezensenten, Johann Wilhelm Ludwig Gleims einziger Versuch im Theaterfach. Hätte er doch wie das exemp-lum erweist, das Zeug zum richtungweisenden Dramatiker gehabt.
Porpora dagegen ! Er roch nicht nach Kernseife und schon gar nicht nach Papier. Über seine Herkunft verweigerte er Lucille ihre ganzen gemeinsamen Jahre lang die Auskunft, und der Raubierduft seiner Fremdheit verlor sich nie. Kam er aus dem Baltischen ? War er Wirtssohn aus dem Westfälischen ? War er Sohn einer großen Stadt oder zwischen Ackergäulen geworfen worden ? War er ein illegitimer Spross einer Für-stenfamilie ? Welchen Aszendenten sollte sie für ihn annehmen, im Trigon zu Lilith ?
Porpora oszillierte in allen Farben und Sternbildern, beglückte sie in allen vorgestellten Rollen und Herkünften, versetzte sie mit allen seinen Personalitäten in Erregung. Als abgemusterter Kriegsmann, gewesener Tierbändiger, entlaufener Priester, verkannter Prediger oder als Steuer-mann eines Schoners, der in durchwachten Nächten ums Kap Hoorn herum seine Begabung als Menschengestalter erkannt hatte. Sie hätte - meine Epiphanie ! - neue Tierkreiszeichen erfinden müssen, um Porporas geheimnisvolle Erscheinung zu fassen,
Und weil er seinen Geburtsort ebenso für sich behielt wie den Geburts-tag, pendelten sich ihre astrologischen Mutmaßungen ( nach anfänglichen Versuchen mit Löwe und Wassermann ) beim Sternbild Stier fest. Die er aufs befriedigendste einlöste, breit von Brust, stinkend aus allen Talgdrü-sen, dauerschwitzend, stimm- und rammelkräftig, und Bücher ließ er allenfalls gelten, um sie unter seine Schuhsohlen zu legen damit er größer erschien, wenn er hinter einem Tisch stand.
In der Höhe hätte ihm der Theatergott ein paar Zoll mehr gewähren können. In einer fremden Compagnie, die nicht auf seine Ordres zu hören hatte, wären die Heldenrollen folglich für ihn rar gewesen.
Aber dieses Organ ! Es glich die Statur mehr als aus. Diese Röhre ! Wie ers selbst benannte, tiefstapelnd. Diese bronzene Glocke, wie Lucille sie bibbrig beschrieb, auf tiefes f-moll gestimmt ! Jedenfalls in der ersten Zeit der schleckenden Verliebtheit, ja Verfallenheit. Die begann, als sie hinter der Bühne Zeugin wurde, wie er sich das schwarze Trikot des Todes, mit aufgesteppter weißer Rippenleiter bis hinunter zum Nabel aufriss und seine triefende haarige Brust entblößte. Der Schweiß dampfte aus dem Totenschwarz und schlug sich auf Lucilles verklärten Gesicht nieder. Auf der einen Brustseite das Knochengerüst, auf der anderen seine kochende Fleischlichkeit, überwölbt von seiner Stimme, die aus dieser brusthaarigen Region aufstieg und in der beides mitschwang : das Irrlichtrige des Knochenmannes und das Viehische des Mannmannes.
Lucille, seine Schweißtropfen auf den Backen und selber in Hitze geraten, strich rechts mit den Fingern über die aufgenähten Rippen, links über seine schwitzeschmierigen Bauchmuskeln.
Und es war um sie geschehen.
Porpora wars ! Denn damals nannte er sich noch Porpora, einem on-dit zufolge aus Parma vertrieben, und Lucille hatte damit einen zuverlässigen geografischen Ort, an dem sie ihre astrologischen Luftfäden festzurren konnte. Sein Aszendent war derselbe wie der des Augustus und Porpora im nachhinein der Römer in allen Dramen, die sie lange vor seinem Auf-treten schon intuitiv für ihn geschrieben hatte. Sie hatte nur noch nicht gewusst dass ihr Römerheld so römisch aussehen würde wie Porpora.
Zu seiner Gefährtin erhöht, schrieb sie ihn nun so nieder, wie er sich selber sah und gesehen werden wollte. Ödipus bekam die Tonnenbrust von Porpora, El Cid stand auf Porporas Beinen, kurz aber mit ausla-denden Waden gesegnet , Alexander der Große warf seine Jamben über seine Griechen hin mit Porporas Stimme, Orlando furioso gestikulierte mit Porporas Armen, Graf Norrington warf das Kinn in die Höhe wie Porpora und wurde damit zum britischen Römer, Arminius der Cherusker zog die roten Brauen kraus.
Und sie alle zusammen fanden so schnell kein Ende, wenn sie einen Monolog begonnen hatten. Weit vorn an der Bühnenkante, die Rampen-beleuchtung warf dämonisches Unterlicht auf Porporas Jochbögen und Kinn, und während er seine Sätze in die Reihen schleuderte, fasste er diesen und jenen ins Auge, als sei seine Suada ausdrücklich an desen ganz Bestimmten auf dem Parkettplatz 34 gerichtet.
Die dermaßen festgenagelte Person wagte keinen Schnaufer mehr. Kein Hüsteln, kein Ruckelchen, nicht einmal zwei Finger trauten sich mehr schützend über seine Augen. Wenns einen Mann traf, fühlte er sich beim anschließenden Applaus zwar schweißgebadet, aber als Mittäter geehrt. Wenns eine Frau traf, wurden nach der darauffolgenden Vorstellung Rosen in der Garderobe abgegeben, in Vorausfreude auf ein Wiederfix-iertwerden am nächsten Abend. Was die Rosenspenderin bitter zu bereu-en hatte, denn bei der Aufführung am nächsten Abend wurde nicht mehr sie, sondern eine Zielperson in Reihe drei von Propodonskys Blick malträtiert, zweiter Sitz von außen. Ein Schwerhöriger, der bei Propo-donskys Monolog eingeschlafen war.
Die Kollegen hatten derweil weit hinten zu stehen, bewegungslose Versatzstücke, fast an die Leinwand des Prospekts gedrückt, damit sie vom Parkett aus wie kleinwüchsige Dünnlinge wirkten. Und niemand da unten gewahrte, dass der Prinzipal, princeps spectaculorum, Schuff nicht einmal bis zum Schlüsselbein reichte.
Niemand in der Compagnie ahnte, Strönebald als Souffleur ausgenom-men ( und auch der erst allmählich ) wem die akkurate Handschrift ge-hörte, in der das Repertoire der Truppe reinlich zu Papier gebracht war. Auf neues Papier, ohne Eselsohren und Dazwischengekritzel.
Immer die selben Oberlängen, wie Rittespornstengel, immer die selben Unterlängen, wie Damaszener Klingen. Immer die selbe Tinte, ob sie nun von einem sonst unbekannten Charles Ratroit de LaCuif stammte, einem Sir Henry Shornourk oder den Dichterbrüdern Renato und Donato Barba-gallo.
Lucille erfuhr in den Jahren mit Porpora, der immer mehr zu Propo-donsky verkam, dass er vor allem Stimme war, die Stimme des vielleicht Gastwirtssohns, gestählt in der heimischen Wirtsstube. Kein Rauch konn-te ihr etwas anhaben, keine Gelärme Betrunkener und auch nicht der Mief von Kohlsuppe. Vielleicht aber auch die Stimme des Steuermanns, der gegen den Wind geschrien hatte, des verkannten Predigers einer längst ausgetriebenen Sekte oder eines Tierbändigers, der seine Löwen brüllend Mores gelehrt hatte.
Aber eben nur die Stimme. Propodonsky war nur bei sich selber, wenn er seine Stimme orgeln ließ, durch ihre Register hindurch donnerte. Das Drama, dem er seine Stimme lieh ging ihn nichts an. Er war der rex leo-norum in den Vokalen, Konsonanten und Tönungen die seine Rolle verlangte, jenseits davon war sein Reich zu Ende. Der Vorhang hätte fallen können, wenn er abging, und wärs im ersten Akt. Was das Schreibweib ausfantasierte, mit der er das Lager teilte, war ihm Hekuba wie der Samen, den er in sie schüttete, ( sein ständiger Begleiter als Sinnspruch, dabei wusste er nicht einmal mehr, aus welchem Stück er sich die Hekuba gemerkt hatte ). Wie auch die Föten die durch ihn in ihren Bauch gerieten alle Hekuba hießen, ob Mädchen oder Knaben. Alle erblickten sie das Dunkel des Kanalrohrs statt das Licht der Bühne.
Ein einziges Mal hat Lucille durchgesetzt, ein Kind ausgetragen. Er setzte dafür ihre Stücke auf den Index, neun Monate lang, spielte Gott-sched und betrog sie mit der Jugendlich Naiven. Damit er nicht auch sie verstieße wie zuvor ihre Stücke, legte Lucille den Säugling, einen Kann-ben, einem Posamentenmacher in den Hintergarten, den sie eigentlich nur hatte betreten wollen um darin Pflaumen zu stehlen.
Ihr Weg zum Drama drehte sich um. Wenn sie als Mädchen bei der Näharbeit gedichtet hatte, so legte sie nun die Feder aus der Hand und nähte. Sie hatte gelernt, dass Schauspieler die Texte hassen, die sie in den Mund nehmen müssen, und Lucille wollte doch geliebt werden von ihrer Compagnie. Die für die Premiere am kommenden Samstag eine Gene-ralsuniform brauchte, eine Priesterrobe, einen Krönungsornat. Es mussten Vorräte aus alten Fensterportieren angelegt werden für künftige Krö-nungsornate, zerschlissene Bettbezüge umgefärbt zu künftigen Hoftrachten.
Und genäht, genäht, genäht. Die Erfindung neuer Figuren und Stücke verschwand für Lucille in Abnähern und Innensäumen. Hat Shakespeare seinem Othello je einen Rock geschneidert, hat Lessing dem Nathan einen Knopf angenäht, hat Kotzebue zerrissene Kniehosen geflickt ? Und wer, wenn das Stück abgespielt war, wusch die verdreckte Garderobe ?
Langebehn bestand auf täglich sauberer Garderobe, sonst trat er nicht auf. Das Durchgeschwitzte in Ballen geschultert, musste Lucille in die Waschhäuser und auf die Waschschiffe, um mit Schmierseife die Roben der Könige, Helden und Götter zu schrubben. Und die Hand-werker-frauen und Bürgermägde reckten die Hälse Igitt was schleppt die denn für Plünnen an ? Nisten da nicht Flöhe drin, Blattern, und Krätze ? Und wie ist es mit der Syphilis, man hört doch allgemein, Wanderkomödi-anten lassen die locker in ihrem Unterzeug logieren, weil sie vor lauter Verworfenheit immun dagegen geworden sind.
. Und wenn die Wäsche auf der Bleiche lag, die Göttertoga neben den Hemden des Seilermeisters und den Nachtjacken der Droschkenbesi-tzersgattin, wenn auch deutlich abseits wegen der Schicklichkeit : Ich zähle und zähle schnatterten die Bürgerfrauen dann, aber ich könnte beschwören ich hab fünfundzwanzig Stück ausgelegt und nun sinds nur noch siebzehn. Meine Rede, schnatterten die anderen, man hört doch allgemein Wanderkomödianten sind noch mehr ruckizucki im Klauen als wie die Zigeuner.
Propodonsky, princeps spectaculorum, gefiel sich, wenn er seine Auf-wartung bei den Honoratioren einer Stadt machte, in der Rolle des heim-lichen Poeten, der sein Repertoire eigenhändig zimmerte, was aber unter bitte uns bleibt, und unter der Maske vieler Pseudonyme auch noch der rex leonorum der Bühnendichter war.
Wie sein Kollege Molière oder Dergewisseda da am Weimarer Hof.
Bei Propodonsky war der Weimarer stets nur Dergewisseda. Ein dilet-tierender Jurisprudent in der thüringischen Provinz. Sein Götz, gewiss eine passable Partie, ich habe sie achtzehnmal gespielt, aber dieser Herzog da in der thüringischen Provinz hatte Dengwissenda auf einen Theaterthron erhöht, der eigentlich Propodonsky zustand.
Und Lucille versickerte in sich selbst. In den ersten Jahren an Propodonskys Seite verschwand sie aus den Rollen der Liebhaberinnen, dann aus denen der Königinnen. Dass sie nun im Rollenlosen dahinvege-tierte, dafür hatte sie sich selber zu danken. Heldenmütter nämlich hatte sie, als sie noch jung war, in ihre Stücke hineinzuschreiben vergessen. Sogar selbstverfasste komische Alte und weibliche Wurzen fehlten ihr nun. Sie war nur noch in der Rolle der Gewändermagd besetzt, die in den Abnähern von Figuren herumkroch, die sie vor Zeiten erfunden hatte.
„Meine Blume“ schnurrte er, wenn sie ihm sein Kostüm auf den Schminktisch legte, “du hast noch immer Hände wie Samt.“
Und holte sich diese Hände unter das Kostüm, das sie ihm gerade genäht hatte. Nur noch ihre Hände, nie mehr sie selbst. Und schickte sie mit Klaps wieder an die Arbeit. Meine Einzigartige wird mir wieder ein Kostüm zaubern für den Macbeth, ich möchte ihr jetzt schon die Füße küssen dafür. Wenn er auf der Bühne dröhnte, längst ohne sie, und sie in der Garderobe schneiderte, wurde diese Garderobe wieder zum Wä-schezimmer ihrer Eltern im Lippischen, in dem sie an ihrer Aussteuer na-deln musste, nur viel schäbiger. Je weniger Zärtlichkeit er ihr gönnte, desto weniger gönnte sie ihm Text. Sie wünschte ihm Rollen die schon auf Seite vier oben endeten, durch Meucheltod.
Ja, du bist ein besessener Theatermann, Propodonsky, ein besessener Theatermann, ein besessener Theatermann, ein besessener Theatermann, ein besessener –
Das Wort besessen verursachte ihr schon lange Übelkeit. Ihr Gatte, ihr Inhaber, ihr Nicht-mehr-Liebhaber lebte nicht. Er agierte nur, besessen von der Erhöhung seiner selbst. Er umgab sich mit seinem Ensemble nur deshalb, weil er nicht allein den ganzen Text lernen wollte. Er hätte sich bei seinen Irrfahrten von der einen Erfolglosigkeit in die nächste Erfolg-losigkeit genausogut vor seinen Schminkspiegel stellen können und sich einen runterwichsen.
Lucille schaute in kein Horoskop mehr, Mars war allerwege im Krebs und im Fall. Der Fortgang der Zeit war allein daran zu ermessen, dass der Ihrige sich nicht mehr auf die Seinige warf, Lucille, sondern auf ihre Tochter. Ein rammelnder Philipp August Theophil, unbekannter Abkunft und bekannter Finessen. Kein princeps spectaculorum mehr und kein rex leonorum.
Und so gesehen gönnte sie es ihm, dass er vor aller Welt ihr Werk als das seine ausgab.

„Öha“.
Des Floßmeisters Ein- und Alleswort, in dem er weitverzweigte Ge-schichten raumsparend zusammenzieht, an denen andere, mit dem Maul Geläufigere, Stunden zu erzählen hätten. Öha bedeutet zuvörderst wir sitzen fest im Eis und sind festgefroren. Was dagegen zu tun sei, das erspart er sich mit seinen drei Buchstaben öha, es ist nämlich gar nichts dagegen zu tun und auszurichten, öha, außer geduldig warten und im-merweiterzu warten. Und dabei den Kautabak wandern lassen von einer Backe in die andere.
Mögen andere Opfer darbringen und wildfremde Zuchtln ins Wasser schmeißen öha ! im Glauben, der Flußgott frisst sie und gibt dafür das Wasser frei zum Weiterfahren. Der g‘standene Flößer aber wartet in holzgeschnitztem Gleichmut, bis das Eis ein Einsehen hat. Und sich verzupft. Weil nämlich die Strömung unter ihm arbeitet, an ihm rumpelt und schleckt, der Fluss hört ja nicht auf zu fließen, weil das Eis auf ihm hockt, es bricht ihn auf in Schollen bricht und auf einmal ist ein Eisstoß da. Ein verkantetes Gebirge von Blöcken, das für das Floß noch gefährlicher ist als die glattgefrorene Eisdecke. Man muss Stämme aus dem Floß lösen und sie als Eisbäume vor das Floß legen, damit die Blöcke daran abrutschen.
Wenn man Geduld hat und immer wieder Tabak zwischen die Zähne stopft ( schon damit die Verfluchungen dessen der eine solche Erzsauerei erschaffen hat gedämpft werden ) kann es geschehen, dass das Eis brüchig wird, der Stoß abfault, wie der Flößer sagt, und das Floß sich durch offene Rinnen seinen Weg keilen kann.
Öha !
Was dabei auf dem Floß im Weg steht, liegt oder gestapelt ist, muss eiligst für sich selber sorgen, sonst genügt ein weiteres Öha und es plumpst gnadenlos in den Strom. Wie die Kiste mit den Requisiten der Schauspieltruppe, die schon halb darin versunken wäre, wenn Schuff und Käpernick sie nicht gerade noch herausgezerrt hätten.
Um sich gleichzeitig selber zu retten vor den Floßhaken der Knechte, deren Stöße zwar dem Staksen durch die Eisfurt gelten, aber auch auf ihrer beider Knie zielen.
„Öha !“

Blasius muss nicht mit einem Öha beiseite gestoßen werden. Blasius liegt weit weg draußen auf dem Eis. Bäuchlings, dort wo die Strömung Wasserrinnen in die Schollen gerissen hat. Blasius ist ganz seinem Spiel hingegeben. Wer wie seine Mutter am Ufer steht, kann durch den schlie-rigen Nebeldunst sehen wie er sich freut, dass ein Klumpen Holz ihm zuliebe auf den Wellen schwimmt. Sobald aber die Wellen den Klumpen mit sich fort spülen wollen, quäkt er unwirsch und angelt ihn sich zurück Dass er einen Haltestrick drum binden könnte, darauf kommt er nicht.
Aber ein Haltestrick würde sein Vergnügen mindern. Denn dass sein Spielzeug sich ihm entzieht ( er treibt es mit einem kleinen Stecken an wie einen Holzkreisel ) dass er um sein Spielzeug immer wieder bangen muss, lässt ihn vor Spannung gibbeln, trenzen, jubeln.
Der Stecken treibt an, die Angst ums Verlieren steigt ins Uner-messliche, als aufgeregter Seehund auf dem Trockenen robbt Blasius hinterher. Wird er sein Holzstück mit letzter Mühe noch erhaschen ? Oder wird es entschwinden und entschwimmen, ihn allein zurück lassen ?
Blasius wirft sich bäuchlings hoch, wenn sein Spielzeug auf den Wellen hüpft, und sein Hintern hüpft mit dabei. Die nächste Eiskante hält sein Spielzeug auf und er frohlockt und quiekt, weil es bei ihm bleiben will. Um es gleich wieder mit dem Stecken anzutreiben, damit es ihm wieder entwischt.
Die Strömung wird eiliger, das Entwischen auch. Seine Dickhändchen erreichen den Holzklotz nicht mehr. Blasius wird nun gänzlich zum Seehund und gleitet ins Wasser. wo das Holz ihn schon erwartet. Es lässt ihn auf sich reiten, sein Hintern hüpft wieder in die Höhe, aber nun ist keine Hose mehr darüber.
Wer auf dem Floß oder am Ufer steht erkennt, dass es kein gewöhn-licher Holzklotz ist, auf dem Blasius reitet.
„Frau Eeeeeeeeengel !“
Nass vom Eiswasser, glänzt das Weiß und das Gold auf dem Schnitz-werk. Die Wunden, die die Säge ihm gerissen hat, sind vom Wasser aufgeschwemmt und verfärben sich ins Rotbraune, wie Blut. Der Engel des Engels dreht sich um sich die eigene Achse in der immer schnelleren Strömung, Blasius dreht sich mit ihm.
Aus dem Wasser heraus, ins Wasser zurück, aus dem Wasser heraus. Und Blasius jauchzt.
„Gut tun….liiiiiiiieb….“
Nun ist Blasius wieder oben, liegt auf der Brust des Engels, hält sich an seinen weißen Gewandfalten fest, seine Zunge stößt in den Engelsmund, der sich ihm weit öffnet. Ein Stengel von einem Umfang der dem Kleinen nicht zuzutrauen war, glitscht an dem weißen Holz entlang, aber da unten will sich nichts öffnen.
Sein Kolben zittert blöd und rot in den Himmel.
„Liiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiieb….“
Der Engel lächelt. Seine üppigen Lippen, sinnlich geöffnet, haben immer schon gelächelt, und es war für himmlische Seligkeit zu halten. Nun aber erweist sich, der Engel hat immer schon darauf gewartet von Blasius geritten zu werden, und nun lacht er frei heraus in irdischer Wollust.
Und Blasius tut alles, dem Engel wohlzutun, seine weißen Hinterbacken, nur ein wenig rosiger als das Weiß des Engels, glänzend vor Wasser, ploppen auf und nieder, auf und nieder, sein Gesicht ist violett vor Mühe und Verzückung und sogar die Flügel des Engels scheinen nun weiter gespreizt als vorher. Sie pflügen wie Flossen durchs Wasser lenken ihn und seinen Reiter in ein Rinnsal, das immer breiter wird. Der Engel pflügt sich dem Floß voraus, das Floß arbeitet sich hinterher, die Stangen der Flößer stoßen die Eisschollen beiseite.
Die Mutter ist starr wegen dem was ihr Sohn vor aller Augen begeht, sie verwünscht den Engel, ertappt sich bei der Sünde, einen Engel des Herrn zu lästern und verdammt sich sogleich dafür. Als sie nur noch den Kopf des Engels aus dem Eis ragen sieht und nicht mehr ihren Sohn, springt sie auf die Schollen.
Nicht mehr grinsen sollen die Flößer, sondern mit ihren Stangen nach dem Blasius angeln Das Kind muss jetzt unter ihr sein, so schnell kann es noch gar nicht abgetrieben worden sein, die Floßknechte sollen ein Loch aufmeißeln mit ihren Stangen. Das Eis rollt, gibt ein bedrohlich-ungnä-diges Knurren von sich, es grollt, es knurrt wie ein Hofhund der gleich zubeißt.
Da schaltet sich Gmeinwieser ein.
„Basius is das Opfer an den Fluss. Und der Fluss nimmts o.“
Kein Lamento jetzt, der Herrgott hat entschieden.
„Da g’hört si Buße und net Flennen, Weiberts.“
In das Weiberts steckt er seine ganze Verachtung und verschleift es bis zum angeekelten Weiwaz,
„Weil Geflenn ist Hoffart gegen den Herrgott da drobn.“
Lucille zieht die Mutter vom Eis wie einen Sack. Ihre Füße schleifen durch den Reif, der auf dem Eis liegt.
„Tu Buße. Sonst triffts uns noch alle.“
Alle, das sind die Zeugen der Unzucht des Blasius. Gmeinwieser sagt eilends die verfügbaren Gebete her, damit nicht noch mehr Verhängnis ausgeschüttet wird. Wer soll es schon sonst tun, es ja kein geweihter Priester mehr aufzutreiben. Der Viehhändler springt in die Bresche der Gottesabkehr, in nomine patris et filii et spiriti sancti, und die Flößer stehen dabei und ziehen ihre Hüte.
Zum Dank, dass das Eisopfer angenommen wurde, das der Himmel eingefordert durch Verhängung plötzlichen Frostes. Und Dank dass Floß wieder in Fahrt kommt durch eisbefreite Gewässer.
Paxvobiscum drauf, und Amen.
Der Leichnam des Blasius wird unter der Eisdecke dahin treiben, ruhelos, unbestattet, in unheiligem Abwasser statt in heiliger Erde, hinab hinab die große Vielvölkerrinne ohne Stillstand und ohne Erbarmen, unter den namenlosen Gründlingen selber namenlos zwischen dem Gewusel der Schmerlen, der Bitterlinge, der Nerflinge und Zingeln und Schleien und Schlammpitzgern und Rotaugen, ein verwesender Mitwanderer der Wan-dermuscheln und Molche und Wasserspinnen, Kaulquappen, Schlammschnecken, Kugelmuscheln, Wasserlinsen der fauligen Verdammnis, abge-schieden durch die Eisdecke vom Blicke Gottes und seiner Gnade, lässt der doch zu Schwemmgut verkommen was sich seiner gütigen Hand entwunden hat, so wie den Pfaundler Kaspar, der Teufel sei seiner Seele ungnädig, der Gmeinwieser hat ihn gut gekannt, ein Viehdieb ist er gewesen ein hundsheiterner und ein Brandzeichenfälscher, die zusammen gegaunerten Münzen in seinen Taschen haben ihn aus seinem nixigen Leben gezerrt hinunter in die Donautiefe, in die Düsternis des Fluss-grundes, schwarze Seele in schwarzes Wasser, justament vor die Mäuler der Welse, die zu schwerleibig sind um es mit der Strömung aufzunehmen, unter den Planken uralter Schiffswracks lauern sie auf Beutefleisch das zu ihnen hinunter sinkt, Blutegel ringeln sich als Bärte in ihren bösen Grinsgesichtern, die Blindheit ihrer winzigen Äuglein erspart ihnen den Anblick ihrer eigenen Hässlichkeit, vor Gier verbeißen sie sich ineinander, Gier-Wels in Gierwels, das lilane Blut das dann aufschießt saufen die Mollusken, die gespensterbeinigen grünspanigen Krebse säbeln sich ihren Anteil davon weg, zersäbeln die Beute, die abgesoffenen Hunde und Schiffsleute, vorgegerbt vom finstren Grundwasser, nur die Sehnen ver-schmähen sie, speien sie aus, und die flattern, zerfasert wie Efeustrünke, Miesmuscheln setzen sich ihnen fest, machen die zerrissene Kehle eines Ruderknechts zu ihrer Heimstatt, verschnürte Gefangene die man vor Zeiten in den Fluß geworfen hat, finden keine Ruhe im Tod, stoßen Verwünschungen auf ihre Ertränker aus die als Blasen zur Oberfläche steigen, in der Sommerhitze platzen und Miriaden von Stechmücken und Moskitos aus sich entlassen, durchbohrte Hunnen strudeln neben ihnen her, die Reisigen Etzels, römische Legionäre mit eingedellten Helmen auf den moosigen Schädeln, Janitscharen aus irgend einem Feldzug der Türken den sie schon damals nicht verstanden, denn Janitscharen, der türkischen Sprache nicht mächtig, haben niemals irgend etwas verstanden, paukend, blasend, die Schellenbäume schlagend waren sie dem Heerhaufen voraus marschiert wie es die Order verlangte, in ihre riesigen Tuben blasen sollten sie und die mannshohen Schellenbäume rühren und die Kesselpauken schlagen auf dass die Feinde sich entsetzten und Reißaus nähmen schon vor der Schlacht, und die Janitscharen marschierten, die Janitscharen bliesen, die Janitscharen rührten die Schellenbäume, aber die Schlacht war weit von ihnen fortgerückt, der Heerhaufe hinter der Janitscharenkapelle war längst abgeschwenkt, die Befehle des osmanischen Generals verfehlte sie denn sie waren ja des Türkischen nicht mächtig, aber die Janitscharen marschierten weiter, trommelten, bliesen, schellenbaumten, marschierten stracks hinein in die Donau, ertranken nicht vor lauter Pflichtgefühl, mar-schierten nur langsamer nun voran, aber dass sie gegen die Strömung an-kämpfen mussten nunmehr, machte ihnen das Lärmen nicht leichter, die Strömung schob sie dahin wie Rollkiesel und immer weiter fort, die Schellenbäume hallten nicht mehr, Tang umschleierte die messingnen Plättchen, die Pauken dröhnten nicht mehr, Aale laichten darin, die Tuben erschreckten nur noch die Weißfische, glagolitische und orthodoxe Mär-tyrer, an Holzkreuze gefesselt, mischten sich zwischen sie sowie Ketzer, mit Steinkreuzen um die Hälse, die sich noch immer begeiferten, die Gesichter entstellt von Bigotterie, Grundschwämmen und Medusen, die Fußknochen calvinistischer Prediger, die die Habsburger hatten ertränken lassen, verhakten sich im Strudel von Grein, aber die Strömung trieb ihre übrigen Leiber fort stromabwärts, überwachsen von Schwimmfarnen , und zog sie in die Länge bis hin zur Stadt Budapest, wo die Gerippe sich verhakten mit anderen Gerippen, die Strömung lagerte Bettkästen in ihnen ab, Sudkessel, Rüstungen, Speere und Gewehre, Brat- und Kriegsspieße, ins Eis eingebrochene Hirsche, Scheiße und abgetriebene Föten, und die giftige Waschlauge der großen Städte ließ aus alldem neue grausige Wesen aufwuchern woraus wiederum die Gliedmaßen der Ertrunkenen ragten. Das schwemmt und schlammt und schludert sich hinunter ins Ungarische, zu den Hunnen, durchs Eiserne Tor, in die Walachei, in die Dobrudscha zu den Türken, den Ungläubigen die unsrer aller Abmurksung im Sinne haben just bei denen entlädt sich das in die Sickergrube, ausgespien in das schwärzeste der schwarzen Meere. In den Sudkessel, in den Suppentopf des Antichristen woraus es keine Auferstehung geben wird am Tag des Jüngsten Gerichts, denn nichts steht in der Offenbarung des Johannes dass da jemand heraufgeholt wird aus der großen Kloake, dem Abtritt der Osmanen und Tataren. Selbst dem Weltenrichter, dem Gütigsten der Gütigen, grausts vor dem pestilenzialischen Gestank der daraus aufsteigt. Denn, dessen sei der Christenmensch eingedenk ( so führt Johann Baptist Gmeinwieser aus ) die Donau ist ein Weib, eine Schickse von der Rasse der Lilith, welche aus der Heiligen Schrift hat gestrichen werden müssen. Der Ursprung der Donau ist ein unauffindbarer, weswegen ihre Länge von der Mündung her gemessen wird. Die Nullmarke bezeichnet den Ausfluss und die Mündung für den Quell genommen, mithin die Wiege, und es soll niemand ihm, dem Gmeinwieser, kommen und leugnen, dass dies eine Perversion ist von Anbeginn an, strömungsmäßig gesehen. Wie aber erst, wenn das tückische hurige Weib Donau sich umwendet und ihre Fluten stromauf strömen täten, wenn die Pelikane der Donaumündung auf einmal über München kreisten auf der Jagd nach Aas in der Residenzstadt des neuen Königreichs. Denn wie in eine Flöte verkehrt hinein vermag der Gottseibeiuns zu blasen, um die letzten Rechtgläubigen zu ersäufen in Abwasser.
Lucille de Brée und Notburga stehen umarmt. Die Bäuerin hält noch immer die Faust in den Mund gestopft, weil sie sich nicht traut ihren Schmerz laut werden zu lassen, und schon gar nicht den Jammer über den Tod in der Todsünde der Unzucht.
Lucille beneidet sie um ihren Schmerz weil er Notburgas eigener Schmerz ist. Lucille hat immer nur fremde Schmerzen hinausgeschrien. Verletztheiten von wildfremden Leuten, die sie nur obenhin kannte, weil sie sie selber auf ein Blatt Papier geschrieben hatte. Cyclana oder Lukrezia, längst verwichene Römerinnen, die vorgaben, sich unter etwas vor Leid zu winden, das bereits in Blankverse verpackt war, während sie verhustet vor einem verhusteten Publikum auf einem schlecht beleuchteten Bretterpodium standen. Weit hinten, denn der histrio primus, Verursacher dieser Leiden, beanspruchte wie stets den Platz vorne an der Rampe. Fremder Schmerz vor fremden Leuten.
Die Bäuerin aber beißt die Klage über den Schmerz, der ihr eigener ist in ihre Faust. Und schweigt, bis auf ein gurgeliges Greinen, das tierisch in ihrem Kehlkopf rumpelt.
Wehe dem der dahingeht im Stande der Todsünde.
Lucille setzt es auf ihre eigene Rechnung. Das Kind der Bäuerin, das in Todsünde verstarb trotz seiner Unschuld, kommt ihr nun wie ein eigenes vor, in dem ihre abgetriebenen Föten sich zusammenschließen und sie ansehen mit dem Gesicht eines Mongoliden.

Des Blasius Hinterlassenschaft wird zusammengetan. Seine gute Joppe in der er vergebens auf Wallfahrt war. Seine Gebetbücher, in denen er nicht lesen konnte. Die geweihten Amulette die alle nicht Kraft genug gehabt haben sein Gebrechen von ihm zu nehmen. Seine Zähne haben die Heil-beutel zerbissen, weil er sie für Würste hielt, die Gebetszettel mit den Anrufungen der vierzehn Nothelfer, von denen auch sein Namenspatron Sankt Blasius einer ist, hat er durchgelutscht und seinen himmelsässigen Paten damit verstimmt, und die Ledertäschchen mit Steinbockhörnern und Schlangenschwänzen, zermahlenen Palmzweigen, Eberwurz, Dotterwurz und Lab-kraut, die ihm nachts unter die Schultern gebunden wurden, hat er statt ihre Wunderkräfte durch seine Poren aufzunehmen, mit seiner Schwitze durchmantscht.
In all dem dem Heiligen und Geweihten, mahnt Gmeinwieser, stecken unabgerufen und unbenützt noch immer unermessliche Kräfte. Während Notburga es in dem Segeltuchkasten verstaut, in dem sie schon Blasius ver-staut hielt, um den Makel der Missgeburt vor der Welt zu verbergen. Bei der Schwarzen Madonna von Altötting will sie beisetzen, was von Blasius hinterblieben ist. Vielleicht verrechnets die wunderschön prächtige / Hol-de und mächtige / Himmlische Frau ihr mit der Bußlast, die sie zu erbringen hat. Stellvertretend für Blasius selber, damit seine arme Seele nicht umherirren muss und als Irrlicht oder als Kröte unter einem Feldkreuz hocken und auf Erlösung warten.
Gut Blut und Leben / Will ich dir geben
Lucille de Bree, geborene Bretzner mit weichem B voran wie in Soubrette, gelernte Comoedienspielerin, leidend unter Liederlichkeit und der Absenz von Müttertugenden, schließt sich ihr an.
Als die beiden Frauen den Segeltuchkasten über den Schnee ziehen, poltern darin die Amulette und Heilbeutel. Die Segenskräfte werden durchgeschüttelt, als läge Blasius noch zwischen ihnen, steifgefroren.
Der Bauersfrau ist das ein ungutes Geräusch. Es ist ihr tröstlicher dass der Bub in der Strömung versenkt und versorgt ist. Am End hätte er, wäre er noch am Leben, die Muttergottes von Altötting und die anderen Herrschaften noch kopfscheu gemacht mit seinen Rechenkünsten.
Ich reise in die Ewigkeit / Wo komm ich dort einst hin ?/ Wohin der Weg am Ende führt / auf dem ich jetzo bin.

Langebehn

Der breite grüne Inn hats pressant, er stürzt sich con brio bei Passau, kurz vor der Grenze, in die schmale dunkle langsame Donau. Er stürzt sich auf die Donau, die ihn ins Österreichische hinüberträgt.
Eine gesunde Auffrischung, freut sich Gmeinwieser. Ein Strom, der ein Mannskerl ist, hupft drauf auf ein träges weibliches Gerinnsel, eine weibische Dahinschleicherin. Als ob ein markiger Stier eine träge Kuh bespringt und sie zum Trächtigwerden zwingt. Das Kalb, das dabei entsteht wird ein erzgesundes sein, wie Gmeinwieser es gern verkauft und das einen erzgesunden Stammbaum begründet. Er spricht das gesund mit einem x am Anfang so aus, dass es klingt wie der Hieb mit dem Beil im Schlachthaus.
Der Inn führt ein gesundes Wasser. Ein Wasser das wo über Rollkiesel gereist ist von seinem Anbeginn als Quelle her, das ist ein heilkräftiges Wasser. Weil es immerzu Sprünge hat vollführen müssen. Hupferer. Wie auch der Jordan ein xundes Wasser gewesen ist. Und wer hat nicht gelernt auf der Floßreise, dass Johann Baptist Gmeinwieser mit beiden Beinen im Jordan steht bildlich gesprochen, vastehngaS mi und dass dabei auch noch das Auge Gottes auf ihm ruht.
Denn wie hat Gott gesprochen seinerzeit bei der Taufe in diesem xunden Gewässer ? Das ist Gmeinwieser an dem ich mein Wohlgefallen habe.
Paxvobiscum drauf, und Amen.

An da Grenz, sagen die Österreichischen. En frontière, sagen die Bairischen. An der Grenze stehen sich Königlich bairische und kaiserlich österreichische Uniformträger unfreundlich gegenüber. Als die Passpa-piere vorgewiesen werden müssen, schafft sich Gmeinwieser mit seiner Geißel Bahn durch das Gewimmel von Vieh, Passagieren und Grenzern.
„Habe die Ehre, ihr Hundling, ihr ausg’schamten.“
Er schart die bairischen Beamten mit seinem Geplausch und Gelächter um sich, formt sie zu einer Runde, als hätte man im Wirtshaus schon seit Stunden beisammen gesessen. Und als die bairischen Beamten Gmein-wiesers Lachen übernehmen, lockt das auch die österreichischen herzu, die von seinen Anekdoten ebenfalls ihren Anteil abkriegen wollen als zollfreie Zuwaage.
Oben am Ufer kampieren Truppen, die französischen Geschützrohre sind gegen die österreichischen gekehrt, Wachsoldaten vertreten sich frierend die Beine, lauschen aus ihrer Höhe herunter was da Unter-haltsames zum besten gegeben wird. Gehen aber leer aus, wenn Gmein-wieser freigiebig um sich streut, was der Bauer selbigsmal zur Zenzi g‘sagt hat und wie der Rossdieb gepfiffen hat und wie der Spitzbub sich vor dem Galgen gedrückt hat und der Henker dumm geschaut hat, und die Beamtenrunde kommt wie im Wirtshaus aus dem Lachen nicht mehr he-raus.
„Und da sagt der Herr Hochwürden von der Kanzel runter : Zentum draadentum‘…“
Die neu dazu gekommen sind, wollen die Pointe der vorigen Ge-schichte hören, die Umstehenden wollen die begonnene Geschichte fort-gesetzt haben, Rossdieb steht gegen Zentum draadentum. Gmeinwieser, bedrängt wie er ist, sieht sich außerstande die Beamten mit Spassetln zu bedienen wenn er so viele amtliche Schriebe dabei in seinen Händen halten muss, die Herren möchten ihn bittschön entlasten solang, aber nix durcheinanderbringen, gell.
Sie lachen, sie halten die Papiere, sie wollen weiter lachen.
„Also, was hat der Jud g‘sagt ?“
„Nebbich, sagt der Itzig zu mir…“
Eine neue Anekdote drängt sich in den Erzählfluss, und auch die nächste, Gmeinwieser erinnert an seine Papiere an. Er hat sie in vielen Händen verteilt sieht, weiß nicht mehr in welchen. Dabei soll das Amtliche doch endlich erledigt werden. Aber ein paar hintere Beamte sind mit dem Zentum draadentum noch nicht durch, kurz vor der Judenpointe muss Gmeinwieser abbrechen und die Rossdieb-Geschichte noch einmal aufwärmen. Neue Beamte drängeln sich dazu, Gmeinwieser schwört, ihnen allen Genüge zu tun.
Zentum draadentum also hat der Herr Pfarrer gesagt als er sich bei der Sonntagspredigt auf den Entenbraten gefreut hat der ihm gleich aufgetischt würde, aber seine Haushälterin, die Zenzi, saß ergriffen von eben dieser Predigt in der Kirchenbank und da -
„Nebbich, sagt der Itzig, was leid ich von Hämorrhoiden…“
Man möge ihm seine Papiere zurückgeben damit alles fein seine Ordnung habe, bitte auch das schwarze Portefeuille, da sind die vetrinär-medizinischen Zertifikate drin. Aber diese Lappalie könne doch später erledigt werden, lachen die Beamten, dringlich sei jetzt das Zentum draa-dentum, und Gmeinwieser lässt die verschiedenen um ihn versammelten Idiome moussieren.
Wenn er einem Beamten den Linzer anhört, nimmt seine Anekdote eine linzerische Wendung, bei einem Tiroler wechselt er ins Inntale-rische, bei einem Straubinger rutscht der Witz über den Postwirt mit dem Zipperlein, der mit den Blutegeln auf dem Hintern flieht, ins Niederbai-rische. Und sein Erzählchen von dem Viehjuden, der ihn jüngst hat übers Ohr wollen, lässt sie er in Krems spielen, und dann -
„Und dann war da no der Huberbauer von Krems, und wia si der in Wien s’erste Mal in a Freudenhaus neit raut hat -“
Was, in ein Freudenhaus ? Das wollen alle hören, der Kremser auf kremserisch, der Passauer auf passauerisch, zuletzt fügt Gmeinwieser für den Mariazeller noch eine speziell steirische Pointe hinzu, bis die Beam-tenschar, nun in Lüsternheit vereint, vor Geilheit faucht. Und als er sie alle festgezurrt hat an der Angel seines Witzes, sammelt er beiläufig seine ungelesenen Papiere ein und schärft ihnen ein auf diese Bagasch da auf dem Floß blicke, o Auge des Gesetzes !
Weil, denen ihr Häuptling ist bei Nacht und Nebel verduftet, die Legitimationspapiere genauso, wenn da je welche waren. Der junge Blonde ist ein Napoleonsjünger, frage nicht was der für eine geheime Mission hier im Feindesland auszuführen hat, wo die Franzosentruppen schon hinter der Grenze bereit stehn, womöglich auf seinen Pfiff lauern zum Einmarschieren. Zwei sind Wilderer, der Lange im Pelerinenmantel ein eingefärbter Jud, das Weibsbild eine diebische Zuchtl, der Gwam-perte ein Viehdieb.
Und wenn die Herren Visitatoren jetzt mehr gezählt haben als bloß vier von der Bagasch, so haben sie dennoch recht gezählt, denn ein jeder von vereinigt in sich so viel Frevelei dass so viel zählt wie eine ganze Räuberbande. Die sie auch sind, nach eigenem Bekenntnis, ausgerüstet mit Schwertern und Spießen, sie haben einen ganzen Kasten voll davon.
Paxvobiscum drauf und Amen.
Der Floßmeister lässt das Floß in die Flussmitte rangieren. Pio-nieroffiziere vom 3.Füsilierregiment Erzherzog Carl haben der Besatzung die Baumstämme unter den Füßen weggekauft, wer jetzt noch darauf herumsteht, steht auf Widerruf auf des Kaisers Grund. Artilleriestel-lungen müssen eiligst errichtet werden, Barrikaden, Ställe für die Kavallerie, Pontons für schnelle Übergänge für den Fall der Franzos greift no gaacher o als dem Generalstab eh schon schwant.
Und am Ufer warten und winken Bürger von Freinberg und Kaufleute aus Engelhartszell, ganze Familien, ihre Habe steht verpackt neben ihnen, der Napoleon wird sie ihnen wegnehmen, exproprieren heißt das bei denen da drüben. Sie suchen eine Passage Linz oder gleich nach Wien, und halten Zettel hoch mit den Summen die sie dafür bieten.
Der Floßmeister begrinst es.
Frischer Kautabak, erste Ware aus der Walachei, im Balkangeschmack fermentiert, wandert geruhsam von der einen Backe in die andere. Seine Arbeit ist getan, braune Fäden laufen über sein Kinn. Es wird durch-gemustert, wie viel Ware noch auf dem Floß lagert, das es bald nicht mehr geben wird. Gmeinwieser lässt ein Boot zu Wasser, niemand hat vorher bemerkt, dass es auf dem Floß war. Wer ihm zur Hand geht, den wird großzügig Trinkgeld zuteil. Ja, er hat seinen großzügigen Tag heute, zeigt großzügig goldene Stiftzähne, die vorher auch niemand bemerkt hatte. Sein Viehbestand ist rentabelst in Liquidation gegangen, und der Herr Teitelboim, gepriesen sei auch er als sein associé, hat ihm seine Rinder überschrieben.
Und, während er im Boot Platz nimmt, den Münzkasten unter der Ruderbank, lobpreist er noch Noah und den Bund der Tüchtigen, seid frucht-bar und mehret euch und füllet die Erde.
Und wie er die Erde füllen wird ! Vorab die alte Monarchie, weil in der Gottes Ordnung noch Geltung hat. Die alten Gewichte nicht durch das jakobinisches Kilo scharlatinisiert sind, ein Pfund stellt immer noch eh-renvoll ein Pfund dar á siebenkommasechs Lot oder dreiunddreißig Quentchen vor dem Angesicht Gottes. Ja, da ist noch die Handschrift des Allerhöchsten dahinter, der Tüchtige darf unterm österreichischen Kaiser noch selber gestalten was ihm eine Ware wirklich wert ist, und nicht nach fremdem jakobinischem Diktat. Und die Mutter Maria lächelt darauf her-nieder mit dem Gesicht der Kaiserin Maria Theresia und segnet mit ihren gnadenreichen Händen Ware, Händler und Gewichte.
Und als er sich schon anschickt, die Ruder zu ergreifen :
„Hörtsas ? De Glocken derfn läuten wann‘s wolln im Kaiserland !“
Damit rudert er sich davon. Nach ein paar Schlägen lässt er die Ruder und knattert mit seiner Geißel. Langlangkurzkurzkurz. Von der Lände her antworten andere Geißelschnalzer, von mehreren Viehpletten her, ein Konzert in vielen verschiedenen Stakkato-Rhythmen.
Gmeinwieser hält mit dem Boot auf den Geißelschnalzer zu, der ihm mit seinem eigenen Signal geantwortet hat, langlangkurzkurzkurz.
Von der Compagnie Porpora ist nichts weiter übrig geblieben als die Truhe mit ihren Requisiten. Und die Akteure Kunterkasten, Schuff und Käpernick, die zusammen mit der Demoiselle darauf hocken.
Keinem fällt ein, was er denn anderes tun sollte, keinem eine Regiean-weisung an sich selbst. Sie hocken nah aneinandergedrückt, eingewickelt in die letzten Kostüme, die ihnen geblieben sind. Sogar die Rinder, Scha-fe und Schweine haben ihnen nun endgültig Valet gesagt, an die sie sich drängeln konnten wie an Kachelöfen. Solange Gmeinwieser es nicht sah und sie mit seiner Geißel vertrieb.
Wenn jemand von den vieren das endlose Schweigen bricht, kann es nur Käpernick sein. Der noch immer alles Missliche in einen Jokus ver-dreht. Käpernick, mach dem Schweigen ein Ende, sonst erfrieren wir von innen heraus. Aber auch Käpernicks Repertoire ist vereist, unterm Schnee vergraben, es will ihm keine Drolerie einfallen die die Kollegen auch nur zum Schmunzeln brächte. Zuletzt verfällt er, der gleichmütig an ihnen vorbeiströmende Fluss legt es nahe, auf das Weidenkörbchen, in dem Moses den Nil hinunter angetrieben wurde, seiner einzigen Ausstattung und Mitgift. Ein starker Auftritt, und der Beginn eines starken Dramas, das heute noch gelesen wird.
„Also werden auch wir vier – „
Bloß dass Moses, wird der Vergleich von Schuff zurechtgestutzt, ein Leben als Hauptdarsteller vor sich gehabt hat.
„Und ein großes Ensemble hinter sich.“
„Und das einzige was wir hinter uns haben, sind unsere Karrieren.“
Wieder langes Schweigen. Die Flößer schmeißen die Essigfässer des Grenadiers ins Wasser. Während die vom Floß flussabwärts ziehen, wirft ihnen Käpernick Kusshändchen hinterher.
„Geh mit Gott, Beaujolais ! Adieu 1798er Merlot, lass den der dich genießt ein Schlückchen für mich mit trinken ! Bon courage und gute Reise, 1773er Chateauneuf Spätlese, und grüß mir den Kaiser !“
Schweigend sehen die anderen die Fässer davon schwimmen. Das Wasser übernimmt für sie die Regie, und eins reiht sich willig hinter dem anderen ein in die Strömung, vereint noch in der Sinnlosigkeit.
„Die reisen nach Wien und keiner kassiert dafür auch nur einen Sechser von ihnen.“
Die Schauspieler sind ohne Sechser, und endgültig ohne jede Regie-anweisung.
„Aber dafür sind wir endlich frei“ sagt Kunterkasten zu sich selbst mit dem Pathos, das einem Ersten Helden zusteht, dem die Antwartschaft sicher ist auf das Fach, wenn auch nicht mehr die Bühne dazu. Frei, zählt er für sich auf, vom Vater Pastor und Mutter Evangelenkleinstadt, frei von dem Monstum von Prinzipal, frei von der Tyrannei des Ersten Hel-den, frei von den laschdubbeligen Römerdramen, frei von der Demüti-gung, sich einem Hoftheater andienen zu müssen.
Die anderen werdens nicht als Freiheiten anerkennen, darum spart sich Kunterkasten sich das Missionieren, und schweigt mit ihnen, in Zwie-tracht. Das Floß liegt noch immer in der Flussmitte. Keiner fragt zu wel-chem Zweck und wie lange noch.
„Meine Zehen“ sagt Schuff “hören sowieso auf keine Regieanweisung mehr.“
Zwei Zehen sind ihm erfroren. Er kann nur noch humpeln oder still-sitzen. Wobei ihm weitere Zehen abfrieren werden, und dann die Füße.
„Dabei hatt ich mir die Schuhe vollgestopft mit lauter Fetzen von un-seren Kostümen.“
„Meinst du ich nicht.“
„Und ich.“
„In meinen Schuhen, die ich nicht mehr so zu nennen wage, steckt sogar die Weste die ich mal getragen habe als Marinelli in der Emilia Galotti. Wenigstens die Fersen kriegen warm davon Dabei wars doch meine Glanzrolle in meiner Ära in Zeulenroda.“
Wieder Schweigen. Das Floß ist abgeräumt bis auf die Hütte.
„Die Aufführung in Wien, vor dem Kaiser, wäre die Sternstunde gewe-sen in meiner Karriere.“
„In meiner auch.“
„Und meiner.“
„Sternstunde wärs erst gewesen“ missioniert Kunterkasten nun doch, „wenn wir dem Kaiser die Stellen wo die habsburgische Gewaltherrschaft drin vorkommt in sein habsburgische Ohrfeigengesicht gespuckt hätten, die Schiller eigens für ihn geschrieben hat“.
Und die Schillers Kurier Kunterkasten wie in einem Kassiber bei sich trägt.
„Es ist die Zeit angebrochen, da es keine Höfe mehr gibt. Es gilt für das Volk zu spielen !“
Kunterkastens innere Wilhelm-Tell-Aufführung ist immer noch nicht über den ersten Akt und die erste Szene hinaus gediehen. Die Flößer schieben den Schauspielern die Beine beiseite und klopfen die Fichtenstämme darunter mit ihren Äxten ab. Unter bestimmten Markie-rungen finden sie Aushöhlungen, und da drin haben sie Schmuggelgut deponiert.
„Da hast du dein Volk“ knurrt Käpernick, der sich härmt dass er nicht schon eher auf den Fichten herum geklopft hat.
Die Konterbande wird geborgen, wird mit tiefkehligem Hallo begrüßt wie lang vermisste Spießgesellen, und um sie zünftig zu entkorken, muss ein noch tiefkehligerer Gesang angestimmt werden.
„De Schiffsleit aufm Wasser
Fahrn auf und nieder
So vadeant ma a Geld
Und versaufts glei wieder.“
Diesmal singen sie gegen niemand an, sie singen aus Freude über den ausgegrabenen Branntwein, aber Schuff fürchtet sich diesmal mehr wie damals, als kraftmeierisch gegen die geschlagenen bairischen Truppen angesungen wurde. Er fürchtet für sich selbst.
„De Schiffsleit aufm Wasser
De stehn an Strauß aus
Bei der Nacht gehns zum Dirndl
Beim Tag ins Wirtshaus“.
Die Flößer, die den Schauspielern die ganze Reise lang keine Aufmerk-samkeit geschenkt haben, setzen sich nun breitärschig zu ihnen auf die Requisitenkiste. Schuff räumt seinen Platz, Kunterkasten fällt herunter. Die Flößer lachen.
„Wir hätten die Waffen nicht im Wald liegen lassen sollen“ brummt Käpernick.
„S Fahrn aufm Wasser
Is gfährli beim Wind
Uns s Schlaffn beim Deandl
Wann der Baur mitm Ochsenziemer kimmt.“
Der Gesang ist grölig geworden, vergurgelt im Trinkgluckern. Einer hat den Platz neben der Demoiselle erobert, die Flaschenöffnung zwi-schen den Zähnen. Die Zunge tief in den Flaschenhals gesteckt, reibt er mit dem Flaschenboden an ihrer Nase. Ein anderer fragt Käpernick, der seinen Platz neben der Demoiselle behauptet, ob er nicht aufgelegt sei zu einem Spielchen.
Und worin solls bestehen ?
Auf einem Bein aufeinander zu hüpfen. Dort auf dem Fichtenstamm. Wer den anderen runter schmeißt, der hat gewonnen und kriegt drei Schluck Branntwein.
Und der verliert ? Gelächter.
„Der fliagt in d‘ Donau.“
„Derjenige wo fliagt bist eh du.“
„ Wettma ?“
„Wir öffnen jetzt die Truhe“ flüstert Käpernick“, ohne Rücksicht ob einer von denen runterkippt“.
„Und verstecken uns da drin ?“
„Wir stellen uns ungezwungen, Kinder. Als ob wir ganz allein wären auf dem Floß. Und gehen souverän unsrer Arbeit nach.“
Und halten eine Probe ab, will er damit sagen. Wie gewohnt.
Keiner der Flößer kippt vom Truhendeckel, weil sie alle aufspringen sobald die Demoiselle sich erhebt. Die Truhe wird aufgetan, die Schau-spieler versorgen sich blindlings mit den Dingen und Dingelchen die ihn-en gerade in die Finger kommen.
Die Flößer sind fürs erste verdattert. Aber dem ersten Coup folgt kein nächster. Jetzt wäre ein Prinzipal vonnöten der die Probe eröffnet. Der ruft die Courtine geht auseinander.
Regieanweisungen her, wo bleiben bloß die Regieanweisungen ! Den, der sie ihnen gab, wünschen sie zur Hölle und nun doch wieder herbei. Käpernick scharrt, Schuff hüstelt, die Demoiselle beißt sich in die Finger, aber ehe die Flößer hellhörig werden für die Verstörtheit der Komödianten, greift Kunterkasten in den Fundus seines Tell.
„In Gottes Namen denn, gebt her den Kahn – „
Keiner der Flößer trinkt mehr, keiner ruft dazwischen.
Für einen Moment flackert bei Kunterkasten wieder auf, dass er das Volk mit Schiller zur Erstürmung der Zwingburg Uri führen wollte und damit zur Selbstbefreiung.
„ - ich will’s mit meiner schwachen Kraft versuchen.“
Und ob die schwach ist, sogar die schwungvolle Geste die dazu gehört hat er vergessen. Die Flößer geben ihm dummstolz heraus, sie überließen ihm gerne das Floß, auch wenn er es bloß einen Kahn heißt.
„Und z’ruck ruadern derfsta‘s aa.“
Er darf es sogar zurück rudern in die Residenzstadt.
Weil sie ihr Gelächter ins Schwanken bringt, halten sie sich an der Requisitentruhe fest und entdecken darin die Hilfsgerätschaften der Komödianten. Pfauenfedern, Parapluis und Parasols, wächserne Wein-trauben, Masken und Fächer, Handschellen und falsche Nasen..
Sie bedienen sich, mit je einer Hand, in der anderen die Schnapsflasche werden nicht preisgegeben, unter den Schleiern und Helmen angeln sich Königskronen, Herzogskronen, Erlauchtkronen, Papstkronen.
Kunterkasten wird gekrönt, Käpernick wird gekrönt, ein Flößer krönt sich selbst, und Schuff wird Papst und mit einem goldenem Strick gefes-selt. Einer räubert den Schminkkasten, betupft sich die Nase schwarz und malt den anderen rote, gelbe, grüne Augenbrauen, mit denen sie vor der Demoiselle grimassieren bis sie das Gelüsten ankommt, auch sie zu verzieren.
Viele Flößerfinger machen sich ans Werk, sogar die Schnapsflaschen werden abgestellt, Schminkfarbe wird ihr auf Hals und Dekolleté ge-schmiert, bis einer schreit auf de Duttln fei aa, und sie versuchen ihr Mieder aufzureißen.
Der Floßmeister steigt über seine Knechte hinweg wie über Hackstöcke, teilt grob nach links und rechts aus, fasst die Demoiselle um die Mitte und trägt sie, verfolgt von Feighammel !- Rufen, vor sich her zur Hütte.
Dort schließt er sich mit ihr ein, sie liefert noch einen kleinen Kampf um den Schlüssel, aber gegen die Kräfte eines Floßmeisters ist nichts auszurichten. Mit spui di net aso auf du Schnalln macht er sich über sie her.
„Du hast‘as do scho de ganze Reis lang auf mi abg‘segn g‘habt, du Zuchtl.“
Sein Tabaksud tropft ihr über Brüste und Bauch, sein Tabakatem er-stickt sie fast während er in ihr arbeitet und sich selber anfeuert mit Flö-ßerrufen wie Ferge aufpasst ! fluderts füri ! und endlich s’hat a Rinna ! Und die draußen hören ihr Gekicher, aufspritzend wie die Stakkati der Geißelschnalzer.
Wenn er wieder erwacht, erzählt er von seiner Theres, die ihn in Linz erwartet. Eine grundbrave Frau ; bei jeder Wienfahrt, wenn er bei ihr an-landet, liegt ein Frischgeborenes in der Wiege. Wie tugendsam die Theres ist, erweist sich daran dass er stets das Abendmahl drauf nehmen kann, der neue Sprössling ist von ihm. Und er in Linz jeweils eine neue Locke in sein Gebetbüchl legen kann.
Stolz weist er die Locken vor. Dabei überkommt ihn jähe Reue, ein geschminktes Luder hat ihn in die Sündlichkeit gerissen. Und er schlägt
Das geschminkte Luder, bis dem die Nase blutet.
Gegen die Hüttentür pumpern die Flößer. Er bindet ihr einen Fuß fest.
„Da dafür kannst fei dankbar sei.“
Eine fürsorgliche Massnahme das fürs Vieh, damit es nicht abrutscht bei hohem Wellengang, sich verletzt und dem Händler nichts mehr ein-bringt. Und es gibt hohen Wellengang, die Flößer erzeugen ihn indem sie auf die wenigen Stämme springen, die noch übrig sind. Der Hias, der Baltes, der Ferenc, der Jackl haben ihre Flaschen geleert, jetz is was fürs Herz an der Reih.
Die Demoiselle wird sie alle beklauen. Ein Stilett von dem einen, eine Bartbürste von dem andern, eine Hände voll abgedrehter Knöpfe von Joppen und Hosen. Und dazu die Locken der Kinder, die in Linz auf den Floßmeister warten.

Das Floß wird zerlegt, die Hütte als Ganzes an der Lände abgesetzt. Sechs, acht rohhölzerne Möbel stellt man daneben. Sie sind unverkäuflich geworden, weil der Schnee, das Holz hat aufquellen lassen. Kajetan da-gegen hat nicht zu klagen. Er durfte die Bader-Mixturen aus Gmeinwie-sers Rezeptküche für Vieh und Landvolk übernehmen. Gmeinwieser ist jetzt auf Höheres aus. Sein Viehhandel, von veterinäramtlichen Schika-nen unbehelligt, wird sich bald bis ins Niederösterreichische ausweiten. Im Bairischen drüben sind die Apothekergesetze gnadenlos geworden, halt jakobinischer, aber im Inn- und Weinviertel glaubt man noch dran, dass das Ohrenschmalz des Sankt Sylvester gegen Rheumatismus und Würmer hilft, wenn man es mit Franzbranntwein verrührt.
Und Rosenkränze, seit Napoleon zum Spott-Artikel verkommen, fahren an der unteren Donau noch immer Gewinn, jasomirGotthelfe, weiß Kajetan, der mit einem Flößer die letzte Kommode, schwer von Eis und Schmelzwasser, an Land geschleppt hat. Dann zieht er die unterste Schublade auf und hebt mit vollen Händen sein Depot an Rosenkränzen aus, ois aus Klosterbesitz, mithin ausgewiesene Qualität.
Zuunterst, von Rosenkränzen umschlungen, liegt die gefrorene Katze des Flößers. Drei Zimmermannsnägel haben sie durchbohrt, wo das Herz sein muss. Kajetan klopft dem Flößer tröstend auf den Rücken. Nur so ein Zauber der wo net gwirkt hat. Ein Zauberversuch eigentlich bloß, recht besehen, ein Schuß in den Ofen, man soll halt nicht auf überlebten hexischen Firlefanz bauen.
„Da war der Jud vui z’gwappelt dazua“.
Dass die durchbohrte Katze Wirkung gezeigt hätte, auf sein Leben. Aber voreilig Brüderschaft hätte er halt auch wieder nicht gleich trinken sollen mit einem wie dem Johann Baptist. Der guten Hand.
Oder wenn, dann überkreuz. So hätte der Gmeinwieser seinen Sud aus Bilsenkraut selber trinken müssen.
Hühnertod ist der Fachausdruck dafür.
„A sanfter Tod. Jetzt liegt er friedlich drunten in der Donau, und seine ganzen neumodischen Kilog‘wichter hat er bei sich behalten dürfen, uman Hals.“
Die hierzulande beim Kaiser eh nicht gelten. Aber der neue Passeport der guten Hand Gmeinwieser Johann Baptist, der gilt was hierzulande beim Kaiser. Weil der neue Passeport auf einen ebenso neuen Hastreiter Quirin ausgestellt ist. Wer einen Pakt mit dem Herrgott, wie der Noah, der schwimmt überall obenauf.
Paxvobiscum drauf, und Amen.

Käpernick und Kunterkasten ( sie haben Schuff in die Mitte genommen, der die Arme um sie geschlungen hat, damit man sein Gehumpel nicht bemerkt ) fragen vier Tage lang nach Tagelöhner-Arbeit, bewerben sich um Handlangerdienste jedweder Art, wenn sie ihnen eine Mitfahrt auf einem Schiff oder Floß einbringt, oder auch nur einem Beiboot.
Aber keiner will sie haben. Nicht einmal als Schiffszieher haben sie Glück. Denn der Kaiser hat verfügt, dass zum Tode Verurteilte am Leben bleiben dürfen, wenn sie bis an dessen Ende die Schiffe die Donau herauf ziehen. Und zum amtlich Tode verurteilt sind die drei nun einmal nicht.
Bis nach Wien sind es noch sechsundfünzig Meilen. Aber dort erwartet sie der Kaiser.

Lang schon hat die gewesene Prinzipalin von den letzten Kostümen, die ihr noch verblieben sind allen Goldflitter abgetrennt. Flitter brächte die Bauern auf den falschen Gedanken, sie schleppe echtes Gold mit sich herum und rissen es ihr herunter, und schimpften sie noch Bescheißerin, wenn der Flitter unter ihren Pranken wegstäubt.
Das Kostüm, das die gewesene Prinzipalin am engsten um sich ge-schlungen hat, hatte sie selbst in Propodonskys Kostümfundus einge-bracht. Es sollte einmal ihr Brautkleid werden, aber sie hat nie Braut sein dürfen. Die Einnahmen waren nicht danach, dann wieder ging die nächste Premiere vor, ein anderes Mal stand die Venus ungünstig zu den Zwillin-gen. Oder Propodonsky betrog sie zwei Tage vor dem schon festgesetz-ten Hochzeitstag, und weinte dann hinter der Bühne an ihrem Busen Rotz und Wasser vor Reue und Verlassenheitsangst.
Das zweite Kostüm, das Lucille um sich gewickelt hat als unpelzigen Winterpelz war sogar von den Theatermotten verschmäht worden, es war ihnen zu hartes Futter. Lucille hat es von einem Fuhrmann erbettelt, der diesen seinen dienstältesten Mantel ohnehin fortwerfen wollte. Danach tat er, mit Silberbronce frontseits bemalt, Dienst als Aufputz für überirdische Erscheinungen, die freilich halb hinter Felsen oder Wolken verborgen bleiben mussten, denn die unteren Partien des Fuhrmannsmantels hatten anderweitig als Ärmelpolster Verwendung gefunden sowie für Beinklei-dern von Rittern und Knappen.
Die dritte Mummelhülle ist Lucilles jüngste Erwerbung, zugleich ihr molligstes Öfchen. Es hat ein Innenfutter und einer Bäckersgattin gehört. Eigentlich gehört es ihr noch, die Trennung war keine freiwillige, sie hat-te ihre Pelerine nur husch husch über einen Korb mit frischem Backwerk geworfen, damit die Semmeln nicht auskühlten, auf die drei Häuser weiter der Kupferstecher wartete. Dort kamen sie nie an, wärmten statt-dessen Lucilles Magen, und die gestohlene Bäckerpelerine wärmt Lucille selbst noch immer. Schlafen jetzt, nichts als schlafen, dann tun die Hundebisse nicht mehr weh die sich auf ihren Bettelgängen zugezogen hat. Durchschlafen bis der Schnee so gnädig ist sich zu verziehen. Jetzt ist er noch ungnädig und verschluckt einen bis zu Knieen.
„Wer is draußen ?“
Wenn Lucille und ihre Gefährtin nach dieser Frage weiterhin dringlich an die Türen der Gehöfte pochten, mit der Faust, dann war ihnen drinnen ein, wie man, freilich unbedacht, zu sagen pflegt, offenes Ohr gewiss. Es hätte ja können ein Emissär der Obrigkeit draußen stehen, zwei Bewaff-nete hinter ihm, und Befehle mitbringen, allerhand Beschlagnahmungen betreffend. Herausrücken der Wintervorräte, Hammel, Ochsen, Pferde da-mit sie vor die Trainwagen gespannt würden oder die Lafetten der Artil-lerie, die draußen vor dem Dorf im Morast stak.
Mit aufgepflanztem Bajonett. Und es wurde eilends aufgetan. Wenn dann aber nur zwei Weiberleut vor der Tür standen, die eine vergraben unter einem Flickenhaufen aus Theaterkostümen und beide ohne Bajo-nett, wurde dem Hund gepfiffen.
Wenn sie aber demütig klopften, nur mit den Knöcheln, waren sie eben dieser Zaghaftigkeit wegen schon überführt als Bittsteller, Marodeurs-weiber, Flüchtlingsgesindel. Schaugts dassz weiterkemmtz ! wurde hinter der verschlossenen Tür gebrüllt, und das schüchternste Nachklopfen mit dem Zeigefingerknöchel ließ gleich die Mistgabel aus der Tür fahren oder und der Hund war sowieso vorweg.
Und wenn Notburga immerhin noch das Zulangen andienen konnte beim Melken, Buttern oder Saufüttern, hatte Lucille nichts anderes in ihrem Repertoire als ihre auswendig gelernten Theaterrollen. Zweimal hat sie versucht, etwas davon vorzutragen.
Das erste Mal eine herzbewegende Abschiedsszene aus einem ihrer selbstverfassten Stücke, worin eine Verlassene die Göttinnen auf dem Olymp anfleht, ihr auf Erden ihr beizustehen. Götterweiber ? schrie die Bäurin, bei uns gibt’s nur oan Herrgott und der is ledig. Und meinte damit den, der nackend und holzgeschnitzt in dem nach ihm benannten Winkel der Stube hing. Bekreuzigte sich, sprengte Weihwasser und pfiff dem Hund.
Das andere Mal kramte Lucille eine Textstelle aus ihrem Gedächtnis, worin von Liebesgluten die Rede war, wenn auch poetisch entrückt. Wie-der hieß es Naus mit dera ! Und wieder tat der Hund das Seinige. Aber auch der Bauer, der Lucille draußen keineswegs den Weg dorthin zeigte, wo der Pfeffer wachsen soll, sondern zur Tenne. Da oben sei’s weich im Heu und seine Liebesgluten, poetisch nicht entrückt, reichten aus für drei bis vier Mal.
Bis Notburga endlich darauf verfiel, Lucille als Störschneiderin aus-zugeben. Es wurde Kleidung gebraucht auf jedem Hof, die eingesessene Störschneiderin war erst im Frühjahr zu erwarten, Lucille trat an ihre Stelle und schneiderte schlecht und recht. Aber sie schneiderte so schlecht und wenig recht wie es bei Propodonskys Truppe Usus war. Ein Abnäher brauchte dort nur einen Bühnenauftritt lang zu halten oder höchstens drei, und bei einem Hemd reichte es aus, wenn seine propere Vorderseite repräsentabel war. Was brauchte es auch noch ein Rücken-teil, wo doch der Kollege Schauspieler eh an der Kulisse lehnte.
Und es wurde wieder den Hunden gepfiffen.
Die Pelerine der Bäckersfrau bewahrt die beharrliche Temperatur eines Backofens in sich und wärmt Luilles Schlaf. Als der Kaiser kommt und sich frische Semmeln holen will, schämt sie sich weil sie alle aufgegessen hat und für den Kaiser keine mehr übrig sind. Aber Madame, lächelt der Kaiser, der Schnee ist doch kein Schlafplatz für Sie. Eine Dramatikerin von Ihrem Rang ! Ich werde meine Hartschiere kommen lassen, die werden Sie auf frische Semmeln betten, widersprechen Sie nicht. Kaiser-liche Semmeln werden Sie beheizen während Sie mir aus ihren Stücken lesen. Die Semmelbäcker in meiner kaiserlichen Backstube lampenfie-bern ob sie bei Ihnen auftreten dürfen und miner Wenigkeit wäre es die höchste Ehre die allerhöchste Ehre wenn Sie eine kleine Rolle für mich hätten eine winzige Rolle nur ein Röllchen für Ihren Kaiser …ich bin Stotterer wie Sie sogleich bemerkt haben werden aber bei einem Vers welchen SIE verfasst haben wird meine Zunge mir gehorchen mir gehorchen mir gehorchen mir
Als Notburga mit warmer Milch kommt und der guten Nachricht, ein Bauer werde sie heut nacht beide auf dem Heu schlafen lassen, ist Lucille de Brée erfroren.

Kunterkasten und Schuff grausts, jeden für sich. Voreinander können sie es nicht zeigen. Da liegt einer im Schnee und ist tot. Kunterkasten und Schuff sind als Schauspieler darum verlegen, welchen Gestus der andere von ihm erwartet, wenn der doch auch bloß ein Schauspieler ist.
Und der Tote aber wirklich tot ist und vor ihnen im Schnee liegt.
K. steht in stummer Trauer./ S. verhüllt das Haupt in namenlosem Schmerz./ L. wendet sich ab mit allen Zeichen des Entsetzens ab / S. geht wehklagend seitlich ab / K. und S. verharren in tiefstem inwendigem Leiden / S. schnallt den Kinnriemen fester und weist in die Kulisse : „Ein Opfer mehr für unsere Sache, aber nun darüber hinweggeschritten, wir müssen von dannen und vorwärts – „
Nichts von alledem. Sie bleiben stehen, stumm und dumm, von jeder Inszenierung im Stich gelassen. Da liegt einer im Schnee. Ein Soldat. Der Ausrüstung nach ein französischer. Ein Soldat, der noch nicht lange tot sein kann. Sogar sein Tschako hat er noch auf dem Kopf, als wollte er auch als Toter nicht gegen das Reglement verstoßen. Es ist ihm nur ein bisschen in die Stirn gerutscht, aber er braucht nun ohnehin keine freie Sicht mehr.
Gnädigerweise, denn so müssen Schuff und Kunterkasten ihm nicht in die toten Augen schauen. Sie loben die Jahreszeit, und dass noch nicht Sommer ist. Sonst wären nicht nur sie beide hier, sondern auch die Aasfliegen.
Am Zügel hält der Tote noch immer sein Pferd. Die Blutspur quer über seine Brust, den adretten weißen Latz hinunter setzt sich auf der Kruppe des Pferdes fort, das unverdrossen weidet. Das Glückstier, es hat Futter gefunden wo für Schuff und Kunterkasten nichts bestellt ist. Auf einem aperen Fleck unter den Tannen zupft es sich Moos und Winterlinge. Wie begrüßend wendet es ihnen den Kopf zu und lässt ein freundliches Schnauben hören.
Es muss den Hals weit recken, der Zügel seines Reiters hält es zurück. Es zerrt es seinen Reiter hinter sich her. Schuff wie Kunterkasten er-schrecken vor dem grellen Ratschen, das der Tote dabei im gefrorenen Schnee verursacht.
Erst als Kunterkasten den Zügel fasst und das Pferd ihn aufmerksam anschaut, mit hochgestellten Ohren, kommt Schuff der Gedanke wir bor-gen uns, nennen wirs mal so, das Pferd aus.
Vorausgesetzt, das Pferd lässt das zu. Aber das behält Schuff für sich nicht, er will nicht von Käpernick ausgelacht werden. Sondern er sagt :
„Das Pferd ist schließlich derjenige von den beiden, der uns begrüßt hat.“
„Und wir kommen kommoder vom Fleck, wenn wir beritten sind.“
Kunterkasten hat dasselbe gedacht wie Schuff. Und man sieht doch auch gleich mehr gleich, hoch zu Ross.
„Kannst du reiten ?“
„Und du - ?
Nur auf Schaukelpferden. Gibs doch zu, Kunterkasten. Und Schuff ist einmal als berittener Bote aufgetreten. Das Pferd war aus Sperrholz und hatte nur eine vordere Hälfte, flach auf Sperrholz gemalt. Das Stück war ein Reinfall.
S. und K. entwinden dem gefallenen Kürassier die Zügel.
Diesmal sind sie schon ein Stückchen weiter mit ihrer Abnabelung von den Propodonskyschen Kommandos, sie erteilen sie sich die Regiean-weisung selber. Aber die ist leichter erteilt als ausgeführt. Die Lederrie-men sind um die Hände des Toten geschlungen, die Finger sind in sie verkrallt und festgefroren. Sie nehmen einen Zweig zu Hilfe, stochern, hebeln, aber ist der Zweig, der aufgibt und bricht.
„Bitte Monsieur, lassen Sie los. Sie benötigen das Pferd doch eh nicht mehr…“
Sie hauchen zu zweit und ausdauernd, unterbrochen von langem Luftholen, bis es ihnen gelingt die Finger des Toten einem um den anderen weg zu biegen. Um den Preis, dass sie mit ihrer vereinten Atemwärme nun auch süßlichen Verwesungsgeruch wecken. Der Arm des Toten, der eben noch die Zügel hielt, bleibt hochgereckt stehen, als mache er Meldung, dass ihm sein militäramtlich registrierter Gaul ent-wendet wurde. Von Zivilisten.
Die führen das Pferd einige Mal im Kreis, wohin auch sonst, denn sie sind ratlos. Das Pferd nickt Zustimmung zu allem was die beiden Zivilisten mit ihm vorhaben mögen, aber Kunterkasten wie Schuff trauen sich trotzdem nicht auf seinen Rücken. Das Pferd, als erriete es ihre Ängstlichkeiten, bleibt vor einem Baumstumpf stehen. Gelobtes Ross ! Gepriesener Gaul ! Der Baumstumpf ist eine willkommene Trittleiter. Zwar, das Pferd will nur das Moos daran äsen, aber wenn der eine Zivilist von dort aus den anderen Zivilisten in seinen Sattel stemmt, ist es ihm auch recht. Und wenn der andere Zivilist den einen Zivilisten vom Baumstumpf zu sich hochzieht, schnaubt es nur noch kurz. Es klingt, als seufze es zufrieden, dass die langwierige Prozedur ein Ende hat und es wieder sein Moos knabbern kann.
Es steht, es schüttelt die Mähne, und äst.
„Wir müssen ihm, glaube ich, ein Zeichen geben zum Abmarsch“.
Eine Regieanweisung also. Aber sie haben beim Aufsteigen vergessen, die Zügel in die Hände zu nehmen. Die pendeln nun verheddert unter dem Kopf des Pferdes.
„Ich nehm nicht die Moleste auf mich und wage mich nochmal runter.“
„Ich hab einen Fuß im Steigbügel, aber verdreht.“
„Ich doch auch.“
Das Pferd steht, das Pferd schüttelt die Mähne. Das freundliche Schnau-ben aber, das es ihnen zur Begrüßung entboten hat, bekommen sie nicht mehr zu hören.
„Hier oben geht der Wind viel schärfer als wie unten“.
„Viel schärfer.“
Das Pferd steht. Sie verwünschen Propodonsky.
„Klopf ihm doch mal an den Hals. Vielleicht ist das ja das Signal damit es endlich einen Schritt tut.“
Kunterkasten klopft. Das Pferd reißt so jäh den Kopf zurück und wirft ihn hin und her, dass Schuff sich an Kunterkasten klammert und der sich am Sattelrand festkrallt. Danach steht es wieder still wie zuvor.
Der eine mags dem andern nicht gestehen, wie unheimlich es hier oben ist, vor allem zu zweit, und trachtet, jeweils seinen Fuß aus seinem, je-weils verkanteten Steigbügel zu befreien. Und damit sachte das Wie-derhinunterrutschen einzuleiten.
Ja wer sind wir denn.
Als hätte das beiderseitige Gedrehe und Gezerre an seinem Bauch das Pferd aus seiner Dösigkeit geholt, setzt das Pferd sich mit einem Mal in Bewegung, nonchalant seiner Reiter nicht. Doppelt geritten, sinkt es doppelt tief in den Schnee und hat Mühe, seine Hufe wieder daraus zu befreien.Wenn sie durch ein Dorf kommen, ziehen die Leute den Hut. Ein Herr gibt ihnen die Ehre des Durchreitens, also Devotion und Bückling !
Dass das Pferd stehen bleibt, wann es will, gibt den Leuten nicht zu denken. Vornehme Herrschaften kennen keine Beeilung. Eisregen setzt ein mit der selben tranigen Gemächlichkeit, mit der das Pferd vorantrabt. Eisregen ist gesammelte Tücke in dieser Jahreszeit. Er flockt nicht weich und trocken zur Erde wie Schnee, sondern mietet sich ungebeten in den Kleidern ein, in den Haaren, in den Ohren, in den Fetzen die um erfrorene Zehen gewickelt sind und verwandelt sich in Eiskristalle.
Auch dem Pferd scheint der Eisregen verdrießlich. Mit gesenktem Kopf steht es an einem Gartenzaun und denkt darüber nach, wie es die beiden Dilettanten loswerden könnte. Die Leute ziehen nun auch nicht mehr ihre Hüte, sie bewahren ihre Köpfe vor dem Regen und verübeln den beiden Herrenreitern, dass die das frierende Pferd nicht in einen Stall führen, wie er ihm zusteht.
„Wir könnten uns immerhin unter seinen Bauch retten und abwarten dass der Regen einen Abgang macht.“
„Du steigst als erster ab, bevor wir festfrieren.“
„Nein du. Du bist mit deinen langen Beinen schneller unten und dann
fängst du mich auf.“
„Schmierenkomödiant.“
„Selber Schmierenkomödiant.“
Da reißt das Pferd den Kopf in die Höhe und stellt die Ohren auf. Es hört etwas, was weit entfernt ist. Das muss dringlich sein, denn es setzt sich in Bewegung, und Schuff, der ein Bein bereits aus dem Sattel heraus gemogelt hatte, muss sich unter schmerzhaften Verrenkungen wieder zurück hangeln. Den sicheren Steigbügel freilich erhascht sein Fuß nur sehr verdreht.
Auch wenn er ihn gerade jetzt brauchte, denn das Pferd verfällt in Trab. Warum, das wird nun auch den beiden Reitschülern hörbar. Da wird ein Trompetensignal geblasen, und mir-nichts-dir-nichts sind Schuff und Kunterkasten nicht mehr die einzigen Berittenen. Vor ihnen Pferde-hintern bei Pferdehintern, zwischen die sich ihr Gastgeber mit Gewieher einreiht.
Das Trompetensignal hört sich an wie allez hopp, alles zum Appell !
Dämlicher Gaul, meld dich ab und querfeldein mit uns dreien ins Nie-mandsland, nimm Rücksicht auf uns verschüchterte Zivilisten !
Aber der Gaul tut was seine Artgenossen ihm vormachen, er stürmt, das Clairon befiehlt ihn zum Einsatz, ohne Rücksicht auf sein Draufpack.
„Tableau ! Genau was du dir immer gewünscht hast – in die Schlacht für deinen Napoleon.“
Kunterkasten klammert sich mit beiden Armen an den Pferdehals.
„S‘il vous plaît, chèr cheval….was denn bloß heißt halt bitte bitte an ?“
„Knattermime !“
„Selber Knattermime !“
Vor ihnen her flüchten Fußtruppen. Österreicher, in ein Erlendickicht. Schutz vor den Eisgraupeln bietet es ihnen nicht mit seinen kahlen Äs-ten, aber die Kavalleristen tun sich schwer mit dem Nachsetzen. Die Infanterie feuert auf sie heraus, gedeckt von den Bäumen. Schuff und Kunterkasten sirren Kugeln um die Köpfe. Kein Clairon ist mehr zu hö-ren.
Das Pferd Schuffs und Kunterkastens galoppiert weiter, weil vor ihm ein Artgenosse galoppiert.
Dem Offizier da drauf muss der Gaul irre geworden sein vom Ge-wehrfeuer. Er prescht in Panik zwischen den Stämmen hindurch, die im-mer enger stehen, links ratsch, rechts ratsch, Clairon blas doch endlich, blas zum Rückzug !
Äste greifen nach Schuff und Kunterkasten. Zweige, zurückgebogen vom Vormann, peitschen die Gesichter wie eisige Drahtbesen, und immer noch feuern die Österreicher.
Schuff bleibt an einer Astgabel bleibt hängen. Der Baum will ihn da behalten, aber der Ritt ist nicht zu Ende, das Pferd will zum Dienst. Und Schuffs Fuß klemmt verdreht im Steigbügel fest. Der Ast reißt an ihm, das Pferd reißt an ihm, beide treibt es grausam schnell auseinander und dazwischen schreit Schuff und hört vor Schmerz nicht dass er auf einmal keine belegte Stimme mehr hat.
Als ihm die Stimme ganz wegbleibt, ist das Pferd Schuff endlich losgeworden. Nicht aber Kunterkasten, der ihm sich ihm um den Hals gewunden hängt als angstbrüllendes Zaumzeug. Der Offizier auf dem vor ihm Pferd dreht sich um, um zu sehen wie viele von seinen Leuten ihm folgen.
Der Offizier ist Langebehn.
„Kummerkästchen auf dem Schlachtfeld ! Wie über alle Maßen ge-schmacklos.“
Kunterkasten Pferd stupft zärtlich die Nüstern an den Hals von Lan-gebehns Pferd, und das erwidert. Gesten des Friedens in diesem Orkus der Feindseligkeit..
„Kannst du’s nicht endlich lassen mir noch und noch hinterher zu dammeln wie ein Bettelköter ?“
Da die Pferde sich aneinander drängen, hat auch Langebehns Reitgerte es nicht weit bis zu Kunterkastens Gesicht. Am Kinn reißt sie ihm eine Schramme, die sofort blutet.
„Runter mit dir vom Sattel ! Du beleidigst einen Hengst der Großen Ar-mee !“
Und er zerrt Kunterkasten aus dem Sattel, dankenswerterweise. Denn nun findet Kunterkastens Fuß doch noch den Dreh, der ihn vom Steig-bügel befreit. Um den Preis eines stechenden Schmerzes, aber vor Lange-behn traut er sich nicht zu schreien.
„A bas, emmerdeur !“
Die Peitsche faucht wieder, jetzt von oben. Kunterkasten, rückwärts ausweichend, versinkt im Schnee.
„Bleib wenigstens stehen wie ein Mann und kassier was dir zusteht nach Tarif Judas !“
Kunterkasten versinkt nicht nur im Schnee. Unter ihm ist dünnes Eis, das ihn nicht mehr trägt. Darunter gurgelt Eiswasser und schluckt ihn bis zu den Knien.
„Judas !“ Hieb ins Leere. „Judas !“ Hieb ins Leere. „Canaille die mich zurückgeführt hat in die Grande Armée !“
Auch unter Langebehns Pferd bricht das Eis. Damit sind sie wieder auf gleicher Höhe wie zuvor, und Langebehn muss sich nicht tief hinun-terbeugen, um auf Kunterkasten einzuprügeln.
Da ist wieder das Clairon. Es bläst zum Sammeln.
„Hör dein Kommando !“
Die Hände vor dem Gesicht.
„Wenn du Rückzug heraushörst, kriegst du’s mit dem Säbel. Hörst du Rückzug heraus ?“
Hieb, der diesmal trifft.
„Antwort ! Hörst du Rückzug heraus ?“
Hieb, der wieder trifft.
„Hörst du für mich Rückzug heraus, eh ? Hörst du Feigheit heraus ? Hörst du Aufgeben heraus ?“
Hieb, der trifft, weil Kunterkasten im Schnee liegt..
„Antwort !“
Die Österreicher trauen sich wieder aus der Deckung der Erlenstämme hervor. Auch sie sind ins Eis eingebrochen, aber sie sind in der Überzahl. Sie haben erkundet, dass sie tief und tiefer in einen überfrorenen Sumpf geraten, wenn sie sich von einem einzelnen Franzosen auf französisch verabschieden.
„Ah da schau her, a Mösiöh auf seim Schauklpferd !“
Der kommt ihrer Rache grade recht, bis obenhin nass wie sie sind.
„Oder scheut dös feine Bürscherl ein Bad ?“
Die Infanteristen wollen Langebehn vom Pferd zerren, viele Hände rei-ßen an ihm von allen Seiten. Langebehn rammt seinem Pferd die Sporen in die Lenden, aber das steckt bis zu den Vorarmen im Eis, und darunter im Morast.
„Des Badwanndl is doch groß genug für den Mösjöh und seinen Hei-ter“.
Jetzt versuchen die Infanteristen, sein festgeschlemmtes Pferd, den Hei-ter, zum Umkippen zu bringen. Sie kichern dabei wie Dorfjungen die sich einen abgefeimten Streich leisten. Langebehn will seinen Säbel ziehen. Aber der ist festgefroren in der Scheide.
„Aber geh zua, der Mösjöh werd uns doch net gar kitzln wolln.“
Das Pferd hat keinen Halt mehr unter den Hufen und rutscht zur Seite. So gelingt es den Infanteristen endlich doch, Langebehn aus dem Sattel zu zerren. Das Pferd, von der Reiterlast befreit, kämpft für sich selber weiter, versucht sich nach allen Seiten hin mit den Hufen abzustützen, schleudert dabei Eis um sich, Modderbrühe, halbgefrorene glitschige Fla-den von Schlick.
Angstgekicher und Kiecherangst, Wutgeschrei und Rachewut. Was-sergurgeln und Menschengurgeln, und die Furcht, unter das sich wäl-zende Pferd zu geraten, von seiner Masse in den Sumpf gedrückt zu werden. Unter dem schwarzem Schlamm sind die Farben der Monturen verschwunden, schwarzer Arm ringt mit schwarzem Arm, schwarzes Bein tritt in schwarzen Bauch, schwärze Hände krallen sich in schwarze Augenhöhlen.
Kunterkasten ertappt sich dabei dass er die Hände verknotet hat wie zu einem Stossgebet. Wenn er schon so weit heruntergekommen ist, kann er jetzt auch gleich beten, stoßbeten. Auch wenn er keine einzige Anrufung eines gottähnlichen Wesens im Kopf hat. Er hechelt etwas daher, viel-leicht aus einem Theaterstück, vielleicht nur ein Kindergejammer oder beides zusammen dies irae dies illa quantus tremor es futurus quando judex est venturus und dabei läuft ihm der eigene Nasenschleim in den Mund, vermischt mit Tränen und eisigem Schlamm.
„Dös sollst mir büaßn du französische Sau dassd mir dös eibrockt hast“.
Nur der Mund und die Zähne, die das ausstoßen, gehören noch zu einer Person, der Rest ist schwarzer Dreck.
„I stich di ab.“
Aber die Drohung ist zum Lachen, weil die Bajonette festgefroren sind an den Gewehrläufen wie Langebehns Säbel in der Scheide. Und auch die Gewehrkolben lassen sich nicht mehr schwingen, nicht auf den Fran-zosenschädel niederdreschen, sind verspreizt zwischen den Beinen der Kämpfer, verknäult mit Wurzelwerk, und eben diese Wurzeln ziehen sie samt den Kämpfern in den Morast zurück.
Wieder das Clairon.
Langebehns Pferd reißt sich mit einer letzten Kraftanstrengung hoch aus diesem Geschlinge, bäumt sich auf, planscht Eiswasser über die Käm-pfenden, wiehert, nein : schreit einen Entsetzensschrei, tritt wie’s grade kommt auf die Grenadiere, auf Langebehn, auf Kunterkasten und galop-piert davon. Die Flucht des Pferdes, des vierhufigen Ungeheuers, mit dem der Franzmann sie eingeschüchtert hat, nüchtert die Infanteristen aus. Sie erkennen den Feind nicht mehr unter dem schwarzen Schlamm, und sie erkennen sich selbst nicht mehr.
„I wüll z’haus zu meim Muatterl.“
Einen Waffengang zwischen farbenfrohen Monturen waren sie dem Kaiser schuldig, nicht ein Handgemenge in gefrorener Jauche.
„Scheißkriag…“
Wo vorher Bubengekicher und Drohung war, ist jetzt Flennen. Keiner hilft dem anderen aus dem Schlamm, jeder tritt gegen jeden, ein jeder ist des anderen Feind, wo sie keinen bunt markierten Gegner mehr vor sich haben.
Der letzte, der im Modder zurück bleibt, muss Langebehn sein. Er macht nicht einmal mehr Anstalten, sich aufzurichten.
„Lass mich da liegen, Kunterkasten. Dreck zu Dreck.“
Kunterkasten legt sich Langebehns schlammtriefenden Arm über die Schulter und versucht seinen Körper hoch zu ziehen.
„Du siehst doch, dass ich schon bestattet bin.“
Langebehn beteiligt sich nicht an seiner eigenen Bergung, Kunterka-sten könnte genau so gut einen Schlammbatzen fortschleppen. Um tritt-sicher aus dem Sumpf heraus zu kommen, muss er sich den ganzen Lan-gebehn aufladen.
„Warum mutest du mir das zu, du Unmensch“ stöhnt Langebehn, die Schlammblasen aus seinem Mund spritzen Kunterkasten dabei ins Ge-sicht.
“Du entwürdigst dich doch bloß selber“.
Kunterkasten bricht unter der Last mehrmals ein, Langebehn entgleitet ihm immer wieder in den Schnee und in den Sumpf. Dann nur noch in den Schnee, denn als es bereits dämmrig zu werden beginnt, hat Kunter-kasten es durch das Erlendickicht geschafft hinaus ins Freie des Schnee-felds, über das sie herangeprescht sind.
Von den Pferden ist nichts mehr zu sehen, auch nicht von Öster-reichern und Franzosen. Langebehn nimmt nichts davon wahr, er gründelt in sich hinein, in die Untiefen seiner Person, die noch nicht von gefrie-rendem Schlamm besudelt sind.
„Ich bin doch nur bei den Kürassieren eingetreten wegen ihrem neuen Helm. Mit einem schwarzem Rossschweif im Nacken ! Und aus Messing. Messing ! Weißt du, wie das glüht, wie das brennt wenn die Sonne drauf scheint, soleil du gloire ! Du wirfst Strahlen, Strahlen für den Kaiser, du bist die Sonne des Kaisers …und der Rossschweif schwappt dir gegen den Rücken bei der Parade… den durchgedrückten Rücken bei jedem Paßschritt … wie die Reitgerte des Apoll…es ist Apoll der dich reitet…“
Er schlottert. Seine Arme fahren durch die Luft, Schlammbatzen plum-psen schwarz in den Schnee.
„Ah…die Reitgerte des Apoll im Rücken ! Und du bist sein Kentaur… einer unter vielen Kentauren, unter den ausgesuchtesten Kentauren… vive l’empereur !“
Er hebt die eine Faust vor die Brust und präsentiert den Säbel, den er nicht mehr hat, der irgendwo im Morast stecken geblieben ist. Aber die Faust die den nicht vorhandenen Säbel halten soll, versagt ihren Dienst, hängt schlaff herab. Er schlägt auf sie mit der strafenden Geste, die Kun-terkasten von der Floßfahrt her kennt, als Langebehn mit der behand-schuhten Hand seine andere peitschte. Jetzt sind beide mit den Hand-schuhen eines Offiziers bekleidet. Aber auch der andere Handschuh hängt schlaff, als sei er leer.
„Ich habe keine Hände mehr.“
Langebehn sagt es ohne Entsetzen, ohne Zorn, er wirft es beiläufig hin wie ein Komödiant beim Abgehen Scheißrolle ! hinwirft.
„Es gibt Rollen die kann man nicht spielen. Du legst sie für dich groß an, ganz Emphase, ganz höheres Menschentum. Reitgerte des Apoll im Rücken etcetera etcetera und dann kriegst du spitz, außer dir sind sämt-liche Rollen mit lauter Lemuren besetzt, aus der Latrine gekrochen, der stinkigeste Abschaum vom stinkigsten Abschaum. Vollbluthengst perdu, Ausrüstung perdu, Hände perdu. Christian Justus Amadé Langebehn in seiner Abschiedsrolle.“
Er lässt seine Hände vor sich pendeln wie zwei tote Ratten. Das Clai-ron ist wieder zu hören.
„Das sind die deinigen, Langebehn. Sie werden dich gleich aufsam-meln, dann wirst du versorgt“.
Langebehn läßt sich hintenüber kippen.
„Sogar mein Schminkkasten hat sich ohne Gruß von mir verabschie-det in die Jauche.“
Und er hatte ihn doch so liebevoll in der Satteltasche versorgt, lacht er, zwischen die Pistolenmunition, als er ausgerückt ist.
„Falls einer nach mir fragen sollte da oben von der Intendanz, ob sie mich als Sterbenden besetzen können, dann gib ihnen Bescheid : ich war nie im Leben schlechter als in der Aufführung heute.“
Er schlottert. Er wird Kunterkasten unter den Händen erfrieren, und der hat nichts um ihn zu wärmen.
„Bestell ihnen, sie sollen wen andern besetzen.“
Da ist wieder das Clairon. Aber nun schon weit entfernt.
“Merde…merde…merde…“

Schuff

Die Franzosen sind abgerückt, die Kaiserlichen sind abgerückt. Dort wo sie aufeinander getroffen waren, sind nur noch die, die nicht haben mit marschieren können, weil sie tot sind oder damit zu tun haben, bald tot zu sein. Den ganzen Tag über hatten die Bauern, auf ihren Heuböden versteckt, das Geschieße und Gesteche beobachtet.
Das ist unser Rapsfeld, in das die Korporalschaft einbricht. Das ist un-ser Hühnerstall, in dem die Kaiserlichen sich verschanzen. Das ist unser Gerstenacker, auf dem die Kavallerie die Füsiliere niederreitet. Das ist unser Erdäpfelfeld, auf dem die Franzosen die Kaiserlichen umzingeln, damit die nicht davonwetzen und die Rüben verlieren, die sie bei uns gestohlen haben.
Das ist unser Kornspeicher, in dem die Franzosen ihren Gefechtsstand gehabt haben und der jetzt brennt.
Wer die Oberhand hat, wer sich Sieger schimpfen durfte, wie solltens die Bauersleute erkennen. Aber dass Ackerland und Weiden verwüstet sind von Pferdehufen und Soldatenstiefeln, kann man auch in der Nacht schon von weitem erkennen. Nun sind sie davon, Sieger wie Besiegte. Die Bauern trauen sich heraus, Fackeln in den Fäusten.
„Schleich di, von meiner Gemarkung.“
Aber der so Angeherrschte hat keine Beine mehr.
„Scheißgfrieß, muasst ausgrechnet auf meim Acker sterbn !“
Und der Bauer muss ihn auch noch begraben und der Verfaulende wird die Saat verderben. Dafür muss er abliefern, was er bei sich hat. Den Säbel, ihm jetzt eh zu nichts mehr nutz. Den Brotbeutel mit der Tages-ration drin die er eh nicht mehr aufessen kann. Die Stiefel, wer im Dorf hat schon solche Stiefel. Die schönen weißen Hosen, eingesaut von der blutigen Erde. aber die ist der eigene Ackerdreck, wie man ihn eh Tag für Tag in die Stube trägt. Und die warme Uniform, gutes Tuch, so eins haben sie nur beim Militär, und was da noch alles drinsteckt ! Ein Kamm aus Messing, war hat schon so einen im Dorf. Ein Medaillon mit Deckel, ein Bild von einem Mädl ist drin. Wird seine Liebste sein, wirfs weg, da kommt das Rosei dafür hinein. Wer im Dorf hat schon so ein Medaillon, und jetzt steckt ausgerechnet das Rosei drin. Die Ehr, die Ehr ! Und da hat er noch Geld im Stiefel, hinten im Stiefelleder und hat gemeint, der Schlanggl, wir kommen ihm nicht drauf. Aber geh, das ist doch ein Papiergeld, sowas gilt bloß in Frankreich, hängs auf den Abtritt. Aber geh, da kriegst du das Dreifache dafür beim Schwarztauschen. Ein Brief, der ist französisch geschrieben, hau ihn weg, der bringt Unglück. Die Erkennungsmarke, was brauchen wir seine Erkennungsmarke, wollen doch keinen mehr kennenlernen von den fremden Kadavern. Schau her, eine Uhr hat der sogar, die tickt noch.
„Steck‘s weg, wanns de anderen sehn, fangt de Schlacht gleich no amal an.“
Die Muttergottes mögs verzeihen was wir da tun, aber wir holen uns doch bloß zurück was der Krieg uns geraubt hat. Die Erdäpfel für unsre Mäuler auf dem Hof haben uns die fremdländischen Kaiserlichen weg-fouragiert. Und die Sau und zwei Färsen die unsrigen Kaiserlichen.
“Wos‘t hischaugst überall Kaiser, aber nix mehr zum Fressen.“
Auch Sylvester Schuff hat sich versteckt, solange das Gefecht dauerte. Er stolpert über einen Verwundeten. Der bittet Schuff dass er ihm den Gnadenschuss gibt. Zuerst auf französisch, dann auf elsässisch. Schuff hat noch nie eine Muskete in der Hand gehabt, nur auf dem Theater, aber das war ein auffrisierter Besentiel. Totmachmittel kennt er in seiner Rolle nur als Giftfläschchen, gefüllt mit Hagebuttentee oder als Blechdolche, bei denen die Schneide sich im Griff versteckte wenn man zugestochen hat.
Solche Camouflagen wünscht er sich jetzt, rote Tinte wünscht er sich in den Mund des Soldaten. Aber der da liegt, dem rinnt sein eigenes Blut aus dem Mund. Sein linkes Bein ist abgewinkelt, als strebte es fort von ihm, wollte nichts mehr zu schaffen haben mit dem Verwundeten, der um sein eigenes Umgebrachtwerden bettelt. Schuff fasst das Gewehr täppisch an, der Verwundete brüllt, er mag Sergeant gewesen sein und Anbrüllen sein Amt. Nun hat er kein Amt mehr außer dem, ein hilfloser Haufen Halbgeschlachtetes zu sein. Am Ende seines fünfundzwanzig oder sie-benundzwanzigjährigen Lebens, in dem man ihn stets angehalten zu ma-nierlicher Rede, bleiben ihm nur noch die kotigsten Brocken der Be-schimpfung übrig.
„Imbécile enculé !“
Zugleich mit dem Gebrüll stürzt ihm ein Blutstrahl voller Knorpelfe-tzen aus dem Mund wie gekotzte Kutteln. Mit der Hand, an der nur noch drei Finger Dienst tun, deutet er : fass da an, connard ! Richte die Mün-dung hierher, tiefer du Idiot, emmerdeur cireur, leg an, so leg doch end-lich an, den Finger an den Abzug…nein, das ist doch nicht der Abzug, das da vorne ist der Abzug…und jetzt dicht an den Kopf…
Der Soldat drückt seine Schläfe an die Mündung.
„Tire tire vite… ou est maman…tire tire tire ti… ti….”
Schuff schießt mitten hinein in das Gewimmer, der Rückstoß reißt ihm die Muskete aus den Händen. Aber getroffen hat er nicht, Schweiß rinnt an ihm hinunter, der Soldat ist nur noch ein pfeifender Schrei.
Schuff nimmt Reißaus, stolpert über vier oder sechs andere Liegende, bleibt selber liegen, schluchzt, ein Soldatenarm legt sich über sein Ge-sicht. Dicht neben seinem Ohr lallt schon wieder einer Mach mich tot Kamerad mach mich tot.
Der pfeifende Schrei des Franzosen steht immer noch da hinten in der Dunkelheit, Schuff tastet sich zu dem Schreienden zurück, will ihm den Mund mit Erde verstopfen, aber die Bauern sind schon über ihm mit ihren Schaufeln und Pickeln. Wo der Schrei herauskam, ist jetzt ein Knacken wie von Tonscherben, auf denen viele herum trampeln.
„Ein Murks war des was du verübt hast an eam“ blaffen sie Schuff an, “da dafür grabstn jetzt ei wia sa si g’hört.“
Und Schuff bekommt ihn aufgeladen, nachdem der Tote alles hat abliefern müssen bis auf die nackte Haut. Ein Bauer schiebt Schuff mit dem Kadaver auf dem Rücken vor sich her, selber einen Nackten an den Füßen nachschleifend, eine Hacke geschultert. An einem niedergeris-senen Zaun muss Schuff eine Grube in die vereiste Erde hacken. Die To-ten werden hineingeschlenzt. Und wenn der Bauer mit seinen Füßen die vereisten Erdbrocken wieder in die Grube gestoßen hat -
“Schleich di sunst liegst aa no da drin.“
Der Bauer hat vier Säbel umhängen, auf dem Kopf ein napoleonisches Tschako, Kürassierstiefel an den Füßen und um den Hals zwei silberne Kettchen. An dem einen pendelt ein Kreuz, an dem anderen ein Minia-turbildnis der Kaiserin Josephine. Als er sich umdreht, sieht Schuff auf seinem Hintern eine Satteltasche mit Napoleons Adler hopsen. Die Ta-sche ist nicht mehr zu schließen, weil vollgestopft mit Uniformhosen, weißen und grauen, französischen und österreichischen. Ehe er davon geht, stößt der Bauer Schuff mit einem seiner gefledderten Säbel fort.
„Bist allerweil no da - ?“
Schuff schlägt seinen Pelerinenmantel um die Schultern und macht sich davon. Krieg ist eine spottschlechte Bühne für Komödianten. Von weitem, auf dem Söller eines brennenden Hofes, sieht er den Kaiser Na-poleon stehen.
Der Kaiser grüßt zu ihm herunter. Schuff bleibt stehen. Meint Napoleon wirklich ihn, ausgerechnet ihn, den Kleindarsteller Schuff ? Nein, der Kaiser meint auch die anderen, die da im brennenden Dorf durcheinander rennen, er grüßt über das Getümmel hinweg, das er angerichtet hat. Er ge-nießt es dass er die Unruhe in der Uhr ist, die die vielen Zeiger ein ein wahnsinniges Kreiseln versetzt.
Die Bauern, behangen mit den Monturen, die sie seinen Soldaten vom Leib gerissen haben, nehmen Haltung an und salutieren zu ihm hinauf.
“Es lebe der Kaiser Napoleon ! Hoooooch !“
Und lassen das weite O als Jubelblase zum Himmel steigen vor Stolz dass der Kaiser ihrem abgeschiedenen Dorf die Ehre seiner Anwesenheit antut. Wo er doch auf so vielen Kriegsschauplätzen sonstwo gebraucht wird. Nur Schuff, dem noch in den Gliedern sitzt dass ers nicht vermocht hat einen von des Kaisers Leuten in einen Tod ohne Qualen zu schicken, Schuff hält dagegen, formt seine Hände zum Trichter und ruft mit seiner dünnen, heiseren Stimme
„Sie sollen verrecken, Sire ! !“
Die Bauern prügeln auf ihn ein mit den erbeuteten französischen Ge-wehrkolben, kaa Respekt vor der Majestät ! und treten nach ihm mit ih-ren erbeuteten französischen Kürassierstiefeln.
„Selber sollst varecken du Tschusch !“
Schuff entkommt dorthin, wo sonst keiner hin will, in das brennende Haus. Die Deckenbalken stürzen schon herunter, aber dafür trachtet ihm keiner mehr nach dem Leben, außer den Flammen, die aber noch damit zu schaffen haben, an den Stützbalken zu fressen.
Mit einem Schwung Dielenbrettern fällt Schuff der brennende Kaiser vor die Füße. Der ist viel größer als der Kaiser und Hosen hat er auch keine an. Seinen Zweispitz hat er auf dem Schlachtfeld erbeutet als sein Hof zu brennen anfing, und den Uniformrock auch. Darüber hat er den Verstand verloren, schreit in einem fort er i bin der Bonaparte ! i bin der Bonaparte ! der Bonaparte ! und lacht, als ob die Flammen ihn nur kitzelten und nicht versengten. Krieg ist die rechte Bühne für Komödian-ten, die nicht wissen dass sie welche sind.
Schuff wandert die ganze Nacht durch.
Schuff befiehlt sich selbst das Weitergehen, weiter weiter weiter bleib mir nur nicht stehen du Knattermime. Schuff ist allzeit angesagt worden, wann er zu gehen hatte und wann er zu schweigen hatte, wann er den linken Arm heben sollte und wann den rechten. Nun hat er keinen Vorsager mehr der ihn rangiert und arrangiert hierhin oder dorthin. Die Herren Kommandeure sind vollauf mit dem Rangieren ihrer Heere be-schäftigt, die Blutiges verrichten und nicht Theatralisches.
Wenn Schuff aber, von den Vorsagern im Stich gelassen, das tut was er den größten Teil seines Lebens lang getan hat, nämlich dasitzen und warten auf den nächsten, wiederum spärlichen Auftritt, dann hat der Frost ihn am Wickel. Kriecht ihm durchs dünne Schuhwerk in den dünnen Leib und am Morgen sitzt ein toter Schuff am Straßenrand und wartet immer noch auf seinen spärlichen Auftritt. Weiter weiter weiter Schuff weiter, bild dir ein im Textbuch steht SCHUFF MACHT EINEN LANGEN ABGANG.
Bis einer auftritt, der kommandiert bleib stehen, Schuff. Und im Text-buch wird dann stehen SCHUFF VERHARRT UND ERWARTET DEN AUFTRITT WEITERER ACTEURS.
Dann darfst du stehenbleiben, Schuff.
Im Morgengrauen sieht er österreichische Grenadiere in einem Dorf bi-wakieren. Ein Wachhabender, im Stehen eingeschlafen, wacht erst auf, wenn Schuff schon an ihm vorbei ist und setzt an zu der Meldung
„Unbekannte Zivilperson… „
Weiter kommt er nicht. Ehe die anderen Krieger aus dem Schlaf rum-peln, bleibt ihm der Mund offen stehen, denn aus Schuffs Pelerinenman-tel flitzt ein blauer Vogel hervor und verschwindet in Schuffs Ärmel. Schuff legt den Finger auf den Mund sags nicht weiter und macht die Geste lass dich nicht stören im Schlummer, Kamerad.
Der Soldat grinst nicht einmal Dank und nickt gehorsam sofort wieder ein. Schuff kanns brauchen, dass einer stellvertretend für ihn schläft. Weiter weiter weiter Knattermime. Auch wenn Schuff nicht weiß, wie weit dieses weiter noch ist.
Der Prinzipal Schuff als Frachtgut aufgegeben ohne Adresse und ihn mitten im Transport allein gelassen. Nun Schuff muss sich auf eigenen Füßen verfrachten, obwohl zwei seiner Zehen Eisklumpen sind. Oder inzwischen schon mehr als zwei. Weiter weiter weiter Knattermime. Als klebte ihm ein Gepäckzettel STÜCKGUT WIEN FRAGILE auf der Krause seines Pelerinenmantels.
Schuff ist immer schon Frachtgut gewesen und seit frühester Kinder-zeit auf der Walz. In der Erbfolge seiner Eltern, die Komödianten waren wie er jetzt einer ist. Vagierende Leute, und wiederum Kinder von Komö-dianten, deren Eltern Komödianten waren. Auch sein Prinzipal in der Versenkung verschwunden ist ohne dass man deren Klappe hätte zu-schlagen hören und die Kollegen links und rechts ins Irgend- oder Nir-gendwo wer weiß welcher Versenkungen gefallen sind : ein anderes Nest als die Schaubühne kommt Schuff nicht in den Sinn. Wie es einem Maul-tier nicht in den Sinn kommt, auf Feldhase umzusatteln.
Schuffs Bestreben hat sich lebenslang darin erfüllt, zur Vorstellung auf dem Posten zu sein. Um sechs Uhr im Kostüm, wenn die Vorstellung um halb acht anfing, den Text auswendig schon bei der Stellprobe, und nie einen Triangel gerissen in ein Kostüm. Wegen seiner heiseren Stimme hat er schon von seinem Vater, selber Prinzipal und sein eigener erster Cha-rakterspieler, keine Rolle bekommen die ihn nach vorn an der Rampe gebracht hätte. Zum Liebhaber, Tyrann und Helden haben ihm timmkraft und Pfunde gefehlt, zum Komischen die Unverfrorenheit der Tieftrau-rigen.
Manchmal hat man ihn ausgestopft, wenn der Spaßmacher Fieber hatte oder zu besoffen war oder zu einer anderen Compagnie entlaufen, und Schuff musste die komische Rolle übernehmen. Aber spätestens nach dem zweiten Auftritt hat der Vater ihm die Kissen wieder herausgerissen und den Part selber gespielt.
Und Schuff wars allemal hoch zufrieden.
So verengte ihn seine enge Stimme und sein langbeiniges Gestell auf das Fach des Dazwischenhuschers, der mit einer Botschaft auf die Bühne weht, die das Gute ins Ungute weht. Das Fach des unguten Boten, des Hetzers und Aufwieglers mit Perücken, die stets schwarzgrau und strähnig waren. Des Verleumders, auf den die Helden, blondlockig, ange-wiesen sind, denn ohne ihn könnten sie niemals ihre Strahletaten voll-bringen. Der aber auch nie an die Rampe treten durfte, weil er sonst vom Publikum, wenns denn ein unverschlafenes war, mit Spucke oder toten Mäusen bedacht worden wäre. Schuff blieb ewig der, dem keine langen Monologe vergönnt waren, der aber die seitenlangen Monologe der anderen intus haben musste weil er aufs Halbwort genau in diese hinein zu stürzen hatte. Um sie mit der Nachricht zu zerfetzen, das Stamm-schloss stehe in Flammen, die Geliebte sei geraubt und entehrt, die feindliche Armee erklimme just die Mauern und der König habe sich soeben entleibt.
Immer nur böse Interrupti, keine Viertelseite lang. Und danach saß Schuff wieder sanftmütig und aufgeräumt in der Umkleidekammer und legte Patience.
So wurde Schuff, der gute Garderobengeist, zu unserem Schuffchen, dem alle vertrauten, dem sich alle anvertrauten das bleibt aber bitte unter uns Schuffchen mit ihren heimlichen Liebschaften und daraus fol-genden Schwangerschaften, ihren heimlichen Verhandlungen mit dem konkur-rierenden Schauspielunternehmer, mit den Racheplänen gegen den Prin-zi-pal beim nächsten Mal kriegt er das Messer zwischen die Rippen weil er sie wie allabendlich schon wieder übers Ohr gehauen hatte.
Unser Schuffchen nahm die Säuglinge der Heroinen in seine Obhut, wenn die auf die Bühne mussten und mit denselben diskreten Händen die Flachmänner der jugendlichen Helden. Er hat die einen getreulich gewi-ckelt und an den anderen nicht genippt. Und er wars zufrieden.
Und wenn er einmal unbeschäftigt hinter der Bühne hockte, hat er die zerknitterten oder zerrissenen Requisitenpapiere glattgestrichen, die die Kollegen nach den Auftritten achtlos fortwarfen. Und all die Liebes- Steck- und Drohbriefe sortiert, die Testamente und Todesurteile, ohne die kein Schauspiel auskommt. Aber auch jene Verwirrsprüche und Schwei-nigeleien, wie Shauspieler sie hinkrakeln, um einen Partner aus der Fas-sung zu bringen, der sie mit ernster Miene als Sendschreiben des Kur-fürsten zu verlesen hat. Schuff hat diese zerknüllten Seiten nach und nach zu kleinen Konvoluten geordnet, die hintereinander weg gelesen, bizarre Geschich-ten erzählten, chroniques scandaleuses des Theateralltags.
Als er sich eine Strafe einhandelte, weil über seine Anthologie hinter der Bühne gelacht wurde ausgerechnet während eines Monologs des Prin-zipals, ging er dazu über, seine papierene Sammlung zu Schiffchen und Figürchen zu falten und damit die Kollegen zu erfreuen, wenn die mürrisch und durchgeschwitzt zurück in die Garderobe gestolpert kamen. Mit der Zeit hat man von ihm sogar erwartet, dass er hinter der Bühne eine zweite Bühne errichtete mit einem zweiten Ensemble. Mit seinen Mimen aus Korken und Draht, herrenlosen Knöpfen, Strohhalmen und ungültigen Münzen, in Treterchen aus Kerzenwachs gesteckt, führte Schuff nun eigene Stücke auf. Schattendramen, Spiegelfarcen.
Oft auch Travestien des Stückes, das grade draußen auf der Bühne gespielt wurde. Propodonsky warf Arme aus Schwefelhölzchen hoch, Langebehn schüttelte eine Mähne aus Werg und die Prinzipalin ließ ihren Wanst ruckeln, der ein Stopfkissen voller Nadeln war.
Aber bald erschuf Schuff sich ein ausgedachtes Ensemble, in dem die Garnspule nur noch sie selbst, die Garnspule, war und mit ihrem Gespie-len, dem Kamm, Pirouetten drehte, um einem Löffel zu imponieren mit einer aus einem Requisitenbrief gefalteten Krone, die in einem Apfel-butzen steckte.
Allein der Demoiselle Pfrenhuber wollte ers nicht antun, sie mit einem beleidigend banalen objet trouvé zu verzweifachen, das er aus dem Keh-richt gefischt hatte. Ihr zuliebe, ihr zu Ehren ( den er ehrte sie seitdem er ihr als Kind die Kostüme hatte wechseln dürfen und verehrte sie, als ers beim Backfisch immer noch durfte ) fertigte er hingebungsvoll eine zweite Demoiselle an.
Für Schuff war die Demoiselle ein Zwitscherwesen, das sich nur zu-fällig und vorübergehend in den Niederungen der Propodonskyschen Compagnie verflogen hatte. Und so fitzelte Schuff Seidenstreifen auf, schnitt Brokatborten zurecht, riss Haare aus Leimpinseln, splitterte Fisch-bein aus abgelegten Korsetten zu zartem Filigran und es erstand eine Demoiselle Pfrenhuber secunda, der ersten nicht so bildnishaft aus dem Gesicht geschnitten dass sie ihn eingeschüchtert hätte ( war er doch im Hand-umdrehn einzuschüchtern, sogar von seinen eigenen Bastelfigür-chen ) und dennoch ein Abbild ihrer wahren Natur, wie er sie sehen wollte.
Als Flattermamsell, halb Engel und halb Zaunkönig.
Um sie von dem staubig drögen Schwarzbraungrau abzuheben das die Original-Demoiselle hinter den Kulissen umgab, behielt er ihr diejenige Farbe vor, die zu beschaffen ihm am mühseligsten war, ein helles Ultra-marin. Am reinsten fand er dieses gesuchte Pigment im Tintenfass eines Schreibers der Theaterzensurbehörde in Quedlinburg. Der Diebstahl wur-de sogleich bemerkt und der Prinzipal dafür abgestraft. So hatten alle ihren gerechten Anteil. Der blaue Vogel aber avancierte zum einzigen Mitglied von Schuffs Ensemble, das er bei sich trug wo er ging und stand und Theater spielte.
Über seiner kleinen Schaubühne vergaß Schuff hier und da gänzlich die große Schaubühne und Strönebald, der Souffleur, musste ihn aus seinen Dramoletten aufscheuchen, damit er mit heiser vermeldete, das Schloss stehe wieder einmal in Flammen und die feindliche Armee er-klimme gerade die Mauern.
Während in seinen Händen, auf dem Rücken verborgen, seine Darstel-ler lampenfiebrig ihrem eigenen Auftritt entgegenbibberten. Bis der Prin-zipal eines grausigen Morgens Schuffs Ensemble ein Ende setzte. Und es mit seinen breiten Füßen zertrat, während Schuff zwei Tage auf dem Abtritt eingesperrt wurde. Allein die Stieftochter des Prinzipals, in Schuffs Pelerinenmanteltasche zärtlich umklammert, überstand in Gestalt eines blauen Vogels den Tod ihrer Kollegen.
Nun aber ist Schuff in eine Aufführung geraten, in deren Pausen er kei-ne heimlichen Lieb- und Schwangerschaften mehr anvertraut bekommt, keine Wickelkinder mehr halten darf, deren Stillmutter draußen einem ganz anderen ewige Treue schwört, der gar nicht der Vater ist. Nun be-wegt er sich durch ein Stück, dessen Textbuch nicht aufnotiert ist und das sich von selber spielt. Nicht nur das Schloss steht in Flammen und die feindliche Armee ist zugange ohne dass Schuff Zeit bliebe, es anzusagen, die Feuersbrunst ist so wirklich wie die Uniformen der Brandstifter keine Theaterkostüme sind. Ein Albtraum, der sich in seiner Familie von The-aterern von Generation zu Generation vererbt hat : auf die Bühne kom-men und nicht wissen welches Stück da gespielt wird. Wer darin Schurke, Held, Liebhaber, komische Alte ist.
Und wer das Opfer. Ja, wer sind wir denn.
In einem Hohlweg eine Gans. Eine dicke weiße Hausgans in einer Hal-tung als habe sie ausgerechnet auf Sylvester Schuff und keinen anderen gewartet. Von der verschneiten Landschaft, die bereits abendlich diesig wird, heben sich nur ihr Schnabel und die Ringe um ihre Augen ab. Drei-mal rot vor Weiß. Der lange Schuff überragt sie turmhoch, schon wahr, aber die Gans steht so selbstbewusst und breitbeinig vor ihm, dass er sich zollhoch vorkommt, wie die Wanderratte vor dem Burgwächter.
Gott zum Gruß, Madame Gans, Glück allerwege, wie vermögen Sie es, sich Schuff in den Weg zu stellen, wo doch die Herren Militärs ihresgleichen vollzählig wegfouragiiert haben zum leiblichen Wohl ihrer Armeen. Denn es soll sich leichter siegen, pardon, dass ich das ausgerechnet Ihnen so unverblümt sage, mit Gänsebraten im Magen als mit, sagen wir, Hirsepamps.
Schuff und die Gans. Zwei denen niemand gesagt hat in welchem Stück sie spielen, und nun stehen sie auf der selben Bühne. Die Gans auf Säu-lenbeinen wie die Ruderknechte auf dem Floß. Oder wie Käpernick, dem man ein so großtuerisches Dastehen abgenommen hat oder wie Propo-donsky dem man es nicht abgenommen hat. Schuff aber sind die verzagt angewinkelten Knie zur zweiten Natur geworden, bis hinunter zu den ein-wärts gestellten Schuhspitzen.
Die Gans schreitet gravitätisch nach rechts, wenn Schuff dort an ihr vorbei schuffen will. Sie schreitet nach links wenn Schuff es links vorbei versucht. Tiefsitzende Bänglichkeiten überschuffen ihn, schuffische Bänglichkeiten eines Eingestaubten, der lebenslang Zögling des Theaters war, nie Zögling des Lebens und Freibeuter in fremder Leute Hühner-ställen. Nie Apfelbaumbezwinger und Pflaumenklauer, nie Raufer auf Dorfangern. Nie als Draufloslümmel besetzt mit aufgeschlagenen Knien, immer nur als Schuff.
Er erteilt sich den Rat, Verhandlungen aufzunehmen mit der Madame Gans, leidlich unbehelligten Durchzug betreffend. Seine Finger, die sich in die Manteltaschen krampfen, umfassen seinen blauen Vogel. Er holt ihn aus der Manteltasche und lässt ihn flattern.
Die Gans ist entzückt. Schnappschnapp her damit. Als Adoptivkind, nicht als Beute. Aber der sehnsuchtsvoll aufgesperrte Schnabel, der sich mit einem Fauchen um seinen blauen Vogel schließt, vervielfacht Schuffs Ängste zu nicht mehr nur schuffischen, sondern zu Lebensängsten. Der Draht in dem blauen Vogel überdehnt sich, surrt jammernd, die Gans ge-rät in Zorn ob Schuffs Widerborstigkeit. Sie faucht, als wollte sie ihn weghusten, wegpusten wie einen Fetzen Papier und zur Strafe dafür, dass er nicht davon segelt nimmt sie Schuffs Finger in die Kneifzange ihrer harten Schnabelränder.
Schuff dem Wehleidling wird nun wirkliches Weh zugefügt. Er schlid-dert im Schnee aus und liegt jählings auf dem Rücken. Über ihm Madame Gans, die Flügel ausgebreitet wie der Wappenvogel des gewaltigen Napoleon. In seiner Not wickelt Schuff der Adlergans den Draht seines blauen Vogels um den Hals. Wenn einer von uns schon totgehn soll keucht Schuff, dann bisses du.
Das wird sich weisen zischt die Gans wer von uns beiden die Pforten zur Ewigkeit zuerst durchschreitet.
Schuff muss tun, was er sich am wenigsten zutraut, Schuff muss kämp-fen. Er muss das Biest würgen, wenn er ihm schon die Schlinge umgelegt hat. Aber das Biest hat Flügel, Schuff hat keine, und mit denen stäubt es den Schnee hoch und peitscht Schuffs Arme und Beine. Die tun weh, als brächen sie unter den Schlägen der Gänseschwingen, das Blut der Gans spritzt ihm ins Gesicht, aber die Kraft des Viehs schwindet nicht, so wie Schuffs bescheidenes Kräftchen.
Schuff schreit, bis seine dünne Stimme kratzig wird. Aber es nähert sich keine Hilfe, sondern nur Geschrei. Das Geschrei ist das von vielen Gänsen, die den Hohlweg herunter marschieren.
Auf den Grauen der unsere Schwester würgt, Attacke !
Gegen Bonaparte marschieren Soldaten auf, gegen den armen Schuff ziehen Gänse zu Felde. Er wird von ihnen eingekesselt, er wird, unter Krakeel, von allen Seiten gekniffen. Seine Schmerzensschreie ( er hat zum zweiten Mal in seinem Leben eine klare Stimme ) gehen unter im Orkan des Gänsegeschreis.
Da teilt sich unversehens Schlachtreihe der Gänse. Männer stapfen den Hohlweg herunter. Sobald sie angelangt sind, schweigen die Gänse, als habe ein Dirigent abgeklopft. Sie watscheln sogar bereitwillig beiseite, um die Sicht frei zu geben auf die entseelt in ihrem Blut liegende Artgenossin.
In den Kreis um Schuff und die Entseelte treten wüste Burschen. Sie tragen Uniformen verschiedenster Armeen, mag sein sogar der weiland hunnischen oder der Tamerlans des Großen. Mit Biberfellmützen, Epau-letten auf Bärenfellen, umgehängten Jagdbüchsen und Sicheln, die sie auf Holzprügel gesteckt haben. Sie setzen sie nicht ein, noch nicht.
Sie sind spöttisch chevaleresk.
„Habe die Ehre, der Herr Gansmörder.“
Ihre Frage, ob es verstattet sei, ihm auf die Beine zu helfen, erreicht Schuff nicht, denn hat sich taub geschrien. Die wilden Waffenburschen reißen ihn so wüst hoch wie sie aussehen, einer schüttelt die tote Gans vor seinem Gesicht.
„A Gansbraterl tät dem Herrn jetz munden, was ?“
Aber auch diese Einladung zu einem riskanten Diner versteht Schuff nicht. Und auch nicht, ob sie sich gnädigst erlauben dürften ihn a bisserl zu begleiten zur Zubereitung des Gänsebraten am Herdfeuer, das ihn be-reits erwarte.
Ab mit ihm, marcher !
Die Gänse drehen gehorsam die Schnäbel dorthin, wo sie hergekommen sind und beplaudern, heimwärts watschelnd, belustigt und befriedigt ihre Heldentat, die sie soeben vollbracht haben an einem gemeingefährlichen Wegelagerer. Die Waffenburschen pieken Schuff ihre Waffen in den Rü-cken, durch seinen durchgewetzten Mantel spürt er jede Sichel und jede Pistolenmündung metallkalt auf seinen Rückenwirbeln. Die gemeuchelte Gans wird dem Zug vorangetragen wie die Standarte einer besiegten Armee, deren einziger Überlebender Schuff ist. Nur dass statt seines Blutes das der Gans in den Schnee träufelt.
Schuff bemüht sich, nicht auf die rote Spur zu treten, zu Ehren ihres Angedenkens, auch wenn ihre Begegnung nur kurz bemessen war.Die Gans sei ausgebrochen, blubberts unter den Waffenkerlen durcheinander. Wie hat das bloß g‘schehen können, wo doch Tag und Nacht Wache gehalten wird. Aber die anderen Gänse sind ihr zu Hilfe geeilt, da kann unsereins noch was lernen über Kameradschaftstreue.
Und alles wegen dem Gfraas, dem Dürren da, dem grauen Verre-ckerl. Dem sieht man den Scherenschleifer doch gleich drei Meilen gegen den Wind an, frag ihn einer wo sein Schleifstein steht, dann soll er unsre Messer scharf machen.
„Nacher hat er was g‘leist als Vorauszahlung da drauf dass wir sie ihm einarennen, frisch g‘schliffen von eam aa no söiwa.“
Aber Schuff hörts ja nicht.
„An dem g‘hört a Exempel…a Exempel g’hört da schtaturiert“.
„Wann a komplette Armee auf Raub is, nacha sann dir eh de Händ bunden, aber bei so am Tschuschn solo und allaanigs, da lohnt sich a strafende Gerechtigkeit.“
Schuff hörts wieder nicht, aber ihr G‘schau ist ebenso unzweideutig wie ihre Bewaffnung.
„Meine Herren, die Gans hat mir aufgelauert.“
So wie Schuff nichts hört, so hören sie nicht auf Schuff. Sie sperren ihn in ein Gemäuer mit vergitterten Fensterlöchern, dem man ansieht wie einbruchsicher und namentlich ausbruchssicher es ist. Schuff ist geneigt, nach seinen bisherigen Erfahrungen, es trotzdem als Gastlichkeit zu nehmen. Ist er doch sonst immer nur angeschrieen worden schleich di, jetzt wird er zur Abwechslung einmal verwahrt und verriegelt.
Mit Nachbarn, die ihm nun schon vertraut sind, denn auch die Gänse-herde hat hier ihre Behausung.
„Aufgelauert ! Ich versichere Sie. Folglich, ich bin Opfer einer Über-macht“ heisert Schuff, denn da ist noch ein anderer Miteingesperrter, oh-ne Schnabel und ohne weißes Gefieder.
„Wie hätte ich denn gewärtigen sollen, dass die Gans eine Streitmacht in Reserve hat.“
Schuff heisert von der Höhe eines Holzfasses herunter, auf das er sich vor den Gänsen geflüchtet hat, denn der Schauplatz seiner Einsperrung ist ein Weinkeller.
„Notabene, es hat mich noch nie ein so großes Tier bedroht. Wo ich doch keinerlei Erfahrung habe im Umgang mit lebendem Geflügel.“
Auf und hinter der Bühne, wo Schuff groß geworden ist, hat es keine Gänse gegeben. Nicht einmal ausgestopfte. Ein gemalter Schwan war das einzige Federvieh, mit dem er es zu tun hatte. Und nun umringen die Bestien seinen Zufluchtsort, das Fass, und beraten sich. Rachsüchtig. Bei dem Gedanken, sie könnten ihre Flügel einsetzen um seinen Zufluchtsort auf dem Fass zu entern, schwindelt es Schuff und er fürchtet im Schlaf abzustürzen, den Bestien vor die Schnäbel.
„Wäre es zuviel verlangt, wenn Sie beschwichtigend auf sie einwirken, der Herr ?“
Denn der andere sitzt mitten drin in der Herde. Aber Schuffs Stimme reicht nicht hinunter zu dem Mitgefangenen. Seit der verlorenen bataille ist sie ausgefranster als je zuvor. Und selbst wenn er das mächtige Organ des Prinzipals im Kehlkopf hätte, er vermöchte nichts gegen die Stimmen seiner Feindinnen.
Die Gewölbe des Weinkellers vervielfachen ihren Endlos-Choral, nur in der Nacht geben sie Ruhe, bis auf ein paar Fiepser im Schlaf, wenn sie ein weiteres Mal von ihrem Sieg über Schuff träumen.
Nur der andere Gefangene gibt keine Ruhe.
„Aber de Glocken san doch in Rom g‘wesn…“
Er leiert, wie Schuff, Tag und Nacht seine eigene Unschuldslitanei vor sich hin, in den Gänsegesang hinein. Ihm aber lauschen die Gänse, ihn bestätigen sie, ja sie sprechen ihm Tröstung zu.
„Wann i eich sog, de Glocken warn in Rom …“
Wie sollte er sie denn läuten sollen. Wenn sie in Rom waren.
„In Rom. I schwörs. In Rom…“
Eben das Läuten aber hat ihn hierher gebracht in den Wein- und Gänsekerker. Obwohl die Glocken in Rom waren haben sie zugelassen dass er, der Mesner, an ihren Seilen zieht. Und das zu grober Unzeit, am Karsamstag. Damit hat er die Gläubigen verschreckt, die von Kindesbei-nen an wissen, dass die Glocken von Karfreitag bis in die Osternacht in der Ewigen Stadt Rom weilen. Schweigend. Mit dem Finger quasi auf dem erzenen Mund. Wenn sie denn einen hätten.
Und bevor der Mesner geläutet hat, hat er die Kirche von innen zugesperrt, wie von dem Gnä Herrn Hasfájás aufgetragen. Auf dass kein streunendes Gesindel eindringe. Keine Kirchendiebe, wie sie in Kriegs-zeiten allerwege sind und Altarsilber plündern.
Aber das Verhängnis des armen Mesner war, er hat die Gänseherde aufgeweckt. Durch das Läuten der Glocken, in Abwesenheit derselben. Eben der Glocken.
Ihr Geschrei nun aber, sei‘s über die Störung ihrer Nachtruhe oder den Frevel wider die Liturgie oder beides zusammen, hat Fouriere hell-hörig gemacht, die in der Gegend am Herumstreichen waren. Just wie der Gnä Herr Hasfájás es ihm, dem Mesner prophezeit hat. Und die Soldateska ergriff die angeläutete Gelegenheit und räuberte stracks den Reichtum des Gnä Herrn Hasfájás, der zugleich der Reichtum des ganzen Dorfes war. Und die Dorfleute mussten zuschauen, von den Säbeln der Fouriere in Schach gehalten, wie der Gänse-Reichtum des Gnä Herrn Hasfájás auf den kaiserlichen Bajonetten verendete. Der Mesner indes, des Glocken-gedröhns wegen taub gegen Gänse- wie Soldatengebrüll, zog unverdros-sen weiter an den Glockenseilen, sodass man die Kirchentür hat auf-brechen müssen.
Seitdem sitzt er im Weinkeller ein. Einstweilen, denn der Gnä Herr ist geschäftehalber über Land. Der Gnä Herr Hasfájás, Herr der Gänse, ist Herr über alles übrige was sich im Dorf bewegt.
Und auch das was festgemauert ist. Und Gerichtsherr ist er eh.
Schuff beschaut seinen blauen Vogel oder vielmehr das was die Gans gotthabsieselig von ihm übrig gelassen hat. Zwei Spiralen, ein halber Flügel, ein Federbalg, und alles getränkt mit Gänseblut.
Wenn aber nun die Franzosen die Gänse davongetrieben haben –
„Naa, des san de Unsrigen g’wesen.“
- woher dann die vielköpfige Herde, die den Sieg über Schuff errungen hat ?
„Des san de, de was der Herr Hasfájás hier beiseit im Weinkeller ver-steckt g‘habt hat. Speziell vor de Fouriere von der unsriger Armee.“
Der Weinkeller ist einzige Lokalität im Dorf, die dickmauerig und vergittert ist schon seit der Türkenzeit. Aber wie lohnen es die Gänse dem Gnä Herrn Hasfájás, dass er sie hierorts sicher bewahrt vor dem Zugriff fremder Fressmäuler ?
Besaufen sich mit Rotwein. Denn in dem Keller hat sich, weil die Zapfhähne ihren Dienst nur nachlässig tun, ein wohlduftender See aus Tokayer, Muskateller und Gumpoldskircher ausgebreitet, fingertief und von Wand zu Wand, vermischt mit Lehmstaub und Gänsedreck und Flaumfedern als Segelschiffchen obendrauf. Wer aus dieser Tränke schlürft, wird zügellos enthemmt und zu jeder Missetat bereit.
Aber auch eine solcherart enthemmte Gans, meint Schuff, könne kein Gitter aufbrechen und den Schlüssel umdrehen, zumal wenn gar kein Schlüssel zuhanden sei.
„I bin so guat wie aufg’hängt. So guat wia…“
Die Gänse umstehen den Mesner und versichern ihn ihres Mitgefühls. Sie wissen, wie er weiß, wer ihnen Freigang verschafft hat. Die Kinder, die Malefizbamsn.
Was denn für Kinder ?
„I bin so guat wie aufg’hängt. So guat wia…“
Was für Kinder !
„Unser Gnä Herr Hasfájás is aso mild als wia der Flaum von seine Ganserln, aber wann dene irgendwas contra geht, nacha werd er zum Kosakenhäuptling. I bin so guat wia aufg’hängt…“
Der Herr Hasfájás, zugewandert aus Großwardein am Siebenbür-gischen Gebirge, liefert Gänsebraten an die ersten Häuser Wiens. Bloß der Mesnertölpel, der hier hockt selbstverschuldet in der Weinlacke, der fällt ihm in den Arm.
„Aber wann i do schwöa, de Glockn woan in Rom ...in Rom…“
Unter der Bohlentür des Wein- und Gänsekellers klafft eine Lücke, durch die die Sonne herein scheint. Die Schwelle darunter ist nicht be-festigt, und wenn man den Sand wegkratzt, wird die Lücke fürs Son-nenlicht ein bisschen geräumiger.
Schuff kratzt und genießt, denn in dem Verließ ist es finster und der Gänsekotgestank, vergoren in der Weinlacke, hat das alleinige Regi-ment. Eines Morgens steht in der Kuhle unter der Bohlentür ein Napf voller Linsensuppe, und auch ein Brot ist dazugetaucht. Als Schuff danach langt, hört er, dass dicht nahebei gekichert wird.
Die Kinder !
Schuff revanchiert sich. Wenn er den leeren Suppen-Napf wieder hinaus schiebt, sitzt darin ein blaues Federbürschchen, das zwar nicht mehr fliegen kann, aber mit den Flügelchen schlagen und den Schnabel sprei-zen. Sodass nun dicht nahebei nicht bloß gekichert, sondern losgeprustet wird.
„Wann de Glockn doch in Rom woan…wann i da schwöa dass de Hundsglockn in Rom…“
Beim nächsten Mal sind es schon zwei Brote, die in den Linsen schwimmen. Schuff wird verköstigt wie von Feen. Der Mesner schlürft sich derweil hinten im Finstern einträchtig mit seinen Zechgenossinnen in einen grenzenlosen Rausch.
„I bin eh so guat wia oofg’hängt…“
Schuff setzt seinem Vogel ein Taschentuch auf und staffiert ihn mit Gänseflaum aus, der nun ein blauweiß gesprenkelter ist, und als er den Sand unter der Türkante noch energischer beiseite häufelt, hat er sich damit eine Bühne erbaut. Ein Schauspielhaus in der Sandkuhle, auf der er auch noch einen zweiten Darsteller auftreten lassen kann.
Nämlich seine linke Hand, die mit dem Vogel schnattrige Zwiege-spräche führt die noch mehr Dorfkinder herbeilocken. Bis plötzlich Holzpantinen auf seine Akteure eintrampeln und die Kinder fortgebrüllt werden.
„Z’haus mit eich, ös Krippel !“
Schuff fürchtet, dass die Linsen von nun an ausbleiben. Aber am nächsten Abend werden mehr Linsen als zuvor in die Spalte gestellt, und als er sie sich mit den Brotkanten ( auch die sind größer geworden ) in den Mund schiebt, schmeckt er sogar Speckstücke in der Suppe.
„Der fremde Herr ist ein Puppenspieler von Profession ?“ fragt eine Frau, die sich seinetwegen hingekniet hat. Er sieht es an dem Schatten den sie wirft, aber sie selber sieht er nicht.
Soll er es mit der Wahrheit halten mit Verlaub, ich bin von Profession Intrigant oder soll er als Anwalt in eigener Sache seine Freilassung for-dern, energisch und unverzüglich ?
Den Geschmack des Specks im Gaumen, ermutigt er sich selbst dazu aus Gänsefedern neue Figuren zu bosseln, und als die Frau ihm abermals den Napf vor die Ritze stellt ( nun schon mit Bandnudeln und Hühner-fleisch ) lässt er sie nicht warten, bis er aufgegessen hat.
Sondern führt um den Napf herum seine neuen Kleindarsteller vor.
Diesmal trampeln ihre Pantinen sie nicht mehr nieder. Sie stampfen vor Vergnügen. Schuff bringt die Unsichtbare zum Lachen und leitet daraus seine Anwartschaft auf weitere Portionen Linsensuppe ab.
Die Pantinen bleiben vor der Türritze stehen, auch als der Napf schon leergeleckt ist. Und als Schuff sich eben bei der Unsichtbaren erkundigen will wann werd ich endlich befreit aus diesem Loch teilt sie ihm nach langem klammen Schweigen mit, die kunstreichen Holzschuhe, die er da sehe habe ihr Gatte geschnitzt. Wie auch anderes worauf der fremde Herr gar nicht kommen tät. Holzköpfe für Kasperln. Weil der Ihrige auch ein Puppenspieler gewesen ist.
Gewesen ?
„Perlacko hat der Meinige g‘sagt, wie sie ihn zu de Soldaten zwungen ham.“
Denn Perlacko bedeutet verschwinden in der Puppenspielersprache.
„Damit hat er mir sagen wollen, er ist vorderhand abwesend, aber in Wirklichkeit noch für mich anwesend. So halt wie der Puppenspieler hinterm Spielschirm nicht zum Sehen ist und doch da ist. Aber das Perlicko dazu hat er nimmermehr ausführen können. Denn Perlicko, das bedeut erschein wieder ! in der Puppenspielersprach. Weil, der Meinige ist den Soldatentod gestorben. Noch nicht einmal auf dem Feld der Ehre hat sie ihn troffen, die Ruhr, sondern schon aufm Marsch da hin..“
Die Pantinen scheuern verlegen aneinander.
„Es is mir von ihm bloß a Zetterl überbracht worden, letzter Hand. Perlacko und Gott befohlen Dein Joseph is drauf gestanden. Erwarte dich meine Afra und die Kinder da drüben “.
Hinter dem Spielschirm Gottes, hat ihr Joseph damit sagen wollen, weil der Joseph ein frommer Mann gewesen ist.
„Das Zetterl hat der Herr Hasfájás überbracht, der was als Wacht-meister gedient hat, aber nicht von der Ruhr dahing‘rafft is worden und aa net von de Franzosen. Es hat ihm nichts gefehlt außer ein Ohr, was auf dem Schlachtfeld verblieben ist. Umso gnadenvoller für ihn, weil jetz hört er das G ‘schrei von seine Gäns aa bloß no halb.“
Nachts wispern die Stimmen der Versuchung unter der Bohlentüre.
„Mir wolln aa an Wein.“
Draußen liegen die Dörfler und stöhnen ihren Durst durch die Ritze.
„Ruckts an Wein raus, es soll eich zum Segen gereichen.“
Wenn Schuff und der Mesner Wein beibringen, die Fässer anbohren, Schläuche legen, die durch den Spalt gereichten Flaschen füllen, dann wollen die Dörfler die Heraushauung der beiden Mundschenke tatkräftig betreiben.
Wird versprochen, beschworen, gefleht. Dass freilich der Herr Halsfà-jas dicke Schlösser an die Zapfhähne hat schweißen lassen, die mithin nur Getröpfel hergeben, das nur zur Labung des Mesners wie der Gänse reicht und von denen reichlich gepanscht worden ist mit leiblichen der Eingeschlossenen, das wollen die Durstigen vor der Tür nicht gelten lassen.
Weil ihnen die Kehlen trocken bleiben, erleichtern sie sich unterwärts und pissen nach Kräften vereint an die Tür. Jetzt gibt es keine Pup-penspiele mehr, denn wer wollte dem Linsennapf zumuten, in die Pinkelgrube gestellt zu werden.
„Der Gnä Herr wird’s scho richten…“
Und Recht sprechen, auf dass der Napf wiederkehre. Aber wann kehrt der Gnä Herr wieder ?
„Mit Glück in a paar Tag.“
Und ohne Glück ?
„In a paar Wochn.“
Nun schlürft auch Schuff mit dem Mesner und den Gänsen aus dem Rotweinsee, in dem sie alle stehen.
„Und i schwörs, die Glocken woan in Rom…dö woan in Rom, warum glaabts mir denn bloß kaaner….“
Die Rückkehr des Herrn Hasfájás ist eine Inszenierung von eigenem Reiz. Auf seinem Apfelschimmel, nahezu so stämmig wie er selber, sprengt er ins Dorf, umgoldet wie der Sommer. Aber er springt nicht ebenso glorios vom Schimmel, wie es nach diesem Auftakt wäre. Denn der Herr Hasfájás ist beleibt über das Dorfübliche hinaus. Er hat a abgestimmt fülliges embonpoit wie man in Wien zu sagen pflegt, und er kommt gerade aus Wien, wo er sein embonpoit noch fülliger hat werden lassen
Der Herr Hasfájás ist noch nicht vom Schimmel gehoben von sechs, acht diensteifrigen Dorfburschen, da hat er den Seinigen schon verkündet, dass er als ein gänzlich Verwandelter zurückkehrt, ein Erhöhter, hat ihm doch die kaiserliche Hofkanzlei den Adelsschlag versetzt in Würdigung seiner Verdienste um sein Dorf im besonderen und die kaiserlich habs-burgische Landbestellung insgesamt.
Ah da schau her, raunt es im Dorf nun, mit was darf er sich denn schmücken, mit einem Baron, mit einem Ritter, gar mit einem Graferl ?
„Er darf a i anhängen an seinen Namen“.
„Ah geh, a bloß a i. Wo soll denn da ein Adel sein.“
Wann i der‘s sog. Das ist so Usus im Ungarischen, wo der gnä Herr gebürtig ist. Bei denen ist die Reihenfolge verkehrt rum, den Fa-miliennamen schreiben sie als erstes und danach den Taufnamen. Weil sie auf der anderen Seiten von der Wienstadt ansässig sind, da richtet sich alles ins Östliche aus und in die Gegenrichtung, von uns her gesehen. Drum hängen sie auch das von hinten dran, quasi ostwärts, an den Familiennamen.
Aber ein Adel ist ein Adel, und damit stehen wir im Dorf auch in einem neuen Glanz da. Durch dem Gnä Herrn seines
neues i.
Der Herr von Hasfájási lässt sich nicht lumpen, sein neues i strahlt übers Dorf wie ein goldgefasster Diamant. Darum hat er den Seinigen auch ein Geschenk mitgebracht aus Wien. Die Männer werden die Gan-serln schlachten, die Kinder dürfen sie rupfen. Das ist extension manu-factural, gewerblicher Aufschwung ist das, und die Geschicktesten aus dem Dorf dürfen die Lebern vom Fleisch trennen, was man filieren nennt nach französischem Muster, und was dabei herauskommt ist fois gras und die Delikatesse aller Delikatessen, die was sonst nur aus Strasbourg herexpediert wird.
Jetzt kommt sie aus dem Dorfe des Gnä Herrn mit dem neuen i, was viel näher dran ist an Wien und seinen Schleckermäulern als wie da hinten dieses Strasbourg.
Aber der Gnä Herr von Hasfájási, immens spendabel wie er nun einmal ist, hat auch noch ein zweites Geschenk in petto. Die Weiberleut dürfen Kattun rechteckig zusammen nähen und mit Flaumfedern aus-stopfen. Bis dato hat der Gnä Herr immer nur das Fleisch von den Ganserln geliefert nach Wien. Und das, was ihnen weggerupft wurde, als Kielfedern an die Beamten, Schulmeister und Mönchsschreiber.
Die Zierde all dessen aber, was eine Gans zu vererben hat nachdem sie ins Elysium abgeflattert ist, ist der Flaum. Und der war bislang zu nichts nutz.
Nun ist er dem Gnä Herrn nutz. Denn die Bürger der neuen Zeit wollen im Weichen nächtigen, sie beanspruchen die gleiche Weichheit wie die Kaiserin Josephine in Paris und wollen sich den sich den gleichen zarten Hintern dabei erwerben, im Schlaf. À bas mit Rosshaar und Strohsack ! Der Gnä Herr mit seinem neuen i schiebt Flaum unter die Hintern Eu-ropas, Vivat Daunen und wolkengleiche Unterpolster !
Ein mächtiger Vogel erhebt sich am Horizont der Zukunft, es ist nicht Napoleons kriegerischer Adler, es ist die daunenspendende Gans. Sie reißt keine Beute, sie duldets dass man ihr selber die Flaumfedern ausreißt und schnattert beglückt, wenn die Menschheit das Bett gar nicht mehr, sondern auf ihrem Daunen Kinder zeugt und ihr fois gras nascht. Niemand wird mehr einen Krieg führen wollen, und keine Fouriere wer-den mehr dem Gnä Herrn die Gänse wegräubern.
Also her mit Wein zum Draufanstoßen.
Der Wein ist die Domäne der wilden Gardisten. Sie allein haben das Recht, die Schlüssel zu den Schlössern ausgehändigt zu bekommen, die der Gnä Herr an die Zapfhähne hat schmieden lassen. Der Gnä Herr trägt sie überall bei sich, sie durften sogar die Reise nach Wien mitmachen und Zeugen seiner Adelserhebung werden. Nämlich, der Gnä Herr traut sei-nen Weinwächtern nicht über den Weg.
Zu Recht, wie sich zeigen sollte, als der Keller aufgeschlossen wurde. War ihnen doch völlig aus dem Gehirn gerutscht, dass dort neben Wein und Gänsen auch noch zwei Delinquenten weggesperrt waren.
„Wo bleibt der Wein“ schreit draußen der Herr. Weil er ein i mehr in seinem Namen mehr hat, noch schriller als früher.
Die wilde Corona dreht verlegen die Schlüssel in den Händen, wird’s bald schreit der Gnä Herrn, aber sie haben Meldung zu machen ( sie stehen sogar stramm dabei ) die Konjunktur die der Gnä Herr verspro-chen werde ein peinliches Loch aufweisen, grad so groß wie eine Gans.
„Eine Gans ?“
Halten zu Gnaden, eine Gans welche nicht mehr nach Wien eingeliefert werden kann, weder ihr Fleisch noch ihr Flaum, weil sie vom Leben zum Tode befördert worden ist durch ein landfremdes Element.
„Landfremdes Element ?“ schreit der Herr, noch schriller, denn ihn dürstet.
Nun ergab es sich aber, dass die Weinwächter nicht ausmachen konn-ten, welcher von den beiden Einsitzenden im Kellergewölbe der mit den Glocken in Rom sei und welcher der mit der gemeuchelten Gans, denn sie waren beide über die Maßen versaubeutelt. Der eine schlummerte, umlagert von Gänsen, hockte beiseite. Beide in der Weintunke und beide im Dustern.
Sie greifen den Beiseitehocker und schleppen ihn vor den Gnä Herrn, dessen Durst ob der überlangen Trennung von seinem Wein in donner-grollende Ausgedürrtheit übergegangen ist.
Wie aber wird im nun da, als er diesen seinen Wein erblickt nicht in einem Glas, sondern in Gestalt roter Tapser, welche der Herbeige-schleppte sich auf dem Erdboden hinterlässt ! Der Gnä Herr war immer schon der Gerichtsherr im Dorfe, nun ist er ein adliger Gerichtsherr und sein Zorn doppelt. Die Nobilitation dupliziert den Durst, und der Durst multipiziert den Zorn.
„Meuchelmörder !“
Schluck von seinem Tokayer, der ihm nun endlich gereicht wird.
„Schau dir her du Vieh, wie das arme Tier muss gelitten mit das hier um Hals !“
Auch der Draht, das Tatwerkzeug, ist ihm gereicht worden. Schluck.
„In den Himmel aufgefahren meine Gans. Aber auf Erden - Märtyrer.“
Schluckschluck. Der Gnä Herr erkennt seinen Mesner nicht mehr, weil vor seinem nunmehr adligen Blick alles gemeine Volk eh gleich aus-schaut.
„Trauer für Gans. Fluch für Hinschlächter.“
Schluckschluckschluck. Die Trauer fordert viele Schlucke. Die Schlu-cke befeuern wiederum die Trauer. Der Delinquent aber ist dem Gnä Herrn im Schlucken weit voraus, er hat den Wein des Gnä Herrn bereits als gansisch angereicherte Klumpen in sich, darum fällt seine Vertei-digungsrede de GlocknwoandochwoandowoaninRom so lallend aus, dass auch zehn Ohren nicht ausreichen würden um sie zu verstehen, und der Gnä Herr hat doch nur noch ein einziges. Dafür vervielfacht sich sein Durst, und des Mesners Prophezeiung in eigener Sache i bin so guat wia aufghängt rückt dem Zeitpunkt da sie sich bewahrheitet näher und näher.
Wenn nicht gerade hier die Kinder, Schuffs Publikum, den von ihnen aus dem Kellergewölbe Befreiten vor sich her schöben, und vor des Gnä Herrn Angesicht. Der fremde Mann ist lieb, der fremde Mann kann einen blauen Vogel fliegen lassen sollt die Verteidigungsrede lauten, die die Kinder sich vorgenommen haben das wird doch reichen um den Verlust auszugleichen für eine Gans, wo die doch vor lauter Fett nicht einmal hat fliegen können !
Aber diese Rede kann nicht vorgetragen werden, denn Schuffs hinfälliges Schuhwerk, das mit Kostümfetzen ausgestopft war, hat sich während der Tage und Nächte im Gänsekeller, vollgesogen mit Wein-lacke, zu breiten Muspolstern aufgeschlämmt, die um seine erfrorenen Zehen wabern und eine rote Spur hinter dem armen Schuff her malen, gegen die des Mesners Tapser nur Sprenkelchen waren.
Der Gnä Herr erblickt sie, der Herr erkennt einen weiteren Schänder seines Weines, der Gnä Herr fasst in sein Gilet-Tascherl, präsentiert ein Papier und ruft über seine Untertanen hin -
„Das Urteil !“
Amtlich ausgefertigt von der kaiserlichen Hofkanzlei. Tod, steht in dem Schreiben, dem Weinschänder und dem Gänsemörder. Das Urteil soll an den Birnbaum genagelt werden und die Delinquenten darüber in der Senkrechten aufgeknüpft. Aber gefälligst so hoch, dass ihre Füße das amtliche Schreiben nicht etwa verdecken.
„Halten zu Gnaden, es gibt keine Leiter im Dorf welche auf den Birnbaum hinaufreichen tät. Der Gnä Herr haben geruht Leitern zu untersagen, damit keiner verlockt wird zum Birnendienstahl“.
Dann sollen sie halt eine Räuberleiter machen, die begriffstutzigen Grindschädel ! Ein Aufhänger-Helfer hopp hopp auf die Schulter vom nächsten Aufhäng-Gehilfen, wird’s bald.
Schluckschluckschluckschluck.
Die Kinder werden in die erste Reihe der Dörfler gestellt, wegen der Abschreckung. Während der Mesner schon hängt und ein paar letzte Tropfen des entweihten Weines des Gnä Herrn herabregnen auf die Kinder, die sich grausen und damit fürs Leben lernen, steht Schuff, seinen Strick schon um den Adamsapfel, vor dem Urteil, das an den Birnbaum genagelt ist. Auf dem Papier wird aufgelistet, was beim Tran-chieren von Zuchtgänsen zu beachten sei, in Erfüllung des vetrinär-ärztlichem Erlasses vom 7ten Juni 1797.
„Die Gänsefüße zu Bouillon – „ deklamiert Schuff nun so laut ers vermag, beseligt endlich wieder einen fremden Text zum Vortrag bringen zu dürfen, wo er um eigene doch immer verlegen ist „ - die Gänsefüße zu Bouillon zu zerkochen ist bei Strafe untersagt, sofern man sie als Kalbsbouillon ausgibt, weiters ist untersagt die Mägen der genannten Schlachtgänse zuzubereiten bevor sie untersucht worden sind auf – „
Der Gnä Herr reißt die Schrift vom Nagel. Niemals noch hatte der Gnä Herr zu gewärtigen dass einer in seiner Umgebung der Schrift mächtig war. Er zieht den langen Schuff am Strick zu sich herunter, auf Flüs-ternähe.
„So aan wia di könnt ich brauchen für Schriftverkehr“.
Womit der Gnä Herr sogleich beginnt, indem er das kaiserlich Ausgefertigte umdreht und auf der Rückseite eine Zeile aufsetzt. Die soll Schuff verlesen, abermals so laut er kann. Nein, noch lauter. Und Schuff liest, beseligt dass ihm endlich einmal wieder eine Regieanweisung zuteil geworden ist ;.
„Meine Durchlaucht geruhen Delinquent zum begnadigen unter einzig-stes Bedingung : Delinquent ehelicht Witwe Afra.“
Die Witwe Afra küsst dem Gnä Herrn beide Hände.
Und „au Leiwand“ jubeln die Kinder „jetz hupft der blaue Vogel wieder für uns !“
Die Kinder verstehen sich auf Federtiere. Sie sind es gewesen, die den Gänsen Freigang verschafft haben, indem sie die Schlösser des Wein-kellers mit Federkielen besiegten. Sie werden auch Schuff besiegen, denn sie weit zahlreicher als er aus dem Weinkeller heraus sah.
Ihre Mutter, zu Schuffs Braut bestimmt, scheuert die eine Pantine an der anderen, weil Schuff jetzt zum erstenmal im hellen Tageslicht nicht nur sie, sondern auch ihre Pockennarben erblickt. Sie gewährt ihm kein Brautlächeln, damit er ihre Zahnlücken nicht vor der Zeit wahrnimmt, denn mit jeder Kindsgeburt ging der Verlust eines Vorderzahns einher. Perlicko.

Die Gänse sind geschlachtet. Bis aus ihren nachgelassenen Eiern Kü-ken schlüpfen wird es still sein im Dorf. Unheimlich und ungewohnt still, und die Gänsegeschrei gewohnten Ohren der Dorfbewohner wären be-schäftigungslos, wenn es nicht in Afras Hütte allerlei zu erlauschen gäbe.
Schuff, der immer alleine gelegen hat, liegt jetzt mit einer Frau. Auf Stroh, das durch das Sackleinen der Zudecksäcke piekst, denn der Gänseflaum ist den feinen Kissen anderswo vorbehalten. Das Stroh stachelt schon beim gewöhnlichen Schlaf. Beim Liebesakt stachelt es naturgemäß noch mehr, und es sind viele Liebesakte vonnöten. Afras Lust war lange aufgestaut gewesen, seitdem ihr Voriger sein Perlacko ge-macht hat und zu den Soldaten geschleift wurde.
Die Luft zischt durch ihre Zahnlücken, wenn sie sich Schuff nimmt. Sie hat oft Gelegenheit zum Zischen. Das Stroh tut das seinige. Schuffs Kniehaut schwillt blutunterlaufen an nach jedem Durchgang, aber er will sich nicht am Birnbaum hängen sehen und steht seinen Mann.
Während er seine Knie den Lanzen des Strohs aussetzt, hat er das Bild der Demoiselle vor Augen, das sich auf seiner Netzhaut festgesaugt hat als Inbild des Weiblichen, wie er es jeden Tag und jede Vorstellung vor sich gehabt hat, immer zum Hineinbeißen nah und dennoch unerreichbar. Bis er die Demoiselle als blauen Vogel nachschuf, zierlich, huschig, flat-terliesig, und statt mit Sohlen mit Krallen, damit sie sich auf schwan-kenden Zweigen festhalten konnte.
Und zum allgemeinen Entzücken hat er den blauen auch noch mit seiner Sehnsuchtsfarbe angemalt.
Die ihm zugeteilte Afra dagegen ist von der Sonne und der Feldarbeit verbrannt wie ein zu harsch gebackener Brotlaib. Der Unterschied zwi-schen den beiden Frauen kommt ihm bei Tag vor wie zwischen Libelle und Bullenbeißer, und in der Nacht ist er ( bis dato kein fundierter Kenner der weiblichen Anatomie ) immer wieder verwundert, dass den-noch die Eingänge zu beider Weiblichstem jeweils an der gleichen Stelle installiert sind. Wenn er dort ( bei der Demoiselle nur beim Umkleiden erahnbar ) einfährt, schauen die Kinder ihnen vollzählig zu wie bei einer Vorstellung im Kasperltheater.
Schuff, der sich nie aus freien Stücken vor ein Publikum getraut hat, sich immer davor gefürchtet hat ( nur verkleidet als Bösewicht oder Totenvogel, hat er der Sanfte und Timide es geschafft, seine Texte abzuliefern ) agiert nun en suite allnächtlich und oft auch bei Tag in der Rolle des Luststössels. Ohne Regieanweisung. Kein Prinzipal ruft ihm auf die Szene wirst du sie wohl kraulen am Hals ! Knet ihr die rechte Brust ! Reib ihr den Bauch mit dem Knie damit sie stierig wird ! Mehr brio ! Mehr appassionato ! Und vor allem mehr Gestöhn !
Nur das Händeklatschen nach dem Perlacko, wenn der Vorhang wieder gefallen ist ersparen ihm die Kinder. Schuff wird den Verdacht nicht los, er hat sie darstellerisch schon wieder nicht überzeugt. Soll er die nächste Vorstellung mehr als Wüstling anlegen oder mehr als Seladon, der poetisch eindringt, unter Versen aus einem Schäferspiel ?
Perlicko perlacko.
Mag er auf dem Strohsack eine Zweitbesetzung sein und eine Wurzen des Beilagers, wenn er wieder aufrecht steht, ist er Prinzipal eines vielköpfigen Ensembles von Holzköpfen, das Afras Voriger nicht mit in den Krieg hat nehmen können. Schuff ist sein eigener Propodonsky ge-worden, princeps spectaculorum, nur dass seine Schauspieler still und fügsam an der Wand hängen.
Hier wie in Propodonskys Compagnie gibt es in seinem Ensemble Elite und Fußvolk, Löwen und Wurzen, Langebehns, viele Schuffs und ein Krokodil und Tod und Teufel und das schöne strohdumme Annamirl, Perlicko und Perlacko.
Wenn Schuff den Käpernick seiner Truppe ( hier heißt er Hanswurst ) über die Spielleiste hält, zerreißt es den Gnä Herr vor Gelächter. Und wenn der Gnä Herr lacht, darf das ganze Dorf auch lachen. Wenn Schuff den Teufel erscheinen lässt, werfen die Kinder Äpfel nach ihm. Wenn der Tod ins Spiel kommt, gruhlen sich die Weiber und auch die wüsten Weinwächter des Gnä Herrn, die mit ihren Bibermützen und den Epauletten auf ihren Bärenfellen selber aussehen wie Kasperlpuppen. Sie halten sich schadlos für ihre eigene Angst, indem sie den Tod mit ihren Weinbergstangen pieksen, die vorne mit Sicheln bewehrt sind. Der Tod steckt ihnen dafür die Äpfel darauf, die die Kinder geschmissen haben und hat die Lacher wieder auf seiner Seite.
Wenn Schuff in seinem ersten Bühnenleben als Intrigant und Unheils-künder immer bloß kurze Auftritte auf der Bühne gehabt hat, um sie sogleich wieder freizugeben für die, die ohnehin alle sehen wollten : Propodonsky, Langebehn und die schöne Demoiselle, ist er nun der ein-zige Akteur. Histrio primus, Propodonsky, Langebehn, die Demoiselle und Käpernick auf einmal. Die Kollegen stecken gottergeben auf seinen Händen, und Langebehn ist nun nichts anderes ist mehr als Sylvester Schuffs gehorsamer Fingerreiter.
Schuff, der Heisere, ist nun noch heiserer von dem Geröhre, das er als Teufel veranstalten muss, dem Bramabarsieren des schnauzbärtigen Capi-tano, dem Angst- und Lustquietschen des Annamirl und den Torturen, die seine Stimmbänder durchzustehen haben, wenn er als Hanswurst die Dorfkinder überschreien muss. Und wenn er sich früher nach seinem Auftritt auf die Garderobe gefreut hat, in der Käpernick ihn mit seinem Kartenspiel erwartete und die kleine Demoiselle, die auf seinen Knien reiten wollte und dabei den blauen Vogel flattern sehen, wartet heute Afra mit ihren Narben auf ihn. Wirft ihn auf die Strohsäcke, und das Plenum der Kinder will wieder Zuschauer sein. Und die Fron der öffent-lichen Darbietung wird nicht aufhören bei Tag und bei Nacht.
Nur Afras Ältester schaut nie zu beim Bettspektakel. Weil Schuff fehlbesetzt ist als Liebhabervater oder auch als Krokodil ? Oder weil er ein ausgeleiertes Krokodil ist ? Der Älteste ist im Stimmbruch. Die Kin-derstimme kann sich nicht einigen mit der Männerstimme, welche das Wort ergreifen darf, es gicksbrummt in seinem Kehlkopf wie im Taubenschlag, darum schweigt er wann es irgend geht.
Schuff erkannte sich in Afras Ältestem wieder, dem Sylvester mit vierzehn Jahren, einem blassen Sich-in-die-Ecke-Drücker in einer turbu-lierenden Komödianten-Familie, der sich ständig für die anderen ge-nier-te. Was Schuff seiner Sippe gewesen war, das sind Afras Ältestem nun die Puppen. Ein derber Zeterhaufen, schon auf den Fingern seines Vaters nur verlängerte Knüppel oder Faustkampf-Handschuhe, zu denen das Publikum heraufbrüllte, sie sollten sich tüchtig prügeln, dann verwamsen, hierauf windelweich schlagen und zum Schluss erschlagen.
Und dann alles wieder von vorn.
Afras Ältester ( Joseph heißt er, nach dem Vater ) trägt sich mit einem ganz anderen Theater. Er willt nicht Teufel, Krokodil und den Hans-wurst vorgeführt sehen, sondern die große Welt. Und wenn sie nicht zu ihm kommt in das Gänsedorf, erbaut er sie sich selber. Zuerst hat er Kupferstiche aus den wenigen Gazetten heraus ausgeschnitten, die ( als Einwickel-Papier ) das platte Land erreichten, die Erstürmung der Bastille und das Auslaufen der britischen Flotte aus dem Hafen von Portsmouth, um die aufständischen Amerikaner unter Kanonenfeuer zu nehmen. Die Nachrichten von draußen hatten weite Umwege hierher ins Oberennsische zurückgelegt, die Ereignisse lagen lange zurück, aber Joseph strich unverdrossen das zerknitterte Papier glatt, schabte Fisch-schuppen und Rostflecken fort, malte Wasserfarben darüber und erwei-terte den Horizont der Nachrichten hier um eine Segelbarkasse, die unter dickem Rauch-Gepuste Kanonenkugeln ausspuckte, dort um ein Felsen-gebirge, über das Truppen heranrückten und rettungslos eingeschmalzte eines Rechnungsbuches inspirierten ihn dazu, sie von hinten mit einer Kerze zu illuminieren, und schon hatte er die prächtigste Feuersbrunst, und Paris stand schauerlich in Flammen.
Nur Schuff durfte es sehen. Damit er seinen blauen Vogel darin flattern
ließ und die Szenerie damit belebte, ihr eigentlich erst Berechtigung und Weihe verlieh. Schuff durfte endlich auch ( wortlos, sie waren es beide zufrieden wenn sie sich in Eintracht anschweigen durften ) mit Hand anlegen, um mit Joseph einen kleinen Napoleon aus Blech auszu-schneiden. Nun schon mit Gelenken, damit er die Beine werfen konnte. Und Armen, damit er seine vorbeimarschierende Armee grüßen konnte. Und weil er für einen Kaiser zu kurz gewachsen war, wie alle berichteten die ihn je gesehen hatten ( wie Schuff der ihn sogar hatte brennen sehen ) brauchte er ein Pferd. Das sich aufbäumen konnte. Er benötigte über-haupt viele Pferde, eine veritable Kavallerie, denn er zog siegreich in eine Stadt aus Sperrholz ein. Und die Stadt brauchte einen Triumphbogen. Und zum Triumph gehörten jubelnde Massen, die die Arme hochwerfen und rotweißblaue Fähnchen schwenkten, mit einem einzigen Hebelzug zu bedienen. Oder höchstens mit einem zweiten.
Denn Schuff und der Junge wollten in ihrem Panoptikum allein bleiben.
„Allein mit dir, Sylvester“.
Ihr Sehnsuchtsort war die Kirmes, weit weg vom Dorf. Wo außer ihnen auch Affen auftraten, die auf Kamelen ritten, als Prinzessinnen verkleidete Hunde die Schubkarren schoben in denen Meerkatzen saßen, die Seifenblasen bliesen. Die staunenswertesten Ereignisse aber würden Schuff und Joseph in ihrem Guckkasten zeigen. Den Feldzug Napoleons in Ägypten, von Sphinxen begönnert. Die Krönung Josephines und Napo-leons zu Kaiserin und Kaiser, durch diesen selbst, und der Papst musste still dabei sitzen und war nur aus Eierschalen zusammengeleimt.
Und Schuff, der graue Schleicher qua Rollenfach, der Einflüsterer , der Ränkeschmied und Unheilverkünder, der früher ewig Bleiche würde das Vorgeführte beglaubigen als wahrhaft Dabeigewesener, als Kürassier, der die bunte Uniform getragen hat, welche die Damenherrschaften hier im Bilde zu sehen. Der Veteran, der in tausend Bränden versehrt wurde aber nie verzehrt, der nach siegreichen Schlachten Einzug gehalten hat in eroberte Städte ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit, werte Herrschaften für den Reiter auf dem dritten Pferd hinter Napoleon welcher meine Wenigkeit darstellt. Und dann würde ihr Napoleon über die Spielleiste gezogen, von links nach rechts, seine Armee grüßen und die befreiten Massen würden ( mit einem einzigen Hebelzug bewegt ) die Arme werfen und ihre Trikoloren schwenken.
Afra war schwanger, Schuff nicht neugerig auf das Kind. Es würde wie die anderen aussehen, die sie bereits geworfen hatte. Und wenn es wie Schuff aussähe, war er schon gar nicht neugierig, denn auch er sah aus wie seine Geschwister Schuff, die Lärmigen und ewig Turbulierenden. Nur um halbwegs für sich zu sein, war er ihnen in die Höhe davon-gewachsen und hatte damit alle Energien verbraucht, die er für sein späteres Leben gebraucht hätte.
Als die Stimme Josephs tiefer wurde und Flaum auf seiner Oberlippe wuchs, musste Schuff erleben, dass der Junge sich von ihm separierte. Er bastelte ohne Schuff seine eigene Kaiserin Josephine. Der Kaiser, noch gemeinsam aus Blech geschnitten, braucht seine Kaiserin nicht zur zum Regieren, es muss auch eine amour dabei sein bei der grandeur. Darum sitzt sie nicht auf dem Thron, sie trägt ein langes weißes Nachthemd. Als Schuff dieses anhebt, erkennt er, dass der Älteste nun ein Mann geworden ist und die schwarzen Kringel der Schamhaare so liebevoll ausgemalt hat wie Schafherde, die über den Schamhügel hinab ins Delta der Venus zieht.
Wenn der Schnee ausapert ( und ehe Afra niederkommt, es wird im April sein ) werden sie los ziehen. Schuff in nunmehr festem Schuhwerk, die Lücke die die erfrorenen Zehen gelassen haben, ausgestopft mit Schafwolle. Auf ihrer Karre, die sie zu zweit schieben, wird ihr zu-sammengeklapptes Welttheater liegen samt Kerzen für die Feuersbrünste, und mechanische Vorrichtungen und Kurbeln für die Paraden, Schiffs-untergänge und Beschießungen. In Wien, kann Schuff dem Joseph versichern, wird eine namhafte Schauspieltruppe sie empfangen und in die bessere Gesellschaft einführen. Sie werden nicht ins Dorf zurück kehren.
„Warte auf mich, Demoiselle.“
Damit Schuff ihr zeigen kann, was er hat gelernt im Bett. Perlicko, Perlacko.

Strönebald

Da sind wieder die vier Fäuste, die ihm die Beine auseinander zwängen. Er schreit. Die vier Fäuste packen fester zu. Seine Zehen sind taub. Die Arme sind gefesselt.
„Wirst du wohl das Maul halten, du Bastard. Du beleidigst Gott den Herrn mit deinem Gequäk.“
Strönebald schreit. Aber es kommt kein Ton aus seinem Hals. Ströne-bald schreckt aus seinem Traum hoch. Zwei Männer halten ihn umklam-mert, noch immer. Auch im Erwachen spürt er ihre Fäuste um seine Waden. Er schlägt sich auf die Beine, um sie zu verscheuchen, nass von Schweiß und Pisse.
Strönebald sucht dieser Traum immer wieder heim, er ist mit ihm über fünfzig Jahre alt geworden. Dieser Traum ist sein Gepäck und im-merwährender Reisegefährte, wo immer er sich auch befindet, in Brüssel, in Dresden, oder jetzt in Ybbs an der Donau.
„Wirst du dich wohl berappeln, du Kind der Sünde !“
Strönebald weiß, er trägt die Sünde in sich, er hat es wieder und wie-der eingebläut bekommen, er ist die Sünde auf zwei Beinen. Strönebald ist unehelich geboren. Fromme Brüder fanden ihn eines unheiligen Mor-gens vor der Klosterpforte von San Giacomo zwischen zwei anderen in Sünde Geborenen.
Er allein hat überlebt, darum tauften die Brüder von San Giacomo ihn auf Giacomo, und weil sie schon vier andere Giacomos hatten im Findelhaus, gaben sie ihm als winziges persönliches Eigentum den schnippschnapp erfundenen Nachnamen Estrobaldo mit auf den Lebensweg. Womit er der luftigen Sippe der Estrobaldi angehörte, die es nicht gab und die ihn folglich auch nicht ernähren und nicht aufziehen musste, ihm auch nicht das Avemaria beibringen, weswegen die frommen Brüder die luftigen Estrobaldi beneideten und es ihren Verwandten, eben den Giacomo Estrobaldo entgelten ließen.
All die genannten Pflichten für den kleinen Giacomo wurden vom Orden der Piaristen des Heiligen Joseph von Calasanz wahrgenommen. Die Piaristen waren Giacomos Familie, in der es nur Väter gab, von Pad-re Anastasio bis zu Padre Zaccaria und in die er zwar nicht hineingeboren war sondern bloß hinein gelegt, ihnen vor die sandalengegürteten Füße geschmissen von der Hand seiner unbekannt gebliebenen Gebärerin.
Wofür er zum kindheitslangen Dank in ihrem höchst bescheidenem Gotteshaus San Giacomo im Chor zu singen hatte bei den Frühmessen mit den anderen Findelknaben. Niemals sattgegessen, nie auch recht ausgeschlafen, immer angeleitet von Pater Anselmo.
Krächzig und unfroh, stets im Gestank der Rinnsale von Urin, die in-nen die Beine hinabliefen, weil die Chorknaben vom Introitus bis zum Ite missa est kerzensteif unbewegt dazustehen hatten. Gab einer seiner knäbischen Unrast nach, so schlug Pater Anselmo zu mit dem eisernen Anzünder für die geweihten Kerzen. Und wenn der hiervon verbogen war, mussten ihn die Chorknaben wieder gerade biegen.
Wecken viertel vor vier Uhr, darauf Gebet, sodann Versenkung in frommes Schrifttum, um sieben heilige Messe, siebendreißig Suppe, Schulunterricht von acht bis zehn, zehn bis elf Unterweisung in Musik, elf bis zwölf Mittagstisch, zwölf bis halb eins Versenkung in frommes Schrifttum, zwölfdreißig bis einsdreißig Unterweisung in der Gottes-gelehrtheit, dann Schule bis vier, dann Unterweisung in Musik. Fünf bis sechs Abendtisch, von sechs bis zum Angelusläuten Studium gottge-lehrter Schriften.
Und nach dem Abendgebet Nachtruhe um neun Uhr. Bis eines Morgens der Prior gelaufen kam, nach dem ita missa est, als die Choristen sich schon entfernen wollten, um das, was sich noch in ihren Blasen befand, draußen abzuschlagen.
„Von welchem Mistkerl ist das hohe C gekommen beim pange ling-
ua ?“
Da die Mistkerle nicht wussten, was ein hohes C ist sondern nur dummtreu vor sich hin tirilierten wie Pater Anselmo es mit seinen Gesten anzeigte, mussten sie dem Prior die Antwort schuldig bleiben. Der Prior fluchte, Pater Anselmo schimpfte, die Zöglinge gingen sich leerpinkeln und der Prior stand allein zwischen den Pfützchen, in Betrachtung der Tröpfchenseen und Tröpfchentümpel, so verloren wie ihre Urheber sel-ber.
„Von hier ist es gekommen ! Giustamente von hier !“
Und zeigte auf das dritte Pfützchen in der zweiten Reihe.
„Das ist der Platz von Estrobaldo, Giacomo.“
„ Her mit diesem Zögling und her mit seinem C !“
Und so ward Ciacomo numero 5 auserwählt, künftig auch bei den Hochämtern zu singen und nicht mehr nur bei den Frühmessen. Nunmehr aufgenommen in den Chor der Adoleszenten, die zur Mannbarkeit heran-wuchsen was die Körpergröße betrifft. Nicht aber das Sprießen von Haaren ums Kinn und über dem Pimmel, weil sie dem Stamme der Evirati zugeteilt waren, oder wie die Muselmänner sie nennen, der Eunu-chen. Welch letztgenannte freilich nicht Gott zu preisen haben mit ihren Stimmen, sondern das Weibervolk zu bewachen, auf dass dieses nicht seiner ererbten Natur folge, nämlich dem Sündigen.
Dafür aber waren die Evirati von Gott mit Engelsstimmen beschenkt. Nam mulier taceat in ecclesiam, das Weib soll die Gosche halten in der heiligen Kirche, hatte der Apostel Paulus verfügt, mit Bedacht in seiner Epistel just an seine Glaubensbrüder zu Rom.
Weswegen die Kunst des Entmannens zur Gewinnung überirdischer Singstimmen eben bei den dergestalt ermahnten Römern noch zu Ströne-balds Kinderzeit in besonderer Blüte stand. Evviva il coltinello war der Wahlspruch, es lebe das Messerchen. Als bescheidener Helfer, trug es doch bei zu den musikalischen Freuden ad maiorem dei gloriam.
Der Knabe, der auserwählt ist solch ein cantor felix werden zu dürfen, wird zuvörderst mit Opium in einen Zustand der Betäubung versetzt, auf dass er das Geschnibbel das an ihm verübt wird, nur beduselt wahrnehme.
So stand es in den Medizinalhandbüchern der Klosterbibliotheken. Nun war aber, zum einen, in keinem Kloster Opium zur Hand. Zum andern hielten sich die ausübenden Schnibbler abseits aller Gelehr-samkeit und wussten rein gar nichts von dem, was in den wissenschaft-lichen Folianten gedruckt war. Und in die Bibliotheken durften sie, die Messerlumpen, schon gar nicht hinein.
Sie wurden von den frommen Brüdern zur Nachtzeit durch ein Seiten-pförtchen eingelassen und entlohnt mit einem kleinen Ablass auf ihre zu erwartenden Höllenstrafen, ein Gebet für die arme Seele oder um Er-rettung vor dem Galgen zuzüglich einem bescheidenen Freitisch auf dem Hackklotz der Klosterküche. Eine sündteure Mixtur wie das edle Lauda-num, das altvertraute Opium aus dem Gottesgarten der Mohnblüten, war diesem geistlichen Ort schon gar nicht zu erwarten. Die Kleinmeister der Messerchen führten Selbstgebrautes aus den Luderküchen der Land-straße mit sich, über dessen Rezeptur die frommen Brüder Näheres zu erfahren in frommer Scheu vermieden. Der Bruder Küchenmeister stellte lediglich einen Bottich zur Verfügung, miefend nach altem Bratenfett, Zwiebeln von vorvorgestern und verranzten Fischen, in dem die Prozedur vonstatten gehen sollte.
In ihm wurde der Aspirant nun einige Zeit mit kochend heißem Wasser gebeizt und dabei nach Kräften von starken Armen fixiert, bis er glück-lich einging in den Zustand völliger Erschlaffung. Seit drei Tagen ohne Nahrung gelassen, seit einem Tag zudem auch ohne Trank, konnte sein Verdauungstrakt das heiße Wässerchen nicht mehr trüben oder gar eine unreine Note einbringen.
Schlaff wie ein abgezogener Hasenbalg, halbwegs benebelt von den selbstgebrauten Essenzen, wurde der Knabe sodann auf den Küchentisch gebreitet, mit gespreizten Beinen, und es wurden ihm Kopf und Brust weit nach hinten festgezurrt. Die Gehilfen des Schnibblers hatten die Blutgefäße abzuzwingen, damit der Operateur zum Hauptgeschäft schrei-ten konnte.
Nämlich die kindlichen Hodenstränge mit einem Messer durchtrennen.
„Kreisch nicht, Hurensohn ! Jesus hat noch ganz andere Qualen aus-gestanden am Kreuz !“
Darauf wurde das vollbrachte Schnittwerk mit einer Schusteraale vernäht. Und der Knabe mit wasserkalten Leinenwickeln versorgt. Denn nun hatte er die Prüfungen tagelanger Fieberanfälle durchzustehen.
“Hört, Brüder, was für ein einzigartiges C !“
„Jubilate !“konnte der Prior erleichtert ausrufen, denn er hatte sich bei seiner Suche nach einem neuen Lobsänger Gottes nicht geirrt.
Das C des Giacomo schwang sich auf in den Himmel wie eine Lerche. Und nur die einem Ordensmanne anstehende Demut hinderte den Prior, sich obendrein zu rühmen, dass er es gewesen, der diese Lerchenstimme entdeckt und zum Erblühen gebracht hatte. Wenn man vom Schöpfergott einmal absieht, aber dieser hatte ja nur die rohe Hülle, eben den Giacomo erschaffen, aus welcher der Prior das Wunder einer begnadeten voce bianca herausschälen durfte.
Estrobaldo haute ab, als er sechzehn war.
Heftiger noch als die anhaltenden Schmerzen in seinem Unterleib quälte ihn die Reue über seinen Undank, ihm zugefügt von der Vor-stellung, dass Gott, nun nicht mehr angesungen mit seinem hohen C, sich seiner Flucht wegen übelnehmerisch abwendete von seiner Familie, den Piaristen des Heiligen Joseph von Calasanz.
Und diese wiederum dafür an dem Flüchtigen Rache nähmen. Estrobaldo lebte in alltäglicher Angst, die kuttentragenden Schutzengel seiner Kindheit seien drauf und dran ihn, ihr Eigentum, hinter der nächsten Hausecke zu ergreifen und aufs neue dem geschwungenen Kerzenanzünder des Pater Anselmo zu überantworten, den harten Pritschen, dem Barfußgehen auf eisigen Steinplatten und der täglichen Frühmesse morgens um sieben.
Der Flüchtige verdingte sich, über allerlei Mittelsmänner die ALLES andere als Ehrenmänner waren, bei einer reisenden Operntruppe, die im Kirchenstaat und in den lombardischen Provinzen glücklos blieb und darum zu einer Tournee nach jenseits der Alpen aufbrach. Dieser Auf-bruch linderte die Leib- und Seelenschmerzen Estrobaldos, solange sie übers Gebirge fuhren oder an den Passstraßen ihren Packwagen hinterher wandern mussten, denn dort drüben in Germania wohnten die Luthe-rischen zwar im ewigen Nebel, aber sie pfiffen auf die Klosterzucht.
Dass sie auch auf die voce bianche der Verschnittenen pfiffen, erfuhr er am eigenen Leibe, als er in fürstlichen Opernhäusern auftrat, vor deren Portalen die Untertanen Schmähschriften verteilten wider das sündperverse Schwuchtelgesinge. Wieder wurde Estrobaldo von Schmer-zen im Unterleib zerrissen, Pater Anselmo hieb wieder auf ihn ein, vor allem seine Seele, auch wenn die anderen Silberkehlchen sich beäumelten dass die Pasquille doch gar nicht auf sie zielten. Sondern auf den Fürsten und Herrn der Oper, den heimlichen Katholiken und offenen Steuerver-schwender.
Der sie, gli artisti, mit schandbar knickrigen Gagen beleidigte.
Als sie aus der Residenz des Herzogs Carl Eugen von Württemberg wegfuhren, wurde ihre Kutsche mit Steinen beworfen. Einer durchschlug die Scheibe in der Tür und landete im Schoß des schwabbligen Con-cialini.
“Eine solche Huldigung ist mir noch nie zuteil geworden !“
Und kriegte sich nicht mehr ein vor Gekicher. Was stellt er sich so an, der Meschuggene, fragten sich die anderen in der Kutsche und rutschten peinsam von ihm weg.
„Gesteinigt werden wie San Stefano, ich lach mich scheckig !“
„Was ist soll da amüsierlich sein am Gesteinigtwerden, du heiserer Ka-paun !“
„Giustamente ! Dass ich ein Kapaun geworden bin, giustamente das verdanke ich San Stefano. An seinem Namenstag haben sie mich kastriert. Dafür hat mir San Stefano eine silbernen Glocke in den Kehlkopf gepflanzt, und mich auf den Gipfel meines Glücks geführt, ihr beschissenen Eunuchen.“
Keiner in der Kutsche brachte mehr ein Lachen zustande.
„O Pate Stefano ! Ich werde den Stein immer neben meinen Spiegel legen künftig in der Garderobe, wenn ich mich schminke. Und wer sagt noch einmal heiserer Kapaun ?“
Der Stein sollte zur Waffe werden, das ahnte von nun an jeder Kollege. Bei der nächsten Schlägerei würde der schwabblige Cocialini ihn einset-zen, zu Ehren von San Stefano, und nicht einmal einen Seidenschal da-rum wickeln. Und Schlägereien brachen regelmäßig aus, sobald man den einen Inhaber einer Silberstimme mit einer anderen Silberstimme in der Garderobe unbeaufsichtigt allein ließ.
„Du hast mir mein Rubato nachgemacht, du fistelstimmige Henne !“
Dass sie sich die aprikosenhäutigen Backen zerkratzten mit ihren la-ckierten Fingernägeln war noch das geringste.
„Lern erst mal Noten, du neapolitanische Stockente !“
Wenn eine dritte voce bianca zugegen war, leistete sie Beistand indem sie mit ihren hohen Absätzen, Kothurnen fast, nach den beiden anderen trat, die sich auf dem Boden wälzten.
„Hackt euch zu biftec tatare, ihr Schnepfen, bis ihr schmackig genug seid für die Hölle. Die Gesangskunst wird euch Dank wissen !“
Und dazu flog der Stein des San Stefano.
Auf dem Gipfelpunkt des Gemetzels, wie vom Inspizienten aufgerufen, pflegte die Baronesse P. einzutreten, vermählte Reichsgräfin zu L., Erbin einer Loge im Hoftheater, um einen der Kämpfer, noch mit dem Blut des Kollegen unter den Nägeln, zu einer heure douce abzuholen.
Und manchmal, je nach Verfassung der Kämpfer, auch beide.
Estrobaldo schoben sich Rasiermesser in die Stimme, wenn er mit an-sah wie die anderen von der Bühne herab den Damen Kusshändchen zu-warfen oder bei der Aria des Kollegen, lässig an die Orchesterloge ge-lehnt, Termine für zartselige Treffen notierten. Und wenn vor dem Schminkspiegel Erfahrungen ausgetauscht wurden über Leibesöffnungen der Damen und zugehörige Sekrete, von denen man im Konvikt des Heiligen Joseph von Calasanz noch nicht einmal ahnte, dass Gott sie er-schaffen hatte, dann war Pater Anselmo wieder über ihm.

Kerzenleuchter, Kerzenleuchter, hunderte von Kerzen an der Rampe, im Saal. Feuersbrünste in den Gesichtern, ein royales Lichterfest,. Estro-baldos strahlendster Abend im strahlendsten Opernhaus, in dem er je hat auftreten dürfen. Erstmals vor einem König.
Nur dessen Loge blieb ein dunkler Fleck.
Als Estrobaldo an die Rampe trat für sein Arioso im zweiten Akt, sah er hinter dem Kapellmeister einen unansehnlichen Herrn stehen, der finster in die Partitur spähte, manchmal sogar die Noten ungeduldig umblätterte mit der Spitze seines Spazierstocks und dazwischen den Takt auf den Estrich stampfte. Er ahnte, dass es der nämliche Herr sein musste, von dem die Kollegen schon im ersten Akt Zettel geschickt bekamen, die sie verstört in ihre Kostüme stopften. Beim Applaus ergatterte er zwei davon. Er hat an seine Aria eine Kadenz angehängt von obszönstem Geschmack. Es wird ihm hierfür das Salär gekürzt. Und, auf den schwabbligen Cocialini: Er hat das Tempo seiner Cavatine gröblichst verschleppt. Es wird ihm hierfür die Aria in actus drei gestrichen.
Die Sprache eines Compositeurs, der hat anhören müssen, wie sein kunstreich Geschriebenes vor seinen Ohren zur Ohrenqual verhackstückt wurde. Estrobaldo bekam keinen Zettel. Dafür die Arie im dritten Akt, die dem schwabbligen Cocialini entzogen worden war. Als er die Kür bestanden hatte, Bravissimo-Rufe ihn anspornten und er in einem Über-mut, der ihm an sich selbst neu war und dem er darum freie Hand ließ, zu einer Schlusskadenz nach eigenem Gusto ansetzte, wurde ein wohlbe-kannter Stock auf den Boden gerammt :
„Beaucoup ! Schenk er sich die dreiste Ornamentierung !“
Der unansehnliche Herr. Und wieder rammte sein Stock :
„Continuez !“
Womit der Fortgang der Oper gemeint war, und Estrebaldos Abgang. Ins einsetzende Allegro des Orchesters hinein giftete der schwabblige Cocialini :
“Jetzt hast du, was ich dir immer schon gewünscht habe. Das war Seine Majestät Frederico, der dich von der Bühne gepustet hat. Per sempre, du verpfuschte Nebelkrähe“.
Mehr noch als das Verdikt des Königs ängstigte Estrobaldo die Rache Cocialinis, der Stein des San Stefano, der so unausweichlich auf ihn nie-dersausen würde wie der Stefanitag auf das Weihnachtsfest folgt. Aber Gott der Herr der sich von Estrobaldo abgewandt hatte schon zu Kloster-zeiten, seit dem Ausbleiben seines Lobgesang bei den Piaristen des Hei-ligen Joseph von Calasanz, Gott der Herr ließ ihm ein Zeichen der Huld zukommen, dies eine Mal.
Und sei‘s auch nur weil Gott der Herr des Lobgesangs in der allzu frühen Frühmesse überdrüssig war und sich nun als Opernfreund bewei-sen wollte. Nach der Vorstellung wurde Estrobaldo der Gefeierte und Estrobaldo der Gescholtene gleichermaßen zum König von Preußen beor-dert. Ein minderer Lakai tat ihm auf. Erst als dieser, auf seinen Stock gestützt, vor Estrobaldo herschlurfte, erkannte der den Unansehnlichen vom Orchestergraben wieder.
„Er wird die Kadenz, die er vorhin eingespart hat, nun für mich hören lassen.“
Für den König war eine Flöte bereitgelegt. Keine Noten. Und so kärg- lich mit Worten er auch war, seine Hunde stellte er einzeln vor : Alkme-ne, Diana, Amourette, Phyllis.
„Und die mit den klugen traurigen Augen ist Thysbe.“
In trübsinnigen Nächten durften sie das Bett mit ihm teilen, aber das ließ er vor seinem Gast nicht heraus.
„Hat er Einwendungen dass, meine Windspiele sein Aditorium sind ?“
Estrobaldo hätte sich keinen Widerspruch getraut, dieser König war der erste seines Gewerbes dem er begegnete.
„Die Natur hat den Hund mit allem ausgestattet, was Natur einem Wesen mitzugeben vermag. Wie bei Schildkröte und Schachtelhalm auch. Aber dem Hunde hat die Natur Bildbarkeit mitgegeben. Diese Wesen erschö-pfen sich nicht im Vollzug ihrer Instinkte. Sie wachsen über sich hinaus ins Humane, wenn sie denn klug dorthin geführt werden. Wir verachten sie, diese Scheißeschnüffler. Wie ich Kastraten verachte. Diese Scheiße-schnüffler. Aber wenn sie erkennen lassen, dass sie klug geführt – „
Er unterbrach sich.
„Er hat mich verstanden, bis hierhin. Zeig er jetzt, was ich an den Hun-den gelobt habe.“
Die Windspiele legten sich zu seinen Knien, verständige Zuhörer.
“Er wird in ihren Augen lesen, ob er‘s getroffen worauf ich abziele.“
Der König blies auf seiner Flöte, Strönebald hatte seinen Melodiebögen zu folgen.
Sie spielten Haschen, wie zwei Schmetterlinge. Wenn der König auf der Flöte patzte, prügelte er dafür mit seinem Stock auf einen Jüngling ein. Einen locker geschürzten Hermes, der nicht schrie, denn er bestand aus Alabastermarmor.
„Wenn einer von diesen meinen Gefährten jault, ist es um Ihn gesche-hen. Wie heißt Er eigentlich ?“
„Estrobaldo Giacomo, Sire“.
„Welsches Quackelquackel. Ich nenne ihn Strönebald. Punktum. Sing er noch eins.“
„Wie Sire befehlen.“
„Er singt wie ein Gott.“
Genierlich sah der umgetaufte Estrobaldo auf Hermes, einen Gott, der weiterhin stumm bleiben durfte.
„Mir höchste Ehre, Sire.“
„Schwätz Er nicht. Sing Er !“
Es hat keins von den Windspielen gejault. Aber dem Hermes wurde ein Arm abgehauen. Zur Gänze, und der andere bis zum Ellbogen.
Viele wollten in der Folgezeit den Sänger hören, der vor des Königs Ohren Gnade gefunden hatte. Friedrichs Schwester in der Markgrafschaft Ansbach-Bayreuth, auch, noch einmal der schreckliche Carl Eugen in Stuttgart. Braunschweig erhob Anspruch, der sächsische König von Polen wurde hellhörig. Venedig und Bologna ließen anfragen. Lissabon und London schickten Beobachter, Zuhörer, Ohrenaufsperrer.
Und sie alle rissen sich um die Ehre, Strönebald eine Equipage zu stellen und ihn dreispännig, oder falls ers wünschen sollte, auch vier- oder fünfspännig über Land zu expedieren zum nächsten, zum jeweils eigenen Opernhaus.
Auf der letzten dieser Reisen, 1778, tappte Strönebald in die Falle des Mars.
Streitmächte beider Seiten waren tagelang durch Landregen mar-schiert, ohne ihres jeweiligen Gegners ansichtig zu werden. Bis sich ihrem Marsch ( es regnete weiterhin ) ein Kartoffelacker in den Weg legte. Das Unglück, militärisch gesehen, wollte es, dass zwei jeweils feindliche Abteilungen gleichzeitig der selben Kartoffeln auf dem selben Acker ge-wahr wurden, wenngleich an verschiedenen Enden.
Die beiderseits hungrigen Soldaten steckten ihre Musketen in die Ackererde, machten sich emsig ans Ausgraben und so ergab es sich, dass sie, emsig die Furchen entlang kriechend und den Blick auf die Erdäpfel gerichtet, sich mehr und mehr mit der gegnerischen Armee vermischten.
Die Hauptleute beider Seiten bemerkten die Vermischung wohl und auch mit pflichtschuldigem Unbehagen, zugleich aber mit gourmandisem Behagen, gedachten sie doch aus dem Erntesegen, den die Gemeinen ergruben, ihren Anteil abzuzweigen.
Sie träumten, hüben wie drüben, bereits von Bratkartoffeln, als die Straße zwischen den Kartoffelfurchen mit den knielings darin kriechen-den Grenadieren eine Kutsche herangerollt kam. In ihr saß Strönebald , gab sich seinen Stimmübungen hin und bemerkte nicht, dass er mitten in einen Krieg geraten war. Die Hauptleute wiederum waren des festen Glaubens, in der Kutsche sitze der jeweilige oberste Kriegsherr, der sich in die vorderste Linie begeben hatte um den Gefechtsverlauf zu in-spizieren.
Wenn der Kriegsherr sich schon ins Feld begab, oder vielmehr auf den Acker, dann wollte er auch Krieg zu sehen bekommen. Sonst würde seine säumigen Hauptleute gehörig stauchen und so ließen sie die Bratkartof-feln für dieses Mal sausen und zur Attacke zu blasen.
Die Grenadiere beider Seiten, die Taschen voll mit erdig nassen Erd-äpfeln, griffen sich die Muskete die ihnen jeweils am nächsten lag und feuerten. Die gegriffene Muskete indes war selten eine der eigenen Armee, auch hatte der Regen ihr Pulver reichlich durchnässt. So gelang kaum ein Schuss, geschweige dass er einen Gegner traf, wohl aber Eige-ne, denn von der Ackererde besudelt war sogar die Farbe der Uniformen schwer auszumachen.
Bei den Pferden an Strönebald Kutsche hatte das misslungene Geknalle indes sehr wohl Wirkung getan. Als biedere Hofhaltungsgäule hatten sie Kampfgetümmel nie kennengelernt und zerrten Kutscher, Kutsche und deren Inhalt quer über die Ackerfurchen, bis diese umkippte. Und presch-ten davon, quer durch die Angehörigen beider Heere hindurch, die dabei ihre restlichen Kartoffeln verloren.
Aus der Kutsche heraus rollte Strönebald.
Das Antlitz mit Rouge überhaucht, rötlich gepudert die Perücke, Justaucorps aus grünem Jacquard, Ärmelstulpen bis zum Ellbogen, mit Silberknöpfen besetzt, Culotten aus ebensolchem Stoff, und dazu Schleif-chen, an jeder Naht hellblaue Schleifchen, nun vom Regen getränkt und strähnig herab hängend wie zerkochte Bandnudeln.
Mag der oberste Kriegsherr, erkannten da die Kommandeure beider Seiten, auch des sicheren Sieges wegen aufgeputzt auf dem Schlachtfeld erscheinen - Spangenschuhe mit roten Absätzen, samtbezogen, würde er bei solher Gelegenheit denn doch nicht angelegt haben.
Noch immer war dem Befehl attaque ! nicht Folge geleistet, niemand war angegriffen worden außer den Kartoffeln. Hauptleute wie Gemeine stürzten sich darum, als sie statt zahlenmäßig überlegener Feinde nur einen einzelnen Buntling vor sich sahen, nun umso ingrimmiger in die Offensive.
Wer ein Bajonett zur Hand hatte und wäre es eines der jeweils anderen Armee, stürmte voran. Wer sein Bajonett im Acker hatte stecken lassen, nahm den Feind mit Kartoffeln unter Feuer. Hussa, war das ein Jagen !
Angesichts zweier auf ihn losstürmender Heerhaufen ließ sich der Ge-jagte zu einem taktischen Fehler verleiten. Strönebald, der nur firm war in Strategie und Taktik des Kontrapunkts, erging sich in Angstgeschrei und vergeudete dabei sein schönsten hohen Ds. Und verleitete die Grenadie-re, keine Opernbesucher allesamt, zu der Einsicht verleitete da kreischt ein Weibsbild ! Was da übers Kartoffelfeld türmt, ist eine Zickeline, verkleidet als Stutzer !
Grausam geschwind lutschte die feuchte Ackerkrume Strönebald die Schnallenschuhe von den Füßen, grausam fest saugte sich der Schlamm fest an den seidenen Strümpfen und pappte Strönebald bäuchlings in die Furchen. Noch bevor die Soldateska über ihm war und ihn noch tiefer in den Mulch zerrte, war er ohne Über- und Unterhosen. Grausam fuhren die militärischen Stiele ein in seinen After ein, der dafür nicht geschaffen war. Strönebalds Schreie gellte in die Furchen, viele vergeudete hohe Cs und Fs, bis ihm Kartoffeln den Schlund verstopften.
Da waren wieder die Fäuste seiner Alpträume, diesmal Soldatenfäuste, die ihm die Beine auseinanderzwängten. Seine Zehen taub, die Arme ge-fesselt, die Perücke ihm über die Augen gestülpt wie eine Augenbinde beim Blindekuhspiel, und Pater Anselmos Haken wütete in seinem Ge-därm, in Militärschwänze verwandelt. Wirst du wohl schweigen, du Bastard. Du beleidigst Gott und alle Heiligen im Himmel.
Die Söhne der Altmark und die Söhne Böhmens stemmten sich glei-chermaßen in seinem wehrlosen Mastdarm, dessen gewiss, dass ihnen niemals Kinderlein daraus entsprießen würden. Als die ersten von ihm abgelassen hatten, drängten sich andere heran, beide Armeen bunt durch-einander und nur von ihrer Gier kommandiert.
Als die Hauptleute nachgekommen waren, um sich ihren Anteil abzuholen und mit gezogenem Degen die Gemeinen verscheuchten, wälzte Strönebald sich blutend auf den Rücken, zupfte nach den Resten seiner zerfetzten Seidenhose und zog sich die letzten Strähnen seines Hemdes über die Schulter. Außer seinem rechten Strumpf aber war ihm keine Garderobe verblieben. Und dieser Rest half ihm nicht gegen den Regen der nun, wie um Strönebald zu beweinen oder auch nur sein Blut abzuwaschen, noch reichlicher fiel.
Wie ein eiserner Vorhang, der ein verdrießliches Schauspiel beendet.
Der österreichische Obrist piekste mit dem Degen nach dem Nackten, Perückenlosen, Heil- und Hilflosen, auf dessen halbrasierter Glatze sich Erdbrocken in den Haarstoppeln verfangen hatten, die als dunkle Rinn-sale über Gesicht und Brust liefen, piekste nach ihm wie mit einem Bratspieß nach einem Filetstück das nicht durch ist und schrie :
„Das ist ja ein Mannsbild !“
„Sodomiten ihr alle !“ bellte der preußische Obrist.
„Hundskrüppeln, abartige !“ der österreichische.
Das Gefecht wurde nach dem Sieg über Strönebald nicht fortgesetzt, sondern der Kartoffelacker restlich abgeplündert. Die Strönebald als erste geritten hatten, mussten durch die Spießruten laufen, wegen Nicht-angreifens des Gegners item Schwächung der Kampfkraft item widernatürlicher Unzucht in Tateinheit mit Erdäpfelraub.
Strönebald, nur noch mit dem Rest eines Strumpfes bekleidet, musste dabei stehen als Verursacher der militärschädlichen Versündigung und weinte, weinte, weinte.
Bis sogar die Obristen aufhörten zu grinsen.

Man kann, wenn es fort und fort regnet, in Heuschober kriechen. Zur Nacht und auch tagsüber. Der Geruch trocknenen Klees und Bärenklaus ist der Nase allemal bekömmlicher als der bestialische Gestank verschwi-tzter Grenadiere, ihrer ungewaschenen Säcke und ihres beißenden Ge-spritzes. Man kann auch in Streuhaufen Asyl finden, wenn unverträglich viel Militär unterwegs ist. Und wenn Schützenketten durch die Dörfer streifen, ist man sogar glücklich, wenn einem ein Misthaufen Asyl gewährt.
Aber man findet nicht Frieden dort, wenn man nackt ist, an Seide ge-wöhnt und die Halme sich unter dem wunden Rücken und den malträ-tierten Arschbacken in Pfeile und Lanzen verwandeln. Sogar die Bauern-mädchen die sich mit Strönebald vor dem Militär versteckten, hielten Abstand zu dem Fistelstimmigen und Weißhäutigen. Abgewandten Ge-sichts ließ eine Schweinemagd eine Stallschürze zurück, als eine bran-denburgische Schützencompagnie vorbei gezogen war und sie sich wie-der ins Freie wagte. Die Schürze hätte sie ohnehin fortgeworfen, denn sie war steif von Schweinemist.
Strönebald wollte ihr ein Bedanke-mich ! hinterher rufen, besann sich aber darauf, wie verhängnisvoll es wäre, sein Silberstimmchen erschallen zu lassen. Stattdessen warf er ihr, als sie sich noch einmal umwandte, eine Kusshand zu. Sie bekreuzigte sich und rannte davon, als wäre ein ganzes Regiment hinter ihr her.
Strönebald hatte nun, mehr schlecht als recht, eine Gewandung, aber ihm war nicht nach Ausgang zumut. Der Stein des San Stefano rumorte in seinen Innereien und wurde zu vielen Steinen, die ihm durch Gedärme und Venen polterten. Pater Anselmo schlug mit seinem eisernen Haken auf ihn ein, Strönebald wünschte sich zum Höllenfeuer begnadigt zu werden. Zum Höllenfeuer, denn einige Etagen höher im Himmel würde ihn ein übellauniger Gottvater erwarten du schuldest mir seit neunhun-dertdreiundzwanzig Frühmessen den Lobgesang, zu dem du doch abge-richtet worden bist, du Hurensohn. Ab mit dir in die Latrinengrube des Paradieses !
Und als säße er bereits in dieser und sämtliche Heiligen entleerten sich über ihm, wuchsen auf seinen Handflächen braune Hügelchen und er-gossen Nässe und Eiter. Seine Achselhöhlen begannen zu schmerzen, als habe ihn Pater Anselmo auch dort getroffen und ihm Wundmale zu-gefügt. Sein Fleisch quoll auf, unter den Armen und dann den ganzen Leib hinunter. Im Gaumen wuchs ihm ein grindiger Ausschlag, wucherte als Furunkelgeflecht hinaus aus dem Mund und über die Lippen. In seinem immer noch blutigen After, dem Sündenrohr, platzte Schwäre neben Schwäre auf und spritzte giftige Stinke ins Heu seines Verstecks ; hätten Bauernmädchen es mit ihm geteilt, wäre er von ihnen sogar aus einem Misthaufen hinausgeworfen worden. Sein Herz raste in seiner Brust als wolle es ausbrechen aus diesem sündigen Gehäus und fort, nichts wie fort von dem Gezeichneten, der er nun war.
Danach kam, als wäre er das nun schon ersehnte Höllenfeuer, der Fieberbrand über ihn. Vier Fäuste packten ihn, zwangen ihm die Beine auseinander wirst du wohl schweigen, du Bastard. Du beleidigst Gott und alle Heiligen im Himmel.
Es kommt kein Ton aus seinem Hals, nicht einmal seine Stimme leistet ihm mehr Beistand gegen Pater Anselmos Hiebe, denn Strönebalds Schlund ist vollgestopft mit Kartoffeln, und Pater Anselmo hat eine Grenadiersuniform an und einen Totengräberspaten in der Faust.
Damit salutiert er vor Strönebalds Bahre.
Und der schwabblige Cocialini hält eine Hofdame im Arm, die trocknet sich die Tränen mit einem Notenblatt und schluchzt „Harter Schanker ! Der Ärmste, und bei meinem Seligen hat es nur zu Nierenversagen ge-reicht.“
Venerische Krankheiten sind chic bei Hofe, sie schmücken mit der Auriole des lasterhaften Draufgängers. Deswegen ist Strönebald im Spi-tzenhemd aufgebahrt und geschminkt wie zu seinen Bühnenauftritten und auf seinen gefalteten Händen, die nun wieder ohne Furunkel sind, liegt der Stein des San Stefano. Er ist riesengroß geworden, er drückt Strönebalds Lunge zusammen.
„Er ist an mir erstickt“ triumphiert der schwabblige Caciolini.

„Harter Schanker ! Die französische Krankheit, du Sündenschwengel.“
Das Kreuz, das der Nonne vom Hals baumelte, kratzte Strönebald an der Nase. Das erste kleinteilige Gefühl wieder seit langer Zeit. Die Nonne ließ ihm eine Behandlung angedeihen, bei der er sich die Seele aus dem Leib kotzte, dann die Eingeweide, und dann alles Übrige was von ihm noch geblieben war.
„Kotz nur brav, du hast ja auch Quecksilber schleckern dürfen.“
Quecksilber ist die Morgenmilch des Teufels. Der spült sich die Zähne damit und ist davon den ganzen Tag guter Dinge. Strönebald verlor nach solchen Frühstücken seine noch übrige Behaarung für immer. Deine Haare büßen für dich, und du schämst dich nicht und flehst sie an, du Sündenhengst, sie möchten zurückkehren zu dir ? Auf den Boden mit dir, Strafknien !
Es ging zu wie bei Pater Anselmo, nur dass sie keinen eisernen Kerzenanzünder zur Hand hatte.
„Kotz deine Seele in einen Hundenapf, beschau sie dir und wenns dir immer noch nicht graust, frisst du mir wieder Quecksilber.“
Und abermals Strafknien. Und als Strönebald wieder genug bei Kräften um zu jammern, und die Nonne seine Stimme hörte, schrie sie :
„Alle Heiligen stehen mir bei ! Was ist das für ein weibisches Gezirpe, das aus deinem Maul kommt !“
Und wieder sollte Strönebald knien, diesmal zur Strafe für sein so wenig mannhaftes Stimmchen. Und dazu beten. Aber mit einem Gebet wagte er Gott nicht zu behelligen. Weil er doch mit so viel Lobgesang im Rückstand war, dass es auf keinen Beichtzettel gegangen wäre. Und bei der Mutter Maria, die die Nonne immerzu im Munde führte, getraute er sich schon gar nicht erst vorzusprechen, denn er wusste nicht was eine Mutter ist.
So hinterlegte er ein Gelübde bei sich selbst : niemals würde er mehr die Hoffartsünde des Gesangs begehen, nie mehr seine silberne Stimme hören lassen, la voce bianca maledetta del diavolo, die ihn in ein Verhängnis nach dem anderen geritten hatte von der Zeit seiner Kindheit an, in der nie ein Kind hatte sein dürfen.
Schwester Cypriana, als er wieder aufrecht stehen konnte, komman-dierte ihn in die Küche. In die Klosterküche, wie sie ihm weidlich be-kannt war von seinem Verschnittenwerden her. Bei jeder Kartoffel, die er nun zu schälen hatte spürte er hinter sich Pater Anselmo, der lauerte, dass Strönebald versäumte eine Faulstelle aus der Schale zu pellen, um ihn mit dem Stein des San Stefano zu erschlagen. Und bei jeder Zwiebel die er schneiden musste, war es Strönebald willkommen, dass sie ihn zu Tränen reizte. Denn so konnte er seine eigenen Sturzbäche gleich mit dazu fließen lassen.
Den Küchennonnen war der Flenner mit dem radebrechenden Fistel-stimmchen jeden rohen Scherz wert. Von Gott und der Mannheit kurz gehalten, wetteiferten sie darin, den welschen Halbmann am aller-kürzesten zu halten. Sag doch mal Rettich reibt Rosenkohl kriegte er fortwährend zu hören zwischen Fischeausnehmen und Kuttelschneiden. Oder sag doch mal Kruzifixsakrament, du rostiger Rotzlöffel !
So legte Strönebald auf sein erstes Gelübde noch ein zweites drauf .Er würde zu niemand mehr sprechen von nun an. Alles was in seinen Stimmbändern hauste, war zu unbegrenzter Buße verdammt.
Schwester Cypriana schalt die Küchenschwestern, untersteht euch und verlustiert euch über meinen Kleinen schalt sie, denn sie schalt herzens-gern. Sie schalt morgens mittags abends und zum Nachtgebet, sie schalt um Gotteslohn und um der armen Seelen willen, sie schalt Strönebald, wenn seine Ausheilung nicht vorangehen wollte und sie schalt ihn wenn er, nun schon Rekonvaleszent, sich nicht gehorsam zu ihren Knien einfand, von wo aus sie ihm noch mächtiger gewachsen schien als sie ohnehin schon war.
Dabei war sie schon mächtig genug, sie war der weibliche Sankt Chri-stophorus des Spitales, die alle fürchteten und die alle schalt die Gott kürzer und einschüchterbarer hatte geraten lassen als sie selbst.
„Wieviel Missetaten müsst ihr euch aufgepackt haben“ schalt sie ihre Mitschwestern“, dass Gott euch so kümmerlich hat wachsen lassen !“
Nur am Sonntag, dem Tag des Herrn, schalt sie nicht. Da durfte Ströne-bald von seinem Platz vor ihren Knien hoch zu seinem Sonntagsplatz auf ihren Knien. Er durfte beide Arme ausstrecken, Cypriana schlang einen Strang Wolle um sie und wickelte sie ab.
Denn Cypriana bestrickte Strönebald, den Entblößten rundum. Zu-nächst dem mit was am nötigsten war, mit Strümpfen. Dann, einschlägige Schamgebote hintan stellend, auch mit Hosen. Bei den dazu nötigen Ver-messungen stieß sie darauf, dass er verschnitten und mithin um Fa-densbreite fast ein Mädchen war, und er durfte nun auch werktags auf ihre Knie. Und da Strönebald sich dem Schweigen verschworen hatte, plapperte sie in die Stille hinein und von der siebenunddreißigsten Ma-sche an von ihren gott-hab-sie-selig Eltern, gesegnet mit sechs Töchtern aber keinem Sohn. Und wie es die Eltern verbitterte dass ihre sechs Töchter den lieben Tag lang am Singen waren, während ihre Brüderchen sich, auf dem Umweg über eine Fehlgeburt und noch eine Fehlgeburt den Eltern verweigerten.
Und wie ihr, Cypriana, die damals noch Gertrud hieß, unter den sechsen die glanzvollste Singstimme zu eigen war, ein majestoser Alt. Und als Cypriana bei der linken Ferse von Strönebalds neuem Socken-paar anlangte, war sie auch bei der nächsten Totgeburt eines Knaben an-gelangt, den ihre Eltern nun endlich als Fingerzeig Gottes nahmen, sich wenigstens eines der unverdrossen singenden Mädchen an Gott abzu-treten.
In der Hoffnung, dieser möge sich mit einem männlichen Erben revanchieren.
Und während sie Strönebald die eben fertig gestrickte neue Socke überstreifte, plapperte sie von ihrem himmlischen Bräutigam Jesus Chris-tus, von welchem freilich nicht überliefert ist dass er sich etwas aus Ge-sang gemacht hätte. Und während sie ein neues Unterziehleibchen für Strönebald auf ihre Nadeln reihte, schalt sie nun doch wieder. Diesmal auf das Ge- und Verbot der Kirchenoberen mulier taceat in ecclesiam, Weibsleute haben im Haus Gottes die Schnauzen zu halten, welches ihr die junge Altstimme in der Kehle zugedreht habe wie einen lecken Wasserhahn.
Für Strönebald aber, und nur für ihn, ihren Sündenschwengel, drehte sie den Hahn wieder auf, wenn auch nur ein kleines bisschen.
„Jesus hört eh nicht zu und die Oberin hält grade ihr Sonntagsschläf-chen“
Und sie sang ihm Wenn alle Brünnlein fließen mit wunderschönen Verzierungen nach oben und unten. Vor allem wenn ich mein Schatz nicht rufen darf / tu ich ihm winken fasste sie mit sprudelnden Trillern ein und das Ja winken mit den Äugelein / und treten auf den Fuß geriet ihr strahlend zur Stretta über drei Oktaven.
Strönebald, dem Cyprianas tiefe Register abgingen, war beglückt von ihrem warmes Timbre. Das nun einging in das für ihn bestimmte Unter-ziehleibchen. Denn sie strickte beim Singen fort und fort, und Strönebald lobte artig, sie hätte es draußen in der Welt gewiss zu einer Solistin auf der Opernbühne bringen können. Gottbewahre ! schalt sie, in diesen So-domitenpuffs voller igitter Kastraten, wo es von französischen Krank-heiten so wimmelte wie von Achtelnoten !
Darauf schwieg Strönebald wieder, betroffen.
Und Schwester Cypriana kratzte sich mit der längsten ihrer Strick-nadeln unter ihrer Kutte, wo der Rücken schwartig war wie Ferkelhaut, und Kernseife bei den Schwestern nur zur Totenwäsche in Gebrauch. Und bedachte sich, ob es wohl an einem Sonntag wie diesem droben im Himmel ebenso so still sei wie in ihrer Zelle, wo dieses Gekratze auf der eigenen Schwarte schon das lauteste Geräusch war.
Und wie tonlos würde erst ihre ewige Seligkeit dort oben sein, ohne Gesang und Musik, und ob sie sich eine Ewigkeit lang würde kratzen müssen, damit es nicht gänzlich totenstill für sie werde drüben in der Ewigkeit. Und es wurde ihr angst Unter einer Treppe kruschtelte sie zwischen vielem Gerümpel eine Drehleier hervor. Hinterlassenschaft eines Wandermusikus, den im Spital die Beulenpest geholt hatte. Seine Drehleier aber hatte er dagelassen. Tamburine kamen ans Licht von Musikussen, die am Mumps eingegangen waren. Dudelsäcke von Sauf-brüdern, die von ihren weinschweren Bäuchen unter die Erde gezogen worden waren. Tschinellen, allerlei lärmiges Blech ( Exitusse nach Mes-serstechereien Wundstarrkrämpfen, Nierensteinen ) und zuletzt eine ein-same Harfe. Ein anmutloses Möbel aus dem tiefsten Mähren mit schlichten Holzkötzen als Pedalen. Ein Bettelmusikanten war damit auf Jahrmärkten und Hochzeiten herumgezogen, um Sarabanden und Gassen-hauern aufzuspielen, bis ihn im Spital die Pocken von den Pedalen holten.
Cypriana fuhr mit ihren rauen Fingern über die Saiten, als schiebe sie die Maschen auf ihren Stricknadeln aneinander. Die Saiten brummelten wie ein Tier, das dem Winterschlaf erwacht. Ob ein gutmütiges oder ein ungnädiges, das den Erstbesten auffrisst, sollte Strönebald herausfinden.
„Weißt du wie damit umgehen ?“
Strönebald wusste es nicht. Aber wenn er seine eigenen Stimmbänder schweigen ließ, warum sollten dann nicht die Harfensaiten singen. In seiner Kehle saß nur eine einzige Stimme gewesen, in der Harfe aber ein ganzer Chor, Cherubim und Seraphim, und König Davids berühmte Leier ohnehin. Die Harfensaiten sangen, sangen an seiner Statt, er musste seinem Schweigegelübde gar nicht untreu werden, und konnte trotzdem seine Schulden abtragen bei Gott.
Auch Cyprianas Beichtvater selig hatte die Harfe geschlagen, und die Sünden die durch sein Ohr in sein Herz eingingen, wanderten durch seine Finger in die Saiten und wurden von dort in den Himmel geblasen zu Gott. Oder zumindest zum heiligen Antonius, und wer weiß wie der damit gemacht hat. Vielleicht vor lauter Überlastung zurück ins Kloster geschüttet, denn von all dem Musizieren mit dem Beichtvater wurde Cypriana, wie man zu sagen pflegt, gesegneten Leibes, und es musste die längste der Stricknadeln Dienst tun, um das Pfarrerskind nicht das Licht der Welt erblicken zu lassen, welches für eben dieses ein recht trübes geworden wäre.
Strönebalds Feld war nun nicht mehr die Küche, sondern die Kapelle. Der ewig Stumme durfte im Gottesdienst die Harfe spielen. Manchmal und je nach Feiertag, auch die Flöten und Drehleiern für ihre früheren Besitzer die im Fegefeuer schmorten und die Tamburine für die Bären-führer, die im Paradiesgarten wandeln mochten mit ihren Bären, aber ohne ihre Tamburine.
Eines Nachts, als er wegen der Kälte in der Kapelle auch eine Wollmütze auf den kahlen Kopf bekommen hatte, entwich Strönebald im Überschwng des Fingersatzes eine Note zuviel. Denn die flauschigen Oh-renklappen, mit denen Cypriana die Kappe versehen hatte, minderten erheblich seinen Gehörsinn. So blieb es nicht bei der der einen Note, seiner versiegelten Kehle entschlüpfte noch eine und noch eine, von den Saiten willkommen geheißen.
Ein Ton kitzelte den anderen aus ihm heraus, und er nimmts nicht wahr unter der dem Gestrickten, er sieht nur seinen Fingern zu, die aus den neuen Handschuhen heraus spitzen und die Saiten traktieren - : da singt er, wie er früher gesungen hat, und da singt auch der schwabblige Cacioli, der zu dieser Zeit schon untergegangen war in Heiserkeit und Lues, aber nun singt er wieder, wenn auch zur Strafe für seine Intriganz nur die zweite Stimme.
Die Nonnen im Kloster aber waren nicht durch wollene Mützen vor den Tönen aus der Kapelle geschützt, so dass sie nun aus dem Schlaf fielen und durcheinanderriefen ein Engel hat gesungen, habt ihrs auch gehört, oder wars nur ein Traum, es ist kein Traum, er singt ja immer noch, es ist ein Wunder ! Ein Engel ist unter uns, und die Nonnen sprangen im Nachthemd auf von ihren Lagerstätten, suchten, Kienspäne in den Händen, rückten die Betten der Kranken und ihre Bettpfannen beiseit, um den Engel zu finden. Drüben in der Kapelle geriet Strönebald indessen immer mehr in Wallung, aber niemand nahm ihn dort wahr, denn Cypriana hatte ihm verboten ein Licht zu entzünden. Nach und nach aber, mit jedem neuen Crescendo, wars nicht mehr zu überhören : der Engel singt in der Kapelle ! und die Nonnen eilten barfüßig hinüber und wer von den Kranken leidlich gut zu Fuß war, eilte mit ihnen.
Cypriana freilich, ohne Kienspan, aber ausgerüstet mit dem unbestech-lichen Instinkten der ständig Scheltenden, war ihnen allen voraus, und verschloss Strönebald den Mund. Als die erste Nonne herein stürmte, gefolgt von einem vom Pferd Getretenen, dessen Sinne seither verwirrt waren, war es bereits wieder sargstill geworden in Spital und Kapelle.
„Sucht auf dem Dachboden !“ rief Cypriana.
Und sie suchten in allen Winkeln, angeführt von einem Einbeinigen über den alle stürzten, beteten, der Engel möge wieder singen damit man ihn ausfindig machte, während ein Krätzekranker den Altar bestieg in dem Glauben, der Schnitzengel dort oben habe gesungen.
Wozu Cypriana ihn umsichtig angestiftet hatte, um Strönebald ins Ohr zu zischen können „Verschwinde !“
Die Harfe wurde auf ein Wägelchen gesetzt. Cypriana kratzte Ströne-bald den weißen Schorf fort, der von seinem syphilitischen Ausschlag geblieben war, leckte die letzten Flusen mit der Zunge ab und schubste das Wägelchen mitsamt Strönebald hinaus aus dem Kloster.
„Habt ihr ihn gefunden ?“
Beschämt standen die Engelssucher, im Flatterlicht ihrer Kienspäne. Und nun schon schalt Cyprinana wieder.
„Ein Engel kommt uns besuchen, und ihr veranstaltet einen so unchrist-lichen Kuttertabamberich, dass er gleich wieder auf und davon fliegt.“
Und husch in die Betten, und ein Bußgebet verrichtet !

Wiiiiiiwiiiiwiiiii sangen die Räder an dem Wägelchen, wiiiiii-wiiiiiwiiii, und es klang gar nicht jammerselig, obwohl es doch ein Ge-fährt war, auf dem vordem ein Bettelmann gereist war, der keine Beine mehr hatte und darauf schob nun Strönebald die Harfe. Beides war seins, Harfe wie Fahrzeug, und die Räder sangen wiiiiiiwiiiiiiiiiiiii !
Drei Räder, um genau zu sein, sangen wiiiiiiwiiiiiiiiiiiii ! Das vierte Rad aber sang raktakter rackatarackter ! denn um das herum legte sich ein Eisenring, aus dem ragte ein Nagel heraus, der wollte nicht mitsingen im Chor der anderen, daher sein raktakter rackatarackter, und alle vier zusammen hörten sich an wie eine Hundemeute, die sich aufs Jagen einbellt. Das wiiiiiiiiiiiii-wiiiiiiiiiiiii waren die Hannoverschen Schweiß-hunde, und das raktakter rackatarackter war die Bulldogge, kurzbeinig und schwer von Atem.
Die Zunge hing ihr weit heraus, die Zunge war der Nagel, der das rackatarackter rackatarackter machte, und alle vier Räder feuerten Strö-nebald an zum Jagen ! zum Jagen ! zum Jagen ! sodass er immer kecker wurde und sich die Mühe sparte das geschenkte Wägelchen mit beiden Händen anzuschieben. Er kniete sich darauf und trieb es mit dem freien Fuß an. Als es einen Abhang hinab ging, stieg er mit beiden Beinen drauf und holperte bravourös mit wiiiiiiiwiiiiiiiiiiiii rackatarackter wiiiiiiwii-iiiiiiiiiii rackatarackter wiiiiiiwiiiiiiiiiiiiiiii ! zu Tal.
Da wusste Strönebald, dass Gott die lang ausstehenden Sangesschul- den nicht mehr von ihm einfordern würde, sondern ihn belohnt hatte mit vier Rädern die sangen.
Strönebald durfte schweigen und Gott war trotzdem versöhnt.
Bei einer solchen Talfahrt kam ihm eine Abteilung Militär entge-genmarschiert. Wenn Strönebald aber auf dem Kartoffelacker zweierlei Heerhaufen vereinigt hatte, und zwar unglücklicherweise auf sich, so gelang es ihm nun, diesen Heerhaufen hier zu trennen.
Es waren diesmal freilich lediglich zwei Krieger, eine höhere Charge mit Säbel und ein Gemeiner mit Muskete. Voller Schrecken ob des auf sie zurasenden wiiiiiiiiiiiiiiiiii rackatarackter wiiiiiiwiiiiiiiiiiiii rackata-rackter wiiiiiiwiiiiiiiiiiiiiiii sprangen sie auseinander und blieben noch lange in Deckung, denn sie befanden sich nach wie vor im Krieg und hatten zu gewärtigen, der Streitwagen der da heran sauste sei eine beräderte Kriegslist ihres Gegners.
„Uaaaaaaah !“ schrie Strönebald wie bei einem fröhlichen Schlitten-rutsch, dabei hatte er noch nie auf einem Schlitten gesessen, und meinte es auch nicht fröhlich sondern als Verwünschung, denn ihre Monturen waren Strönebald vom Kartoffelacker her grausig vertraut.
Weiterrollend unter wiiiiiiiiiiiii und rackatarackter sollte er nicht mehr erfahren, dass die Krieger seinetwegen auf dem Marsch waren. Erhob doch der eine Krieger, Feldmedicus des Detachements war das Ströne-bald geritten hatte, wissenschaftlichen Anspruch auf den Verursacher der Bataille bei den Erdäpfeln. Zu spät freilich, denn das zivile Subjekt war der Streitmacht entwischt, und damit auch der medizinischen Forschung des Königs von Preußen.
Der Medicus hatte von Feldzug zu Feldzug Karriere gemacht herauf vom simplen Scherer im Felde, der den Obristen vor dem Scharmützel die Bartstoppeln wegschabte und nach dem Scharmützel die Kugeln aus der Schwarte bohrte, beides mit ein und der selben Schneide. Und da der Feldzüge so viele waren, dass eine einzige Schneide nicht mehr ausreichte, stieg der Feldscher eben auf zum Medicus und Haudegen der be-waffneten Sanitas. Wobei es ihm zustatten kam, dass er im Gegensatz zu seinen Patienten die Feldzüge heil überlebte und, Schienbeine sägend, Erfahrungen ansammeln konnte, die denen versagt blieben, die ihm unter der Säge wegstarben.
Lästige Friedensschlüsse freilich ließen die medizinischen Erkenntnisse aus dem jeweils vorangegangenen Feldzug bis zum jeweils nachfol-genden überständig werden wie Wundbrand. Denn mit neuen Truppen rückten auch jeweils neue Waffen ins Feld, und mit ihnen zwangsläufig neue Wundarten und die Militärmedizin hoppelte mit ihren Practica heillos hinterher. Sollte sie also dem König von Nutzen sein, hieß es im Geschwindschritt forschen so lange gerade keine Kugeln flogen. So fügte es sich, dass unser Medicus mit einer bewaffneten Abteilung, die aus Spargründen heruntergekürzt war auf einen Füsilier, vor dem Spital der frommen Schwestern vom Sankt Vinzenz aufzog, um zu kommandieren „Her mit dem corpus delicti !“
Den Nonnen hinwiederum konnte der Aufmarsch mehrerer Manns-personen im Haufen, so er sich denn aufrechtgehend vollzog und nicht im Kriechen oder humpelnd, zweierlei bedeuten.
Zum ersten, Hochwürden der Herr Pfarrer fand sich wieder einmal ein zum Bestatten und die Kerle hinter ihm waren seine Leichenträger. Also gaben die Schwestern heraus, woran eh nichts mehr zu kurieren war, möge es ruhen in Frieden und das ewige Licht leuchte ihm.
Wenn das Mannsvolk aber in buntem Tuch aufs Spital zuhielt, musste das bedeuten : unbestellter Herantransport von frischem Zerschossenem und Zersäbeltem für die viel zu wenigen Bettstellen im Spital. Bei wel-cher Gelegenheit das Mannsvolk im bunten Tuch eben diese Bettstellen auch gleich frei zu räumen pflegte und für marschfähig erklärte, was zer-hackt und blessiert war und im Fieberwahn nach der Mutter schrie.
Diese ihre Diagnose setzten die Buntbetuchten mit dem Säbel in der Faust durch und waren sie wieder abgezogen, fehlten nicht nur Pfleg-linge, sondern auch eingelegte Kürbisse und Geräuchertes, Mehl und Eier samt den Pötten, in denen sie aufbewahrt wurden.
So fügte es sich weiter, bei einsetzendem Regen, dass unser kleines Expeditionskorps die Einfahrt zum Spital verrammelt fand.
„Man öffne !“schrie der Feldscher und befahl Kolbenschläge gegen das Tor.
„Sagt man nicht erst Gott zum Gruß ?“ wurde von oben herunter ge-rufen. Der Feldscher musste den Kopf weit zurücklegen, bis sein Zopf ihn im Nacken stach und ihm das Regenwasser in den Kragen lenkte.
Und auch die Frage nach Gesundheit und Wohlergehen, wurde er von oben belehrt, sei christenüblich wie weltlich-schicklich. Zumal zwischen Personen, welchen die Pflege der Volksgesundheit aufgebürdet sei, wenngleich von zwei höchst unterschiedlichen Autoritäten.
„Unser Armeecorps wird ihr Zunder untern Arsch geben, wenn sie nicht pariert.“
“Das Armeekorps ist weit. Aber unsere Nachtpfannen sind mit einem Griff zu erreichen. Verlangen der Herr General einen Probeschuss ?“
Die Sache der Militärmedizin befand sich mithin in misslicher Ge-fechtslage. Der Medicus sah sich genötigt als sein eigener Parlamentär zu praktizieren, worin er am wenigsten firm war, nämlich den Verhand-lungsweg beschreiten. Er musste darstellen, unter den Blicken der Sie-chen die in allen Gucklöchern des Spitales lagen, warum er just diesen Patienten Strönebald ausgehändigt bekommen wollte. Nämlich zwecks heilkundlicher Untersuchung wie ( ad unum ) zivile italienische Darmflo-ra sich zur Attacke verhält nördlich-pruzzischer, aber eben auch austria-kisch-balkanische Spermien und wie hieraus wiederum ( ad secundum ) nicht Leibesfrucht resultiert, sondern der untergrundkämpferische Erz-feind aller Armeen schlechthin, Treponema aus der Familie der Spiro-chaeten mit ihren winzigen korkenzieherartigen Zwischenträgern und zum Kummer der Generalstäbe die Krieger angreift noch ehe der Gegner angegriffen hat.
„Deibel aber auch“ rief da Cypriana oben, “agnus dei qui tollis peccata mundi“, und meinte mit diesem Ruf eigentlich nur eine Masche, die ihr von der Nadel gerutscht war. Der Medicus unten aber glaubte, sie wolle mit diesem Satz eine gelehrte Disputation eröffnen und ihn aufs Glatteis der Wissenschaft locken.
Was er zu fürchten hatte, denn er war ein Mann der sägerischen Praxis, seine Bibliothek war das Lazarett und seine Kenntnis des Lateinischen so absent wie ein von ihm weggesägter Unterschenkel.
„Wie viele Amputationen“ schrie er hinauf, um ihre Gelehrsamkeit zu überrumpeln “hat die Madame denn vorzuweisen ?“ während ihm der Regen den Rücken hinab rann, von seinem Zopf dachrinnenartig in seine Montur geleitet.
“Auskunft !“
Wenn er nämlich alle seine Amputationen für sich in Marsch setzte, konnte er seinem obersten Kriegsherrn ein ganzes Armeekorps loser Arme und Beine zuführen. Und zur Attacke gegen diese Furie.
„Bigotte Vettel !“
Cypriana indes strickte stumm vor sich hin und zählte in Ruhe ihre Maschen, während er neue Beschimpfungen nachlud.
„Kopfüber gehörst du ins Kanonenrohr gestopft, quacksalberische Bettpfannenhexe !“
Cypriana nadelte für Strönebald, ob er nun je zu ihr zurückkehrte oder nicht, wie ihre frommen Schwestern ja auch für wächserne Jesulein Hemdchen nähten, ohne damit zu rechnen, der leibhaftigen Jesus werde sich diese Wäsche je abholen. Sie kleide gerade einen Engel ein, teilte sie also wahrheitsgemäß ihrem Gesprächspartner. Denn auch Engel brauch-ten Über- und Unterzieh, sei die Erde doch für Himmlische ein allzu kal-ter Aufenthalt.
Zumal wenn es schütte wie eben jetzt.
Nun wars am Feldscher zu schweigen, denn Engel hatte er noch nie amputiert. Der Regen füllte die eingetretene Wortlosigkeit, brachte frei-lich auch den Füsilier arg zum Niesen. Sollte der Feldscher ihn etwa hier-lassen, einliefern ins Lazarett der Vettel da oben ? Und gedemütigt ab-ziehen, ohne das medizinische Untersuchungsobjekt und auch noch ohne seinen Krieger ?
„Wir überlassen“ rief Cypriana herab „dem Herrn Medicus statt des Geforderten von Herzen gerne allerlei Extremitäten, an denen er seine Forscherlust befriedigen kann. Arme, Beine, Zungen, Lebern, alles in Spiritus“.
Der Füsilier nieste.
„Hör dir das an, du bist mein Zeuge“ knurrte da der Feldscher zu sei-nem Gemeinen. “Die Schwuchtel ist ihnen weggestorben. Sie scheuen sich nur dass sie’s auch zugeben. Jetzt verhökern sie die Überreste en detail.“
Der Füsilier nieste.
Als Cypriana hinzusetzte, die versammelten Streitkräfte dort unten seien, wenn sie recht höre, auf gutem Wege sich eine Influenza zuzu-ziehen und ob sie für zwei wärmende Strickleibchen Maß nehmen solle, hatten die beiden Krieger lang schon einen taktischen Rückzug angetreten.

Wiiiiii-wiiiiiiiiiiiii raktakter wiiiiiiwiiiiiiiiiiiii rackatarackter wiiiiiiwi-iiiiiiiiiiii !
Auch wenn das Unterziehleibchen erst zur Hälfte vollendet war, hielt es Strönebald nicht nur in Facon sondern auch warm. Häuptens tröstete die von Cypriana gestrickte Kappe darüber hinweg, dass seine Kopfhaut bis zum Ende seiner Tage glatt wie eine Schweinsblase bleiben und sich kein Härchen mehr darauf blicken lassen würde. Die Fingerhandschuhe, der belatzte Hosenbeutel und die Strümpfe, die ihm bis in den Schritt reichten, schlossen das was von seiner Person geblieben war, zu einem allgrauen Wollknäuel zusammen.
À la bonne heure ! Strönebald war mithin ein gemachter Mann, auch wenn seine Männlichkeit, wie wir wissen, eine recht rudimentäre blieb. Vom Findelhaus wie vom Kartoffelacker her bemessen aber fand er sich auf der Höhe seines Glücks. Im Sommer, wenn sie beide im Freien kam-pierten, hatte er Muße, den Schmetterlingen nachzusehen und wie sie zu Raupen wurden, sich verpuppten und schließlich aus den mühselig einherwurmenden Larvenschalen ein Prachtfalter herausquoll. In seiner missfarbenen Schafwollhülle kam er sich vor wie einer von ihnen. Sein Wandel vom Klosterwaisen zum Sänger zum Opernstar zum Nonnen-patienten zum Harfenbesitzer zum Wandermusiker war ebenso eine fort-währende Verlarvung und Häutung und immer wieder ein neues Schlü-pfen in wechselnder Gestalt, wenngleich in umgekehrter Reihenfolge als von der Natur für die Schmetterlinge vorgesehen, denn Estrebaldo hatte sich zurückverpuppt vom Bühnenschmetterling in die Schafwollraupe Strönebald, vom bunten Stimmling zum grauen Stummling.
Für das Gesangliche war nun die böhmische Hakenharfe zuständig, ein buckliger Trampel aus Ahornholz mit sechsunddreißig Wirbeln, an denen aber nur noch dreißig Saiten hingen, die unwillens waren sich auf eine gemeinsame Tonart stimmen zu lassen und auf denen er niemals feine Menuette in feinen Häusern würde darbieten können.
Im Wald aber, wo sie sich freundschaftlich einander annäherten ( seine Finger kamen als Brautwerber und Lehrjungen zugleich ) konnten ihre hohen Saiten den Gesang der Vögel so lebensecht nachtschilpen, dass diese ihr Antwort gaben und die tiefen Saiten lernten unter seinen Griffen Froschgequake und Ochsengebrüll.
Wenn er eine Raupe oder ein Kokon war, waren die Saiten der Harfe die Schmetterlingsflügel. Ein ganzer Chor und ein mittleres Orchester hatte er vor sich aufgespannt zwischen einem hölzernen Dreieck, und er durfte selbst tonlos bleiben und sein Gelübde abdienen.
Wenn Strönebald vor Zeiten als Estrobaldo auf die Bühne hinaustrat, hatte ihn das Orchester bereits mit pompösen Akkorden angekündigt, die auf ihn neugierig machten. Und der pompöse Aufputz, den er mit hinaus-trug, schäumte die Aufmerksamkeit abermals auf, oooh !!! und Hände-klatschen empfing ihn, die anderen Ziergockel standen stumm und noten-los wie Blesshühner, während er seine Aria begann.
Nun waren seine Auftritte wie die eines Zaunpfahls der immer schon an seinem Platz gestanden hat. Niemand würdigte die graue Wollwurst eines Blickes, er war allein mit der Musik zugegen, die er aus den Saiten holte. Selbst seine Füße vergaß er nach und nach, auf dem Wägelchen hockend, das zum Transport seiner Gefährtin bestimmt war. Denn einem Harfner spenden nur die Musikalischen, während die Ohrlosen ewig die Mehrheit bilden auf Erden.
Einem Lahmen aber, der sich auf Rädern voranbringt spenden die Mildtätigen, sofern ( auf Jahrmärkten und Hochzeiten ) genügend Ver-wandt- und Nachbarschaft herschaut. Strönebald lernte ein zweites Mal singen, waghalsiger als vordem mit seinen Stimmbändern, denn für die Patzer der unstimmbaren Harfe hatte er nicht gerade zu stehen und kein König von Preußen drohte mit dem Stock. Er zupfte aus seiner Gefährtin die vox humana heraus, aber auch Violinen und Flöten, und obwohl er nie am Meer gewesen war, schmeichelte er ihr Meeresrauschen ab und sogar Brandung.
„Du Spitzbube !“ flüsterte ihm einer zu, der hinter ihm stand.
„Du kannst das Meer nachmachen. Aber mir machst du nichts vor : wenn alle fort sind, stehst du auf und gehst auf zwei gesunden Beinen davon.“
Fermate. Der Sturm von eben verwandelte sich in Windstille. Die Wogen, die Strönebald eben noch durch die Saiten gejagt hatte, ver-wandelten sich in spiegelglatte See. Und als er sich umwandte, wars ein gedrungener Vierschrötiger, an dem das Auffallendste sein breites Maul war. In dem alle Zähne zugleich hinter den Lippen bereitstanden wie ein Chor in weißen Hemden, der Ovationen entgegennimmt.
„Hab ich dich so erschreckt ?“
Der Gedrungene grinste, als sei das seine einzige Profession.
„Dann erschreck zur Abwechslung du mich. Mach mir ein Gewitter !“
Und Strönebald ließ ein Gewitter aus den Saiten brechen, dass die Umstehenden ihre Röcke über die Köpfe zogen, obwohl hell die Sonne schien. Und als er Blitze hinterdrein schickte, suchten einige Umstehende Zuflucht unter den Vordächern.
“Kannst du auch was Zartes ? Eine Quelle ?“
Und ob Strönebald das konnte. Er war das Wasser, Meister der Meta-morphosen, das durch Eis, Schlamm, Regen, Schnee unablässig die Ton-art wechselt und dennoch bei aller Verwandlung es selbst bleibt. Ströne-bald ließ für den vierschrötigen Grinser eine Quelle entspringen, zum Bach werden, zum Schmelzfluss, er strömte sich dem Meer entgegen, an dem er noch nie gewesen war. Und während seine Finger das Wasser aus den Saiten holten, wunderte er sich, dass seine Hände davon nicht bis zu den Ellenbogen nass waren.
Er wird, aber das wusste er noch nicht, der einzige sein, der im Jahre 1806 die Wasserreise auf dem Floß genießen sollte. Aber fürs erste wuss-te Strönebald, dass Wasser sein Glück bedeutete und er das Meer sehen musste.
„Aber Glocken kannst du nicht.“
Und ob er Glocken konnte. Von der Frühmessbimmel bis zum wuch-ti-gen Geläut am Feiertag.
Auch Vogelrufe ? Strönebald ließ denKuckuck rufen, Hühner gackern, dazwischen den Pirol, mit der flachen Hand rieb er aus den Saiten einen einfallenden Starenschwarm heraus und zur Coda ließ er die Nachtigall singen.
Der andere grinste.
„Das nenn ich alles Murcks ! So verstimmt wie deine Harfe ist, kannst du nicht einmal einen zünftigen Steinschlag nachmachen.“
Weil Harfen eben immer verstimmt sind. Auch in den Hoforchestern der Könige von Frankreich und Preußen. Weil die Saiten viel zu lang sind, um anständige Musik darauf hervorzubringen. Der Wind fährt durch sie hindurch wie durch Weidenzweige. Oben ein warmer Wind, unten ein kalter. Und der Angstschweiß und das Fingerfett des Harfenisten tun das ihre und bringen die Töne aus dem Lot.
Die Tiere, aus deren Därmen man die Saiten gedreht hat, würden Kolik kriegen post mortem wenn sie mit anhören müssten was man aus ihren Därmen gemacht hat. Die einen von Ziegen, die anderen von Ochsen, und dazwischen Rosshaar, wie soll das zusammengehen. Wo sie doch schon im Leben verschiedenerlei gegrast haben, die einen Huflattich und die anderen die frischen Spitzen vom Hollunderbusch, und jetzt sollen sie zusammen musizieren ?
„Mit so einem Drahtgestell wird keiner“ grinste der Vierschrötige „un grande artista“.
Er grinste fortwährend. Wie einer der sonst nichts zu tun hat. Und das hatte er auch nicht. Außer herumzustehen an Plätzen an denen sich etwas tat. Bei Quacksalbern, Stelzenläufern, Hochzeiten oder Hinrichtungen.
Oder Wanderkomödianten. Der Gedrungene grinste nicht aus Häme, sondern vor Selbstvertrauen. Er war gewiss, dass er selbst alle diese Darbietungen weit imposanter vollbringen könne. Auf Stelzen laufen, den Bräutigam geben oder den Delinquenten, der die Schaulustigen mit Gnadeflehen und vollgepisstem Armesünderhemd erfreute.
Die Physiognomie dazu hatte ihm die Schminkmeisterin Natur mitge-geben und ihn ausgestattet mit wuchtigen Augenbrauen wie sie nur den ganz Eitlen wachsen. Und die Rüstmeisterin Natur hatte ihm eine guss-eiserne Stimme eingeschraubt, mit der er sich gegen Wirtshausgeschrei, Korporals- wie Ochsengebrüll und Tabaksqualm behauptete.
Sein Gerechtigkeitssinn war von ebenso robuster Natur. Nicht nur Strö-nebald, aller Welt pflegte er barsch die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit. Mit der auch sich selbst nicht verschonte. Du bist der größte Schauspieler, den möchte ich sehn der das in Abrede stellt, du bist nur zu kurz gewachsen. Wenn dir aber Strönebalds Harfe zu Hilfe kommt, wächst du vier Handbreit nach oben.
Strönebald, der stumme Sopran, brauchte einen Bariton. Und der kurzgewachsene Grinser hatte einen Bassbariton, vor dem Strönebald er-schauerte. Darüber hinaus hatte er nichts. Kein Engagement, keine Bleibe. Nur eben diesen Bassbariton, bei dem der Wein in den Gläsern erzittert wäre, wenn er ihn sich denn hätte leisten können.
„Du bist gauschrumplig wie eine Larve“ grinste er, „wann schlüpft der Schmetterling endlich aus ?“
Dass Strönebald schon einmal ein Schmetterling gewesen war, erzählte er seinem neuen Freund nicht, wie er ihn auch sonst knapp bei Wort hielt. Aber sie zogen fortan zusammen über Land.
Propodonsky saß nur mit auf, wenn es eine Schussfahrt talwärts gab, sonst waren seine Beine so tatendurstig wie er selbst. Es ging ihm gegen sein Selbstbild sich kutschieren zu lassen, er musste aller Welt seine Muskelkraft beweisen. Wenn Strönebald Harfe spielte, streifte Propo-donsky zwischen den Zuhörern umher und sammelte für sie beide mit dem Hut. Aber die Reden die er dabei führte waren derart, als sei Propodonsky der Harfespieler, der zur gleichen Zeit auch noch selbstlos Almosen eintrieb für meinen Blutsbruder den Kartäuser.
„Das sind die mit dem Schweigegelübde. Er muss es immer noch halten, obwohl ihn eine Donna dem Abt abspenstig gemacht hat. Starren Sie ihn nicht mitleidsvoll an, spenden Sie, er trägt an einem Schicksal, er ist aus dem Kloster entsprungen wegen dem Weibsbild. Sagt sich leicht so hin, das entsprungen, wenn einer von Geburt an keine Beine hat“.
Und die Münzen sprangen munter in den Hut. Propdonskys Hut. Der leitete daraus den Anspruch auf Teilung drei zu eins ab, drei Teile für Propodonsky.
Strönebald der Schweiger war die Idealbesetzung als Zuhörer der tage- und nächtelangen Szenenfolgen aus Propodonskys Vita, in der er Hut-walker im Hannoverschen gewesen war. Im Dampf, der von dem ge-pressten Filz aufstieg, hat er schwitzend vom Othello geträumt, bis der Meister ihn davonjagte, des vielen kugelig verformten Filzes wegen.
Dann wieder hatte er, Sohn eines Handelsherrn in Riga, den großen Schröder erlebt, der im Stadttheater gastierte und ihn auf der Stelle in seine Truppe aufnahm, bis Iffland ihn wieder hinaus intrigierte und er sich in den kurländischen Wäldern als Holzfäller durchschlagen musste. Und der Vater ihn enterbte.
Dann, Sohn eines Werft-Patriziers, fuhr er zur See auf der Ostindien-route. Nachts trug auf Deck den Hamlet vor, so dass der Matrose im Ausguck nicht mehr auf den Kurs achtete und das Schiff auf ein Riff lief. Hamlet überlebte als einziger.
Dann Mantua, Sohn eines Weinhändlers. Dann Pressburg, Sohn eines bremischen Handelsherrn. Amsterdam. Köln. Breslau. Schließlich War-schau. Nie aber, auch nicht im Morgenschein ihrer Zweisamkeit, hat Propodonsky den Freund nach dem Woher oder dem Vorher seines eigenen, Strönebalds Lebens befragt.
Propodonskys Stimme vervollkommnete sich im Wettstreit mit der Harfe, gewann an Farbe und Fülle und Kontur. Im Wald führten sie für sich selbst Melodramen auf mit Satzfragmenten, die Propodonsky aus-wendig konnte von Stücken her, in denen er nie gespielt hatte. So leistete Strönebald das Seine zur Erziehung der Stimme seines Freundes, als Pädagog eines fremden Arbeitsgerätes, während sein eigenes in seinem Kehlkopf verschlossen blieb.
Bei einem Streifzug den Rhein hinunter blieben sie in einer vormaligen Residenzsstadt hängen, weil am Hafen eine Schifferkirmes angezeigt war. Die feiernden Schiffer wollten tanzen und maulten nach Dudel-säcken, nicht nach Harfenklängen. Bierkrüge wurden geschwungen, Pro-podonsky ließ sich auf eine Rauferei ein, Strönebald zog ihn blutig fort, sie fanden Unterschlupf im vormaligen Opernhaus das nun leer stand, weil der kurfürstlich mannheimische Hof fünf Jahre zuvor nach München übersiedelt war.
Nun durften Amateurmusici es nutzen. Strönebalds Harfe kam gerade recht, um das Orchester ( die Streicher Perückenmacher, die Holzbläser Zollbeamte ) bei einer wohltätigen Matinée zu verstärken. Und auch Pro-podonsky war willkommen, um ( für ein Nachtmahl und ein Lot Wein ) die Notenpulte aus dem Depot auf die verwaiste Bühne zu schleppen. Als man diese am folgenden Morgen noch immer dort vorfand ( es war die Probe eines Räuberstückes angesetzt, verfasst von einem Feldscher aus dem württembergischen Ausland ), brüllte der directeur den säumigen Pulteschlepper herbei.
Dieser brüllte zurück, dass der Staub aus dem Schnürboden fiel und die Fledermäuse aufschreckten, die wie er im Bühnenhaus genächtigt hatten. So entdeckte man seinen Stimmumfang und er durfte im dritten Akt des Räuberstücks ( es wurde eine Feuersbrunst gezeigt ) hinter der Bühne bengalische Fackeln schwingen und dazu Feurio ! Feurio !- Rufe aus-stoßen.
Strönebald vergegenwärtigte das Feuer mit solcher Kunstfertigkeit, dass seine Harfe den Zuschauern, opernentwöhnt wie sie waren, wie Flammengeprassel und Sturmgeläut klang. Das Salär war abermals ein Nachtmahl und ein Lot Wein.
Die Resonanz des Auditoriums war ebenso schnell abgenagt und ausge-trunken, weil es kein Auditorium mehr gab. Die Theatergourmets des Hofes waren mit eben diesem Hof weggezogen, auf den Rängen saßen Studenten aus Heidelberg und Kadetten aus Stuttgart, die sich bei der Vorstellung schier heiser geschrien hatten und sich in der Nacht an den Grenzposten vorbei wieder in die heimischen Kasernen mogelten.
Auf Propodonskys Gehirnbühne jedoch fackelte der Brand, den er hin-ter der Bühne hatte vorgaukeln dürfen als Fanal fort und es stießen immer dichtere Rauchfahnen des Wagemuts in ihm auf. Er scharte ein Schau-spiel-Ensemble um sich, das sich aus zwei erlesenen Mitgliedern zusam-mensetzte, Propodonsky und Strönebald. Sowie einem Mitglied im Fach grande utilité mit sechsunddreißig Holzwirbeln und dreißig Saiten, das für alle übrigen Rollen bereitstand.
Zum Namenspatron wurde sein Impresario bestimmt, Nicola Antonio Giovanni Porpora. Der aber niemals seine Rechte wie auch Pflichten wahrnahm, weil er schon lange tot war und einer der vielen Kapellmeister blieb, unter denen der verstummte Estrebaldo gesungen hatte.
Später, als noch andere Mimen dazugestoßen waren, brachte Strönebald es zur Rolle des souffleurs, was bedeutet Flüsterer So konnte er sein Gelöbnis erfüllen, aber nur unzureichend sein neues Amt, denn Ströne-bald war ein schlechter Einflüsterer.
„Sein odeh nicht sein das ist hieh die Fhage – „
Aber wer seine Rolle gelernt hatte, wusste ohnehin, was das Dicker-chen in seinem Wollzeug meinte. Dafür konnte Strönebald auf seiner Harfe Gewitterstimmungen erzeugen dass sogar dem Ensemble angst wurde. Wenn man Strönebald hatte, brauchte man kein Donnerblech, das auf Reisen unhandlich viel Platz beansprucht hätte. Und das zudem bei Gewitter ( wovon Lucille de Brée fest überzeugt war ) die dazugehörigen Blitze anzieht. Und sich überdies erdreistet, lauter zu sein als der rex leonorum, der Prinzipal.
Während Strönebalds Donner so klangen, als rollten sie aus dem Brustkasten Propodonskys heraus und die Saiten die Stimme des Freun-des umschmeichelten, sein ha ! verstärkten, mit ihm schmachteten wenn er schmachtete und drohten, wenn er das Schwert reckte. Oder eine bittersüße Melodie hören ließen, sobald die Demoiselle auftrat. Wenn sie mit einem Harfen-Akkord eingeführt wird rumorte es dann in Pro-podonsky, begehre ich sie, das dämliche Stück.
Propodonsky sah in Porporas ausgeborgtem Namen seine eigenen zwei Ps und seine zwei Os ( er betrachtete stets alles Eigene mit hohen Hochgefühlen ) aufs dekorativste verstaut, und die stolze Titulatur hing wie ein geraffter roter Samtvorhang über ihm, der für die theatralische Zukunft alles versprach.

Käpernick

Lange sind die Bauern dem Pferd gefolgt.
Erst im Laufschritt, dann im Schritt, jetzt nur noch Fuß vor Fuß setzend. Das Pferd hat noch den Sat¬tel seines Reiters aufgeschnallt, der von ihm herunter geschossen wurde von einer Kanonenkugel. Die Splitter haben auch die Kruppe des Pferdes aufgerissen, trotzdem hielt es sich aufrecht. Immer wenn die Bauern auf es haben einschlagen wollen mit Dreschflegeln, Äxten, Schaufeln (schwerere Gerätschaften besaßen sie sie nicht ) hat das Pferd sich aufgerichtet mit einem störrischen Wiehern, das wie ein Wutschrei klang und ist weitergestakst. Eine lange Blutspur hinter sich lassend und allmählich, mit immer langsamerer Gangart, auch Knäuel von Eingeweide.
Da haben die Bauern sich wieder genähert und versucht, mit ihren Werkzeugen dem Pferd die Läufe wegzuschlagen. Aber das Pferd kam wieder hoch, noch einmal und immer wieder, und warf seine Hinterhufe gegen die Angreifer mit einem röhrenden Seufzer, der ein paar Halbherzige einschüchterte, die sich den nächsten Hieb nicht zu führen trauten und dem sterbenden Pferd damit einen letzten Vorsprung ver-schafften.
Bis es einen Bachlauf nicht mehr überwinden konnte. Seine einkni- ckenden Vorderläufe erreichten noch das jenseitige Ufer, um sich dort aufzustützen wie ein Mensch, der sich aus dem Fenster lehnt. Die Hinter¬beine, schon leblos, versanken ihm dabei im gurgelnden Morast. Der Kopf sackte in den Schilf, sein Röcheln bewegte die Halme, es gab ein Rauschen, als klagte es seine Leiden den Halmen, und die trugen es weiter zu seinen Peinigern.
Dort fand es kein Gehör. Um sich schadlos zu halten für langes Ren-nenmüssen, Sich-Entfernen-müssen von ihren Gehöften, prügelten die Bauern nun von allen Seiten auf das Pferd ein, beschimpften es als Franzosenluder, selber versinkend im Schmodder des Rinnsals, über und über rotfleckig vom Pferdeblut.
Kunterkasten ist ihnen gefolgt, den Bauern wie dem Pferd. Es lebt noch, als die Bauern es zerteilen. Es bäumt sich auf, als sein Brustkasten schon fast leer geräumt ist. Die einen schaudern, die Augen des Pferdes stieren sie an, sie wollen sich zurückziehen. Die anderen werden umso rachsüchtiger für die Mühsal der Verfolgung.
Erst als sich der Kopf des Pferdes nicht mehr aus dem Schilf erhebt, traut sich Kunterkasten zwischen die Schlächter. Er ist selber erstaunt, dass er einen Säbel im Hosenbund stecken hat, auf dem Schlachtfeld aufgelesen.
Er stellt sich dalbrig damit an, gewinnt nichts, es ist immer ein Bauern-rücken zwischen ihm und der Beute, und als er unversehens freie Hand hat, gleitet die Säbelschneide ab an den noch zuckenden Sehnen, und fährt dafür einem Bauern in den Arm. Der Verletzte reißt Kunterkasten den Säbel weg und erkennt ihn als einen französischen.
„Ein Franzos !“
Der Bauer kennt sich aus, er ist ein Bescheidwisser bei Franzosen-säbeln, er hat bereits zwei davon umhängen, aufgesammelt bei seiner ergiebigen Fledderei nach einem Gefecht.
„Mit am solchenen ist mei Bruder abg‘stochen wuon.“
Kunterkasten wird getreten, der Hunger der Bauern an ihm gerächt. Die, für die bei der Abschlachtung des Pferdes nichts übrig geblieben ist, halten sich jetzt an Kunterkasten schadlos und prügeln ihn vor sich her. Er stolpert mehr als dass er rennt, als könnten die Dörfler auch ihn tran-chieren wie zuvor das halbtote Pferd.
Einer haut ihm den abgeschnittenen Huf des Pferdes ins Kreuz, Kunterkasten fällt.
„Steh auf, Franzos.“
Ein verdrießlicher kaiserlicher Sergeant raunzt, dass der Franzos von jetzt an die Nummer sechzehn sei und schreibt es in diesem Sinne fein militäramtlich in ein Papier. Zwei seiner Krieger, das Bajonett aufge-pflanzt, bugsieren Kunterkasten in die Reihe anderer Gefangener, zwi-schen die Nummer vier und die Nummer siebzehn oder umgekehrt, ihnen ist es wurscht, die Ordnung obliegt dem Sergeanten.
Die Gefangenen stehen und stehen, bis alle Feinde aus dem letzten Gefecht aufgesammelt, alle Flüchtigen und Sichergebenhabenden und sonstwie Aufgegriffenen aufgereiht sind. Sie müssen riechen, wie das Pferdefleisch brutzelt. Die Dörfler essen, sie hungern. Kunterkasten denkt an das brechende Auge des Pferdes und verscheucht damit seine Gier.
„Abmarsch !“
Durch ein Spalier von Pferdefleischessern, Grinsern, Schimpfern. Ohne dass ihnen auch nur ein abgenagter Pferdeknochen zuteil geworden wäre. Kunterkasten fleht die anderen Gefangenen an, en language de l’empereur sie sollten dem Wachhabenden bezeugen je suis pas militaire, je suis acteur, compris ! Je suis artiste !
Aber sie bestätigen ihm nur, auf sächsisch, bairisch, schwäbisch, dass er viel mehr französische Wörter kennt als sie. Ihnen haben die Caporals nur beigebracht was attaque bedeutet, attention ! und préséntez armes !
Und im übrigen solle er de Goschn halten, sonst meldeten sie ihn als einen Franzosen der sich Zivilkleider zusammengestohlen hat. Den ein-zige Franzose unter ihnen, den Rheinländern, Sachsen und Schwaben. Aber wenn sie durch Dörfer kommen, wirft man Pferdeäpfel und Erdbrocken auf sie. Dann sind sie eben doch Franzosen.
„Dass `s verreckn solln, Napoleongraaster !“
Im Theater pflegt man solches plaisir mit Eiern, vorher sorgsam ange-faulten. Was Kunterkasten ermuntert, sich auf dem weiteren Marsch Spiegeleier und Eierkuchen auszumalen. An einer Floßlände, Kunter-kasten hat Pöchlarn verstanden, wird Halt gemacht und durchgezählt. Kunterkasten macht sich Hoffnung auf eine Weiterreise nach Wien, und wärs als Viehtransport mit zweibeinigen Ochsen und ihm als Zivilisten-hammel.
Als aber beim Appell gerufen wird Anstellen zum Suppenfassen ! und jeder seinen Truppenteil hersagen muss, wird er sogleich als außerregle-mentäres Subjekt erkannt und beiseite kommandiert.
„Füa Zivilpersonen gibt’s kaa Suppn.“
„Ich bin zwischen die Fronten geraten ohne eigenes Zutun.“
Kunterkasten wird verwiesen aus der Militärgemeinschaft der Suppen-löffler, die ihm ( auf sächsisch, bairisch, schwäbisch ) neidisch ins Zivil-leben hinterhergrinsen.
„Zivilsein ist eine Rarität in diesen Zeiten, junger Mensch.“
Der Hafenmeister Neweklowsky, dem Kunterkasten überstellt wird, ist ein abgeklärter Mann.
„Da dafür kassiert der Zivilist halt kaane Priviligien. Und wanns a Suppn waar. Und der Krieger das Privileg dass er fürn Kaiser ins Gras beißn derf.“
Neweklowskys Gemüt strömt circonspecte dahin wie der Strom, den er zu verwalten hat. Und der Hafenmeister braucht ein circonspectes Ge-müt, armiert gegen Sturmfluten und Stromschnellen, denn in diesen Zei-ten strömt mehr die Donau hinunter als ein Hafenmeister erfassen kann. Militärtransporte, Diebesgut, Hehlerware, Konterbande, bunt vermischt mit vorzeitig Davongerannten und rechtzeitig Getürmten, behumpsten Glücksrittern und prospektiven Kriegsgewinnlern eines Krieges, der noch gar nicht recht angefangen hat.
Und dazwischen Holz wie eh und je. Eschenholz für Treppenhäuser in Neubauten, die geflohene Linzer weit hinter Wien zu errichten gedenken. Buchenholz für ruthenische Stellmacher und ( in diesen Zeiten des immer bunter werdenden Tuchs ) Fichten- und Tannenstämme zum Schanzen-bau für Pioniere, die stantepede Brücken errichten sollen, damit die Eige-nen schneller vorankommen und genauso stantepede wieder einreißen sollen, damit die nachrückenden Gegnerischen ersaufen.
Und Neweklowsky muss über alles was an ihm vorbeiströmt bis hin-unter nach Budapest und Belgrad Buch führen. Kunterkasten bietet sich ihm als Floßschreiber an, als grande utilité, wie man auf dem Theater den nennt, der überall einspringen muss. Ein Theatermensch ist versiert im Schreiberischen. Kontraktgemäß hat er seine Rolle herauszuschreiben aus dem Originalbuch, das in der Hand des Prinzipals verbleibt, damit die Konkurrenz ihm nicht das Repertoire wegwildert.
„Ah da schau her, Schauspieler is der junge Mensch aa no, net bloß homme civil. Da san Sie ja doppelt unverdaulich. Das nenn ich scho wie-der kapriziös.“
Und er lobt Kunterkastens Handschrift. Doch doch, ein feiner Strich, die nächsthöheren Beamten würden damit ausgefertigte Registraturen gerne lesen. Aber man ist hier nicht in Wien und am Burgtheater, hier ist man in einer biederen Hafenmeisterei auf dem allerplattesten Land, dem der Donaufluss die Ehre erweist, dass er zufällig hier durchströmt.
Aber eigentlich träumt der Hafenmeister Neweklowsky von einer Lokalität weiter unten.
Vom Burgtheater. Wenn er alles Schlachtvieh, Saatgut, alles Bier und alle schwimmenden Gebirge von Nutzholz aufgelistet hat, begibt er sich ins Dramatische. En cachette und verschwiegen, nicht einmal die Frau Hafenmeister darfs erfahren. Wohl aber der Direktor des Kärtnertorthea-ters zu Wien. Dem hat er einmal etwas Eigenverfasstes in die Mantel-tasche praktiziert, als er ihn in einem Kaffeehaus im sechsten Bezirk hat sitzen sehen.
Seither studiert der Hafenmeister Neweklowsky die Gazetten um zu erfahren, ob er nun endlich aufgeführt wird und hält sich damit ein klei-nes Hoffnungslicht am Brennen, auch wenn die Hoffnung selber ( nach zwölf, nein nach dreizehneinhalb Jahren ) etwas heruntergezutzelt ist.
Die Originalhandschrift seines Dramas hat der Hafenmeister bei sich behalten. Um es wieder und wieder zu überarbeiten und zurecht zu den-geln und auf die Passhöhen seiner dramatischen Möglichkeiten hinauf zu prügeln, denn die so unüberhörbar ausbleibende Antwort aus Wien ver-stand er für sich im Lauf der Jahre als Anmahnung, er habe als un-bewanderter Adjunkt zu ausladende Symboliken einfließen lassen. Ache-ron etwa, den Griechenfluss statt der heimischen Donau, wie er sie tag-täglich vor der dienstlichen Nase hat.
Das symbolüberladene Totenfloß früherer Versionen hat er durch eine Inngams ersetzt, ein hochwandiges Kielschiff mit zwei Rudern. Die Ruder waren in den ersten Jahren Widukind und Hittukind, bis er sie in Joseph ( vorderes Ruder ) und Irinäus ( hinteres Ruder ) umgemodelt hat. Noch immer Brüder und noch immer hinter demselben Mäderl her. Diethild, in der Erst- bis Drittfassung Novizin in Krems, nunmehr Erbtochter vom Goldenen Hirschen in Dürnstein ob der Donau.
Als Bote ihres Balzens lassen die Brüder das Zitherspiel ( Joseph ) und den Gesang ( Irinäus ) für sich wirken, wofür ihnen jeweils nur die Anlegezeit bei der Talfahrt ( Passau bis Pressburg ) verbleibt. Während der arge Vogt Bodo ortsansässig ist und seine Balz mit jener Waffenho-heit untermauern kann, die er nicht nur über Diethild, sondern auch über Richard Löwenherz, den König von England ausübt. Der hoch oben in der Dürnsteiner Burg vom Kaiser gefangen gehalten wird.
Woraus gewisse Gleichklänge entspringen zwischen Richard einerseits und Irinäus und Joseph andererseits, die für nur unter Mühen zum Ak-kord zu schürzen sind. Nicht nur weil das Verlies so hoch oben über der Donau ist und die Floßlände so tief unten, sondern auch weil unerbittlich und stündlich neu ankommende Getreide- und Viehladungen sich zwi-schen das dramatische Geschehen drängten.
Der Hafenmeister musste Joseph, Richard Löwenherz, Irinäus und Barbara vom Goldenen Hirschen untreu werden ( auch dem Vogt, der nun hinter dem Rücken seines Erfinders unbeaufsichtigt Ränke schmiedete ) und hatte Kälberziffern, Holzklafter, Landegebühren und Steuersätze niederzuschreiben, statt das Schicksal von Joseph, Irinäus und Bodo.
Da wurde Neweklowsky der junge Schauspieler aus dem Norden zu-geschoben. Als Delinquent, aber auch als fleischgewordene Inspiration für sein, Neweklowksys vor sich hin hatschendes Stück. Sogleich schmiedete der Hafenmeister Kunterkasten um zu einem Sängerbarden, gleichfalls aus dem Norden, erhöhte ihn zum Normannen und taufte ihn Giselher. Giselher Kunterkasten sang Richard Löwenherz unter dem Gitterfenster die Balladen seiner Heimat vor, und in der stieg er zum Donau-Ufer hinunter und spähte die Wachen des Vogtes Bodo aus.
Durch den frisch hereingewehten Sängerbarden geriet nun aber auch das Gleichgewicht des Dürnsteiner Musikwesens ins Kippeln. Gesang und Saitenspiel waren auf einmal in ein und derselben, eben Giselhers Hand, und seine Ressourcen an Minneliedern unendlich reichhaltiger als das der holzgeschnitzten Schifferbrüder. Die überdies, unter dem Joch ihres Gewerbes, ihre Route zwischen Passau und Pressburg zu bedienen hatten.
Sogar die Donaunixen ließ Neweklowsky dem Gesang Giselhers hörig werden. Actus vier. Mondhelle Nacht. Die drei Donaunixen beobachten aus den Wellen im Vordergrunde Giselher, der dem versammelten Volke, welches sich vor dem Goldenen Hirschen gelagert hat, zur Leier eine Ballade vorzutragen sich anschickt.
Um sie mit ihren schmachtenden Unter- und Hintermelodien zu untermalen, die sich als tönende Nebelschwaden über die Lauschenden legen. Neweklowsky geriet so auf ein ihm bis dahin völlig unbekannte Wegesysteme der Dramaturgie. Es wucherten Seitentriebe vor ihm auf dem Papier, seine Beamtenfeder kam kaum hinterher, gabelten sich ab vom Urstück, setzten neue Triebe an, rissen die Brüder Joseph und Iri-näus in einen Pakt mit dem Vogt Bodo. Oder auch ( dritte Dramen-version ) der befreite Richard Löwenherz entführte Diethild, die Wirts-tochter. Die Donaunixen wurden ( währenddessen ? oder kündigte sich bereits ein viertes Stück an ? ) auf die Wirtstochter eifersüchtig und zogen sie zu sich hinab, sie bemächtigten sich ( fünftes Stück ) des fremdländischen Troubadours und verschifften ihn auf eine verwachsene Felseninsel in der Donau. Wo sie die Brüder Joseph und Irinäus über-raschten, die hier Richard Löwenherz verborgen hielten, um an Stelle des Kaisers das Lösegeld zu kassieren, dessen Ritter bereits anderen Ufer aufmarschiert sind.
Das Schreibpult des Hafenmeisters war mit einem Mal dicht ans Kärt-nertortheater gerückt.
Am Ende gar ans Burgtheater, denn draußen an der Floßlände vertrat ihn der Junge aus dem Norden mit seiner kaiserlich-.kanzleiwürdigen Handschrift. Und diente ihm zugleich, bei aller Umtriebigkeit als Hilfsregistrator im Umschlaghandel, drinnen am Tintenfass als Modell für den ersten Helden und Liebhaber seines Dramas.
Und Kunterkasten würde es nach Wien tragen zu seinesgleichen, ans Kärtnertor- und ans Burgtheater. Setzen Sie dies hier auf den Spielplan, und Sie machen Kasse. Sie machen mehr als Kasse, Sie machen Sukzess ! Die Hauptrolle, aber das nur à part, ist mir selbst auf den Leib geschrie-ben.
Und der Hafenmeister Neweklowsky aus Pöchlarn würde nach Wien reisen. Nicht zu Wasser zum Diensttarif, sondern in der Equipage. Und nun selber in Kaffeehäusern sitzen, im sechsten und im ersten Bezirk, würde seinen Mantel hinter sich hängen und junge Dichter würden ihm ihre Dramen in die Tasche stecken.
Froh gestimmt beginnt Neweklowsky sein nächstes Opus. Kunter-kasten wird umdirigiert, vom Goldenen Hirschen in Dürnstein an den britischen Hof.
Actus I. Die Szene zeigt den Thronsaal zu London. Die Edlen harren der Rückkehr König Richards. Fanfarenschall. Durch die Mitte treten auf Herolde, gefolgt vom königlichen Minnesänger Giselher, nunmehr Earl of Nothringham. Er wirft stolz das Haupt in den Nacken, als er -
Kunterkasten, der nichts davon weiß dass ihm eine Rolle nach der anderen auf den Leib geschrieben wird, muss sich indessen in den Gewölben umtun. Er beneidet die Güter die hier lagern darum, dass sie ein Obdach gefunden haben.
Bottiche mit Cochenille-Rot, Purpur und in Schwefelsäure gelöstem Indigo, getrocknete Feigen zwischen Kaffeesäcken und Ballen von Barchent, manche mit Wachstuch und Sackleinen verhüllt, manche hinter Seilen und Spänen hervorlugend. Alle hinterlassen ihrer Zwischenher-berge ihre Aromen, und Kunterkasten kann es sich nicht verkneifen, in den Verpackungen zu bohren, um das Verpackte selbst zu schmecken und zu riechen.
Oder zu hören, wie das Salz. Er stößt die Faust gegen die Säcke, die Kristalle knirschen darin. Er spürt die Ablagerungen unterirdischer Meere durch den Sackrupfen, das Aroma der Solfeuer. Hier wartet das Salz, und in Wien warten die Esser auf das Salz, aber die Militärgüter und der Fluchtkrempel nehmen ihnen den Frachtraum weg. Tagtäglich bietet man Kunterkasten Schmierzaster, damit er denen schnellere Passagen donau-abwärts zuschiebt, die sich ganze Schiffe kaufen könnten.
Der Barchent knauzt wohlig, wenn Kunterkasten darüberstreicht. Ein Sommergeräusch. Neugierig reißt er ein Eckchen der Wachstuchumhül-lung auf. Was für Muster, was für Ornamente ! Er möchte, dass sie die Reise machen die ihnen zusteht, er möchte dass die Stoffe entrollt wer-den, gesehen und in ihrem Wert erkannt.
Er meint nicht nur den Barchent, er meint sich sich selbst

Wiiiiiiwiiiiiiiiii rakatakter wiiiiiiwiiiiiiiiiiiii rackatarackter wiiiiiiwiiii-iiiiiiiii !
Das Geräusch singt noch in Strönebald, obwohl er das Wägelchen selbst verloren hat, wie er auch seine Harfe verloren hat, die Kameraden und fast das Leben. Aber die Melodie hat er noch immer im Kopf. Er traut sich sogar sie vor sich hin zu pfeifen. Nicht ersoffen pfeift er, nicht erfroren pfeift er, kein fauliges Treibgut auf dem Grunde der Donau. Und selbst dort hielte ihn das Unterzeug der Schwester Cypriana warm.
Strönebald ist wieder einmal in Verpuppung, graurunzlig und unan-sehnlich, aber aus dem Kokon schlüpft allemal ein Schmetterling, und er ist gespannt was es diesmal für einer sein wird.
In seinem gestrickten Kokon hat mit ihm nur eine Maultrommel über-lebt. Und, das Harte da unter der rechten Hinterbacke, eine Tröte. So zwergische Instrumente schüchtern einen nicht ein wie ein Clavicord einen einschüchtert. Oder eine Orgel, oder auch nur eine Klarinette. Die einen so arrogant ansehen wer bist du denn schon !
Eine Tröte oder eine Maultrommel ist selber nur ein Kokon eines Instrumentes, das erst noch schlüpfen soll.

„Das sind vierunddreißig. Nicht zwölf.“
Kunterkasten freut sich der Reibelaute in dem Text den er spricht, auch wenn er nicht aus dem Wilhelm Tell ist, sondern von ihm selber.
„Des san elf, ganze öif Stück san des, junga Herr. Und je länger dass ma hinschaut, desto weniger werns.“
Der Schiffseigner aus Linz mit seiner Ladung Saatgut verschleift die Endsilben, dass es jedem ein Graus sein muss, der je Stimmbildung betrieben hat.
„Vierunddreißig. Und so wird’s aufgeschrieben.“
Kunterkasten hat sich in den Wochen seines Schreiberdienstes zum Gesetz gemacht, dass gestochene Konsonanten und Vokale fürs Recht-mäßige stehen und Genuschel für Schmu.
„Wann da Herr von Neweklowsky es aufschreibt, nacha sans wieda zwöif“.
Solchen Subjekten sollte man verordnen, einen Korken zwischen die Zähne zu nehmen und Artikulation zu üben, ehe sie überhaupt ein Kontor betreten dürfen.
„Der Herr Neweklowsky ist unabkömmlich.“
„Oder eher weniger ois wia zwöif. Weil der Herr von Neweklowsky is a großherzige Natur.“
Der Hafenmeister schreibt hinter den Fenstern an seinen Dramen. Kunterkasten schreibt an der Lände Ziffern.
Vier-und-drei-
„Weil, der Herr von Neweklowsky hat ein Herz für de Schiffsleit. Und für wos haben der junge Herr a Herz ?“
Vierunddreißig.
Auf dem –dreißig liegen zwei Silberstücke. Der elfte Bestechungs-versuch an diesem Amtstag.
„Überzahlung muss ich in das Kataster eintragen.“
„Des is doch kaa Überzahlung ned. Des is a ganz a klaane Auf-merksamkeit füa den jungan Hean, damihd er an Schoppn trinkn konn auf unsa Wohl.“
Neue Schuhe könnte Kunterkasten wohl gebrauchen. Und einen un-durchlöcherten Leibrock, wie er einem wohl ansteht, der auf gepflegte Aussprache hält.
„Oisdann. Öif hamma ausgmocht. Öif wern oofg’schriem.“
Aber Christian Asmus Kunterkasten ist der Sohn und Sohnessohn von Pastoren. Ein ausgebüxter Sohn zwar, mag sein ein verlorener, aber groß-gezogen mit dem Lutherkatechismus. Du sollst nicht falsches Zeugnis hat jedes Morgen- und Abendgebet grundiert. Unausgesprochen. Was auch falsche Buchführung mit einschloss, und die höllischen Dunkelspiele des ungerechten Mammon. In den Wochen als Substitut des Hafenmeisters wird Kunterkasten immer noch zum Kummerkasten, wenn einer ihn als Opferstock missbrauchen will. Und das Schloss dabei offen lässt.
Protestantische Rechthaberei versus Gedächtnisregister der ange-stammten Floßführer, obwohl die meisten nur unter Mühen ihren Namen hinkrakeln können. Und lesen bloß ihre eigenen Floßmarken. Aber alle rühmen sich ihrer Meisterleistungen als Gedächtniskönige, auch wenn sie keine anderen Merkzettel haben als ihre bäuerleinigen Gehirnschlingen.
Wieviel Kälber hat einer von Passau nach Krems verbracht, bei der Fahrt vom anno 1798 am siebten Juni ? Dreiundzwanzig Stück, vier davon waren Sinnentaler, neun Grauvieh, der Rest Werdenfelser. Wieviel Bloch Kiefernholz sind verfrachtet worden anno 1784, am siebzehnten August ? Wieviel Sack Salz am Laurenzitag 1778 ?
Das ist die einzige Buchführung, schwören sie und deuten sich zwischen die Augen, die beständig und dokumentenecht ist. Was drüber hinausgeht ist bloß Papiergeraschel, nicht einmal der Ochs mags fressen. Und alle Heiligen im Himmel sind Eideshelfer, und ob der hergelaufene lutherische Komödiantestrizzi überhaupt weiß was ein Heiliger ist ?
Der Hafenmeister Neweklowsky, Adept des Aischylos und Gottscheds, muss seine Dramen immer öfter auf seinem Schreibpult liegen lassen, mitten in den Jamben abbrechen ( der Vogt Bodo macht es sich schon wieder zunutze ) und sich Beschwerden anhören.
Muss schlichten, während er mit dem Kopf bei den Donaunixen ist, Gelder sich zustecken lassen, die an das Lösegeld für Richard Löwenherz heranreichen. Wenn auch in Maria-Theresia-Talern. Und wenn der junge lutherische Spund sich weiterhin zum obersten Richter aufwirft, was doch allein unserem Herrn Jesus verstattet ist, und auch das erst am Tag des Jüngsten Gerichts, dann darf der Spund sich nicht wundern, wenn ihm eines nahen Tagen einen Geldsack ins Maul steckt.
Prall gefüllt mit Steinen. So dass er hinab sinkt zwischen de Fischerln aufm Grund.
Es kommt der Morgen, an dem der allzu umsichtige Schreiber, der sich der Unhöflichkeit schuldig machte, keine Präsente entgegen zu nehmen, nicht mehr an seinem Schreibpult anzutreffen ist.
In der Nacht war ein Papierknäuel vor die Tür der Hafenmeisterei gelegt worden. Nicht mit Geld darin, sondern mit Steinen. Drei Kiesel und eines toten Blässhuhns. Das Papier war beschrieben mit einer von Kunterkastens peniblen Auflistungen, und darüber gekritzelt drei dutzend Floßmarken wie sie Schiffsleute, die die untere Donau befahren zur Kenn-zeichnung ihres Eigentums verwenden.
Soweit noch keine besondere Mitteilung, nur dass Papier und Bäß-huhn mit dem Messen zerfetzt waren.
Der Hafenmeister Neweklowsky, der die Flößermarken alle wiederer-kannte, strich Joseph und Irinäus, die Schifferbrüder, aus seinem Drama. Dann strich er auch Giselher. Dass ein Hafenmeister Drohungen ein-heimst, gehörte zu den Spielen der Leute die am Wasser wohnen. Mit den Drohspielen floss auch das Gewissen donauabwärts.
Neweklowsky nahm Joseph und Irinäus wieder herein in sein Drama. Aber sie waren nun vereinsamt, wie er selber vereinsamt war. So nahm er auch Giselher wieder herein. Der aber wollte ihm im Fach Sängerbarde nicht mehr so gefallen wie früher. So zog er alle drei zusammen zu einer einzigen Rolle und nannte den neuen jugendlichen Helden Blondel.
Und siehe da, mit Blondel erfuhr das Drama neuen Auftrieb. Ne-weklowsky ließ ihn den Hofdichter von Richard Löwenherz sein, dem gefangenen König draußen vor dem Turm vorsingt, das er alsbald frei-kommen wird.
Und mit Glück sogar ins Burgtheater.

Wieden sind Weidenstränge die die einzelnen Baumstämme eines Floßes zu einem großen Schwimmkörper zusammenbinden. Wenn das Floß wieder aufgelöst wird, wirft man Flechtwerk fort zum Verbrennen. Die Wieden scharren dann aneinander, der Wind wirft sie hin und her, und es sind Gesänge zu hören wie von Starenschwärmen. Der Kalk des Wassers hat sich während ihrer Reise an ihnen festgekrustet, an anderen wuchern Algen, sodass die einen blechern klingen und die anderen wie Fagotte.
Muschelschalen nun wieder lassen, wenn man mit dem Fingernagel an ihnen kratzt, Töne hören die dem Gesang der Feldgrillen ähnlich sind. Und wenn man zwei Muschelschalen aneinander reibt, erinnern sie an Waldhörner, die sehr weit weg geblasen werden.
Das alles sammelt Strönebald auf, schweigend. Und Maultrommel und Tröte freuen sich, dass sie Gesellschaft kriegen.

Gegen Almosen an Kirchentüren Verse von Klopstock aufzusagen misslingt Kunterkasten. Schlichte Bettelei misslingt ihm noch mehr. Hüh-nerdieberei bricht er schon nach dem ersten Versuch ab. Die Biester die er hat fangen wollen, laufen nicht einmal vor ihm davon, sondern lästern ( auf niederösterreichisch ) über den Pastorensohn, der sich selber innerlich eine Strafpredigt hält du sollst nicht begehren deines Nächsten Eigentum noch Huhn.
Und schon, die Strafpredigt galt ja nicht ihnen, scharren sie wieder vor seinen Füßen und gakern, als seien sie aufgelegt zur nächsten Runde probiers doch no amal, obst uns diesmal derwischst du Strotterer.
Es bringt ein paar Mahlzeiten ein, wenn er hier und da beim Ausmi-sten hilft auf Höfen, wo die Männer zum Krieg weggeholt worden sind. Wenn aber Nachbarn neugierig werden, ob der Fremdländer jetzt auf dem Hof bleibt, für länger oder immer, sucht man besser das Weite.
Und wenn Berittene erscheinen und sich nach einem erkundigen, verzieht man sich in den Wald.
In Wald gibt es nicht nur die Tiere. Tiere fängt man in Fallen wenn man heißhungrig ist und man sich darauf versteht Fallen zu bauen. Im Wald gibt es auch Versprengte, Marodeure, Vertierte aller Waffengattungen. Sie haben nicht viel Beute gemacht bei den Feldzügen an denen sie teil-nehmen mussten, aber wie man einen Mann von hinten anfällt und ihn zur Beute macht indem man ihm die Gurgel zudrückt, das haben sie doch gelernt. Was sie übrig lassen, fällt in den Schnee und wird von den Wöl-fen ausfindig gemacht.
Wer vor den Marodeuren davon rennt, verfängt sich in Brombeer-schlingen, liegt mit gefesselten Beinen vor ihnen. Und sie haben Säbel und Bajonette und wissen wie man einen Mann kalt macht. Schreckliche Gesichter , ohne Nasen schauen auf Kunterkasten nieder. Die Kopfhaut in Fetzen, verquer wieder festgewachsen, unter blutverschorften Kanten weiße Schädelknochen.
Die Rekrutierungsoffiziere haben die Marodeure mit Gewehrschüssen in den Wald gescheucht, denn wie soll ein Werber den Dorfburschen das fidele Leben in der Armee anpreisen, wenn die Nasenlosen, Ohrenlosen, Armlosen daneben stehen und Zeugnis ablegen wider das Kriegs-handwerk.
Spuren von Schalenwild im Schnee. Eisvögel, Füchse, denen Kunterkasten neidet, dass sie Futter finden. Allen Tieren neidet ers. Geläut von Kirchenglocken, nun wieder von überall zu hören, die Richtung aus der es kommt meidet er. Kunterkasten schläft zwischen Wildschweinen. Er hört sie grummeln und kluntern, als unterhielten sie sich über ihn, und ob er die Gattung Mensch artig repräsentiert vor einem unverbildeten Publikum, das nicht in samtenen Orchestersesseln sitzt und Zuckerwerk lutscht. Sondern alle Rollen selber übernehmen kann, die der Fressenden wie die der Gefressenen. Sogar von den Eichhörnchen hohn-voll missachtet, wenn sie über ihn hinwegspringen wie seinerzeit Lange-behn, und noch den Schnee verachtungsvoll auf ihn herabplumpsen las-sen.
Er steht plötzlich wieder an der Donau. Er erschrickt vor dem Fluss wie vor einem alten Feind, wie vor einem Wirt, dem er das Über-nachtungsgeld schuldig geblieben ist oder einem Zeugen, der gegen ihn aussagen könnte. Wieder waldeinwärts, fällt ihm ein, dass die Donau das einzige Verkehrsmittel ist, das ihn vorangebracht hat. Nun, es ist schon finster, sitzt er wieder an der Donau und hört dem Rauschen zu. Es ist ein vertrauter Ton, wie einem ein Vetter vertraut ist, der einem gerade die Geschwister erschlagen hat.
Er wird eine Flaschenpost aussetzen. Er muss der Stadt ein Signal ge-ben, dass er kommt. Dass er unterwegs ist. Dass mit ihm immer noch zu rechnen ist. Aber dazu braucht er eine Flasche. Einen ganzen Tag lang sucht er das Ufer nach Treibgut ab, das sich in den Weidenwurzeln verfangen hat. Aber da hängen nur einsame Schuhe, verknotete Seile, schlammig aufgedunsenes Brot und verreckte Bisamratten. Zwischen Ge-betbüchern, deren Seiten nur noch von den Schilfkolben gelesen werden.
Die Strömung treibt die Leiber fort stromabwärts, überwachsen von Schwimmfarnen , und zieht sie in die Länge bis hin zur Stadt Budapest, wo die Gerippe sich verhaken mit anderen Gerippen, die Strömung lagert Bettkästen in ihnen ab, Sudkessel, Rüstungen, Speere und Gewehre, Brat- und Kriegsspieße, ins Eis eingebrochene Hirsche, Scheiße und abgetrie-bene Föten, und die giftige Waschlauge der großen Städte lässt aus alldem grausige Wesen aufwuchern woraus wiederum die Gliedmaßen der Ertrun-kenen ragen.
Als er bis zur Dämmerung noch immer keine Flasche gefunden hat, fragt er sich wer denn seinen Sendbrief schon sollte lesen wollen, selbst wenn er eine Korken fände, um ihn trocken auf die Reise zu schicken. LETZTE BOTSCHAFT VON KUNTERKASTEN. MEINE FLUSSFAHRT IST ZU ENDE. MEINE LEBENSZEIT IST ZU ENDE.
Er will eingehen wie ein Tier, ohne Widerstand aber auch ohne Leiden und ohne Bewusstsein. Er wird sich selber in den Fluß werfen, ohne Flaschenglas drum herum, wie der arme Blasius, das schwemmt und schlammt und schludert sich hinunter ins Ungarische, zu den Hunnen, durchs Eiserne Tor, in die Walachei, in die Dobrudscha, hinunter zu den Türken -
Aber die Ohrenkneifer, die über ihn krabbeln als ob sie auf sich auf-merksam machen wollten, schmecken zu süß um sie zu verschmähen. Beim Zubeißen knackt ihr Panzer, ein Genuss den Eichelhäher und Rot-kehlchen nicht haben, denn ihnen fehlen die Zähne, und beim Aus-lutschen geben die Ohrkneifer eine Saft her, zu dem man sich nur Honig hinzudenken muss, um die Illusion eines schmackhaften Vorgerichts zu haben.
Wenn Kunterkasten recht hinschaut, ist der Wald ein gedeckter Tisch bestückt mit einem üppigen Gemüse-Angebot aus jungen Ahornzweigen, Flechten, schmackigen grünen Fichtentrieben, abgerundet mit der ver-schwenderischen Süße im Harz der Nadelbäume. Und dazu als Grund-Brot die Bucheckern.
Nur Regenwürmer wird er verschmähen. Einstweilen. Denn die Regen-würmer verkriechen sich noch tief im gefrorenen Boden.

Das Endchen Zaundraht erinnert ihn an seine Harfe, aber Zaundraht klingt nicht und wird wieder entlassen. Aufgespleißtes Furnierholz hingegen klingt und erinnert an ein schmächtiges Fagott. Fortgeworfene Gabeln, wenn man sie mit einer Haarnadel beklopft, schwingen und möchten gerne langstieliger sein, damit sie leichter singen lernen.
Und Zaundraht klingt eben doch, wenn eine Öse an ihr reißt. Eine Öse aus der Schatzkammer der Demoiselle.
Strönebald nimmt den Zaundraht wieder auf in sein Ensemble.

Die Tür steht nicht eigentlich offen. Sie verabsäumt nur die ihr zuge-wiesene Aufgabe, die Lücke in der Mauer zu verschließen und durch Druck auf die Klinke den Eingang frei zu geben.
Die Türflügel im Eingang sind weggesunken, verschließen nichts mehr, klaffen nachlässig auseinander und lassen den Wind und auch sonst jedermann und jederding passieren. Die Türklinke ist mit Schafgarbe überwachsen. Die Verglasung in den Rahmen ist gesprungen, weil sich das Holz verzogen hat. In seinen Rissen wuchert Moos.
Hier wohnt niemand. Hier darf man eintreten.
Doch, hier wohnt jemand. Die Bewohner sind so grau wie die Tür-flügel und stehen gleich hinter diesen bereit, um Kunterkasten einer bedrohlichen Musterung zu unterziehen. Erst erkennt er im Halbdunkel nicht, wie viele es sind. Dann merkt er, dass es nicht nur das Halbdunkel ist, das ihm die Sicht nimmt, sondern dass Gardinen aus Spinnweben vor seinem Gesicht hängen und über seine Ohren streichen.
Hundeschnauzen begutachten feucht seine Hände, ob er eine lohnende Mahlzeit sei. Die Hunde sind so hochgewachsen, dass sie ihre Köpfe zu Kunterkastens schlaff hängenden Händen hinunter beugen müssen. Und knurren dabei, im Chor. Kunterkasten steht angststeif und lässt die Prozedur über sich ergehen.
Er steht Stunden. Wenn er sich bewegt, lassen sie ihren Knurrchor hören, in tiefen Bassbaritonen. Nichts sonst ereignet sich. Die Hunde legen sich nieder und behalten Kunterkasten unverwandt im Auge. Wenn er ohnmächtig wird, dessen ist er gewiss, und ihnen vor die Rachen fällt, werden sie zuschnappen, ohne sich auch nur zu erheben. Einige halten ein Schläfchen zwischendurch, er hört es am Schnarchen. Aber wenn er auch nur einen Fuß lüpft, drohen sie ihm wieder mit ihrem Knurrchor, uni-sono.
Kunterkasten ersterben die Glieder. Er wird es nicht mehr lange durchstehen. Sein Hunger ist die einzige Regung in ihm, der er nicht Stillestehen befehlen kann. Sein Magenknurren, heller und flötenhafter als das Knurren der Hunde, lässt die Bestien die Ohren spitzen. Sie grinsen, nass und mit rosigen Hänge-Lefzen, sie grinsen ihn aus. Er muss sie bitten ihm Pardon zu geben, wie ein im Nahkampf Besiegter. Bei zwei, drei Ansätzen versagt ihm die Stimme.
„Verzeihen die Herrschaften…“
Noch haben die Doggen ihn nicht angefallen.
„Ist außerdem noch jemand im Hause ? „
Nun schon eindringlicher. Die Hunde stellen die Ohren hoch, als seien sie selber neigierig auf die Antwort. Und war da nicht eben ein Geräusch, in einem fernen Zimmer ?
Kunterkasten pfeift. Erst mit den Lippen, dann auf den Fingern.
Die Hunde springen auf, erregt. Die Neugierde zuckt heftiger in ihnen als der Drang, ihn zu zerfleischen. Sie hecheln, sie wollen suchen gehen. Aus ihren Blicken liest er, dass er es ist, der sie anführen soll. Er wagt eine Bewegung, winkelt die kribbelnden Knie an, holt die Arme aus der Starre zurück -
Nichts zerbissen, keine Zähne in den Schenkeln. Noch vor ihm sind die Hunde an der nächsten Türe und bearbeiten sie mit ihren Krallen. Er dreht den Türknopf, und schon sind sie wieder weit voraus.
„Ist da wer - ?“
Die Hunde schnauben und winseln ungeduldig vor der nächsten Tür. Schon wieder zweiflüglig, eine Herrschaftstür. Hinter der muss die Lösung bereit stehen, die Erlösung. Hinter der muss, wenn er sie aufgetan hat, sich auch das Rätsel dieses Hauses auftun. Aber die Hunde stürmen nur wieder in ein weiteres modriges Zimmer. Danach in eine modrige Küche, in grünschimmlige Vorratskammern, in denen Kunterkasten nichts zu beißen findet, nicht einmal eine verdorrte Zwiebel oder ein vergessenen Steinguttopf mit Eingewecktem. Wovon, fragt er sich, ernähren sich dann diese grauen Ungetüme.
Die Doggen stehen fordernd und hecheln.
Bei ihrer Jagd durch die Räume haben sie die allgegenwärtigen Spinn-webvorhänge auf ihren mächtigen Leibern mit sich gezerrt und nehmen sich in dieser Kostümierung aus wie Trauerpferde beim Staatsbegräbnis. Hat Kunterkasten die heimliche Ehre, ihr Fleischvorrat und der nächste Bestattete zu sein, in ihren unermesslichen Mägen ?
Kunterkasten zieht es vor sich davon zu schleichen.
„Jessasmaria !“
Wo er hereingekommen ist, vor der zerfallenen Tür, steht ein Bau-ernmädchen. Die Hunde sind ihm gefolgt, er war nicht vif genug eine der Türen hinter sich zuzuziehen.
Aber nicht vor den Hunden hat das Mädchen Angst, sondern vor dem Fremden..
„Mein Name ist Kunterkasten.“
Und zieht die Spinnweben von seinem Kopf wie einen Hut, mit einer kleinen Verbeugung.
„Fürcht Gott !“ entsetzt sich das Mädchen.
Und stiebt davon, dass es ihr die Zöpfe um die Ohren haut. Für die Hunde ist sie kein Karnickel, das Verfolgung lohnt. Sie haben sich nicht bewegt. Aber als Kunterkasten sich bewegt, der Türe zu, lassen sie wie-der ihren Knurrchor ertönen. Untersteh dich uns hier wieder allein zu lassen du Dünnling, soll das wohl bedeuten, du bist beschlagnahmt. Ob als Adoptivkind oder als Futter wird sich finden. Aber wer ist er denn ! Nun setzt er seine Stimme ein.
„Eine Grenze hat Tyrannenmacht, meine Herren !“
Die Grauen sind peinlich berührt. Knurren ein Gebrumm, das sich wie ein Stöhnen der Verlegenheit anhört.
„Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
wenn unerträglich wird die Last greift er
Hinauf getrosten Mutes in den Himmel – „
Die Grauen wenden die Köpfe von ihm weg, wie verlegen um eine Antwort. Aber sie lagern sich zutraulich um ihn. Er hört ihre Gelenke knacken. Ältere Herrschaften. Er riecht üppig ihre Ausdünstungen, warmen Kötermief, angereichert mit den Ausdünstungen dieses Moder-hauses. Seitdem er nicht mehr zwischen Gmeinwiesers Kühen reist, ist er nicht mehr so ungebeten mit warmem Tiergestank beschenkt worden.
Den ölgemalten Bildnissen an den Wänden hat man die Gesichter he-rausgeschnitten. Nun starren ihm über adrett geknöpften Westen und Ja-bots schwarze Rechtecke entgegen, als befänden sich dahinter Klappen und Sehschlitze, aus denen ihn die Bewohner des Hauses beobachten, die sich bisher noch nicht haben blicken lassen. Wenn er aber in die Recht-ecke greift spürt er dass auch diese Hohlräume wiederum von Spinnen-völkern besiedelt sind und dahinter bröselige Tapeten.
Das Geschirr in den Schränken ist unangetastet, auch das Silberbe-steck. Die Silberkannen, die Tafelaufsätze, die Servietten, auf denen der Schimmel seine eigenen Landkarten hat wachsen lassen. In einem Bou-doir stößt er sogar auf Kleider, den Textilvorrat eines Herrn von Nob-lesse und Geschmack.
Endlich Garderobe. Garderobe allein für Kunterkasten, von den Motten abgesehen, die hier bereits Mahlzeit gehalten haben. Wärmendes, Flauschiges, Vornehmes, Pelzbesetztes.
Die Hunde teilen seine Freude, niesen wie er im Staub, der aus den Stoffen auffliegt. Sie niesen vielmal kräftiger als er und lassen, mit vervielfachter Niesekraft, ganze Wolkenbänke von Staub aufsteigen. Nach den Motten, die darin mitsegeln, wird grimmig geschnappt, aber keine einzige gefasst. Darüber in Laune gekommen, breiten die Doggen ihre Vordertatzen auf dem Parkettboden aus, als wollten sie Kunterkasten zum Spielen einladen.
Statt ihren Gast zu bewundern. Wie der es erwartet, im Schmuck fremden Aufputzes. Er sucht sich sein Abbild in den Spiegeln, blinden Spiegeln, denen erst gar nicht angesehen hat, dass die versilberte Glas-scheiben sind, so verwegen großflächig erscheinen sie einem Pastoren-sohn. Er reibt den Staub von ihnen ab, es muss die Ablagerung von Jahren sein. Um endlich Kunterkasten im Silberschein zu erblicken. Christian Asmus Fürchtegott Felix mit voll ausgeschriebenem Namen, und die feudal ausschweifende Kavalkade de prénoms rechtfertigt sich hier nun endlich. Denn so feudal in Breite und Höhe hat er sich noch nie in seinem Leben gesehen. Noch nie hat er einen Spiegel für sich allein gehabt. Immer nur ein Gemeinschaftsmöbel mit speckigem Holzgriff, und den musste er mit Käpernick und Schuff teilen.
Und in dem zudem eine Lücke klaffte seit einer legendären Eifersuchts-szene, als dem Spiegel auf dem Kopf eines Ersten Liebhabers ( oder wars eine Erste Liebhaberin ? ) ein Dreieck abhanden kam und seine Betrach-tungsfläche zusätzlich geschmälert wurde. Jedesmal wenn sich Kunter-kasten, Wange an Wange mit Schuff und Käpernick, in diesem Torso zu belinsen versuchte, war der bereits von Käpernicks fleischiger Physio-gnomie okkupiert. Und weil das Spiegelglas zudem noch mehrfach ge-sprungen war, vervielfachte und verhackstückte es jedes Schauspieler-gesicht, das hinein schaute. Und Kunterkasten schaute wieder heraus mit den spärlichen Augenbrauen von Schuff und dem breiten Prustemaul von Käpernick.
Nun aber schaut, eingefasst von einem vergoldeten Schnitzrahmen, das Gesicht von Robinson Crusoe heraus. Was Wunder, dass das Bauern-mädel vor diesem Bartgreis, von Spinnweben umflort, auf und davon gerannt ist. Kunterkasten macht ein Rasiermesser ausfindig und legt sich frei, mit den Hunden als aufgeregtem Publikum. Gespannt die Bloßle-gung einer rosigen Haut. Aber es sind nur seine Bartsträhnen, auf die sie gelauert haben und die sie auffangen noch ehe sie zu Boden fallen, um schmatzend darauf herumzukauen was für eine köstliche Vorspeise wenn wir schon ihn selber nicht kriegen.
Kein Käpernick schiebt sich von rechts herein, kein Schuff von links. Kunterkasten die Rampe für sich allein, vorner noch als vorn, sieht sich so übergroß wie ihn nicht einmal der Kaiser sähe und wenn der in der ersten Reihe säße und ein Fernrohr hätte. Er rückt sich zwei groß-mächtige Spiegel angewinkelt zurecht, probiert den ganzen fremden Kostümfundus durch und begeistert sich an den Posen, die ihm dazu einfallen.
Je nach der Herausforderung durch einen wertherischen Blau-gelb-Anzug, einen Umschlagmantel oder einen Jägeranzug. Mit Puderperücke, mit Zweispitz, mit Dreispitz. Wenn Kunterkasten mehrere Spiegel auf-stellt, sieht er den Christian verfünffacht, den Asmus verzehnfacht, den Fürchtegott verzwanzigfacht, den Felix verhundertfacht, als Richard III mit Scheusalsfratze. Als Romeo, großäugig romantisch. Kunterkasten ist in der besten Gesellschaft, die er sich je herbeigewünscht hat. seiner eigenen.
Was für ein günstige Nase, schmal gesattelt, ein Kinn mit markanten Unterkanten, die in entschieden scharfem Winkel zu den Ohren hinauf streben. Während bei Langebehn dort etwas unentschieden Behäbiges gelauert hat, so etwas Hängerisches, Früchtegirlanden-Artiges, das in eine feiste Dreifachkinnhaftigkeit abgesackt wäre bei längerer Lebenszeit.
„Chrissssssstian, nu werd mir nich hoffärtig in deinen jungen Jahren !“
Die Stimme seine Mutter ist hinter ihm. Auf ihrem A sitzt ein quet-schiges O und reitet es kleiner. Nicht einmal Vokale kann sie ohne duckmäuserischen Hieb mit einem im Gaumen befestigten Kochlöffel ins Freie lassen. Draußen in der Wildnis, auf dem Floß hat er die Stimme der Mutter nicht vernommen, die Flucht vor ihr schien ihm zu geglückt zu sein. Hier in dem noblen Interieur ermahnt sie ihn auf einmal wieder. Sei dir ssssstets bewusssst, auf Passsssstorenkinder schaut die ganze Ssssssssstadt.
Und Eitelkeit vor Spiegelspieln will ihr am wenigsten gefallen. Im Pfarrhaus gab es nur Handspiegel, verschämt hervorgeholt, um zu sich vergewissern, ob der Scheitel rechtschaffen gezogen sei unter der Sonn-tagshaube und das Bäffchen rechtschaffen gestärkt.
Und doch gab es auch große Spiegel im Pastorenhaushalt. Sie taten nicht innen Dienst, sondern auf der Gasse und waren am Fensterrahmen festgeschraubt. Durch sie war zu überwachen, welche Pfarrkinder, welche Lüttjohanns und Tüttjohanns und Tütteljans und Petersens sich da drau-ßen der Tagedieberei des Flanierens hingaben.
„Unnütz auf der Gasse, das ischa Müßiggang. Und Müßiggang iss genauso Sünne wie Eitelkeit.“
Aber dein Sohn will eitel sein. Vanitas ist seine Profession, er hat sich einen Beruf erwählt in dem die Eitelkeit flackert wie der Docht in der Kerze. Sogar vor Hunden spielt er sich auf, er gibt lieber Doggen eine Vorstellung als Konsistorialräten. Doggen sind ein dankbares Publikum.
„Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
wenn unerträglich wird die Last - „
Die Grauen lauschen im Liegen, die Ohren gespitzt.
„Ihr schweigt ? Ihr habt mir nichts zu sagen ? Wie !
Verdien ich’s noch nicht, dass ihr mir vertraut ?“
Die Grauen klopfen ihm Applaus mit den Schweifen.
„Wenn wir das Land befreit, dann …dann legen…dann legen wir-“
Und als ihn der Text verlässt, und kein Strönebald da ist zum Einsagen, stöbert Kunterkasten in der Bibliothek eine Schillerausgabe auf. Zum Tell gesellen sich dort Diderot, Rousseau, Atlanten, Lessing, Himmelskarten, Spinoza, Swift, Swedenborg, Mattisons Gedichte und der Werther. Kun-terkasten gibt seinem Schiller Urlaub. Und als er auch noch eine Kerze findet, liest er sich stundenlang im Rinaldo Rinaldini fest.
Beim letzten Licht des Tages entdeckt er in einer spinnwebverhangenen Tiefe ein Himmelbett. Ein Himmelbett, allein für Kunterkasten ! Er klemmt, was er sich als Lesefutter ausgesucht, hat unters Kinn, Schlegels Lucinde und die Wahlverwandtschaften, Shakespeares Komödien in der Orginalsprache, und schleppt seine Trouvaillen unter diesen spinnwebi-gen Himmel, der Kunterkastens Bett überdacht.
Auf der Matratze erwarten ihn keine Pilze. Was ihn erstaunt, denn sie modert erdig wie Waldboden, und mit Waldböden ist er letzthin enger bekannt geworden als ihm lieb war. Es pieken ihn keine Tannenzapfen und keine dürren Zweige, er hat lange nicht mehr so verwöhnerisch weich gelegen, wenn je überhaupt. Großer Gott, Junge du kannsss dich doch nicht in fremde Betten lagern ohne Einladung, ischa Sünne iss das, Sünnnne ! zankt es von fernher. Aber da hat er sich schon wieder festgelesen.
In dem Buch, das auf dem Stapel zuoberst lag, Traité des trois impo-steurs, verfasst von einem Anonymus. Das Traktat von den drei Betrü-gern, vollgekritzelt mit vielen Randglossen und Ausrufezeichen, die ihn neugierig machen und durch die Seiten führen. Die ersten der drei Betrüger, liest er, waren Moses und Mohammed, die dem klütjohannisch dummbüddeligen Volk weis gemacht haben sie hätten mit Gott per-sönlich gesprochen und es damit zu Religionsstiftern brachten. Die Hun-de setzen sich erwartungsvoll um die Bettstatt, ihre Köpfe zu ihm herab gesenkt, als erwarteten sie, dass er seine Privatvorstellung fortsetzt und ihnen vorliest.
Der Sabber rinnt ihnen von den Lefzen, eine Tropfsteinhöhle aus Hundeköpfen erhebt sich über ihm. Weil er es versäumt hat dem Drei-stesten das Zusteigen zu verwehren, entern auch die anderen Sabberer freudejapsend die Matratze. Und wenn er eben noch von den Wolfsrudeln des Aberglaubens im Buche las, hat er nun leibhaftige Wolfskreaturen als Bettgenossen. Er fragt sich, ob er dem Gefressenwerden vorbauen kann wenn er den Sabberwölfen Besänftigendes vorliest, bis sie eingeschlum-mert sind.
Aber ihre Pranken wuchten auf seinen Unterarmen, er kann das Traktat nicht mehr halten. Er wird nicht erfahren, wer der dritte der drei Betrüger war, eine Dogge legt sich grunzend auf das Buch. Die anderen legen sich auf seine Beine, betten ihre Köpfe an seinen Hals, und Kunterkasten du-selt gemeinsam mit ihnen davon.
Im Traum wird er mit Erdbeeren beworfen. Sie sind klein, sie sind hart, aber sie zerplatzen sobald sie auf sein Gesicht treffen, und Glitsche rinnt ihm über die Backen. Erwachend, spürt er Fledermausflügel über sich. Flattern sie über ihm, weil sie ihn beobachten wollen ? Koten sie auf ihn herunter weil sie ihn fort ekeln wollen, Kunterkasten aus dem Chateau hinausscheißen ? Handeln sie auf Geheiß des Hausherrn, der sich bislang verborgen gehalten hat und nun den Eindringling durch seine geflügelten Gespenster zur Raison bringen lässt ? Ist das Haus doch bewohnt, und das Angeschmiegsamkeit der Hunde eine Falle ?
Die pressen sich eng an ihn, einer liegt quer über Kunterkastens Oberschenkeln, in Kunterkastens Armbeuge liegt ein Hundekopf. Er ist festgezwungen wie im Schraubstock, seine Nase ist prallvoll mit hündischer Ausdünstung. Ihr Speichel tropft seinen Hals entlang, auf sei-ner Brust tummeln sich ihre Flöhe und üben kichernd an ihm Invasion. Wenn sich nun auch noch Ratten dazugesellen, ist er ein bequemer Bissen.
Und über ihm nun auch noch Schritte. Wer geht da, der sich bisher nicht hat blicken lassen ? Wessen Sohlen scharren da ? Die Hunde, im Chor, schnaufen röchelnd. Sie schnarchen, damit er nicht wahrnehmen soll dass da oben hin und her geschlurft wird. Er räumt sich die Hundebeine und Hundeleiber vom Körper, steigt über das Gebirge von Hunden, sie schnarchen unter seinen Füßen weiter. Er streckt sich, bis sein Ohr die Decke erreicht und er Gewissheit hat : über ihm sind keine zwei Füße unterwegs, da sind viele Füße. Sie treten von einer Sohle auf die andere. Er ist über die Zeit, brabbelt man, was lässt er uns harren und macht uns zu Narren. Die Schuhspitzen werden ungeduldig aneinander gestoßen, es wird gehüstelt, es wird gescharrt, es steht eine Premiere an. haben Sie‘s auch schon vernommen, Allerhöchstdieselben haben sich angesagt, weil der Erste Held wird heute zum ersten Mal auftreten. Und alle wollen ihn sehen, alle, zuvörderst Allerhöchstdieselben. Der Prinzi-pal soll unbekannten Aufenthalts sein, seine Compagnie auf ihrer Irrfahrt verschollen. Der einzige Überlebende wird den Spielplan erfüllen.
Kunterkasten springt aufs Podium. Unten sitzt seine Majestät Franz II.
„Das Joch soll stehen, das uns zwingen wollte ? Auf, reißt es nieder !“
Kunterkasten, der Ehrenbürger der Großen Revolution.
„Kommt alle, kommt, legt Hand an, Männer und Weiber !“
Allerhöchstdieselben schwitzen bleich vor sich hin. Allerhöchstdiesel-ben getrauen sich nicht abzuhauen, es ist zu spät zum Davonstehlen, der Hof ist schon über alle Berge, die Stühle liegen kreuz und quer. Aus-sichtslos das Verdünnisieren durch die Wirrnis der umgestürzten Sessel, nicht einmal auf die Treue der eigenen Beine kann der Kaiser sich mehr verlassen.
„Brecht die Gerüste ! Sprengt die Bogen !“
Die Speckfalten flattern dem Kaiser in Ängsten, schützend hält er beide Hände vor die Nichtigkeit seiner Visage, beide. Er brauchte zehn Hände, um zu kaschieren dass da vorn dran an seinen gepuderten Schädel kein Gesicht angewachsen ist.
„Reißt die Mauern ein ! Kein Stein bleib auf dem andern !“
Kunterkasten bewirft den Kaiser mit Erdbeeren.
„Der Tyrann ist fort, der Tag der Freiheit ist erschienen !“
Die Erdbeeren sprenkeln rote Tupfer auf des Kaisers Visage. So gewinnt er wenigstens an Farbe. Aber der Kaiser will keine Farbe, er fürchtet sich vor Farbe. Er fürchtet sich vor allem vor Rot. Bei jedem Tupfer schluchzt er auf, greint um Gnade, seine Hände werden riesig, die Finger fahren aus ihnen heraus, des Kaisers Hände sind Fledermausflügel, der ganze Kaiser ist eine Fledermaus.
Und die mistet Kunterkasten ins Gesicht.

Am nächsten Morgen ist das Mädchen wieder da.
„Der neue Pfarrherr hat g‘sagt, man braucht Gott nicht fürchten.“
Sie traut sich nicht durch das Ruinengerüst hindurch, das einmal eine Tür war. Auch wenn ihr sein Vorname Fürchtegott keine Furcht mehr ein-flößt. Ihre Ziegen stehen hinter hier und betrachten neugierig Kunter-kasten.
„Und man steckt Gott auch nicht in einen Kasten“
„Hat das euer Pfarrer auch gesagt ?“
Statt einer Antwort lacht sie “fang auf !“
Sie wirft ihm ein Ei zu.
„Ich hab glaubt gestern, meiner Seel ! der Gnä Herr ist zurückkommen.“
„Der gnä Herr ?“
„Der is jung g‘wesen wie er fortgangen ist in den Krieg.“
„Gegen die Franzosen ?“
Das Ei ist hartgekocht, wie er beim Aufschlagen merkt.
„Und kommt so uralt z‘ruck, hab i denkt gestern.“
Sie lacht, weil er das Ei gierig mit den Fingern in sich hineinstopft und die ableckt, als klebten die Reste von drei, vier harten Eiern daran.
„Aber jetz san der Herr auf amal jung, also san Sie doch net der Gnä Herr. Tät der Herr Pfarrer sagen, wann er Ihnen sehn daad mit der Ra-sur.“
Und bei jetz hab i nix mehr lacht sie und patscht die leeren Händchen mehrmals ineinander.
„Aber sein Leib ist nimmermehr aufg‘funden worden.“
„Der vom Herrn Pfarrer ?“
Sie lacht. „A geh. Vom Gnä Herrn.“
Und wie viele Jahre soll das her sein ? Sie zählt es ein paar Mal an den Fingern ab, ohne Resultat. Rechnen ist nicht ihre Stärke. So bleibt es bei der Zeitangabe fuuuuuurchtbar lang.
„Dann kanns kein Krieg gegen die Franzosen gewesen sein.“
Dann wars halt ein Krieg gegen andere, irgendein so ein Krieg halt. Sie kennt sich da nicht aus, und das Gesind ist eh auseinandergelaufen. Das vom Gnä Herrn. Und Verwandte hat der Gnä Herr nicht gehabt ? Keine Antwort. Trotzdem, warum wohnt niemand hier ?
Weils hochherrschaftliches Eigentum ist.
„Und wer sich da dran vergreift, der hat eine Todsünd und das Höllenfeuer ist ihm sicher. Hat der vorige Herr Hochwürden immer g’sagt.“
„Steht du darum auf der Schwelle und traust dich nicht herein ?“
„Weil nur ein Gnä Herr ins Herrenhaus eintreten darf. Sagt doch schon der Namen.“
„Also bin ich ein Gnä Herr ?“
Keine Antwort. Am nächsten Tag bringt sie ihre Ziegen mit.
„Denen schmeckt das Gras, zart wie’s is, das was aus dem Grund da raus wachst.“
„Du meinst aus dem Parkett“.
Es wuchert zart in den Fugen des Estrichs, Kunterkasten hat es bisher übersehen. Durch die zerstörte Flügeltür ist der Samen ins Haus einge-drungen. Die Ziegen machen sich über das Gras her, sie bleibt draußen stehen. Die Hunde lagern sich und sehen gönnerisch zu; hier scheinen alle Wesen gut Freund zu sein.
Und was er, der Gnä Herr, erst zu den Erdbeeren sagt. Schmackige Erdbeeren, das ! Er hat sie noch gar nicht wahrgenommen, net der-g‘neisst, darum pflückt sie ihm welche, kniet sich ins Wuchergrün und ist unversehens über das hinweg gerutscht, was früher eine Türschwelle war.
„Goschn auf !“
Er muss den Mund öffnen, sie lässt die Erdbeeren hinein fallen, sie sind hart und schmecken bitter. Hat er nicht von Erdbeeren geträumt, die sich verwandelten in Fledermauskot ? Sie ist nun doch ins Haus geraten, und als er ihr das sagt, schreit sie auf.
„Pfuigack, du Schlankl !“
Sie fasst an die Zitzen der Ziege, die ihr am nächsten steht und spritzt ihm warme Milch ins Gesicht. Sie lacht über die weißen Spritzer, die sie ihm damit ins Gesicht malt, und steckt ihn an mit ihrem Gelächter. Er legt sich unter die Ziege und zeigt mit den Fingern auf seinen weit auf-gesperrten Mund. Immer weiter, immer zu, diesmal fühlt er sich ganz anders als bei Gmeinwiesers Kühen, schon weil Gmeinwieser nicht in einemfort gelacht hat bei seiner Milchzeremonie.
„Leidet der gnä Herr an so am Mordshunger ?“
Als sie fort ist, erbricht er Milch und Ei. Und auch die Erdbeeren, die in der Milch schwimmen.
Am nächsten Morgen hat sie einen Korb mit Brot, Ziegenkäse und Zie-genmilch dabei. Dass man das Haus nicht betreten darf, bei Höllenstrafe, ist weggewischt. Er hat keine Mühe, sie ins Innere zu führen, von den Grauen freundlich geleitet.
„Hochwürden der neue Pfarrherr hat nachg‘fragt, ob das Ihr wirklicher Nam ist, den was der Gnä Herr g‘sagt hat.“
Christian Asmus Fürchtegott Kunterkasten ?
„Gott wird in an Kasten g’sperrt weil er si fürcht sich so dass‘s kun-
tert !“
Prustendes Gelächter.
Wenn sie ihn geatzt hat, spielen sie Gott im Kasten. Er versteckt sich in den Tiefen des Hauses, sie muss ihn suchen, dann umgekehrt, und die Grauen sind voller Eifer mit dabei. Mit Gott darf man ruhig spielen, schnaubt sie, als er sie unter dem Himmelbett hervorzieht, aber niemals net mit der Jungfrau Maria. Das wär eine Todsünd.
Ob das auch der neue Pfarrherr gesagt hat ?
„Das mit der Jungfrau, das sag i.“
Ob sie sich denn auskennt mit dem Jungfrausein ?
„Probiers halt.“
Sie zerrt ihm erstaunlich schnell die Garderobe des fremden Gnä Herrn herunter, den fremden Rock, die fremden Seidenhosen, das fremde Che-misettl. Aber als Kunterkasten seine Leiblichkeit zum Einsatz braucht, reagiert die grade anders herum und scheidet per Durchfall aus, was er an Ziegenmilch und Ziegenkäse zu sich genommen hat.
Prustendes Gelächter.
Nackt und beschämt flüchtet er sich zur Literatur. Aus dem Stoß seiner Bettbücher greift er sich einen Band, der bereits aufgeschlagen dagelegen hatte und liest ihr aufs Geratewohl vor.
„Sie streicht ihm mit dem Füßchen übern Rücken;
Er denkt im Paradies zu sein.
Wie ihn alle sieben Sinne jücken !
Und sie – sieht ganz gelassen drein.
Ich küss‘ ihre Schuhe, kau‘ an den Sohlen,
so sittig als ein Bär nur mag ;
Ganz sachte heb‘ ich mich und schmiege mich verstohlen
Leis an ihre Knie – „
Er tuts. Möge seine Beschämung hier ein Ende finden. Er küsst ihre Haut, die schmeckt salzig, aber sie erwiderts nicht.
„Wie der Gnä Herr das so herausbringt aus seinem Mund…“
Ihm dämmert, dass sie sein Lesen nicht mit dem Buch in Verbindung gebracht hat. Dass man aus Büchern vorlesen kann, dass man die Buch-staben herausnehmen kann und in den Mund nehmen, was überhaupt Bücher sind und was Lesen.
Als hätte er alles aus sich selbst. Warum soll er ihr nicht den Glauben lassen, wenn sie ihm nur weiter Futter bringt. Sie krault ihm nicht einmal den Nacken, sie traut sich nicht mehr.
„Das ist wie wann gepredigt wird. Der neue Pfarrherr hat auch so eine Stimm. So wie eine Orgel is dem seine Stimm. So wie vom Himmel he-rab…“
Es ist die Stimme, die sie an Kunterkasten bewundert ! Seine Lautung, seine Zwerchfell-Atmung. Endlich einmal kriegts nicht mehr der Lange behn ab und der Prinzipal. Und aus einer heiteren Regung, denn er fühlt sich nun doch wohl aufgehoben, nackt mit einem nackten Mädchen in einem hochherrschaftlichen Bett :
„Vom Himmel herab triffts genau. Ich sollte ja auch mal Pastor werden.“
Was denn das für einer sei, ein Pass-Tohr ?
„Ein Hirt, wortwörtlich. Ein Seelenhirt. Ein Pfarrer.“
Der nicht heiraten darf ? Sie zieht die Beine von ihm zurück.
„Nicht doch, ein lutherischer. So einer der heiraten darf.“
Sie fegt aus dem Bett, rafft ihre Kleider. Ein Ungläubiger also ist er,
eine verlorene Seele. Sie bekreuzigt sich. Wenn sie das im Dorf erfah-
ren –
„Dann ?“
Keine Antwort. Die Grauen stehen dabei, mit hochgestellten Ohren, wundern sich über ihre Aufgeregtheit und werden daraus so wenig schlau wie Kunterkasten. Sie zieht sich ihre Kleider wieder an. Einer von den Grauen, als ob er ihn bedauere, leckt Kunterkasten ein Ohr. Der krault ihn, zum Dank.
„Naa, net schmusn mit dene.“
Denn die sind wie die Wölfe. Überfallen Hühnerställe, räubern Enten und Gänse. Wenn man sich wehrt, sagt man im Dorf, dann kommt ihr gnä Herr in der Nacht, mit seinem Kopf unterm Arm und klopft ans Fenster und wer ihn gesehen hat, steht nie wieder auf. Was der Gnä Herr für einer ist hat man erfahren von den Salpeterern, die dürfen in jedes Haus, mit Gelobt sei Jesus Christus stehen sie auf der Schwelle, langen ins Weih-wasserbecken und dann kratzen sie den Salpeter von den Wänden. Die dürfen das, die haben ein allerhöchstes Patent, weil sie den Salpeter brauchen für das Schießpulver bei der Armee. Beim Gnä Herrn aber war gar kein Weihwasserbecken, haben sie im Dorf erzählt, und wer kein Weihwasserbecken im Haus hat, der ist ein Lutherischer oder ein Calvinistischer.
Und wie die Salpeterer wiedergekommen sind, war kein gnä Herr mehr da.
„Bloß no seine Hunderln.“
Sie umschlingt ihn. Ohne ihre Kleider riecht sie gar nicht mehr nach Ziegen.
„Ich wüll net dass du auch auf amal verschwunden bist, so wie der Gnä Herr. Wirst sehn, der neue Herr Hochwürden macht dich christlich. Weil, der is selber a Engel.“
Wenns dunkel wird, nimmt sie ihn zur Abendmesse mit, er muss die Gewandung des Gnä Herrn ablegen, damit sie im Dorf nicht aufmerksam werden. Sie heißt ihn zehn Schritte hinter ihr hergehen und sich abwenden, wenn sie jemand begegnen. Es begegnet ihnen aber niemand, bis auf die Hunde, die ihnen anfangs das Geleit geben und sich dann zerstreuen in ihre Jagdgründe. Den Dorfleuten sind sie alte Bekannte, früher sind sie Seite an Seite mit ihnen als Treiber bei den Jagden des Gnä Herrn mitgerannt.
Jetzt steht das Jagdwild der Grauen in den Viehställen und die Treiber von damals tun Buße, indem sie nicht hinhören, wenn es im Todeskampf schreit.
Vorn am Altar, den Rücken zur Gemeinde, zelebriert der neue Pfarrer der ein Engel ist, zwischen zwei Messbuben. Was vom Kirchenvolk ver-langt wird, ist Kunterkasten in Bausch und Bogen fremd. Es ist an Marei ihn hoch zu ziehen, wenn man aufzustehen hat. Marei drückt ihn nieder, wenn man knieen soll. Sie singt für ihn, wenn man singen soll.
Die Messbuben trippeln die Altarstufen herunter, einer betätigt eine Handglocke, der andere ein Weihrauchfass. Der Pfarrer wendet sich zur Gemeinde, fordert sie mit angewinkelten Unterarmen zu etwas auf, was Kunterkasten schon wieder nicht versteht. Aber er zwinkert dabei Kun-terkasten zu.
Der Pfarrer ist Käpernick.

„Schling nicht. Schön Löffel nach Löffel.“
Käpernick hat einen Napf mit Haferbrei vor Kunterkasten hingestellt.
„Und dazwischen durchschnaufen und in dich hinein lauschen, wie’s durch die Speiseröhre hinunter sickert in den seligen Hafen deines Kindermagens.“
Die Dorfkirche hat just die rechte Akustik für die Stimme Käpernicks, des weiland Komikers. Kein Nachhall, keine tückischen Echos, sondern wohl gepolsterte Resonanz. Und bei jeder Vorstellung ist sie ausverkauft und voll mit geneigtem Schäfchenpublikum.
Für sich selbst hat Käpernick einen Braten auf den Tisch gestellt mit Knödeln auf einem dicken polsterkissekissen aus Sauerkraut gespendet, alles gespendet und vorgekocht, und daneben steht eine Kanne Wein be-reit. Auch gespendet.
„Patience, patience. Dir werden schon auch noch die Segnungen des Schweinernen zuteil. Mit Klößen ! Zuvörderst muss dein Magen lernen, dass er manierlich bei sich behält, was du ihm in gutem Glauben anver-traust. In diesem Sinne prost, Kleiner, auf dein Spezielles !“
Trinkt dem wiedererlangten Kumpan zu und sticht ins Schweinerne, dass es bis zu Kunterkasten spritzt. Die Pfarrstelle war vakant, warum sollte er nicht einspringen, der alte Einspringer, hat er doch auch früher schon als Heldenvater ausgeholfen oder als Geist von Hamlets Vater, wa-rum nicht zur Abwechslung als Gottesmann. Vakanz ist Vakanz. Und seine Amtstracht hat er auch gleich mitgebracht. Als Rest des Nachlasses der Wandercompagnie eines gewissen Propodonsky, kein Wort mehr über ihn, welche unselig in Liquidation gegangen ist. So ein Kostüm schwarz in Schwarz, bodenlang, mit weißem Bäffchenkragen.
„Der Dottore aus der commedia dell’arte“ weiß Kunterkasten auf Anhieb.
„Ein pfiffiges Bürschchen“.
Käpernick trinkt ihm wieder zu. „Du erzeigst dich schneller des Schweinernen würdig als gedacht.“
Käpernick hat sich also den Talar des Dottore umgehängt und als Kano-nikus aus dem Elsass eingeführt, von der Revolution verfolgt. Aber diese Bürokratenclique, es war die königlich bairische, sei hellhörig geworden : in wess‘ Betreff bitte verfolgt, monsieur le curé ? Wo doch Seine Majes-tät Napoleon soeben aufs freundschaftlichste ein Konkordat mit dem Papst unterzeichnet hat.
Da schien es Käpernick geraten, sein Geschick in Gottes warme Hän-de zu legen und über die Grenze hinüber ins urglaubensfeste Austria sancta zu pilgern. Als nunmehr zweifach Vertriebener, erst aus dem El-sass und nun von den von den bairischen Jakobinern. Und der hiesig re-gierende Bischof hat ihm gar die Aufwartung gemacht als märtyrer-ischem Amtsbruder.
Das nennt sich Lebensart ! So einen wie den Bischof wünscht sich je-des Ensemble fürs Fach père noble, aber nur alle heiligen Zeiten sind solche Bischöfe frei disponibel, weil sie eben ins falsche Fach geraten sind, trotz Lebensart, und stattdessen fürs Theater verloren und als Got-tesmänner besetzt.
Bei ihm, Käpernick, hat niemand bemerkt, dass er das Fach gewech-selt hat. Und hat er‘s denn gewechselt ? Er betreibt, was er immer schon betrieben hat, sein Bühnenhandwerk. Und das an allen Tagen des Kir-chenjahres. Der Spielplan ist so lang wie eben dieses Kirchenjahr Tage hat, und an jedem dieser Tage hat er die Bühne für sich allein ohne die Beschwer von Schminke und Souffleur und ohne dass er auf jemandes Stichwort warten muss, sei’s von dieser Tarantel Langebehn oder von diesem Erzschmieranten kein Wort mehr über ihn Propodonsky.
Und die Predigten ! Arien aller Arien. Monologe ganz vorne an der Rampe, auf einem himmelsnahen Über-Podest, das allein er erklimmen darf, Käpernick. Man nennt es Kanzel, und kein Prinzipal könnte es sich herausnehmen ihn von da oben hinter die Kulissen zu scheuchen.
Mundig zurechtgestückelt aus Schiller, Shakespeare, Plautus hat er sich, was er da oben darbietet, da ist der alte Komödiant wiederum ganz bei sich und Gottsched – ja, gerade Gottsched hat Erlesenstes für den Gottesdienst geschrieben und es selbernicht einmal gemerkt.
Freilich, wo Jupiter angerufen wird, pfropft Käpernick die Deifaltigkeit hinein. Und, statt Apoll den Herrn Heiland. Was Aphrodite gottschedete, dübelt Käpernick mit der Jungfrau Maria. Und niemals, bei der ewigen Seligkeit nicht, sind Pfiffe zu gewärtigen vom geneigten Publikum oder gar Verrisse in den Journalen.
„Schnullerchen machen dürfen ohne Unterlass, Kunterkasten, Schnul-lerchen !“
Und über die Geizknochen, die es mit einem Töpfchen Griebenschmalz genug sein lassen wenn sie ihrem Pfarrherrn spenden sollen, lässt er Blitze ins Holz der Kirchenbänke niederfahren wie bei Don Giovannis Höllenfahrt. Sodass den Schäfchen, die sich wegducken ein Zitterich an-kömmt als führen sie selbander in die Höllen. Und den Blitzen lässt er Donner durchs Kirchenschiff hinterher poltern, als hiebe Satanas höchst-selbst auf seine tiefgestimmteste Pauke ein.
Jüngst hat ein Schäfchen solcherwege eine Frühgeburt erlitten, in der Kirchenbank, und Käpernick hat‘s sogleich eingebaut in seine Predigt.
“Ei wer gesellt sich denn da zu uns ! Sein Geschrei verkündet, diese Welt ist ein Jammertal sofern man nicht so gut bei Stimme ist wie er. Lasst ihn uns darum willkommen heißen mit seinem eigenen Geschrei.“
Und in der Kirche haben sie alle geschrien, nicht wissend, dass diese Textstelle aus Kotzebues Posse Der Erpresser seiner selbst stammt, drit-ter Akt, vierter Auftritt. Und nach dem Geschrei haben sie alle geweint vor Rührung. Hosianna in excelsis !
„Wie ich noch mit dir bei der Schmiere war, Kunterkästchen, da durft ich immer nur den Saufaus geben, Falstaff oder den Narren in Was ihr wollt. Aber hinter der Bühne gab‘s nur Wasser für unsereinen, und den Wein solamente für den Herrn Prinzipal, kein Wort mehr ihn. Jetzt bin ich da vorn Pfarrherr en suite, und hinter der Bühne der Saufaus.“
Käpernick trinkt auf sich selbst.
„Dabei ist das Bewegungsrepertoire auf meiner Bühne sowas von spar-sam, da können einen die Kollegen nur beneiden drum. Die Gehwerk-zeuge brauch ich kaum noch zu bemühen, ein Schritt nach halbrechts, zwei Schritte halblinks, e basta. Der Rest von mir ist Statue. Die Arme sind gänzlich in Stoische gerückt, und die Hände ? Endlich im Ruhe-stand, die so viel haben fuchteln müssen. Schau ! Paarweise aneinander gewurstelt, die Flächen nach innen. Stets vorm Bauchnabel gefaltet, ob du nun schreitest oder stehst oder scheißt. Auch wenn ich den Segen schlage, schau ! Die eine Hand entlässt die andere nie aus dem Kuratel, allerwege sittsam bei mir bleiben, ihr fünf Fingerlein da drüben, sagen die fünf Fingerlein hüben, auf dass ihr nichts Übles verübt, ich weiß doch was euch alles zuzutrauen ist, ihr Schweine-Stengelchen, oh oh oh.“
Er belacht sich selber.
„O Fellatio et preces tibi, domine, laudis offerimus”.
Sein Latein ! Dass Gott erbarm, seine Gottesgelahrtheit ist so löchrig wie sein Repertoire an lateinischen Vokabeln. Aber das soll der Alte da oben sich selber hinter die Löffel schreiben. Noch nie hat Käpernick so wenig Zeit gehabt über ihn nachzudenken wie eben jetzt, da er ihn als Himmels-Prinzipal über sich hat. Miriaden Regie-Anweisungen hat er erlassen, statt sich auf den Dekalog zu beschränken ( zu dem es nicht einmal einen Souffleur brauchte ) und hinter dem end-end-endlos fortdauernden Gesinge, Gekniee, Wiederaufstehen, Weihwassertupfen, Bekreuzigen, Wiederhinknien, Schweine-Stengelchen hüten und Riten-Gereite verschwinden Offenbarung und Religion.
Wie zwei Statisten die man in der Garderobe vergessen hat und ihnen nicht einmal ein Kartenspiel da gelassen.
„Wofür zum Undank sie eines weit zurückliegenden Tages einfach ab-gehauen sind.“
Er belacht sich nun selber so sehr, dass er ein Taschentuch braucht um seine Tränen weg zu tupfen. Aus seiner Soutane kommt ein ganzes Bün-del zum Vorschein.
„Die Gemeinde überbietet sich darin mir Sacktücher zu regalieren, mit Monogrammen drauf, isses nicht eine Pracht.“
Das hier von der Witwe vom Bohaumilitzky, das von Müllersfrau, das von Serafin, die hat Röschen drauf gestickt, und von der Emmerenzia ein Herz Jesu sogar mit Dornenkrone, und das da von der Aloisia, Herrin über drei Kühe. Das will was heißen diesen Zeiten, wo -
Es wird ans Fenster geklopft.
„Ich muss mich jetzt meiner Seelsorge widmen…“
„In der Nacht ?“
„Grade in der Nacht, da schleicht der Einsamkeitsteufel in die Schlaf-kammern. Ich bin schier der letzte Mann im Dorf, die anderen haben die Werbeoffiziere weg gelockt.“
Er wedelt mit einem seiner Schneuztücher vor Kunterkastens Nase : „Es war dieses Schäfchen, das geklopft hat“.
Monogramm RL.
„Es bedarf des geistlichen Zuspruchs.“
Was werden die fünf Fingerlein davon halten, die doch stets über die anderen fünf Fingerlein wachen sollen ? Käpernick streckt sie aus und beschaut sie, als wärens Pfarrkinder, die in seinem Beichtstuhl knieen.
„Die haben spielfrei in der Nacht, Kunterkästchen. Im Bett bin ich nach wie vor Käpernick.“
Und niht Pfarrherr. Käpernick den Finger auf den Mund und versteckt Kunterkasten, ehe er das Pfarrkind einlässt, sündenbeladen.

Nach der Bucheckernkost, nach der Bettelkost, nach der Rohe-Kartof-felkost, nach der Ohne-irgend-etwas-zwischen-den-Zähnen-Kost und der Schonzeit mit dem Haferbrei wird Kunterkasten nun nahrhaft zuteil, was die Dörflerinnen ihrem Seelenhirten allnächtlich als Vorspeisen für zu erwartende Kissengenüsse ins Pfarrhaus bringen. Und statt einem Tisch-gebet gibt es als hors d‘oeuvre Betrachtungen über Gott im Lichte der Gaumenfreude.
Katzenbraten zum Exempel ! Käpernick ist nun von einem Hofstaat von Katzen umgeben und büßt ( seine Auslegung ) damit, dass er die Katze des Flößers hat verspeisen wollen. Ohne ein Rezept für deren Zubereitung parat gehabt zu haben. Das er nun, die Katzen und sich sel-ber fütternd, ausführlich erörtert. Soll er diese hier drei Tage lang in Essig legen oder fünf Tage in Rotwein ? Katzenfleisch ist widerständig gegen Zubereitung, man bedenke dass der Teufel in Darstellungen des letzten Abendmahles stets anwesend ist in eben ! Katzengestalt, und wer mag schon den Teufel verspeisen, zumal wenn er nicht genügend durchgebeizt ist. Zu bedenken sei auch, bei jeglicher Mahlzeit, dass bei eben diesem Abendmahl die Eucharistie als Zentralachse alles Katholischen gestiftet worden ist durch einen Gastgeber, der sich kulinarisch betrachtet hochgesteigert hat vom Heuschreckenverzehren über das Hochzeitsdiner zu Kana zum Darbieten seiner selbst beim letzten Hammelmahles, als gourmandises Summum.
Dies ist mein Fleisch und Blut hat er gesprochen, und die Evangelisten haben vor lauter Geschmatze und Fingergelecke ganz vergessen uns das Rezept mitzuteilen von diesem Hammel. So ist die katholische Kirche eine einzige cuisine grasse geworden.
Und wenn die Protestanten das erfahren, kommen sie alle herüber.
„Bloß die mit den grimmigsten Magengeschwüren bleiben noch um Luther und Calvin geschart weil sie nicht wahr haben wollen, dass ihre chronische Verstopfung von der Lehre diesen Herren herrührt.“
Wenn Käpernick nun aus dem Beichtstuhl zurück kommt und von anderen kirchlichen Verrichtungen, ist ein reichlicher Tisch gedeckt für zwei. Zuerst vom Pfarrherrn, dann von Knterkasten, der die landeseigene Küche schätzen lernt mitsamt ihren Mehlspeisen.
Zuerst indem er sie aufwärmt. Dann indem er sie selbst zubereitet.
„Hör dir das an.“
Drüben in der Kirche wird gebetet.
Ein dichter Frauenchor. GegrüßetseistgebenedeitunterdenWeibernund- gebenedeitseidieFruchtdeinesLeibesJesus.
Dann Stille, nein doch nicht Stille. Zwei, drei Greise krächzen.
DerHerristmitDir…
„Was hörst du da heraus ?“
„Dass es viel mehr Frauen gibt in deiner Gemeinde als Männer.“
„Wie recht du hast. Aber du solltest noch was andres raushören.“
Eine veränderte Melodik bei den Frauen. Seit Kunterkasten da ist, geht den Frauen der Fremde im Kopf um.
„Ich hörs ihnen an beim Beten.“
„Das ist doch kein Beten. Das ist Leiern.“
„Grade drum. Der Kopf bleibt leer, aber drunten im Uterus rumort es umso mehr. Die Weiber erhitzen sich an dir. Eine einzige hat dich erst gesehen und – naja - genossen, aber schon geisterst du in den Köpfen auch von den anderen herum. Und wie sie dich ausmalen, allen Respekt. Horch doch bloß -“
GegrüßetseistgebenedeitunterdenWeibernundgebenedeitseidieFruchtdei-nesLeibesJesus -
„Ein junger Hereingeschneiter, breit und blond, denken sie während sie beten, das ist hui. Wann kriegen wir ihn. Für den Stall, fürs Bett. Aber er ist ein Evangelischer, das ist pfui. Wann kriegen wir ihn, und das sagen sie nun schon laut, zum Kopfabschneiden.“
GegrüßetseistgebenedeitunterdenWeibernundgebenedeitseidieFruchtdei-nesLeibesJesus -
„Du gehörst schleunigst katholisch getauft.“
„Von dir etwa, Käpernick ?“
„Oho ! Devotion bitte ich mir aus vor dem geistlichen Stand, evange-lischer Jungspecht, Devotion !“
Kunterkasten hat das Marei entjungfert. So ist es dem Pfarrherrn vom Marei im Beichtstuhl anvertraut worden. Zwar, das Marei ist nicht die Schlaueste im Dorf, aber den Wert eines Hymens kennt auch und sie. Was damit zusammenhängen mag, dass ihre Mutter die Dorfhebamme ist. Sie hat zwölf Geschwister, und alle erzfromm.
„Da kommst du nicht um Einheirat herum. Oder es geht dir wie dem gnä Herrn. Von sind bloß noch die Doggen übrig.“
„Aber der ist doch im Krieg geblieben.“
„So hats ihnen der vorige Pfarrer als Wegzehrung mitgegeben für ihr schlechtes Gewissen.“
Derselbe vorige Pfarrer, der von der Kanzel herunter gefragt hat, wie lange das Dorf den ketzerichen Schandfleck noch dulden will. Dabei ist der Herr der Doggen nichts weiter als ein Bücherleser gewesen, ein Auf-geklärter, ein redlicher Illuminat.
„Kreuzbrav möchte man sprechen, wenn der Begriff nicht anderweitig schon besetzt wär.“
Der genauso wie Kunterkasten vergessen hat, dass er von Haus aus Protestant war. Und dazu noch Bücherbesitzer in Französisch und Englisch. Wo doch die Kaiserin Maria Theresia den Gebrauch der engli-schen Sprache verboten hat, zum Heile ihrer Untertanen. Eben weil in dieser so viele Wühlschriften verfasst worden sind.
„In diesem Weihrauchwinkel darf seit Maria Theresias Zeiten kein Erdhamster mehr protestantisch sein, keine Grille ein Freidenker, kein Engerling ein Reformierter. Und dazu noch seine Ländereien unter den Pächtern aufteilen und den Dorfkindern aus dem Rousseau vorlesen, wo sie noch nicht einmal den Katechismus buchstabieren können.“
Satanische Menschenfallen ! Freimaurerisches Kindergift ! Und so heimlich wie der Gnä Herr ein Gottseibeiuns war, so heimlich ist er ab-handen gekommen. Und die Schäfchen, auf dem von ihm geschenkten Grund, haben einen Grund mehr, die Evangelischen zu hassfürchten. Apage satanas !
„Und mein Herr Amtsvorgänger ist dafür Bischof von Sankt Pölten geworden.“
Es wird ans Fenster geklopft. Diesmal wird nicht Speisung hereinge-reicht als Vorausgabe für nächtliche Seel- und Leibsorge wie sonst am Mittag sondern die Nachricht, dass einer der letzten Männer im Dorf der letzten Ölung bedarf. Der Eustachius Lechner, Überlebender der Schlacht von Loiben, wo die Österreicher ausnahmsweise einmal die Sie-ger waren.
Um den Preis, dass nicht mehr viele, so wie der Lechner, von ihnen heimgekommen sind. Und auch der Lechner nur als Dreiviertelleiche. Hat ihm die Verwandtschaft den Weg ins Jenseits geebnet, vor der Zeit, wie sie gesehen hat, dass er keine Mistgabel mehr wird halten können ? Die Bauern lernen schnell vom Militär, wie man einen Punkt hinter einen Satz macht, wenn man nur einen Schießprügel zur Hand hat.
Käpernick nimmt Kunterkasten alle heiligen Eide ab das heilig kannst du gleich wieder streichen dass er sich nicht am Fenster blicken lässt, noch die Türe öffnet noch gar die braven Pfarrhausbalken mit seinen Stimmübungen ängstigt.
Als Käpernick von seinem Versehgang zurück kehrt, schwitzend, und in die Rolle des Geistlichen Herrn schon des beträchtlichen Leibes-umfangs wegen unwiderleglich hineingewachsen, weist er Kunterkasten gleich zwei Schneuztüchlein vor. Die Aspirantinnen, die sich für diese Nacht in seinem besonderen Beichtstuhl angemeldet haben, während er ihren Gevatter für die letzte Reise bereit macht. Ein Monogramm SR, rosa und hellblau gestichelt und mit einem Herz Jesu verziert, das Ver-gissmeinnicht umrahmen.
„In meinem Beichtstuhl ist geweht dass du einer bist, der unbeschol-teten Jüngferleins Schweiniges aus schweinsledernen Büchern vorliest.“
Die das im Beichtstuhl abgeladen haben, möchten selber Schweiniges vorgelesen kriegen. Wer ein Buch aufschlägt, bleibt ihnen trotzdem des Leibhaftigen Lehrbub. Eben dies verschafft ihnen den Kitzel, wo kaum noch ein Mann ist im Dorf, kein Analfabet und kein Lehrbub des Leib-haftigen.
„Oh Kummerkästchen, lobpreise die allerheiligste Kirche, dass du so wohlbehütet mitten drin sitzt in ihrem gnadenvollen Schoße, du Sit-tenstrolch.“
Käpernick parodiert nun bereits sich selbst, und den Bischof von Sankt Pölten mit dazu, den Blick zum Himmel und die Iris weit oben wie der heilige Aloysius, damit das Flackern der Weihekerzen in den Aug-äpfeln üppig wiederscheine. Und, den Blick wieder senkend auf seine zehn Pfaffenfinger, die sich gegenseitig bewachen : dem Marei ist heute Nacht der Gnä Herr erschienen. Am Stallfenster, so dass sie ihn vor lau-ter Fliegendreck erst gar nicht erkannt hat, und in der einen Hand hat er aufgeschlagen ein Buch gehalten, betitelt, Traktat von den drei Be-trügern.
„Aber das Marei kann doch gar nicht lesen !“
„O mein Sohn, du wirst dich nie in die Dorfgemeinschaft einfügen. Du sollest besser fragen, was er in der anderen Hand gehalten hat.“
Nämlich den eigenen Kopf. Die Hund werden auch bald keine Köpf mehr ham, da ist das Marei sicher, unter Tränen, und sie will den Gnä Herrn bittschön ausgehändigt kriegen.
„Ich frage : welchen ? Und sie trenzt noch mehr. Sie trenzt ganze Liter, obwohl sie hierzuland immer noch in Unzen rechnen. Und ich sage : sie-he Mägdlein, da sei die allerheiligste Jungfrau vor dass ich euch das Tier mit den zwei Rücken machen lasse. Mit der Bibel zu sprechen, auch wenn das Marei von der Bibel keinen Schimmer hat weil sie stattdessen hierzulande nur den Katechismus kennen mit dem Imprimatur des hochwürdigsten Bischofs von Sankt Pölten vorne drin. Aber dass ich auf das Sakrament der Ehe abgezielt habe, das geht ihr schon ein. Denn ohne Ehsakrament ist die Leibesübung mit den zwei Rücken die pfuipfuige Todsünde Unkeuschheit und fällt unter Punkt sechs im Beichtspiegel. Da hat das Marei so geflennt, dass ich ihr eins von meinen Tüchlein geborgt hab. Zum Glück hat sie vor laut Geflenne das Monogramm nicht erkannt. Das von ihrer Ehrwürden Frau Mama.“
Der Hebamme.

Im Dorf wird getrommelt und gepfiffen. Fünf Füsiliere vom Regiment Palffy stapfen durch den Staub der Dorfstraße herauf und nehmen Auf-stellung zwischen Ziehbrunnen und Schmiede.
Was gibts noch zum trommeln, schimpfen die Witwen, der Meinige ist schon ins Grab getrommelt. Keine Flöte, keifen die Frauen der im Feld Stehenden, lockt mehr einen Kerl weg von der Mistgabel, weil die Misgabeln werden eh schon alle von den Weibsbildern gehalten.
So bleibt dem Werbefeldwebel der Zuschauerraum kärglich leer. Bis auf ein paar barfüßige Buben vorne und zwei Alte hinten, die es nicht mehr verkraften, als Gaffer zu den Soldaten hin zu hatschen. Also begaf-fen die Alten die militärische Selbstanpreisung von ihren Hausbänken aus und wie der Werbefeldwebel herzählt, was es einem wackren Burschen alles einbringt, wenn er seinem angestammten habsburgischen Kaiser zur Hand geht gegen den angemaßten hergelaufenen fremdländischen ka-tzelmacherischen Jakobiner, der sich Kaiser schimpft und da dafür seine Straf haben muss.
Verschwenderischen Sold lässt Seine Majestät der unsrige Kaiser über einen solchenen regnen. Weite Reisen auf des Kaisers üppige Kosten sind ihm garantiert. Schulter an Schulter mit reichlichem Speisevorrat in Ge-päckwagen, für die nur die breitkreuzigsten Bräurösser rekrutiert werden, dermaßen üppig ist die Bürde aus eingeweckten Marillen, Marillen-knödeln, Marillenschnaps und Banater Schinkengeräuchertem.
„Mit welch allem Seine Majestät seine Buam verköstigt an der Frontlinie hin zum franzmännischen Landräuber und sich dabei stetig erkundigt bei, obs auch gemundet hat und obs am End nicht etwa versalzen war. Nicht zu reden von der feschen Uniform mit den Knöpfen aus Messing. So dass de Madln bloß aso rennen.“
Nur den letzten Satz fügt der Werbefeldwebel aus eigenem bei, quasi eigenmündlich, zum sonst Vorgedruckten. Das andere liest er ab von einem miltäramtlich altgedienten, an Faltungen reichen Schriftstück, stockend und über jeden Beistrich stolpernd, so dass er die Wegstrecke des bisher Abgelesenen immer wieder zurück stolpern muss.
Die Marillenknödel wie die fesche Uniform und das Banater Schinken-geräucherte werden so mehrfach ins Treffen geführt und auch des Kaisers Erkundigung nach der Versalzenheit, ohne dass auch nur eine einzige Stallfliege den Misthaufen verlassen und sich zur Musterung gemeldet hätte. Der Trommler und der Pfeifer starren die barfüßigen Buben an, die wiederum sie anstarren und sich von der Darbietung nichts mehr erwar-ten.
Kunterkasten, als Kollege im Darbietungsgewerbe, dauern die Soldaten. Was für eine schäbige mise-en-scène ! Wenigstens der Oberkörper gehört aufgerichtet, und die Schultern zurück. Beine ins Gerade und Kinn vor !
Der Appell des Kaisers, wo er doch vom Kaiser ist und nicht vom Bäckermeister Piesecke, gehört übers Terrain geschmettert wie ein Clai-ron. Auch wenn der Kaiser seinen Appell formuliert hat, als wär er der Bäckermeister Piesecke. Also auswechseln den Text -
„Wohl auf Kameraden,aufs Pferd, aufs Pferd !“
Jetzt starren Trommler und Pfeifer nicht mehr. Die Buben auch nicht.
„Öha.“
„Nichts da öha. Sprech Er nach. Wohl auf Kameraden,aufs Pferd, aufs Pferd“.
„Mir san aber von de Fußtruppen, junger Herr.“
„Ist auch bloß symbolisch gemeint. Aber von Friedrich Schiller.“
„Bei welchm Regiment stehtn der ?“
Wenn das Dorf schon eine Bühne ist, warum soll sie allein Käpernick gehören. Kunterkasten spürt auf einmal, dass der Erste Held wieder in ihm rumort. Er nimmt dem Trommler die Schlägel fort, schlägt aufs Fell und skandiert :
„ ‚Drum frisch, Kameraden, den Rappen gezäumt,
Die Brust im Gefechte gelüftet !
Die Jugend brauset, das Leben schäumt,
Frisch auf ! eh‘ der Geist noch verdüftet.‘ Nachsprechen !“
Aber den Werbern liegt das Rhetorische nicht. Der eine hat vorne Zahnlücken, der andere lispelt weil er einen Durchschuss die Backen hat. Sie sind halt zweite Wahl, auch mit dem Sehen klappts nicht bei ihnen, der eine ist farbenblind und würde die Franzosen nicht von den Öster-reichischen unterscheiden können. Dabei beide sind sie hierher abkom-mandiert weil sie noch am ehesten was hermachen vom ganzen Regi-ment.
Das liegt hinterm Dorf. In einer Mannschaftsstärke, die als eine lückenhafte zu bezeichnen ist und mit einer Ausrüstung, von der der große Bonaparte am besten keinen Wind kriegt.
Kunterkasten trommelt. Auf dem Dorfplatz ist Hochwürden Käper-nick erschienen. Er führt das Marei an der Hand, als wäre sie nicht Braut, sondern Schulkind.
„Und setzet ihr nicht das Leben ein,
nie wird euch das Leben gewonnen sein.“
So einer wie der junge Herr muss standepede ein Kaiserlicher werden, begeistert sich der Feldwebel. Der Feldwebel ist imstand und legt auf das Handgeld noch einen Batzen drauf.
„Maul gehalten ! Mitgemacht !„ kommandiert Kunterkasten und haut auf die Trommel dabei.
Gratulatiere, Kunterkasten, du hast ja eine Kommandostimme ! Und der Feldwebel, dem das Trommeln in die Knochen fährt, hat einen ge-funden, der nicht als Erstes gleich nach dem Sold fragt. Mithin, der Feld-webel wird doch nicht so arg viel draufzulegen haben.
„Und setzet ihr nicht das Leben ein,
Nie wird euch das Leben gewonnen sein.“
Käpernick klatscht in die Hände. Dazu muss er das Marei loslassen, das auch in die Hände klatscht. Man muss allzeit tun, was der Hochwürden Pfarrherr tut. Aber kaum aufgehört mit dem Klatschen, weint sie wieder.
„Da siehst du“, lacht der Hochwürden, „als Schauspieler feierst du überall Triumphe, bloß nicht auf dem Theater“.
Die Werbesoldaten erfüllen ihre Dienstpflicht, trommeln und pfeifen. Und spielen den barfüßigen Buben auf, die dazu um den Ziehbrunnen herum exerzieren, Holunderstecken geschultert. Dann um die Schmiede herum, dann um den Apfelbaum am Dorfanger. Dann wieder von vorn bis sie einen Drehwurm kriegen. Die beiden Alten auf ihren Bänken schultern ihre Stecken und belassens dabei nur mit zu wippen, im Sitzen.
Ein militärisches Tableau, das sich sehen lassen kann. Es wird eine be-lobigende Gratifikation herausschauen für den Feldwebel. Siegreich und ohne Einsatz von Gewehrkolben hat er einen ausgehoben, der stattlich, jung, von Leibeskraft ist, und als Zuwaage auch noch obergescheit im Hirnkastl.
„Der bringts zum Fähnrich no bevor der Franzos überhaupt zum Schi-assn kummt. Und i bins der was eam verholfen hat zu aaner gloriosen Carrière bis hinauf zum…zum …“
Der Feldwebel versucht sich nicht weiter auszumalen, bis wohin der von ihm gestiftete Aufstieg den Frischrekrutierten tragen wird. Er kennt sich selber nicht aus im Sonnensystem der hohen Ränge. Die kennt er, der ewige Fußsoldat, nur aus der Perspektive der schmutzstarrenden Pferde-bäuche. Denn wer oben ist im Offizierskorps, dem stehen von der Natur und vom Kaiser aus sechs Beine zu, zwei in Stiefeln und vier in Hufen.
Das Handgeld wird ausbezahlt, der Feldwebel kramt es wichtigtuerisch aus seinem Brustbeutel ( abgewandt von den Seinen, damit die nicht sehen wo genau auf seinem Feldwebelbauch er es verwahrt), und Kun-terkasten muss eine Unterschrift leisten. Der Feldwebel knickt das Papier, damit der Neue nicht sieht, wie weit die Daten der anderen Anwerbungen schon zurück liegen.
Aber dass da lauter Kreuzchen stehen, sieht Kunnterkasten dennoch. Lauter christliche Motive aus Analphabetismus. Nur er, der Pastorensohn, malt kein Kreuzchen, sondern schreibt seinen Namen hin, mit allem Zu-behör. Und als Kontrakt mit dem Kaiser Franz. Der Feldwebel buchsta-biert :
„Christian…Asmus…Fürchtegott…Felix. Respekt ! Aso vui Namen kann sich der junge Herr leisten.“
Dann wird salutiert.
Der Feldwebel legt die Hand an den Zweispitz, der Pfeifer steckt seine Flöte in die Montur und salutiert auch. Der Trommler stellt seine Trommel neben sich und salutiert auch. Die Dorfbuben nehmen ihre Holunderstecken in den Präsentiergriff und salutieren auch. Und auch die beiden Alten da hinten auf ihren Hausbänken salutieren, wenn auch nur im Sitzen.
Kunterkasten merkt, dass nun er an der Reihe ist und salutiert.
„Willkommen in der Armee seiner Apostolischen Majestät des Kaisers
Franz des Zweiten ! Abmarsch !“
Der Pfeifer zieht seine Flöte hervor und bläst. Der Trommler will sich seine Trommel wieder umhängen, aber das hat bereits der eine der Dorf-buben getan. Mit seinem Stecken schlägt er aufs Trommelfell. Und setzet ihr nicht das Leben ein nie wird euch das Leben gewonnen sein.
Die Buben sinds, die mit dem Marschieren anfangen, der Feldwebel hinterdrein. Er lacht. Einen Offiziersanwärter präsentiert er da dem Regiment, einen mit vielen Vornamen, wie sie sonst nur Erzherzöge sich leisten können.
Hinter dem Pfeifer reiht sich auch Kunterkasten ein. Es geht, angeführt von den Buben, einmal um den Ziehbrunnen herum. Der Hochwürden zieht Kunterkasten aus der Marschformation und in die Kirche, ist der doch nunmehr reif für den allfälligen Segen. Vor dem Altar liegt aufgebahrt der Eustachius Lechner.
Der Pfarrherr führt Kunterkastens Hand zu Käpernicks rechten Schien-bein.
„Holz.“
„Ich habe auch einmal den jugendlichen Held angestrebt in meiner Knäbleinzeit. Und auf die Bühne stürmen wollen wie der Gott Merkur, hinter dem die Schwiegermutter von Macbeth her ist.“
So wie jetzt Kunterkasten.
„Wie aber, wenn einem ein Bein fehlt ?“
Käpernick hat sich anwerben lassen, von der holländisch-ostindischen Compagnie als Marinefüsilier. Schon in der Ausbildung ging er eines Schienbeins verlustig, weil ein anderer soeben Angeworbener als Kanonier sein Schießgeschäft nicht so umsichtig erlernt hat wie der junge Käpernick sein Exerziergeschäft. So blieb Käpernik das Avancement bei den Marinefüslieren versagt. Beispielsweise zum Colonel, beritten ver-steht sich, nicht zu reden von den Schärpen und Auszeichnungen, für die sich seine Tonnenbrust so trefflich angeboten hätte. Es blieben ihm nur zwei Wege offen : ins Unterdeck zum Kartoffelschälen und einbeinigen Krautstampfen oder das Stampfen auf die Bühne, auf der sich auch ohne vollzählige Gliedmaßen Staat machen lässt.
Die Frauen im Dorf störts nicht, die schnallen sich die Prothese vor den Bauch und lachen der Herr Hochwürden Pfarrer hat vorweg gebüßt für sein jetziges Sündigen indem er Gott an Haxn geopfert hat, im Himmel kriegt er‘n wieder, hosianna ! Also lass uns umso herzhafter sündigen. Noch einmal drauf auf mich, Einbeiniger.
Dabei ist das Bein gar nicht im Himmel, sondern in der Hölle, wo der Teufel drauf herum kaut.
Käpernick spürt es, wenn er seinen Weinkater hat.
„Und du Wildsaufrischling mit dem Verstand einer Spitzmaus, du fährst auch zur Hölle, aber das schon zu Lebzeiten, wenn du dich in eine Armee hinein scharmutzieren lässt. Und es werden verdammt viel Armeen gebraucht werden demnächst, darauf lass ich nicht nur einen, sondern fünf hintereinander.“
Denn es stehen viereckige Zeiten bevor, durch die der gemeine Mann in Marschformation wird trotteln müssen, viereckig wie die Fichten-schonungen, die man neuerdings anlegt. Und die zum Verfeuern umge-hackt werden, Stamm um Stamm, Mann um Mann.
Nur Käpernick ist von Gott eingesetzt ( rasch ehe auch der sich hat mustern lassen als Gott der Schlachten ) damit la gioa divina, sprich die Leibesfreuden nicht auch noch rekrutiert werden.
„Und der heilige Ungehorsam !“
Draußen wird immer noch getrommelt und gepfiffen.
„Bet für mich.“
„Du weißt doch, dass ich grad das nicht kann. Den Falstaff spielen, das kann ich, furzen dass der ganze Saal quiekt, das kann ich - aber mit dem Prinzipal persönlich parlieren …“
Er weiß ja nicht einmal, ob der weiß, dass er sein, Käpernicks Prinzipal ist. Er hat ihm noch keine Regieanweisung zukommen lassen. Aber auch keinen Tadel.
Der Tote liegt und schaut wächsern drein, man hat ihm die Hände ge-faltet. Seine fünf Finger der Linken sind in die fünf Finger der Rechten gesunken, bei ihm gibt es nichts mehr zu bewachen. Fliegen flanieren auf seinem Nasenbein auf nieder und falten ihrerseits die Hände.
In der Nacht darauf brennt das Herrenhaus, niemand aus dem Dorf kommt löschen. Als das Marei gerannt kommt, hat der Hochwürden nur mitzuteilen, Kunterkasten sei mit den Soldaten abgezogen.

Die Janitscharen marschierten, die Janitscharen bliesen, die Janitscharen rührten die Schellenbäume, aber die Schlacht war weit von ihnen fort-gerückt, der Heerhaufe hinter der Janitscharenkapelle war längst abge-schwenkt, die Befehle des osmanischen Generals verfehlte sie denn sie waren ja des Türkischen nicht mächtig, aber die Janitscharen marschierten weiter, trommelten, bliesen, schellenbaumten, marschierten stracks hinein in die Donau, ertranken nicht vor lauter Pflichtgefühl, marschierten nur langsamer nun voran -

Pralle Sonne bescheint wohlgefällig den Leichenzug, das ganze Dorf ist dabei. Auf den Sarg ist ein kaiserliches Fahnentuch gelegt worden und darauf ein Ordenskreuz, das dem Lechner verliehen wurde im Namen des Kaisers, als er blessiert im Namen des Kaisers heimgekehrt ist als einer der Wenigen, die von des Kaisers Schlacht bei Loiben noch haben heimkehren können.
Der Leichenzug muss auf dem Weg zum Gottesacker durch das Spalier
des Regiments.
Das Regiment hat das Dorf umstellt auf der Suche nach ihrem neuesten, aber bereits abgängigen Rekruten, der – so hat der Feldwebel im Biwak herumerzählt – das Offizierspatent schon so gut wie sicher mit sich in seinem Tornister herumträgt. Die Füsiliere haben mit Bajonetten in den Heuschobern nach ihm gespießt, haben heldenhaft Misthaufen angegriffen, Kunterkasten zwischen Hühnern und Gänsen aufzuspüren versucht, Glockenstuhl und Abtritte infanteristisch durchkämmt, aber den ausgebüxten Kameraden bis dato nicht gestellt. Den Unmut darüber kriegten die Hühner zu spüren, die vorzeitig an ihren Bajonetten verblutet sind.
Letzter Zufluchtsort kann nur noch der Trauerkondukt der Dörfler sein.
Den Messbuben, der die Karre mit dem Sarg schiebt, lassen sie noch durch. Der Sarg mit dem toten Kameraden – ein Fahnentuch, und auch noch ein kaiserlicher Orden oben drauf ! Haltung ! - nötigt ihnen ein Salutieren ab, und der Pfarrer, der hinterdrein geht, eine Bekreuzigung.
Aber um den Zug der Bauern dann stellen sie sich zu einem engen Spalier.
„Abteilung halt, Visitation !“
Hat der Deserteur sich womöglich ein Schafsfell übergeworfen und hatscht als Tattergreis mit ? Hüte werden von Köpfen gestoßen, an Bärten wird gezaust, bei kreischenden Frauen wird unter den Röcken gefahndet. Und alle werden sie beschimpft.
„Der Napoleon braucht goar net mehr einmarschiern, es treibt si eh scho Feindg‘sindel rum mehra als wia gnua. Gfraster ös alle mitanand !“
Und lässt sie in der prallen Sonne stehen Aber kein Kunterkasten kommt zum Vorschein. Aus der Verschwundenheit heraus fällt sein Schatten trotzdem auf den Münzkasten des Regiments. Das Handgeld das ihm ausbezahlt wurde, ist ebenso entsprungen wie Kunterkasten selbst aus der Bilanz, die der Werbe-Feldwebel abzurechnen hat. Lieber möchte der als Gemeiner allein gegen die vereinigte grande armée ausrücken, mit einem Haselstecken bewaffnet, als einrücken zum Oberst mit diesem Loch in der Kasse.
Wenn der Pfarrer an der Friedhofsmauer angelangt ist, seiner Gemein-de weit voraus, die immer noch in der Sonne stehen muss, hat er für den Messbuben einen Auftrag und ein Buch.
„Geh da hinein und sprich dieses Gebet.“
„Du bist zur Ewigkeit geboren“ liest der Bub aus dem Buch „für eine hehre Welt bestimmt. Dein Leben geht nicht ganz verloren / wenngleich das Grab den Leichnam nimmt.“
„Fein machst du das. Sprich es dreimal, das Ganze. Am besten, sprich es siebenmal. Damit es auch gewisslich wirkt.“
„Damit was wirkt, Herr Hochwürden ?“
„Man nennt es Grabaufwärmen. Damit der Lechnervater es nicht so kalt hat in der Grube.“
Später, wenn die Trauergemeinde nachgekommen ist, bewundert sie, wie würdig ausgesteift der Messbub am offenen Grab amtiert. Und es wärmt.
„Du bist zur Ewigkeit geboren / für eine hehre Welt bestimmt / Du bist zu groß für diese Zeit. / So lebe für die Ewigkeit.“
Sobald der Bub hinter der Mauer verschwunden ist, klopft der Pfarrer auf den Sarg. Das Fahnentuch rutscht herunter und nimmt den Orden mit sich, denn der Deckel wird von innen angehoben. Der Pfarrherr hält den Deckel der Länge nach angewinkelt, damit Kunterkasten herauskriechen kann. Zu der Seite hin, die den Dörflern und Soldaten abgewandt ist. Als Kunterkasten die Beine auf dem Boden hat, will er Käpernick helfen Steine in den Sarg zu laden.
„Abgang, Kollege ! Gib toute de suite die Bühne !“schwitzt der Pfarr-herr und wirft mit der Totengräberschaufel in den Sarg, was der steinige Weg nur hergibt.
„Halt dich immer an Friedhofsmauer lang. Danach musst du auf alle Viere, so kriechst du in den Hohlweg. Dann siehst du linker Hand eine Erlenschonung - “
Als Kunterkasten schon weit entfernt ist und im Schutz der Erlen-schonung angekommen, dreht er sich noch einmal um und winkt.
„Gott sei mit dir“ murmelt Käpernick. Sehr leise, denn nun steht der Messbub wieder neben ihm.
„Oh… verzeih den Versprecher, du da oben. Ich hab sagen wollen toi toi toi.“
Später, als die Dörfler den Karren und den Sarg über die Schwelle des Tores zum Gottesacker lupfen und der Verewigte endlich in die Erde gesenkt wird, da wundern sich die Bauersleute, wie schwer der Eustachius Lechner seit seinem Hinscheiden geworden ist. Dein Leben geht nicht ganz verloren / wenngleich das Grab den Leichnam nimmt. / Du bist zu groß für diese Zeit. / So lebe für die Ewigkeit !

Die Doggen folgen Kunterkasten noch eine Weile und stoßen ihm dabei ihre Schnauzen freundschaftlich in die Kniekehlen. Auf dem Grau ihres Felles hier und da die hellen Strähnen der Spinnweben, die Rücken-haare versengt vom Feuer. Sie können nicht lange mithalten, ihre Pfoten sind voller Brandblasen, einer nach dem anderen legt sich nieder, und alle schauen ihm nach, wie er zwischen den Bäumen verschwindet.
Dass die Hunde ihm Reisegefährten mitgegeben haben zur Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit wird er erst spüren, wenn er schon weiter ge-walzt ist. Ihre langen Zungen hängen heraus wie Sacktücher, die zum Lebewohl und Nimmerwiedersehen geschwungen werden. Weil sie keine Tränen haben, trieft ihnen zum Adieu übergenug der Sabber.

Strönebald wischt Schweiß und Dreck so gut es geht an dem schwarzen Lederpanzer ab, der seine Schürze ist. Die Schürze ist viel zu gewichtig für ihn. Sie würde ihn niederziehen, wenn sie nicht ihrem langen Arbeits-leben so steif geworden wäre, dass ihre Kanten, die auf dem Boden auf-stehen, Strönebald abstützen wenn ihm schwach wird.
Er darf sie tragen, weil er Gehilfe eines Schmiedes geworden ist, dessen Gesellen in den Krieg gegen Napoleon befohlen worden sind jetzat kemman d’Schmied und haun eam an Vorschlaghammer auffa, dem französischen Falott.
In der Esse brennt tagaus tagein ein arbeitshungriges Feuer, als wären die Gesellen immer noch da und lässt Strönebald alle Kälten vergessen, die er durchgestanden hat. Aber Strönebald vergisst auch nicht, die gestrickten Unterzeuge der Schwester Cypriana vor den Funken in Sicherheit zu bringen, wenn er der Schmiedehitze wegen eins nach dem anderen ausziehen muss Nie würde er die Dreckhände an ihnen ab-wischen. Denn Strönebald braucht reine Finger, wegen des kostbaren Werkstücks, das nun fertig gewalzt verschraubt und verlötet ist.
Willkommen in der Welt der Dinge, Blechkind. Willkommen in der Welt der Klänge. Eine Schönheit bist du nicht gerade, elegant bist du auch nicht. Bei Hofe würdest du brutta figura machen und ausgelacht werden. Und einen Namen hast du auch noch nicht.
Kleiner als eine Flöte, dabei ist die das kleinste Instrument im Orchester. Um dich zum Klingen zu bringen braucht es keine Finger-fertigkeit. Nur zwei Hände zum Halten und zwei Lippen zum Blasen.
Wenn Strönebald bläst, lassen sich eine Flöte vernehmen wie sie der König von Preußen für ihn gespielt hat, als er noch Estrebaldo war. Dazu eine Maultrommel, eine Tröte, eine Maultrommel und Cyprianas böhmi-sche Harfe. Was Strönebald da zusammengesetzt hat, ist der Enkel eines Dudelsacks. Unter den Großeltern muss eine Orgel gewesen sein, und Strönebalds Lungen sind dazu der Blasebalg.
Ein schmächtiger Blasebalg, denn Strönebalds Kreatur ist nicht länger als eine Hand mit ausgestreckten Fingern
Der Meister Schmied sieht, dass hereingeschneiter Gehilfe dicke Blase-backen hat. Der Schmied ist taub vom Donner des großen Schmiede-hammers, mit dem er aufgewachsen ist und der auch jetzt, angetrieben vom Wasser des Mühlkanals, keine andere Musik duldet als seine eigene.
Strönebald wird sein Instrument nicht in dieser schwarzen Lärmhöhle erproben. Sondern drunten an der Donau. Dazu wird er sein graues Wollzeug wieder anlegen. Und damit niemand über ihn lacht und ihn Raupe nennt, wird er sich eine einsame Stelle suchen und den vor-beiziehenden Wellen vorspielen.
Dann wird er seine Reise fortsetzen.

Die Instrumente der Janitscharen trieben dem Meer zu, sie selber hatten sich verfangen in Ankerketten und muschelüberkrusteten Schiffsgerippen. Die Strömung flutete durch die Tuben, holte die darin verborgene Musik heraus, Krebse klimperten auf den Schellenbäumen die wieder zu klingen begannen, moosige Ankerketten rasselten auf den Kesselpauken und die fanden ihre Stimme wieder.

Als Zehrpfennig trägt Kunterkasten das Handgeld der kaiserlich öster-reichischen Armee unterm Hemd, präspektiv verausfolgt, wie ihn der Werbefeldwebel belehrt hat. An eine militärische Hoffnung, einen künftigen Heerführer womöglich garl gar. Und nun von Herberge zu Herberge und von Beisel zu Beisel ausgegeben von einem Fahnenflüchtigen, der auf kein kaiserergebenes Gewissen zu hören hat das ihm zuraunt gib dem Kaiser was des Kaisers ist sondern auf seinen Magen, der ihm zuknurrt gib dem Magen was des Magens ist, denn du hast dich nach Kräften bemüht, den Ausbildungsstand der kaiserlich österreichischen Armee zu heben.
In dem Wirtshaus in dem er sich zu Tisch gesetzt hat, finden weder Kunterkasten noch sein Magen Gehör. Das Schankmädel, an dem sehr blonde Zöpfe hängen, murmelt in sich hinein, als spräche es mit einem Gegenüber. Aber das Gegenüber ist nicht Kunterkasten, es ist die leere Luft, und erst als sie sich an ihm vorbeigeschoben hat, sieht er dass ihre Zöpfe nicht aus ihrem eigenen Haar gedreht sind, sondern aus Flachs.
An den anderen Gästen, den Hiesigen, schiebt sie sich ebenso vorbei und bemurmelt die leere Luft. Aber die dürfen sie betatschen wo sie wollen, dafür sind sie eben hiesig, und dazu rufen sie ihr Ermunterndes hinterher.
Der Schankknecht, statt Kunterkasten zu tränken, gibt sich der diffizi-len Aufgabe hin, ein Stück Blech, einen zerhämmerten Topfdeckel wohl, vor seiner Brust fest zu schnüren, was ihm das Aussehen eines Ge-harnischten verleiht. Nicht einen einzigen Essenden sieht Kunterkasten in der Wirtsstube, und wer trinkt, hat sich schon vorweg mit einer Flasche Wein versorgt.
Kunterkasten bleibt hungrig, aber nicht seine Reisegefährten. Die Flöhe der Grauen tun sich an ihm gütlich, die Schänke bringt sie in Esslust. Ringsum wird erwartungsvoll gebrabbelt, Kunterkasten versteht kein Wort. Das Gebrabbel legt sich, als weit hinten in den Tiefen des An-wesens ein Saiteninstrument ein paar klobige Akkorde hören lässt
Und, als hätte man darauf gewartet, ergreifen die Gäste ihren Krug, ihr Glas, ihre Flaschen und drängen wie Milchküche die sich zum Gemol-kenwerden einfinden ins Rückwärtige des Wirtshauses, wo ihnen Kühe und Schafe entgegen starren, und endlich auf die Tenne. Dort sind an der Stirnseite Heu und Ackergeräte beiseite geräumt und Bretter auf Fässer gelegt. Zwischen zwei Stützbalken hat man einen Strick gespannt und daran Sackrupfen gehängt, damit, was sich dahinter befindet, vorerst verhüllt bleibt. Hier lässt man sich nieder, die Erwartungsfreude ist noch brabbliger geworden, zwischen Schlücken von Bier und Wein belacht schon vorweg was man zu sehen erhofft.
Wieder lässt sich das Saiteninstrument hören, diesmal weihevoll ge-wichtig, auch rollend und grollend, wie das Gegurgel der Donau, wenn sie ungnädig ist. Der Sackrupfen wird beiseite gezogen und man sieht einen zweiten Vorhang, der den Zuschauer schon erwartet und sich über die ganze Rückwand ausbreitet. Eigentlich ist er gar kein Vorhang, er spiegelt den Vorhang nur vor, er ist mit Leimfarbe auf Leinwand gemalt und tut so, als wäre er aus blauem Samt. Goldene Quasten hängen an ihm herab an dicken goldenen Kordeln, die selbstzufriedene Schatten werfen. In der Mitte ist er gerafft, damit man ein Tempelchen sehen kann, in vornehmer Zentralperspektive und mit viel zu vielen Säulen. Der Vesuv im Hintergrund hat seine frühere Schäbigkeit verloren, an die sich Kun-terkasten nun wieder erinnert und auch die quadratischen Knickfalten, an denen die Farbe abgeplatzt war vom vielen Zusammengelegtwerden. Jetzt kann der Göttersonntag wieder strahlen, unter dem mit neuem Blau ausgebesserten Himmel, würdig dass sich Iphigenie davor stellt oder Julius Cäsar.
Es stellt sich aber das Schankmädl davor. Ihre Zöpfe sind so strahle-golden wie die frisch aufgepinselte Sonne.
„In diesem Walde, ha, da muss ich mich verbergen“.
Sie darf jetzt laut aufsagen, was sie vorhin nur gemurmelt hat.
„O Harm und Plagen allzu zahlreich/wann mündet ihr in einen strahl’nden
Tag !“
Ein Unhold hat es auf sie abgesehen, ein Nach-dem-Leben-Trachter. Er trahtet nicht nur nah ihr, ihrer Tugend und ihren Liegenschaften, er greift auch nach dem Vaterland insgesamt.
„Gestehe, ha ! Verworfener mir und aller Welt / das Unmaß deiner Un-tat ein !“
Was der Untäter bis hierhin an ihr verübte, schildert sie dem bewegten Publikum mit beiden Händen, knochigen Schankmädlhänden, die bis heute Abend jedermann übersehen hat, wenn sie die vollen Teller auf den Tisch stellten und das Bier daneben. Nun aber folgen ihnen aller Augen, wenn sie die Gebirge von Schandtaten in die Luft malen, den der Unhold aufgetürmt hat. Und wenn ihr die Worte versagen, der Hand-rücken den Mund verschließt angesichts des draußen wartenden Unheils, wird hinter dem Vesuvprospekt das Ungesagte und Nichtmehrsagbare weitergeschildert und vervielfacht durch die Ungewittertöne des Sai-teninstruments.
Es wird gerissen, es wird ihm weh getan, es schreit, es ist unverkennbar Strönebalds Harfe.
„Tyrann erkenne: zählbar mögen sie geworden sein / die Tage da du das Szepter schwingst über diese deine Bürger“.
Die Zuschauer haben ihre Krüge, Flaschen und Gläser beiseite gestellt, jetzt wird nicht geschlotzt, jetzt wird der Verfolgten Mitgefühl auf die Bühne gerufen. Taviatus, erfahren die Zuschauer, der Bruder des Königs Timotheus, hat diesem Rache geschworen, er zieht Truppen zusammen, will den Bruderkrieg. Aber er will, das gesteht er frei heraus als er nun auftritt, auch das Schankmädl. Obwohl sie die Gattin des Bruders ist.
Taviatus war vorhin noch Schankbursch, nun ist er das Haupt der Ver-schwörung. Er will sich Liebkind machen bei den Zuschauern und legt seine Hand auf die Rüstung die er sich in der Schankstube umgeschnallt hat.
„Als Treupfand sehet meine Brust / sie trägt ein ehrlich Herz das fürs Gemeinwohl schlägt !“
Aber keiner glaubts ihm, man ruft nach dem hintergangenen Bruder, König Timotheus. Und da ist er schon -
“Erfreche dich Nichtswürdiger / just den Verworfnen dreist zu schmähen / Just den Wackren dem deine Rettung du so oft gedankt !“
König Thimotheus hat diesselbe Statur wie der Prinzipal, Kunter-kasten war es auf dem Floß nicht bewusst gewesen. Dasselbe vier-schrötig breitbeinige Dastehen, als stünde da nicht einer, sondern zwei nebeneinander. Aber dieser König Timotheus hier lässt den des Prinzipals weit hinter sich, weil er sich nicht nur selber zuhört.
„Du weißt, dass mir auf diesem weiten Erdenrund kein Ge-schöpf so zuwider ist, als eine Spinne und ein altes Weib – „
Sondern weil er sich den König Timotheus selber glaubt. Und auch alle Zuhörer glauben ihm. Sie grummeln ihm Respekt und wenn sie nun trinken, trinken sie für ihn mit, der so viel reden muss.
„- und nun denk dir einmal die schwarzbraune, runzlichte, zottige Vettel vor mir herumtanzen, und mich bei ihrer jungfräulichen Sitt-samkeit beschwören - alle Teufel !“
Kunterkasten hat vom Floßmeister, als er noch Floßmeister war nur allerkürzteste Sätze gehört, interpunktiert mit Kautabakgemampfe. Jetzt flößert er sich behende durch die Seiten eines fremden Dramas und ist damit bei sich selbst angelelandet.
„Oh eitle Kinderei - da steh ich am Rand eines entsetzlichen Lebens, und erfahre nun mit Zähnklap¬pern und Heulen, dass zwei Menschen wie ich den ganzen Bau der sittlichen Welt zu Grund richten würden.“
Als Kunterkasten das Wirtshaus lang schon verlassen hat, fällt ihm auf, dass er sich der Flöhe wegen nicht mehr kratzen muss. Seine Reise-begeleiter haben es vorgezogen, beim Publikum des Floßmeisters zu blei-ben.
Kunterkasten
Glagolitische und orthodoxe Märtyrer, an Holzkreuze gefesselt mischten sich zwischen sie sowie Ketzer, mit Steinkreuzen um die Hälse, die sich noch immer begeiferten, die Gesichter entstellt von Bigotterie, Grund-schwämmen und Medusen -
( Wien, S.365 ff )
Noch nie ist Strönebald von jemandem empfangen worden, der schon zu Lebzeiten zum eigenen Denkmal wurde. Der Theaterdirektor ist so illuster und in aller Munde, dass er sich in Stein hat hauen lassen. Noch ehe Strönebald ihm leibhaftig gegenüber tritt, schaut er ihm als Skulptur entgegen. Eitel, weil in seiner gefeiertsten Rolle, von der Höhe des Theatereingangs herab.
„Benvenuto, Maestro Strönebald ! Dass Sie sich in Person zu mir bemühen – questo onore ! Welche Ehre für unsereines, mi piace immen-so ! Welche Ehre…“
Was ist dem Direktor da doch alles berichtet worden von der be- schwerlichen Reise der Compagnie die Donau herunter, und dabei ruckelt sein Kopf immer wieder nach vorn in Strönebalds Gesicht. Berichtet worden vom Abhandenkommen der Gefährten, wie schmerzlich, wie schmerzlich, und der Kopf ruckelt, die Lippen weit voraus.
„Sie sehen welche Bewunderung Ihnen voran eilt, welche Bewunde-rung!“
Über die hochschätzenswerte Compagnie des cavalliere Propodonsky, oh, was ist da alles an Lobpreisung herumgetragen worden in der Wien-stadt, famoso, famosissimo, divino ! Und der Kopf ruckelt nach vorn. Man hat sie erwartet Tag für Tag, der Kopf stößt vor und zählt ab, wie viele Tage lang, der Kopf kommt gar nicht mehr zum Stillstand. Wie schmerzlich, wie überaus leidvoll und doch glückhaft zugleich, dass es allein Strönebald vergönnt war das rettende Ufer zu erreichen.
„Wie Odysseus, veramente como Ulisse !“
Strönebald wird umschlungen, der glücklich Angelandete, und abge-küsst. Der Kopf des Direktors steht solange still. Strönebald wird an bei-den Schultern gepackt, und ins Auge gefasst, erst mit dem einen, dann mit dem andren Auge. Der Direktor wendet ihm dabei sein Profil zu, einmal das linke, einmal das rechte, die Nase hoch nach oben gereckt.
„Ihre Erfindung, Ihr neues Instrumenterl…ah, ich beglückwünsche Sie
aus vollstem Herzen, quel innovazione ! Sie bereichern den Olymp des Singbaren !“
Dabei ist Strönebald noch gar nicht dazu gekommen, sein Instrument vorzustellen.
„Das Tonehzeugungspinzip dabei, Ehlaucht Heh Dihektoh…“
Er hat noch nicht lange Wiener Boden betreten, aber dass ein Erlaucht vor jeden Namen gesetzt werden muss, hat er bereits gelernt, zumal wenn man von dessen Träger Förderung erhofft.
„Das Tonehzeugungspinzip behuht auf Stimmzungen aus Metall. Die schlagen duhch odeh schwingen fhei …“
„Die schlagen durch und schwingen frei“ unterbricht ihn der Direktor, ders bereits wohl verstanden hat, und der Kopf ruckelt vor.
„Die Luft bläst hinduhch, mit dem Mund hineingeblasen, und die Blechzungen ehzeugen –„
Die Blechzungen erzeugen die Töne. Faszinierend, faszinierend. Aber wo mit Verlaub bleibt des geschätzten Gastes Rrrrrr ? Strönebald, be-schämt, will sein Musikwerkzeug zur Geltung bringen, das fehllose, und nicht sein Sprechwerkzeug, das fehlerhafte.
„Mit eineh Tastatuh vehmag man die Töne beliebig in deh Höhe und deh Tiefe.…“
„Oh oh oh ! So kommen Sie mir nicht davon. Bekennen Sie sich als Ka-strat !“
Der Kopf steht still vor Gespanntheit. Strönebald schluckt. Der Direktor beobachtet mit noch heftigerer Gespanntheit, wie dabei kein Adamsapfel auf und nieder hüpft, denn Strönebald hat keinen. Welch goldener Tag für das kaiserlich privilegierte Schauspielhaus an der Wien ! Wie lange oh wie lange, und nun ruckelt der Kopf wieder aufs heftigste, wie lange schon hat der Direktor nach einem männlichen Sopran Ausschau ge-halten.
„Und siehe da, o giorno de beatitudine, erscheint ein Engel von einem Sopran und bringt mir ein Himmelspfeiferl dar und zugleich seine engel-hafte Stimme !“
Es ist ausgemacht, Strönebald wird in diesem Hause singen, der Kopf ruckelt und ruckelt und ruckelt, Strönebald wird die Primadonna assoluta sein, und der Direktor wird die Ehre haben, ihn auf seinem eigenen Instrument zu begleiten.
Heraus damit, heraus endlich aus dem Kasten ! Der Direktor starrt gierigen Auges auf das, was Strönebald auspackt, führt sich eine Schale mit Weizenkörnern zum Mund und hackt mit den Lippen danach. Ein paar klickern aufs Metall von Strönebalds Instrument, andere bleiben an den Lippen des Direktors kleben, sein Mund ist mit Schminke bestrichen, grünschwarzrot bis hoch zur Nase und bis unters Kinn.
„Ein Instument welches geeignet ist, jedehmann die Musikausübung zu ehleichtehn. Ein Blasinstument füh das bheite Volk“.
Der Direktor langt sich das Instrument her und bläst hinein. Die kleb-rigen Körner kleben nun auch an dessen Mundstück. Kein Missgetön, er handhabt es, er mundhabt es so vertraut als hätte er schon lange Zeit in Muße darauf geübt. Sein Kopf steht still vor Hingebung.
Strönebald bestaunt was aus der Apparatur hervorquillt. Nun, da zum erstenmal die Atemluft eines anderen von der Mechanik Besitz ergreift, der er so viele Mühen hat angedeihen lassen, erreichen seine eigenen Töne ihn wie von weither. Aus einer freundlichen Fremde, aber aus einer Fremde. Als Durcheinandergetön und Quodlibet ausgelassener Musi-kanten, die vor der Kirmes, zu der sie aufspielen sollen, ihre Flöten, Fiedeln und Schalmeien auf der Triolenweide herumhüpfen lassen.
Strönebald hatte Urlaub von sich selber genommen, als er dieses Mu-sikmaschinchen zusammensetzte, als Ziehkind seiner Schweigezeit, weil er sich die eigene Musik verbeten hatte. Nun kann er sich von diesem Meisterstück mit seinen blechernen Stimmzungen und Blasekanälchen trennen. Geh hin und lass dich von fremden Lippen traktieren. Strönebald kann nun seine eigene Stimme wieder flattern lassen.
Aus den Tiefen des Theaters ist hellstimmige Antwort zu hören auf die Läufe, die der Direktor bläst.
„Hören Sie ? Meine Kinder, die Künstler.“
Er setzt das Instrument ab, der Kopf ruckelt wieder, im Innern des Blechgehäuses scheppern die Körner des Vogelfutters.
„Meine Kinder sind begierig dass ich ihnen Ihre Wunderorgel zeig.“
Und zieht Strönebald hinter sich her, durch Flure voller Holzrahmen,
Kulissen, aufgerollter Prospekte. Strönebald stößt gegen einen stummen Herrn mit Vogelkopf, bittet atemlos um Vergebung, als dessen Schnabel sich ihm entgegen neigt. Strönebald will seinen Sturz verhindern, aber dem Herrn ist nicht mehr zu helfen, er kippt zur Seite, seine Physis aus Pappmaché zerplatzt und eine ganze Kolonie leerer Vogelnester fällt aus ihm heraus.
„Ich mache Sie mit meinem Ensemble bekannt.“
Vielstimmiger Gesang quillt ihnen entgegen. Der Direktor zieht einen Vorhang beiseite, öffnet eine Tür aus Gitterstäben. Dompfaffen und Finken begrüßen sie, Zeisige und Kanarienvögel erregen sich. Ein Uhu beäugt Strönebald mit unverhohlenem Misstrauen und wippt ungut von einem Fuß auf den anderen. Ein Hahn behackt seine Schuhe, Grasmü-cken und Wacholderdrosseln warnen vor dem Eindringling.
„Eine einzigartige Blütenlese von Tonkünstlern ! Mit der Sie musizie-ren werden.“
Im Federkostüm des Direktors krallt sich ein Kakadu fest.
„Ich habe die Ehre vorzustellen. Signor Plyctolofo Galerito, erster Bari-ton im Hause. Er bewundert meine neuen Federn, die mir heut nacht erst gewachsen sind.“
Auch Strönebald wird aufgefordert den frisch gesprossenen Federn Re-verenz zu zollen, und wie sie grünschwarz irisieren mit einem Stich ins Violette, das gibt einen Effekt im Bühnenlicht, Sie werdens nicht fassen, passend zur Schminke im Gesicht, schwarzgrün, der Kopf ruckelt und ruckelt , sagen Sie dass es eine Pracht ist eine Pracht ist eine Pracht und bläst einen Akkord auf dem Instrument, das nun bereits seins geworden ist. Und die Vögel erwidern.
„Die rebellische Schar setzt mir ein gis-Dur entgegen, hören Sie ? Die gieren nach Bewährung ! Die Rasselbande verlangt eine neue Oper !“
Aber der durchdringende Schrei eines Pfaus reißt die neue Oper noch
vor dem ersten Entwurf in Stücke.
„Es ist die pure Eifersucht, die aus ihm spricht. Zu Recht. Weil seine Gattin ihn betrügt - mit mir !“
Aber, per favore, der Kopf ruckelt, was für entzückende Kinderlein kommen dabei heraus ! Strönebald muss sie bewundern wie vorher die frischen Federn, sie bewohnen einen eigenen Käfig, der Pfau Hahnrei schreit, der Kopf ruckelt, die Frau Pfau schreit, und das Instrument schreit, misshandelt.
Strönebald entreißt es ihm. Nun schreit auch Schikaneder, gellender als sein Nebenbuhler, der Pfau, er kommandiert seine Getreuen zur Ver-folgung, sie sollen ihn mit ihren Krallen packen, sie sollen ihn blind pi-cken, sie sollen ihn in die Lüfte entführen wie ein erbeutetes Karnickel.
„Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen !“
Kopf und Schultern voller Vogelschiss, das Gehör zerrissen von Vo-gelgeschrei, findet Strönebald erst nach langen Irrwegen aus dem Ver-wirrbau des Theaters heraus.
Aber seine Erfindung hat Strönebald vor den Vögeln gerettet.

Als auch Kunterkasten endlich Wien erreichte, hing die Nachricht von der Abdankung des Kaisers trübsinnig wie der Rauch eines Großbrandes von vorgestern Nacht in den Gassen und in den Gemütern. Niemand wollte sie in den Mund nehmen, niemand wollte sie wahrhaben, alle duckten sich darunter weg. Seine Apostolische Majestät, Franz der Zwei-te war nicht mehr Kaiser des heiligen römischen Reiches deutscher Na-tion, und nicht mehr der allzeitige Mehrer des Reiches. Seine Titulaturen hingen im Raumlosen wie leere Blechtöpfe, in die nicht einmal mehr der Wind hineinzublasen Lust verspürte um ihnen ein bisschen Geschepper zu entlocken : König von Böhmen, Dalmatien, Illyrien, der Lombardei, König auch von Jerusalem, Großherzog der Toscana und Kroatien, Herzog von Lothringen, Steyr , Kärnten, Slavonien, Krain und der Bukowina, Großfürst von Siebenbürgen, Markgraf von Mähren, Herzog von Ober- und Niederschlesien, Friaul, Ragusa und Zara , Herzog von Triest, Landgraf in Elsass, Cattaro und der Windischen Mark, Groß-wojwode von Serbien, Schirm- und Schutzherr der freien Reichsstädte Bremen und Regensburg, Hamburg und Lübeck, Frankfurt und Ulm und Nürnberg , Landgraf in Elsass, Herr der Mark der Vandalen et sic ad infinitum unseres höchst huldreichen Kaisers und Herrn.
Die uralte Kaiserkrone lag in der Hofburg wie ein herrenloser Hut. Ein unnützes Stück Metall, unnützer noch als die blechernen Kronen aus Propodonskys Requisitenfundus.
Konnten doch Richard der Dritte, Mitridates und König Lear jederzeit wieder aufs Bühnenpodest steigen, wenn sich denn genug Zuschauer einfanden. Für den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation aber fand sich kein Publikum mehr ein. Allzeit Mehrer des Reiches hatte er sich noch genannt in der Proklamation, in der er unkaiserlich und ohnmächtig zur Kenntnis des gfl. Publikums brachte, dass das Imperium, dem seine Sippe seit sechshundert Jahren vorgestanden hatte, ausgekippt worden war wie ein Sack vertrockneter Karotten. Allzeit Mehrer des Reiches : es klang so kläglich wie die Versicherung eines betrunkenen Schmierenkomödianten dass er in seinen guten Zeiten vor irgendeinem Großherzog als Hamlet aufgetreten sei.
Dort wo Kunterkasten mit seinen Gefährten die Reise begonnen hat, gab es noch keinen Gekrönten, nun da er ans Ziel der Reise geschwemmt worden war ohne seine Gefährten, gab es hier keinen Gekrönten mehr. Die ganze Floßfahrt lang hatte über dem Komödiantenhäuflein die Hoff-nung geschwebt, auf ein Parkett voller perlenbehängter Damen, parfü-mierter Höflinge in roten Samtsesseln, Erzherzöge und Erzoberstallmei-ster, die sie wieder und wieder aus den Kulissen klatschen.
Propodonsky als Timotheus, Verneigung. Der weist auf Madame de Bree, Kratzfuß. Die auf Demoiselle, Kratzfuß. Langebehn verneigt sich als Diomedes. Schuff verneigt sich als Eusthartes. Käpernick als Jucun-dus Weinfass und – aufrauschender Applaus ! er soll endlich aus der Kulisse treten !
Er, der Götterliebling des Abends. Und er tritt aus der Kulisse, aus er ersten Gasse. Prinz Crassus als Christian Asmus Fürchtegott Felix Kun-terkasten. Getrampel, Stühlerücken, Rosenwürfe, Ohnmachten.
Kein Kaiser mehr, kein Reich mehr, kein Publikum mehr. Kein Applaus und keine Rosenwürfe
Andere Darsteller hatten die Bühne besetzt, Darsteller ihrer selbst und nicht mehr nur Darsteller verwichener Helden aus dem Heroenfundus des griechischrömischen Altertums. Dafür waren ihre Geschichten weitaus anrührender als die aller Tragöden, denn sie hatten sie selbst erlebt und mit harter Mühe gar überlebt. Die Aufführungen, an denen sie mitgewirkt hatten, hingen auf Zettel gekritzelt an ihren zerschlissenen Monturen.
Schulterblatt + 3 Rippen geopfert bei Wattigniès. Bitte um Gabe.
Bein hingegeben für Kaiser und Reich. 7ntes Batalljon Erzherzog Carl.
Erbarmen für Dragoner ! Auge verloren gegen Nabboleon.
Einer hielt sein Schildchen verkehrt herum.
Schlacht von Bassano. Stellung gehalten trotz Verlust. Es lebe Seine Meistät Keiser Franz.
Er konnte nicht lesen, was ein barmherziger Kamerad ihm aufge-schrieben hatte, aber um sein Ohr und seinen Unterkiefer herzugeben im Namen des Heiligen Römischen Reiches war er für belesen genug er- achtet worden. Vor sich hatte er seinen Tschako aufgestellt, auch der zer-hauen, umgedreht, mit der Öffnung nach oben, stumm schreiend nach ein paar Kreuzern.
Was dagegen hätte Kunterkasten auf einen Zettel schreiben können ? Komödiant ! Hunger ! Zum Dank für Almosen bringt er Jamben von Racine zu Gehör. Wahlweise Klopstock.
Denn so heruntergekommen er war, er hatte noch immer seine Stim-me, die ihn aus seiner protestantisch schweigeseligen Nest herausgeführt hatte. In den Wäldern hatte er sie gehärtet, gegen Baumstämme geschleu-dert wie ein Wurfmesser. Sie war gewachsen daran, dass die anderen Stimmhelden abhanden gekommen waren. Kunterkasten war der einzige der Compagnie, den es an das von allen angesteuerte Ufer gespült hatte nach langer Irrfahrt. Kunterkasten war Felix, trotz allen Kummers. Das Schicksal hatte mit ihm noch etwas vor, das Schicksal saß im Souffleur-kasten und wartete auf seinen Auftritt.
Das war seine Stunde, das war die Stunde Wilhelm Tells. Der Kum-merkasten sollte aufspringen und herausspringen der Aufruf zum Auf-rechten Gang. Liberté, reißt sie an euch, denn die alte morsche Ordnung ist zusammengebrochen ! Egalité ! Greift euch die Fraternité mit euren eigenen Fäusten ! Er, Kunterkasten, musste dem dumpfbeutligen Volk verkünden was die Stunde geschlagen hatte.
Ihn rührte unsre Not nicht an – ihm Dank ?
Dem Kaiser. Dem Kriegsherrn. Dem Verwunder und Missbraucher die-ser zerhaunen Kreaturen, die sich hier als Fechtbrüder erniedrigen muss-ten, und der Kaiser ließ es zu. Kunterkasten stellte sich zwischen sie und wies mit weit ausgestreckten Armen auf ihre Blessuren.
Nicht Dank hat er gesät in diesen Tälern.
Er stand auf einem hohen Platz, er konnte
Ein Vater seiner Völker sein -
Blut schoss ihm in die Wangen vor erstaunter Freude, welchen neuen Sinn Schillers Worte in seinem Mund auf einmal bekamen. Das war nicht mehr Mittelalter und Zwing Uri, das war heute, 1806.
Doch ihm gefiel es, nur zu sorgen für die Seinen,
Die er gemehrt hat, mögen um ihn weinen !
Der Bettelsoldat der ein Schulterblatt und drei Rippen verloren hatte vor Wattigniès, hatte Kunterkasten schon zu beschimpfen begonnen bei gesät in diesen Tälern und das in einem in einem unverständlichen slowakischen Dialekt. Dafür bedurfte die Ladung Spucke, die der er-blindete Dragoner ihm schickte, keiner Übersetzung.
Noch weniger Umstände machte der Einbeinige aus dem siebten Batallion unter Erzherzog Carl, der mit seiner Krücke auf Kunterkasten einschlug. Die war selbst geschnitzt und aus Buchenholz und traf Kun-terkasten auf Schlüsselbein und Kinn.
Der rettete sich, es waren Stufen da, ein Komödiant springt immer nach oben, sein Instinkt suchte nicht den Abgang sondern das Podium auf dem er für alle zu sehen ist. Dass es die Stufen einer Kirche waren, wurde Kunterkasten erst gewahr, als der Portalbogen über ihm seinem nächsten, noch lauthalsiger gerufenen Satz ein prachtvolle Resonanz verlieh :
„Das Joch soll stehen, das uns zwingen wollte ? Auf, reißt es nieder ! Nieder ! Nieder !“
Kunterkasten vermerkte stolz, dass seine Stimme mächtige Wirkung getan hatte. Zumindest auf das Bauwerk hinter ihm. Die Kirche. Von hinten, aus den Tiefen des Kirchenschiffs heraus hörte er das Echo seiner Worte nachrollen. Zwingen zwingen zwiiiiiiingeeeeeeen hörte ers rollen. Nieder nieder niiiiiieeeeeeedeeeeeeeeer hörte ers nachrollen.
Die drei Veteranen waren verstummt.

Strönebald hat ein solides Geschäft abgeschlossen über seine Wunder-schachtel. Sie wird en masse nachgeschmiedet und vertrieben von einem, den er schon lange kennt. Compagnons, die sich lange gegenseitig beäugt haben, bilden eine solide Partnerschaft, so wie die Verschnittreste der Walzbleche aus der Waffenherstellung, jetzt reichlich zu haben, den soliden Werkstoff bilden für Strönebalds Wunderschachtel.
Bald wird auf allen Gassen in Strönebalds Wunderschachtel hinein-geblasen werden und kein Wunder mehr sein, sondern Puste-Leier der kleinen Leute. Kinderspielzeug und Ohrenqual, Lippen-Orgel auch der Schiffer die von Wien donauabwärts ziehen, dem Meer zu.
Dem Meer zu.
Mit der ersten Rate seines Gewinns mietet Strönebald sich eine Schiffs-werft am Donaukanal, hinter der Mündung des Wienflusses. Anfangs hat er sich noch den Mut abverlangt, nach langen Jahrzehnten wieder eine Kirche zu betreten. Nicht der Frömmigkeit, sondern der Akustik wegen. Dann hat ihn doch noch die Frömmigkeit eingeholt, oder eine hinter-hältige Unter-Spezies von Frömmigkeit und Strönebald hat sich gefragt, ob er sich denn unbedingt in einer Kirche, Gottes Logis, vergewissern müsse ob der ihm immer noch zürnt.
Darum steht er nun in der Werft am Donaukanal. Für eine Stunde gehört sie ihm, die Arbeiter hat er nach draußen geschickt. Strönebald holt seine Stimme wieder hervor. Die Echos, die das hölzerne Gewölbe der Werfthalle zurückwirft, versichern ihm dass sie in den vielen Jahren zwischen den Komödianten nicht rissig geworden ist, noch lang nicht so alt wie er selber und noch immer weiß. Una voce bianca.
Mach eine zweite Karriere, Estrebaldo. Gott will sie wieder hören.

Die drei Veteranen waren verstummt, hatten sich verzogen, hatten das Feld geräumt vor einem, der noch gewaltiger brüllen konnte als ihre weiland Korporale es konnten, die sie ins Gefecht gebrüllt hatten. Außer dem Rückzug der Bettelsoldaten freilich hatte Kunterkasten nichts be-wirkt, keiner der Vorübergehenden war stehen geblieben. Die Räder der Droschken surrten wurstig zu ihm herauf, die Hufe ihrer Gäule schlugen ein Getöse aus dem Pflaster das Kunterkasten wie spitzes Spottgelächter vorkam. Und nicht einmal bei den Tauben auf den Kirchenstufen hatte er etwas ausgerichtet, die Männchen umgurrten weiterhin die Weibchen, und die Täubinnen trippelten weiterhin in einfallslosen Bögen herum vor Kunterkastens Zehen, die aus dem Schuhwerk lugten, als fänden sogar sie das stupide Fangmichdoch-Spiel spannender als den Aufruf ihres Herrn ans niedere Volk. Kunterkasten musste ein letztes Mal versuchen, tout le monde zum Aufhorchen zwingen.
„Kommt alle, kommt, legt Hand an, Männer und Weiber !
Brecht das Gerüste ! Sprengt die Bogen ! Reißt
Die Mauern ein ! Kein Stein bleib auf dem andern.“
Und hämmerte Männn-eeeeeer ! Weibbbb-eeeeerrrrrr ! mit aller Kraft, die er noch hatte, gegen die Kirchentür. Mächtig wummerte es davon nach drinnen ins Schiff.
„Der Tyrann ist fort, der Tag der Freiheit ist erschienen.“
Sie stürzen sich von allen Seiten auf den Bau stand an dieser Stelle im Büchl, auf die Zwingburg, die es einzureißen galt, aber Kunterkasten hat-te es darauf angelegt, dass man sich auf ihn, Christian Asmus Fürchte-gott den Revolutionsbekenner stürzte. Kunterkasten als Durchgehunger-ter, Verlauster, Gestrandeter, als Schwemmgut der zerfallenen alten Herr-schaftszeiten, des ancien régimes. Kunterkastens Rolle sollte sich darin erfüllen, dass er abgeführt würde von möglichst vielen Gendarmen, Büt-teln, Bewaffneten, Bluthunden.
Davongeschleift durch eine Gasse von citoyens, die sich für ihn empör-ten, den Gendarmen die Arme wegrissen von Kunterkasten dem Frei-heitsverkünder. Gleich würden sie gerannt kommen, die Gendarmen und die Empörer.
„So stehen wir nun fröhlich auf den Trümmern
Dieses Forts der Tyrannei, und herrlich ist’s erfüllt,
was wir am Rütli schworen, Eidgenossen !!!“
Mit drei Rufzeichen am Ende, die er aus tiefster Lunge heraus stieß wo Schiller nur einen biederen Punkt gesetzt hatte.
Die Kirchentür tat sich auf, wie aufgestemmt von Kunterkastens Wort-geprassel. Grade einen Spalt weit, um eine Dame durch zu lassen.
„Sie haben da grad so schön Wilhelm Tell rezitiert…ein süperbes Stückerl !“
Die Dame war jung, sie war eine belleza. Ein begabter Schminkmeister hatte an ihr seine Kunst ausgeübt. Von den rotbraun fröhlichen Circon-flexen der Augenbrauen bis hin zu den quirrlenden Löckchen, die ihr vor den Ohren hüpften. Eine so reizvolle Erscheinung ist nicht einmal die De-moiselle Pfrenhuber gewesen, wenn sie von der Prinzipalin vor der Vor-stellung zurechtgemacht worden war.
„Der Wilhelm Tell - leiwand ! Zum In-Ohnmacht-fallen geht einem der zu Herzen.“
Sie wurde rot vor Erregung bei der Erwähnung des Herzens wie der Ohnmacht, und ihre Finger drehten dabei an den Perlen ihres Rosen-kranzes. Kunterkasten wusste nicht, was ein Rosenkranz ist. Er hielt das Perlengeschnür für eine Halskette und war darum nicht erstaunt, dass sie es nun in ihren Ausschnitt ringeln ließ, schnell und geschäftsmäßig, zwischen ihre hochgebundenen Brüste, die dicht vor Kunterkastens Au-gen dalagen wie zwei Granatäpfel in einer Porzellanschale.
„Eine charmante Aufführung. Unwiderstehlich charmant ! Der Kober-wein hat den Tell gegeben. Splendid, sag ich Ihnen, wie sogar ein Son-nenfels niemalen vorher.“
Der Tell, Kunterkastens Tell, sollte aufgeführt worden sein ?
„Die Saison grad im Leopoldstädtischen. Die Theater reißen sich drum, schon weil man dem Schiller den letzten Lorbeerkranz auf die Stirn drückt damit, bevor er – „
„Bevor er - ?“
„No, verschieden is er halt. Letztes Jahr, im Mai. In der Maienblüte, in doppelter Maienblüte, derf ma so sagn.“
Schiller tot. Kunterkastens Friedrich Schiller.
„Woher kommts eigenlich dass Sie den Text so meisterlich im Mund führen ?“
Kunterkasten schaute unter sich. Er wollte nicht weinen müssen, ein Fünfjähriger unversehens wieder, geschämig vor diesem munteren Brummkreisel von einem Mädchen.
„Sie müssen einer vom Theater sein ! Geben Sie‘S zu ! „
Gewinnerlachen, wie beim Baccarat.
“Ertappt, ertappt !“
Sie schob ihren Arm unter seinen.
„Aber als ein Landstreicher kostümiert ! Mich führenS damit net hinters Licht.“
Er sei nichts andres mehr als ein Landstreicher, stotterte Kunterkasten. „Landstreicher, quelle caprice ! Extravagant nenn ich das in einer Zeit, wo tous le monde aufg‘maschelt daherstolziert.“
Kunterkasten wusste nicht, was aufg‘maschelt bedeutet. Er ahnte nur, dass die Beterin keine Betschwester sein konnte.
„Und dieses gewisse extravagante Odeur, das was von Ihnen auf-steigt“ – sie nahm eine volle Nase von seiner wochenlangen Ungewa-schenheit, ohne mindesten Widerwillen – „Aaaaah ! Das nenn ich mir so recht wie ein Mann riechen soll. Wo heutzutag das männliche Ge-schlecht mit Parfüms hochstapelt als wärens Krönungsmäntel. Ornate über lauter Schlottergestellen ! Was von Haus aus nach Mörteltrog und Kramladen stinken tät, wenn es sich nicht aus Gottes heiliger Ordnung entfernt hätt. Und ich beschwörs : wenn so einer auch nur den Rock ablegt, nicht zu reden von dene pp Pantalons, kommt grausam der Mörteltrog wieder durch und der Kramladen, als wannst ein altes Schub-fach aufziehst … diese ganze Breite des dortselbstigen Sortiments mit schimmligen Brotlaiben und Sauerkraut und toten Ratten, weißt schon…“
Sie unterbrach sich lachend.
„Haltauf, jetz hab ich Sie geduzt. Wo Sie doch ein Mössieuh sind aus einer gehobenen Sphäre….“
Und sie zog ihn mit sich fort, die Kirchenstufen hinunter. Neinnein, nicht für sich selber habe sie gebetet sondern für den seine Durchlaucht den Fürst von Nichtwillgenanntwerden, der bezahlt sie für jedes Ave-maria als Fürbitte für seine sündensatte Seele, spendabel, toujours spendabelst, das muss man ihm lassen. Aber dann greift er sich den Rosenkranz aus ihrem besonderen Aufbewahrungsort und zieht ihn ihr über. Wieder und wieder, bis Blut kommt.
Und sie muss vor ihm knien und ihm einen blasen.
„Es gibt unberechenbare Naturen aujourd‘hui, einfach zum Grausen“.
Dabei sehnt sich so ein einsam auf sich gestelltes Mäderl doch bloß einem Beschützer. Und ob er der nicht werden will, der Herr Künstler, mit seiner feschen Statur. Doch doch, die fesche Statur rekognosziert sie haarscharf auch durch diese Fetzerln hindurch, die was er anhat.
“Is ja kaum noch ein Stoff da. Zwischen dir und mir“.
Die Flügel des Portales schwangen weit ins Freie. Die modrige Kirche tat ihren Schlund auf, um eine Wolke von irdischen Himmelsdüften aus sich zu entlassen, und darin eingehüllt eine kleine Herde atlasbauschiger Dämchen, alle mit hochgeschnürten Früchtchen á la grecque, zwischen denen die Rosenkränze verstaut wurden. Sobald sie ins Helle getreten waren, erhob sich ein Crescendo aus unfrommem Geschnatter, von dem die eingeschnürten Früchtchen erbebten. Paarweise und noch unfrom-mer.
Und gleich wieder zum Stillstand kamen, als die Beterinnen bemerk-ten, dass ihre Schwester einen feschen Jüngling für sich erbeutet hatte. Sie würde ihm doch nur das Rosenkranzbeten beibringen, rief sie über die Schulter zurück.
“Für dich selber sollt ma beten du Nockerlflitschn, dass unser Fürst Lichnowsky dir den Cicisbeo da durchgehn lasst !“

Mühsam ergatterte Strönebald einen Platz in einer Postkutsche, die ihn durch Krain und über Laibach zur österreichischen Küste bringen sollte. Dort hoffte er einen weiteren Platz zu ergattern auf einem Segler, der nach Genua fuhr. Zwei Schiffahrtsagenten hatten ihn zwar zum Frei-hafen von Veit am Flaum vulgo Fiume an der illyrischen Küste überreden wollen, des Mitreisekönnens auf einem der vielen Frachtboote nach Dalmatien hinunter, dann hinüber nach Bari und von dort mit Glück wiederum nach Valencia oder Tanger.
Aber Strönebald hatte auf einmal einen Ratgeber vernommen, der sich in ihm selber zu Wort meldete. Das Waisenkind aus dem Kloster von San Giacomo. Das von früh auf eingebimst bekommen hatte, dass an diesen Küsten abwärts bis zum italienischen Stiefelabsatz See- wie Strandräuber ihr Unwesen treiben und der Sporn des Stiefels darum rot ist vom Blut der Ausgeraubten.
Dabei, so mahnte das Klosterkind Estrobaldo den erwachsenen Ströne-bald, führst du doch einen Schatz in deinem Kehlkopf mit dir, den wir nicht unter die Räuber fallen lassen dürfen, nicht zur See und nicht zu Lande. Trenne dich also von ein paar Gulden mehr, Strönebald, und verfrachte deinen, meinen, unseren Schatz weit abseits der Brigan-tenküsten in das rechtschaffene Genua, und bring ihn uns unversehrt hinüber in die Neue Welt, die die neue heißt, weil unser Sopran dort aufs neue erstrahlen soll.
Dort weiß man nichts von der alten Oper und den alten Göttern, nichts von einem schmachtenden Orpheus und einem Kaiser Titus im Korsett, von Lüstlingen hinter den Samtgardinen der Logen. In Louisiana und Missisippi wird Estrobaldos Gesang aufgenommen werden wie die Botschaft eines Engels aus dem Elysium. Dort sitzen keine schwuchtligen Hofschranzen im Parkett, sondern Bärenjäger und Trapper, die aus der Prärie hereinreiten. Männer die einsam Seen und Flüsse überquert haben, um Estrobaldo singen zu hören.
Sprach das Klosterkind zu Strönebald und der befleißigte sich, Gia-como Estrobaldos Willen zu vollziehen.

Im zweiten Bezirk saust ein messingner Ring auf einen messingnen Löwen nieder. Ein Bedienter öffnet.
„Der Herr sind avisiert ?“
Es ist dem Diener anzusehen dass er bei sich denkt parbleu, Herr war ein Fehlwort für den, das werd ich dem nie verzeihen. Ehrwürdig grau wie der Diener ist, ein Erzherzog in der Livree eines Lakaien. Und als er niederschaut an dem, der geklopft hat, wie an einem rostigen Tiegel, vom Trödler ausssortiert : rissig das Oberleder an dem seinem Schuhwerk, vermerkt der Erzherzog-Lakai, und beim linken fehlen gänzlich die Schuhbandeln. Jetzt zieht er zum Überdruss auch noch den linken Fuß hinter den rechten, damit mans nicht wahrnehmen soll was für eine Ka-lamität herrscht da drunten.
„Der gnä Herr ist bekannt dafür dass er kein Bakschisch gibt“.
Schiebt den, der geklopft hat mit der Hand gegen die Brust hinaus und will die Tür wieder schließen.
„In den Salon !“ wird da von oben gerufen.“Ich bitte in den Salon !“
Dem Salon fehlt das Mobiliar so wie dem linken Schuh des Eintreten-den die Bandln fehlen, aber die Stukkatur an der Decke darüber ist frisch vergoldet, was ihn noch altehrwürdiger erscheinen lässt. Wie auch der funkelnagelneue Haarbeutel den alten Diener noch altehrwürdiger macht.
„Er ist doch eine antichambrische Person ?“ verhört der den Fremden.
“Mach er sich keine Hoffnung auf einen Posten im Personal. Erlaucht der gnä Herr engagiert nur allererste Distinktion. Re-prä-sen-tab-le Er-scheinungen !“
Und strafft sich im Kreuz. Er meint sich selbst. Und lässt den Eingetre-tenen allein. Strafend, wie einen querköpfigen Studenten im Karzer. Al-lein im leeren Salon, elf Schritte in der Breite und siebenundzwanzig in der Länge. Über dessen Wände sich eine hellblaue Tapete hinzieht, die nach feuchtem Kleister riecht.
Darauf galoppieren Reiter, Lanzen im Anschlag. Die auf den Schim-meln stürmen nach rechts, die auf den Rappen geradewegs ihnen ent-gegen, aber trotz allen Furors stoßen sie nicht aufeinander. Zierliche Weidengebüsche federn sie ab und leiten sie um.
Noch ist kein Möbelstück vorhanden, kein Stuhl auf dem der Eingetre-tene Platz nehmen könnte. Eine verpackte Konsole lässt, wo die Sacklein-wand locker ist, viel Blattgold sehen. An der Stirnwand lehnt ein ge-rahmtes Gemälde, mit dem Gesicht zur Tapete. Der Eingetretene lüpft es ein wenig. Es stellt den Einzug Napoleons in eine eroberten Stadt dar. Die Eroberten, festlich geputzt, stehen artig im Halbkreis und jubeln. Die Ölfarbe duftet klebrig und orientalisch.
„Unterlass Er das !“
Durch die angelehnte Tür hat ihn der mit dem Haarbeutel im Auge behalten. Und setzt noch ein empörtes Falott ! drauf. Der Eingetretene, ertappt, beschränkt sich nun darauf, die Pferde zu zählen. Vom Stuck-gesims der Decke abwärts in fallender Linie, und addiert die schwarzen und die weißen. Als er bei siebenunddreißig angelangt ist, hastet der Hausherr herein.
„Zeihung, vielmals, isch hab mich erst noch müssen fertisch aziehe.“
Und knöpft sich dabei die Manschettenknöpfe zu.
“Zehung, eine Soirée in einem allererstem Haus.“
„Der Fachausdruck ist kostümieren.“
„Kostümieren ?“
„Kostümieren und nicht anziehen Dabei darf das Resultat keinesfalls wie Kostümierung aussehen, sondern wie herausgewachsen aus der inneren Persönlichkeit des Kostümierten, sonst ist der Zweck von vorn-herein verfehlt. “
„Und wie ist das Resultat ?“
Der junge Herr dreht sich vor dem Besucher um die eigene Achse. Auf Verlangen noch einmal und noch einmal. Dunkelroter Frack, hellgraue Kniehosen, ebensolche Stiefeletten. Das Halstuch zu einer Rosette gelegt und mit einer Perle festgesteckt.
„Erst der Hut vervollständigt das Bild.“
Der Lakai mit dem Haarbeutel muss den Hut reichen. Der nimmt die Farbe der Kniehose wieder auf, das Band darum dunkelrot wie der Frack.
„Et alors ?“
Der Besucher schweigt. Der Lakai steht daneben mit der Würde eines bronzenen Kandelabers. Jetzt ist der Moment der Revanche für das Unterlass Er dast ! gekommen.
„Der junge Herr will ungestört sein“ intoniert der Besucher, in einer tie-fen gutturalen Tonlage, die den Jungen erröten lässt. Als schäme er sich eines Fauxpas, winkt er den Alten fort.
„Ihr Erscheinungsbild ist ein dynamisches. Man erkennt : Sturmschritt ist Ihre alltägliche Gangart.“
„Escht wahr ?“ freut sich der Junge und errötet gleich noch einmal.
„Nicht von ungefähr umgeben Sie sich mit Kavallerie, sogar auf der Tapete.“
Da bricht es aus dem Jungen hervor : ja und abermals ja, sein Leitge-danke sei enthüllt. Kavallerie ! Die Signatur der neuen Zeiten. Nicht mehr diese trägen Fußtruppen, auch und gerade in der Geschäftswelt. Attacke, Durchbruch, An-Sich-Reißen von Terrain und Konditionen ! Deswegen, symbolisch quasi, hat er sich Stiefel anmessen lassen, seiner Senkfüße ungeachtet.
Der Besucher atmet zustimmend durch, was ein freundliches Grollen in seiner Brust erzeugt, ganz so als ob Jupiter schnauft.
„Sie werden das erwähnte erste Haus betreten als, ritte ein Eskadron hinter ihnen – was sage ich : hundert Eskadrons !“
„Und wer net Mores macht, werd niedergeritte ?“
Fragt der Gnä Herr, errötend, als fürchte er selber das Niedergeritten-werden.
„Alle die anwesend sind, müssen das befürchten. Aber Sie erweisen sich als Grandseigneur, indem Sie über alle hinweg reiten.“
Der Besucher wippt mit dem Becken wie ein Rittmeister.
„Sie müssen Ihre eigenen Stiefel beglaubigen, sonst ist Ihr Auftritt für die Katz. Reiten Sie ?“
„Isch hab misch grad angemeldt zum Unterrischt.“
„Zählen Sie ab, wie viele Reiter sich auf Ihrer Tapete tummeln ! Wer so viel Kavallerie hinter sich weiß, trägt keine Hast zur Schau. Will sagen, reiten Sie im Schritt, präziser noch : schreiten Sie als ob sie im Schritt ritten.“
Der Besucher breitet die Arme aus und schiebt mit beiden Handtellern Menschen fort, die nicht anwesend sind.
„Schaffen Sie einen Umraum von Bedeutsamkeit um sich, junger Mann. Ziehen sie Wasserringe.“
„Wasserringe...“
„Eine Arena eröffnet sich Ihnen, ein Amphitheater steigt auf…“
Der Junge errötet.
„Als ich beispielsweise den Marquis Posa gegeben habe, einen Kava-lier bei Hofe –„ „
„An welschm Hof war denn der akkreditiert, der Marquis Poser - ?“
„Posa. Sein Umraum war bestimmt vom spanisch-burgundischen Hof-zeremoniell. Eine gestrenge Reitschule der Seele, hoho ! „
„Jahrhunnert - ?“
„Sechzehntes.“
„Isch würd meinen, des is doch a bissche arsch weit hinne in der Hi-storie, von heut aus geseh.“
„Alte Werte, junger Mann, alte Werte sind mündelsicher.“
„Escht wahr - ?“
„Ich beschwöre Sie : alte Werte sind das Mündelsicherste schlechthin. Gerade in Ihrer Branche ! Die Hasardeure, gewiss, die drapieren sich verwegene Halstücher um ihre Scheckfälscherkehlen und hängen goldene Troddeln an ihre Stiefeletten á la mode. Und schwinden mit dieser Mode dahin wie ihre Zinssätze. Aber wer, junger Mann, sticht davon ab wie Golddukaten von Katzengold ? Der die alten Werte in repräsentiert. In seiner Person. Re-prä-sen-tiiiiiert ! Man muss Sie erblicken, junger Mann, und spornstreichs beschließen : dem folge ich auf Gedeih und Ver-derb durch die nächsten Jahrzehnte, ach was, durch die nächsten Jahr-hunderte !“
„Gleisch Jahrhunnerte….“ Errötet der Junge.
„Bei Ihrer Aussprache freilich, da ist noch mancher Meißel anzuse-tzen. Um Ihr Hessisch einzudämmen ….“
„Aber der Goethe sprischst doch aach eso.“
„Goethe ist kein Zugereister, der in Wien eine Bankfiliale zu eröffnen hat. Um Ihr Idiom zu besiegen rate ich zu einem fremdartigen Akzent.“
„Sie meine, was Ausländisches ?“
„Es soll, ja es muss gerätselt werden : welche fernen Sprachdüfte trägt der da uns herein und wie viel Weltläufigkeit mag daran wohl haften. Und schon sind Sie der Brennpunkt tiefschürfender Spekulationen. Mut-maßungen, Münchhausiaden. Und schon haben Sie Ihr Amphitheater. Nicht nur bei den Damen.“
Der Junge errötet wieder.
„Amfiedeadder…“
Der Besucher stöhnt, was ein grimmiges Grollen in seiner Brust erzeugt. Ganz so als ob Jupiter grollt, vor Unbehagen.
„Nehmen Sie diesen Korken in den Mund.“
„Deidesheimer Riesling, zweifelsfrei.“
„Nicht um des Weines willen !“ donnert der Lehrer.“Sprechen Sie mir nach ‚Stellen Sie der Menschheit verlornen Adel wieder her‘.“
„Stelle Sie der Menscheid…“
„Um Himmelswillen ! So : ‚O könnte die Beredsamkeit von allen
Den Tausenden, die dieser großen Stunde
Teilhaftig sind, auf meinen Lippen schweben,
Den Strahl den ich in diesen Augen merke,
zur Flamme zu erheben !‘“
„Isch will Ihne net kritisiern, awwe des nimmt mir keiner ab, wenn isch
e solsches Pathos vorbringe, als Finanzmensch.“
„Sie sollen es nicht ‚vorbringen‘, junger Mann Sie sollen es im Inneren tragen. Als ureigenen Schatz. Und Ihre Zuhörer Zeuge werden lassen, wie sie bedachtsam Ihre Sätze prägen wie Goldmünzen.“
„Goldmünzen…“
„‘O könnte die Beredsamkeit von allen / Den Tausenden ‚“
„‘O könnde die…‘ “
„Korken !“
„‘ - den Tausenden die diese große Stunnne –‘ “
„Königlich sei die Lautung, junger Mensch ! Auch wenn Sie von Krediten reden. Korken !“
„‘- teilhaftisch sein, auf meine Lippen schweben. Den Strahl den isch…den isch..…‘ “
Pause. Der Lehrer seufzt, wie König Lear als dieser sich auch von Gon-neril verlassen glaubt.
„Wir müssen Ihrer Aussprache Schminke aufmalen, sonst reden Sie sich einem Debakel entgegen, an dem ich nicht schuld zu sein wünsche.“
„Schmingge - ?“
„Ich rate zu einem Hauch Französisch.“
„Des lernt mei Bruder grad. Isch mein jetz den, den der Vadde nach Paris geschiggt hat.“
„Französisch ist mündelsicher. Napoleon steigt am Horizont auf. Dem Gallischen gehört die Zukunft.“
„Napoleon ist allerdings Italiener. Mein Pariser Bruder saacht, er hört sisch an wie ein Fischhändler aus Neapel.“
Der Lehrer stöhnt. Jupiter in ihm stöhnt mit.
„Ich führe Sie in die Rhetorik ein über die Brücke des Marquis Posa.
‚O könnte die Beredsamkeit von allen
Den Tausenden, die dieser großen Stunde
Teilhaftig sind…‘ Korken !“

Strönebald kam sich wie Stückgut vor bei seiner beschwerlichen Fahrt über die Julischen Alpen und die Karawanken, wie eine in gewachstes Segeltuch vernähte Lieferung Fuchspelze, Wachskerzen, Blechlöffel, Gebetbücher, Gänseschmalz, Pfeifenköpfe mit dem Bildnis des großen Napoleon, die in den allzu aufnahmefülligen Wagen mit den allzu bruch- bereiten Achsen dicht bei dicht gepropft waren zwischen die dicht ge-pfropften Reisegefährten.
Gegen die er geworfen wurde in dem rumpeligen Takt, den die Fahr-rinnen bestimmten, gegen die Nebenhocker rechts, gegen die Neben-hocker links, so sehr er sich auch krampfhaft ausgesteift aufrecht zu hal-ten versuchte, in seinem eigenen Lot, bis das nächste Schlagloch ihn wie-derum gnadenlos auf die anderen schmiss und die anderen gnadenlos auf ihn, Strönebald.
Und mit ihnen ihren Schweiß, ihre Ausdünstungen, ihre Haarschuppen, ihre Flöhe, den Knoblauchodem ihrer Münder.
Die Flöhe fuhren dabei noch am besten von allen Fahrgästen, sie wur-den je vom vorherigen Wirt zu einem neuen geschleudert, beim nächsten Schlagloch wieder zum nächsten, und wenn der Wagen zur anderen Seite hin absackte, wieder zurück zum vorigen und vorvorigen und sie genos-sen solchermaßen reichlich frische abwechslungsreiche Kost.
Ein Fremder unter Fremden, die in magyarischen und kroatischen Dia-lekten schwatzten, hatte Strönebald in seinem Inneren ein Notenbuch auf-geschlagen, hielt es weit ausgebreitet auf seinen Knien, wo in Wirklich-keit die Ellenbogen der Mitreisenden die Herrschaft ausübten und ihre über ihn hinweg gereichten Fuselflaschen und Wickelkinder. In dieser unsichtbaren Partitur glitt er mit beiden Zeigefingern die Notenlinien ent-lang und sang sich die alten Partien vor, die in seinem Gedächtnis aufbe-wahrt waren.
Unhörbar außer für ihn selbst.
Strönebald wollte den Bürgern der Neuen Welt erscheinen wie die Fanfare aus dem dritten Kreis des Paradieses des Dante Aligheri. Faltig zwar, aber jugendlich fedrig in den Knien, ohne Schmerbauch als billigen Resonanzboden. Die Bürger der freien Staaten hinter dem Atlantik, hatte er vernommen, seinen keine naserümpferischen Dünkelklötze, die sich nach der neuesten Mode richten.
In Boston, hat er sich sagen lassen, sind sie versessen auf den weißen Gesang der Kastraten. Und erst in Philadelphia, da würde er Säle füllen, en suite. Einen schwankenden Turm aus rot gefärbten Pfauenfedern auf dem Kopf, wie ehedem. Und hohe Stiefel an den Füßen, bis zum Knie herauf geschnürt.
Die von den Schlaglöchern auf ihn geworfen wurden, entschuldigten sich auf einmal mit Floskeln, die er verstand, und Strönebald erschrak bis ins Mark. Denn zuerst hörte er nur die keifende Stimme Pater Anselmos heraus aus ihrem Parlando, dann aber lauschte er ihnen mit immer größe-rem Behagen. Sie rieben sich die Mäuler nicht an den erhabenen Ge-genständen von Estrobaldos Kirche und Estrobaldos Oper. Bußfertigkeit, Krönung, Blutrache, Heldenmut, Siegertriumph und Weltschmerz kamen nicht vor. Dafür kamen Steuern vor, Wurmkur, Gänsemast, Krätze, Büf-felkäse und entjungferte Jungfrauen. Und schon ertrug Strönebald, zu-rückgekehrt ins Italienische seiner Kindheit, den Gestank williger, der dabei aus ihren Rachen quoll.
Der Gestank tat seiner Stimme gut, die in seinem Inneren nach und nach wieder erstand. Der Gestank war ein zauberisches Öl, das die nordischen Kalkablagerungen und Verschorfungen wegschmirgelte, die sich während seines langen Schweigens auf seine Stimmer abgelagert hatten.
Und der Junge, der er im Kloster San Giacomo gewesen war, erteilte ihm Gesangsunterricht. Sitz nicht pflatschig da zwischen den Pfeffer-säcken, lass dein Zwerchfell schwingen. Du musst wieder Estrobaldo werden, lass den Sauerstoff strömen durch deine verkrusteten Bronchien wie frisches Quellwasser.
Als bei Cernika am Karstgebirge, zwischen Krain und dem Friauli-schen, die Reisenden aussteigen mussten, um die Frachtsäcke mit den Fuchspelzen, Wachskerzen, Blechlöffeln, Gebetbüchern, dem Gänse-schmalz, den Pfeifenköpfen mit dem Bildnis des großen Napoleon allein die Steigung hinaufrumpeln zu lassen, schlug Strönebald gerade La Clemenza di Tito auf und machte sich an die Arie des Sextus im zweiten Akt.
Deh per que stoi stan te solo ti ri corda il primo amor. Es folgt eine Fermate, dann che morir mi fa di duolo il tuo sdegno, denke deiner frühren Huld / mach mich doch vor Schmerz vergehen.

Nach dreieinhalb Stunden bekommt der, der den Marquis Posa zum Unterrichtsstoff gemacht hat, drei Gulden ausbezahlt. Für jede Stunde einen, und einen weiteren für die halbe. Der Lakai mit dem Haarbeutel lauscht nicht mehr. und der Unterrichtete geleitet den Gast hinaus.
Den Korken noch immer zwischen den Zähnen.
„‘O könnte die Beredsamkeit von allen
Den Tausenden, dieser großen Stunde
Teilhaftig sind …‘ “
Mit französischen Akzent. Und rot wird er auch nicht mehr.

Als der Reisewagen sich beim Monte Optschina auf die Höhe des Kastgebirges hinaufgearbeitet hatte, hielt der Kutscher an und stieg vom Bock, um vier der sechs Pferde abzuschirren, die er bei der letzten Sta-tion zusätzlich vorgespannt hatte. Tränkte sie, die von den Mühen der Steigung dampften, und führte sie zum Straßenrain, damit sie dort gras-ten.
Einer nach dem anderen, die Röcke über den Schultern, kamen die Fahrgäste herangeschlurft, wischten sich den Schweiß, entkorkten ihre Flaschen. Zwischen den Pferden, den Geschirren, dem Kutschbock hindurch erblickte Strönebald das Meer.
Er hatte noch nie ein Meer gesehen. Ein bängliches Staunen befiehl ihn darüber, wie gnadenlos geradlinig die Horizontlinie verlief, die das gewaltige Wasser quer durch das Panorama zog, den halben Himmel beanspruchte, in der Ferne aufwuchs und eine Wand aus flirrendem Silber ausbreitete, die die Landschaft unter sich Lügen strafte.
Strönebald glaubte seinem eigenen Blick nicht, dass das die selbe Materie sei, die er aus dem Weihwasserbecken kannte, aus dem Zieh-brunnen, der Waschschüssel. Er sah die bemalten Leinwände im Theater vor sich, in die man mit spitzem Finger Dellen stechen konnte.
Bald würde er selber an dieser Silberwand dahinfahren, den unbegreif-lichen Massen ausgeliefert, hoch oben an der Horizontlinie, und.es schwindelte ihn. Aber zwischen Bauch und Brust geriet auch etwas in ihm ins Schwingen. Seine voce bianca, unternehmungslustig gestimmt. Hoch oben und silbrig, sang sie, das ist, du hast es bloß vergessen, mein Revier. Lass mich nur machen.
Als dann der Kutscher zum Wiedereinsteigen aufforderte und Strö-nebald sich auf das Trittbrett schwang, erfasste ihn die Meeresbrise. Sie war unbestimmt warm und unbestimmt kalt zugleich. Zutraulich fremd und rau und glich keinem anderen Wind, der Strönebald je angeblasen hatte. Die Brise brachte Salzgeschmack mit, Muschelgeruch und Nach-richten von Weiten, die Strönebald noch unbekannter waren als das Meer selbst. Er spürte, wie sich der Sopran in seinem Kehlkopf regte. Ein Küken, das schlüpfen will.
Als der Reisewagen zu der Stadt Triest hinunter knarrte und Strönebald den Hafen erkennen konnte, erschienen ihm die Segler darin wie ein Rudel Harfen. Die Seewinde würden auf ihnen eine Musik spielen, die Strönebald noch nie gehört hat. Und am Ende seiner Reise würde ein freundlicher Impresario an der Mole stehen, selbst ein Auswanderer aus Pesaro oder Venedig.
„Welcome, Mister Estrobaldo, il nuovo mondo aspetta la voce del giovane Giacomo”.
Mit nur zwei Pferden und angezogener Handbremse rollte der Wagen
ein in der Stadt Triest, deren Namen Strönebald nicht aussprechen konn-te, weil er als Verschnittener kein R zuwege brachte.
Giacomo Estrobaldo sang, sotto voce. Der Schotter unter den Rädern war laut, niemand außer ihm konnte seinen Gesang hören. Aber er sang.

Der den Fuß auf die Brücke des Marquis Posa gesetzt hatte, setzt nun den Fuß auf breite Marmorstufen und betritt ein hochnobles Anwesen. Auf die Diesigkeit des Abends draußen antwortet für die Eintretenden drinnen zauberische Helligkeit.
„Das ist Gaslicht“ wird in dieser Helligkeit gestaunt.
“Eine gänzlich neue Creation“ haben einige gehört, „ grad jüngst erst eing‘führt aus England.“
„Man hat gar keinen Schatten mehr“ verwundert man sich, während man die Innentreppe hinauf steigt.
„Und aus is‘s und gar is‘s jetzt mit der magischen Kunst der Silhouettenschneiderei“ betrübt sich eine Dame.
„Die einsame Kerze ist passé jetzt, die einen als Schatten an die Wand vergrößert hat, und dabei auch noch die Seele illuminiert.“
„Dabei hab ich so hingebungsvoll immer mein Profil betrachtet bei Kerzenlicht, damit ich am End doch noch erfahr, wer ich eigentlich bin.“
Das muss eine sein, taxiert der angelernte Marquis Posa, bei der das Vermögen seit Generationen in der Familie ist.
„Aber dafür“ hält ein Herr dagegen „wird bei der neuen Beleuchtung mit Gas Ihre gesamte Erscheinung rundum zur Geltung gebracht.“
Das ist unzweifelhaft einer, taxiert der Angelernte, der seinem Ver-mögen erst in dieser Woche das Tor geöffnet hat. Es ist noch gar nicht bei ihm angekommen.
„Sonnenlicht dans la nuit“ trägt ein dritter bei, “das auferlegt einem eine ganz neue Sorgfalt bei der Garderobe.“
Echauffiertes Gekicher belohnt ihn. Das ist einer, bei dem sind die Taler und Gulden erst noch am Einrollen.
„Und erst für die Gesichtspflege ! Die Damen werden wissen, was ich mein.“ lamentiert drollig eine Dame.
Das muss, taxiert der Angelernte, eine Neureichengattin sein. Und sie beschämt ihn, so dass er gleich wieder errötet. Denn auch er hat vorher Rouge aufgelegt, um seinem blässlichen Teint mit der Puderquaste auf-zuhelfen. Und andererseits seine leidige Neigung zum Rotwerden vor der vornehmen Welt zu verstecken.
„Nach Ihnen, der Herr Baron“.
„Aber ich bitt Sie, nach Ihnen, á votre service.“
Noch erschöpft sich die Courtoisie im Vortrittlassen, noch ist man beim Treppensteigen. Der angelernte Posa versucht aus den Rücken-an-sichten zu erraten, mit wem ers zu tun haben wird. Sein Lehrer hat ihn gelehrt stehen kann jeder, aber gehen ! Gehen, junger Mann ! Erst in der Bewegung erkennt man die tenue, merken Sie sich das.
Alles Augenmerk also auf die Modi der Bewegung. Viel edles Schuhwerk nimmt er dabei wahr, kostspielige Absätze, individuelle Be-sohlungen. Unsichren Tritt bei solchen, die das erst heute vom Leisten geholte Schuhwerk hier und jetzt zum ersten Mal ausführen, und das auf einer Treppe.
Und wer, versucht er auszuspähen, ist per pedes gekommen ? Wer mit dem Fiaker ? ( Auf Straßenstaub achten. Auf Sitzfalten an Herren- und Damenröcken achten. ) Und wer zu Pferd ? ( Auf Ledereinsätze in engen Hosen achten ). Aber er erspäht nur Zivilpersonen, keinen Berittenen, auch keinen falschen, außer sich selbst. Und nur ein einziges Paar Mili-tärstiefel. Mit Sporen, die beim Hinaufsteigen klirren wie Silberrasseln einer Janitscharenkapelle.
Zwei Damen vor ihm bleiben auf der Stufe stehen, fast wäre er hin-tenüber gestürzt.
„Die Fürstin Lichnowsky lasst sich schon wieder ohne den Ihrigen sehen, zur Soiree“.
„Die Fürstin verbreitet, der Gemahl studiert eine Motette ein. Auf den allerheiligsten Rosenkranz. Mit einem Liebhaberinnenchor.“
„Liebhaberinnenchor !“
Vom oberen Treppenabsatz her weibliche Begeisterung.
„Was für ein charmantes Interieur !“
Eine Vorhut hat den Salon erreicht.
Die beiden Damen vor dem angelernten Posa hasten dorthin, wo man sich begeistert. Der Angelernte, aufschließend, nimmt wahr : auf der Ta-pete des Salons, anders als in seinem, keine Reiterei. Sondern Busch-werk, springende Hirsche, verharrende Rehe, äsende Hasen.
In einer Haushaltung, die sich mit solcher Naturidylle umgibt, ist kein Schlachtengemälde zu gewärtigen. Et voilà, an der Stirnseite eine tropi-sche Landschaft in Öl. Schwarze Sklaven in weißen Puderhosen.
„Eine bezaubernde koloniale Vedute. Brasilien oder Antillen?“
„Jedenfalls duftet sie noch frisch nach Firnis“.
Alles duftet hier frisch nach Frischem.
Zur Schau getragene Jugend. Nur der Besitzer der Militärstiefel fällt heraus, nicht nur weil er der Einzige in Uniform, sondern jenseits des De-mobilisierungsalters ist.
„Schaun Sie, mon genéral“ spricht eine Dame ihn an und deutet mit ihrem zusammengeklappten Fächer auf die tropische Landschaft, „ein Terrain wie geschaffen für ein Kavallerie-Scharmützel. Flach und fester Untergrund mit deckendem Bewuchs.“
Der General, altherrenhaft gönnerisch, spielt den Erheiterten.
„Quelle surprise – gnä Frau haben einen scharfen Blick fürs Militär-taktische. “
Und ob sie den hat ! Jüngst angeeignet, sprudelt sie, hat sie doch ein Gefecht beobachten dürfen, aus vertrautester Nähe. Die Herren vom Generalstab sind ja sowas von zuvorkommend. Und ehe der Offizier das Lob mit Verbeugung quittieren kann :
„Die napoleonischen mein ich allerdings. Kavaliere auch noch im Feld. Man muss nur mit den geeigneten Ferngläser ausstaffiert sein, schon ist einem ein Logenplatz reserviert.“
Die Gefechtserfahrene hat eine entzückte Runde um sich herum zu-
sammengeschnattert.
„Der Napoleon wickelt seine Kriege sowas von zügig ab, da ist eine Dramatik drin und ein nerviger Ablauf, schier wie auf der Rennbahn.“
Und zum Nachtessen ist man wieder zuverlässig in den eigenen vier Wänden.
„Es hat was Tänzerisches an sich, wie dieses kurzgewachsene Genie das Kriegshandwerk ausübt“.
„Als Ballett, besetzt mit lauter primoballeri assoluti.“
Der General hier dagegen, o heiligs bisserl ! der führt den Krieg noch wie mit Keule und Steinschleuder, als Urväter-Orlog im Stil von de ganz de oiden Germanen.
Man hats ja erlebt bei Austerlitz letzthin.
No no ! wehrt sich der General mit beiden Händen, ein aufge-scheuchtes Lächeln im Gesicht, ein Kapitulationsgrinsen beinah. Unvor-sichtigerweise hat er sich in Uniform hierher gewagt, dem Büßerhemd einer mehrfach geschlagenen Armee.
„Weiß wie ein Leichentuch, findenS nicht auch“, wird geraunt von den Herren die kürzlich dieses Weiß noch selber getragen haben, „justament in der Farb irrt der Prinz Eugen jede Nacht durch die Hofburg vor lauter Schmerz und Schand über die heutige Generalität“.
Dagegen die Franzosen in ihrem Blauweißrot ! Die tragen ihre Triko-lore als Bekenntnis auf dem Leib und auf das Schlachtfeld. Was auch die Gäste in gehobene Stimmung bringt. Es wird nach Champagner gefragt. Ein Diener beginnt seine Runde mit einem Tablett voller Gläser, die Herren prosten sich zu, rühmen den Champagner und die Vorzüge des Beschleunigungskrieges.
Der alte General hat sein Kapitulationsgrinsen aufgegeben, einen taktischen Rückzug in sein Inneres angetreten, man stößt auf die Kaval-lerie des Korsen an. Es ist halt viel zu viele Jahrhunderte lang umhegt in befestigten Städten Krieg geführt worden, auf Ihr besonderes Wohl trotzdem, Herr General, das bisserl mouvement und Bewegtheit hat sich immer bloß draußen beim Belagerer vor der Stadtmauer abgespielt.
Jetzt, ist man sich einig, jetzt geht’s schneidig hinaus ins Weite und Offene mit sämtlichen verfügbaren Heersäulen.
„Wer da vitesse an den Tag legt, der ist Sieger auf der ganzen Linie! „
„Vive la vitesse !“
Die Hintern wippen rhythmisch wie Kürassiershintern. Die Herren ha-ben vergessen, dass sie Zivil tragen.
„Wir lassen uns doch avec plaisir niederreiten vom Napoleon.“
„Hoj ! hoj !“ ruft nun auch der Alte, weinselig mitwippend, als ob er in der vordersten Linie galoppierte.
„Wo er sich doch als neuer Erlöser erweist, ich bitt Sie. Frieden ge-schlossen mit England für immer und ewig – „
„- ein Konkordat ausgehandelt mit dem Papst für immer und ewig – „
„ - und den Absolutismus ausrangiert für immer und ewig …naja, er war eh schon arg am Zerbröseln – „
„ - und dafür das Cäsarentum neu aufg‘richtet im Geist vom Karl dem Großen.“
Als ob der andere Kaiser, der von Österreich, nicht mehr von dieser Welt wäre. Welchen Kaiser meinen Sie doch gleich ? wird gescherzt, und der Diener ist mit einer zweite Runde Champagner unterwegs. Die Damen übernehmen die langstieligen Gläser und das cäsarische Thema.
„Zum Kaiser hat der Napoleon sich doch bloß hergeben weil la mamma drauf bestanden hat.“
Das ist die Gräfin Sedlnitzky.
„Eine Katzelmachersippe, eine korsische, die is nur auf unser alt-abendländisches Geld aus. Wann die Republik Genua diese Banditen-insel behalten hätt, wär uns die Invasion von dene Raffzähn erspart ge-blieben.“
Das ist die Gräfin Batthiany.
„Malaparte hat sie urspünglich g‘heißen. Mala ! Der schlechtere Teil.“
Das ist die Gräfin Auersperg.
„No, der schlechtere Part is jetz bei uns, wo sie uns ausräubern.“
„Die Damen in der Sippe Bonaparte sollen ja – „
„Damen ?!“
„- die sollen ja die Krone sein der Unersättlichkeit, erzählt man sich, zweihundert Roben hat eine jede im Schrank.“
„Und fünf Ringe an jedem Finger. Und der Hals is ihnen zu kurz für die vielen Colliers.“
Das ist die Fürstin Lichnowsky.
„Da gehört je ein Ehemann aquiriert, dem seine Schatulle so ein pom-pöses Wirtschaften hergibt.“
„Deswegen erfindet der Bonaparte in einer Tour neue Länder, damit der Signor Schwager und der Signor Bruder da drin König werden kann.“
„Ich sag nur : Westphalen ! Kann mir jemand erklären, wo das über-haupt liegen soll?“
Der angelernte Posa hört für sich heraus: auch mancher andere hat mit Korken geübt. Einen ertappt er, wie er, abgewandt, einen Korken im Mund hält. Und flugs behauptet, er wollte den Jahrgang prüfen, dabei ist weitum keine Weinflasche zu sehen. Und der angelernte Posa kommt zu dem vorläufigen Resümee : je verhuschter und silbenfresserischer die Aussprache, um so älter der Jahrgang.
Wie wird er aber nun selber ab schneiden, wenn er angesprochen wird und gefordert ? Es ist der fast schon greise General, der das erste Wort an ihn richtet :
„Als Dragoner sag ich Ihnen, der alte Hengst da hat Majestät !“
Und weist auf den Lakaien, der gerade an ihnen vorbei gegangen ist, ein Tablett mit leeren Champagnergläsern beiläufigst auf einer hochge-reckten Hand.
Nicht doch gegangen. Geschritten ist er, delektiert sich der bei Auster-litz geschlagene General.
„Sowas von einer souveränen Attitüde !“
Der angelernte Posa ringt ein kurzes Erröten nieder und setzt an zu einer Antwort mit dem neu angelerntem Akzent. Aber es wird nichts aus dieser Premiere, denn die Gräfin Sedlnitzy kommt ihm zuvor.
„Chapeau, chapeau. Das Personal ist noch geschmackvoller ausge-sucht als wie das meublement.“
„Ein Grandseigneur in der hohen Kunst der Servilität.“
Der so Gepriesene tritt heran mit neu gefüllten Gläsern.
„Der Herr wünschen Champagner oder Gumpoldskirchner ?“
Der angelernte Posa vergisst ein Glas zu ergreifen. Vor ihm steht Sein Lehrer Propodonsky in der silberbetressten Würde einer Lakaientracht.
„Champagner oder Gumpoldskirchner der Herr ?“ wiederholt der hist-rio primus, rex leonorum, princeps spectaculorum mit einem Gesicht das so reglos ist wie ein Münzporträt.
„Sie als Diener hier ?“
„Wir sind Darsteller in ein und derselben Aufführung“.
Propodonsky winkt seinem Schüler mit den Augen, endlich nach einem Glas zu fassen. Der gehorcht und langt mit beiden Händen zu.
„Mit zwei Fingern am Stiel !“ zischt Propodonsky. „Ich habe Ihnen doch eingeschärft : darin wie jemand ein Glas anfasst, mit zwei Fingern oder mit fünf - „
„- darin offenbart er“ repetiert brav der Schüler „sei gesamte Ahnen-reih.“
Propodonsky zischt „Korken !“
Der Schüler weiß sofort, dass er seine Lektion verfehlt hat.
„Den letzten Satz nochmal.“
„Darin wie jemánd ein Glas anfasst, mit zwei Fingèrn oder mit fünf, of-fenbart er seine gesamte Ahnénreihé.“
Mit französischem Akzent. Propodonsky belobigt, indem er die Brauen hebt.
„In diesem Sinne : betrachten Sie den Herrn vis-à-vis.“
Der Herr vis-á-vis, ein Stämmiger in der Soutane eines Geistlichen, hat sich soeben behaglich grunzend niedergelassen, auf ein Fauteuil im neu-esten Stil, dem ägyptischen. Obwohl alle um in her stehen.
„Er lernt und lernt es nicht, dabei ist er schon in der xten Unterrichts-stunde bei mir.“
Der Stämmige hält sein Glas in den gefalteten Händen. Über ihm kreuzen sich die Blicke zweier geschnitzter Sphinxen, eine auf der Rü-ckenlehne rechts, eine auf der Rückenlehne links.
„So macht einer sich selber zur Sphinx. Allerhand Anspruch !“ lästert die Fürstin Lichnowsky.
Der in der Soutane lächelt und nimmts als Kompliment.
„Vor Napoleon hat er mit Vieh gehandelt und sich Johann Baptist nen-nen lassen“ flüstert Propodonsky.
„Jetzt nennt er sich geistlicher Kammerphysikus in Diensten des Bi-schofs von Sankt Pölten.“
Der Gmeinwieser Johann Baptist, zu Diensten, ist Schutz und Schirm für alles was seelisch einen Wehdam hat. Und auch körper-lich, zweibeinig wie vierbeinig.
„Seine Eminenz der Bischof von Sankt Pölten hat meine innerste Be-rufung, in Demut zu sprechen, pfundsrichtig erkannt.“
Er blickt nieder auf seine mächtigen roten Hände, sittsam gefaltet, als bewundere er sie. Und auch das Weinglas darin.
„In einem schroffem Gegensatz zu dem Freimauerg’schwerl das was mich vertriebn hat aus meinem Ursprungsland.“
Hier reißt er seine Hände kurz auseinander und fuchtelt mit einem stämmigen Zeigefinger. Um sie gleich wieder fromm um das Weinglas zu falten.
„Und mit mir den guten christkatholischen Glauben.“
Paxvobiscum drauf, und Amen.
„Das Geld“ flüstert Propodonsky seinem Schüler zu“ das er als Johann Baptist verdient hat, schreit nach Anlage.“
„Ah, ich verstehé. Ein Klient.“
„Reden Sie ihn mit Monsignore an. Dann erhöht er die Einlage. Und legen Sie beim nächsten Mal nicht wieder so viel Rouge auf.“
Da errötet der Schüler doch noch, unter den dicken Schichten Puderrot. Propodonsky schreitet durch die Reihen mit einem Kistchen Zigarren zwischen den Champagnergläsern.
„Aus eigener Fabrikation des Hauses. Die Herrschaften wollen sich bedienen.“
Rauchdüfte steigen auf, genüssliche Schwaden. Nun, entziffern die Be-sucher, enthüllt und erfüllt das tropische Ölgemälde erst seinen Sinn. Und auch, woran die adretten Schwarzen da werkeln. Man bläst ihnen aus spitzen Mündern anerkennende Räuchlein ins Gesicht und fühlt sich dabei an die rauchigen Rituale erinnert, die man bei der heiligen Messe mit den geschwenkten Kohlebecken verrichtet hat.
Wenn man ein Messbub im Stephansdom war.
„Die Tabakblätter werden heutzutag nicht mehr mühselig vom Balkan herauf gezollt“ doziert der Graf Auersperg.
„Sondern von den westindischen Inseln. Wohlgemerkt unter Miss-achtung der spanischen Hoheitsrechte“ weiß der Graf Batthiany. Und lässt eine Kette von Rauchringen aus seinem Mund quirlen, akkurat ge-dreht wie Apfelschnitze.
„Napoleon überrennt Spanien, er rennt ja alles nieder, und dadurch kommen die Kolonien da drüben frei und stehen nackert da ohne – „
„- ohne Regierung und ohne Export.“
„Exakt was ich sag. Und schauenS, in dieses Vakuum g‘hört hinein ge-sprungen ehe England schneller ist“.
Und man beglückwünscht halblaut und Rauchfahnen hochblasend das gastgebende Haus dazu, dass er bereits gesprungen ist. Noch vor den Engländern.
„So erweitert der Napoleon persistant unseren Blick“ springt die Gräfin Auersperg ihr bei, „man kommt gar nicht mehr nach mitm Hin-schaun.“
„Und nicht bloß unsern Blick“ schwärmt die Gräfin Batthiany „er er-weitert die Welt insgesamt, er breitet sie vor uns aus, er legt sie uns zu Füßen“.
„Und macht“ lacht der alte General “den Duft der Havanna zum Odeur der Zukunft“.
Er will Terrain gutmachen, lässt sich von Propodonsky eine Zigarre befeuern. Vor dem Ölgemälde, als wollte er doch noch zur Attacke bla-sen lassen.
„Parole : lasset uns baden darin, in der Wildheit des Urwalds !“
„In Ihrem Fall“ spitz die Gräfin Sedlnitzy „doch mehr die Wildheit des Botanischen Gartens. Mit am Glashaus drumrum, damit Sie sich nicht ewighin eine Influenza einfangen“.
Als ob die Zigarre des Generals just die gewesen wäre, die zu viel an-gezündet wurde, werden jetzt Fächer energisch gegen den Qualm ein-gesetzt. Und da der Qualm sich nur feiner verteilt, nicht verzieht, wenden sich die Fächerschwingerinnen Gmeinwieser zu, der auf der anderen Längswand des Salons von einem Damenflor umgeben ist.
Gmeinwieser, von den Gefahren des neumodischen Impfens zum alt-hergebrachten Volksglauben zur Volksmedizin wechselnd und zurück, ist bei der Leibesfrucht angelangt, und dass er ein unfehlbares Gespür trägt in seinen guten Händen – inzwischen lässt er sie warm auf Scheiteln, Na-cken, Schultern seiner Zuhörerinnen verweilen - ob im Mutterschoß ein Bub heranwächst oder ein Mädchen.
Sogleich echauffieren sich ein paar Damen. Der geistliche Herr, in allen Ehren, soll auf der Stelle eine Probe geben. Aufgeregt sirren Fächer.
„Und Gott der Herr schaut nieder und sagt: was ich geschaffen hab ist in guter Hand. Meine Wenigkeit ist die gute Hand schlecht- hin. Paxvobiscum drauf, und Amen.“
Er bekommt einen Ehering zugesteckt, bindet ihn an einen seidenen Faden. Welche Dame nun ? Zwei, drei stellen sich, ganz ungschamig.
„Ausgrechnet die !“ hechelt in der zweiten Reihe die Gräfin Batt-hiany.
“Die ist ja eh immerfort trächtig.“
Quacksalberei, was der Pfaffe da praktiziere, wird noch weiter hinten gehechelt. Auf der Stelle verschwindet der Ring in Gmeinwie-sers Faust. Der geistliche Herr zürnt. Der Einwand aus dem Hinter-grund, feig anonym, möge laut wiederholt werden, in Christi Namen.
Und schlägt das Kreuzeszeichen über sich.
Niemand wiederholt. Auf Gmeinwiesers Bauerngesicht malt sich die Verbitterung dessen, der seines Glaubens wegen verfolgt wird. Sitze nicht wo die Lästerer sitzen, spricht die Bibel, denn sie sind die verächtlichsten Wesen auf Erden.
Wer also stellt sich dem Auspendeln ? Und drohend : man könne mit diesem Verfahren auch Freimaurer ermitteln. Todsicher. Sodo-miten. Jakobiner. Heimliche Muselmanen. Calvinisten. Sogleich gibt man sich aufgekratzt.
„Oh ja, lassma uns auspendeln, damit der Jakobiner in uns endlich offenbar wird !“
„Das gibt a Hetz !“
Es wird Schlange gestanden, die hinteren gucken den vorderen über die Schulter. Wenn der Ring sich in einen Kreis schwingt, ist der Ausge-pendelte ein sicherer Christkatholischer.
Jedenfalls beim Kreis rechtsherum. Der Kreis linksherum – ausle-gungsbedürftig. Der Ausgependelte könnte es genausogut an der Milz haben, oder die Waage als Tierkreiszeichen die Waage.
„Sind Madame Waage ?“
Madame ist Waage und der Monsignore wird mit Kusshändchen be-dacht. Wie aber, wenn das Pendel gerade schwingt ?
„Auf und nieder, im rechten Winkel zu mir, das ist ein Freimaurerischer. Oder er laboriert an einem Gallenstein.“
Wer also lässt sich auspendeln als gallensteiniger Freimaurer ? Einige riskieren es glucksend und müssen erfahren, dass sie leibseelisch makel-los sind wie ein frisch geworfenes Lamm.
„Und wenn das Pendel quer schwingt ?“
Gmeinwieser schweigt düster.
„Bekennen Sie’s schon, Monsignore. Der is a Jud.“
Er wirft beide Hände abwehrend in die Höhe.
Bewahre, Juden pendelt der Monsignore nicht aus. Er fürchtet ihre Rachgier, vor der ihn auch sein geistliches Gewand nicht schützt. Denn der Jud ist hintertückisch veranlagt vom Alten Testament an. Dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis hat schon Lukas gewarnt im Kapitel zweiundzwanzig, Vers dreiundfünfzig.
Der Jud erzwingt dass die Christen sich impfen lassen damit Krank-heiten in sie einfahren. Und wenn den Arzt ruft, ist der ein Jud in zwei von drei Fällen. Denn der Jud schleicht sich in in die Ärzteschaft, in die Apothekerschaft, in die Wissenschaft. Der Jud ist der Einschleicher in aeternam aeternitats. Der Kaiser, der des Heiligen Römischen Reiches wohlgemerkt, hat darum den Jud in strenger Obhut gehalten. Aber nun ist die Obhut aufgehoben durch den Code Napoleon und die höllische Brut schwärmt aus und errichtet das Reich Zion.
Des Monsignore Hände verkrallen sich. Er pendelt keine Juden aus. Aber beliebig Damen, ob mit Nierensteinen oder gesegneten Leibes.
Die nächste in der Schlange ist die Auersperg.
So ist noch keiner hereingekommen wie der Gast, der jetzt in der weit geöffneten Tür des Salons steht. Er ist nicht einfach nur gekommen, er ist aufgetreten. Er hat die Würde des Türrahmens, durch den die anderen lässig plaudernd geschlendert sind, in lockeren Grüppchen, achtlos und en passent, er hat die Würde dieses Türrahmens bewusst gemacht. Auf einmal nehmen die Gäste wahr, dass die Supraporte darüber stukkiert ist mit Amouretten und mit Lorbeerzweigen.
Und das nur, weil der neue Gast darunter steht. Der Inhaber der Rolle, nach der das Stück heißt. Der sich erst im dritten Drittel des ersten Aktes blicken lässt, damit die Chargen hinreichend Zeit gehabt haben, auf sei-nen Auftritt vorzubereiten. Er steht als Gruppe in der Tür. Als Arrange-ment, einen Arm um die Gattin gelegt. Von hinten fällt das Gaslicht aus dem Stiegenhaus über die beiden, zisiliert sie mit einem scharfen hellen Rand aus dem Dämmer des Vorraums heraus, wie ein Nimbus, wie er vordem den Heiligen zustand.
Er steht wie Marc Anton, der gleich seine Totenrede auf Cäsar beginnen wird.
Nur die höflichsten unter den Gästen bringen noch den Satz zu Ende, den sie eben an ihr Gegenüber gerichtet haben. Der Monsignore hat erkannt dass sein Solo fürs erste beendet ist. Nur fürs erste, denn er hat reichlich Damen-Adressen gesammelt. Er erhebt sich mannhaft, verlässt die Nachbarschaft der beiden Sphinxen und schreitet auf die Neuan-kömmlinge zu. Tous le monde hier im Salon wird jetzt sehen, dass er ihnen gleichrangig ist. Ein Eingeweihter ist, ein Konfident, der Vertraute dieser märchenweißen Erscheinungen.
Der der Dame nun vaterwarm einen Kuss auf die Hand schmatzen darf. Der die Feenweißen in die Saalmitte geleiten darf, in ein Oval im Parkett-boden. Ein Stern markiert das Zentrum des Ovals, niemand hat es be-merkt bisher. Aber nun, da das weiße Paar sich darauf postiert hat, ist es das Zentrum der ganzen Soirée. Hier vollführt der Monsignore etwas, was den Gästen ein überraschtes Hauchen entlockt. Er küsst auch dem Herrn die Hände. Beide Hände, obwohl sie behandschuht sind.
Dann birgt er sie in seinen Pranken wie eine Monstranz.
Die Aufmerksamkeit des Publikums, reimt der angelernte Posa sich zusammen, ist umsichtig geführt worden von der Supraporte zum Gas-licht rückwärts aus dem Treppenhaus hin zum cremigen Weiß der Gattin-nenrobe hin zum ebenso cremigen Weiß der Gattenrobe und endlich hin zu den Handschuhen, die der Monsignore geküsst hat. Um das was in den Handschuhen steckt, ebenso cremig weiß, wird sich das Dramolett, das hier zur Aufführung kommen soll, ohne Zweifel drehen.
Posa sichert sich dafür einen Platz.
Nonchalant aber spitzneugierig gruppieren sich die Gäste um das weiße Paar. Der weiße Arm des Herrn verlässt nicht die weiße Taille der Dame. Der Monsignore übernimmt Einführendes. Mit gedämpfter Stimme, wie im Beichtstuhl. Wer sich nicht hurtig genug darum herum gruppiert hat, muss sich nun durchfragen zu solchen, die schon einen Happen erlauscht haben.
„Zwei Musiker, wird ventiliert“.
Er oder sie oder beide ?
„Er. Ein Pianist. Eine Zelebrität“ wird von links souffliert.
„Aber net bei uns Wien, von weiter her“ wird von rechts souffliert.
„Es soll was so was gewisses Verfolgtes mit dabei sein.“
„Schmerzlicher Bruch in der carrière. “
„Emigrantenschicksal. Verfolgung durchn Napoleon“.
Der Monsignore lässt die Hände dessen nicht los, der ein berühmter Pianist ist. Wer sich enger in die Runde drängt, hört nun auch, dass die weiße Gattin schon mittendrin ist in der Erzählung von seinem Spiel. Dass die Salons des Nordens ihm zu Füßen liegen.
Aber auch den Neid der Mindergefeierten lässt sie nicht aus. Sein Anstachgestacheltsein zu immer größeren Großtaten. Sein Vollkommen-seinwollen, und wie er den schwächelnden vierten Finger der Rechten in einer Schlinge gefesselt hat, weil der beim Tremolieren nicht mithalten konnte. Wie er in der Folge auch den vierten Finger an der Linken diszipliniert hat durch Fesselung. Wie daraus eine Überdehnung der Sehnen entstand. Verschärft durch den Frost des skandinavischen Win-ters, durch den sie gereist sind auf Tourneen von Kopenhagen über Christiania via Stockholm nach Helsingfors. Aufwärmtemperaturen und Grog, an den Kaminen der Gastgeber. Minusgrade auf Pferdeschlitten, die im Schnee stecken geblieben sind.
Im Musikzimmer wartet ein Tafelklavier. Der Deckel ist aufgeschla-gen, die Kerzen brennen bereits. Samtsessel, aufnahmebereit, umstehen erwartungsvoll das Arrangement. Aber Propodonsky muss mit der freien Hand, die nicht das Tablett balanciert, weit ausgreifende Gesten machen.
„Strengstes reservée vorderhand noch, die Herrschaften ! Auf haus-herrlichen Wunsch soll das Instrument allein vorbehalten sein für – „
Nicht dass er hier abbräche, weil er fast den Namen dessen preisge-geben hätte, der hier erwartet wird.
Weit schlimmeres Debakel. Der, dem er kraft seines Amtes verbieten muss, sich ans Klavier zu setzen ist sein vormaliger Erster Held.
Christian Justus Amadé Langebehn.
Langebehn schaut an seinem Prinzipal vorbei. Greift, sehr langsam, ein Glas von dessen Tablett.
„Tragende Rollen nennt man das, wenn ich mich recht erinnere.“
Und nimmt einen langen Schluck.
„Was für ein Gesindel doch auf den Flößen so angeschwemmt wird. Vieh zwischen Vieh .“
Langebehn hat sich ans Klavier gelehnt. Sollen die anderen um ihn kreisen, er bleibt statuarisch. Die Kerzen am Notenhalter leuchten ihn vorteilhaft aus. Er wolle diesem Monsieur Unbekannt, der hier statt seiner wartet werde, den Ruhm nicht nehmen, aber -
„Die Zeit des Pianofortes ist vorbei.“
Die Auersperg fächelt, die Batthiany fächelt, die Lichnowsky fächelt.
„Hab ich das jetzt recht verstanden ?“
„Aber gewiss doch, die Damen. Schon der Name ! Pianoforte . Das erinnert doch an Festungen.“
Fortezza, forteresse, Quadern.Verschanzungen, eingemauertes Dahin-gestorbensein.
„Hinaus ins Offene ist der Weckruf der Zeit, mesdames !“
Im Munde dieses Schönen fühlt sich die Fürstin Lichnowsky bestätigt.
„Meine Rede von vorhin. Vitesse ! Vitesse !“
Langebehn hält mit seiner weißbehandschuhten Hand ein kleines Metallding hoch. Am ausgestreckten Arm, aber mit nur drei Fingern. „Das hier wird das Musikglück der Zukunft sein !“
Man braucht nicht mehr Fingerfertigkeit dafür, Klavierunterricht, Notenständer, ein Orchesterpodium, nur noch den eigenen Atem.
Schweigen, dann tiefgehauchten Oooooohs.
„Es findet Platz in der Faust des Volkes. Noch im Mantelsack des Dragoners, der hinaus reitet aufs Schlachtfeld.“
Auch der alte General ist Feuer und Flamme. Langebehn beklopft das Blechkästchen von allen Seiten, um die Winzigkeit des Wunderkäst-chens zur Geltung zu bringen. Sein Leichtgewicht, seine Schnittigkeit.
„Spielen, Maestro, spielen ! Zu Gehör bringen !“
Mit dem Lächeln des Marc Anton hebt er das Blechding an seine Lippen, den Lippen Marc Antons. Mit der zärtlichen Behutsamkeit des Romeo stülpt er ihm die Lippen entgegen.
„Aaaaaaaah... „
Und alle Damen ziehen Luft ein, wie Langebehn einzieht. Und wenn Langebehn sie wieder ausstößt, möchten alle das Blechding sein.
Eine Glocke schrillt.
„La hôtesse und maitresse de maison erlaubt sich zu bitten zum defi-lee“ schreit ein kleines Stimmchen. Aber das sehr laut.
Ein kleines Kerlchen mit Turban auf dem Kopf, Pumphosen an den Beinen, roter Schärpe um die Bubenhüften. Sein Gesicht schwarz, seine Hände sind auch schwarz. Ob seine Farbe auch nicht abgehe, wird gescherzt, ob es Modell gestanden hat für die Schwarzen auf dem Gemälde wird es gefragt. Dann fragt man nichts mehr, denn er zieht einen Vorhang beiseite, und man erblickt die Gastgeberin.
„Eine süperbe Inszenierung.“
Die Auersperg zeigt sich kennerisch, die Familie besitzt eine Loge im Burgtheater. Die mannshohen Fenstertüren hinter der Gastgeberin stehen offen, die weißen Vorhänge wehen verspielt herein. Die Gastgeberin hält Hof auf einem Fauteuil mit grünem Atlasbezug. Das Grün korrespondiert reizvoll mit dem Grün der Biesen, die auf ihre schwarzen Hosen auf-gesteppt sind.
„Echte Sansculotten“ rühmt der Graf Sedlnitzy „unsere hôtesse ist eine Modische und eine Emanzipierte dazu.“
Ihre obere Hälfte wird umschlossen von einem Fräcklein, ebenso schwarz und eng wie ihre Sansculotten. Es reicht nur bis knapp zum Nabel. Ohne Revers, was ihre eine pikant militärische Anmutung verleiht. Ebenso militärisch ein hoher Stehkragen, in dem sich das Grün der Biesen und der Fauteuilbespannung wiederholt.
Wie auch bei der Weste, die sich zwischen den offenen Flügeln des Fräckleins zeigt, und über das goldenene Knöpfe paradieren wie Liniensoldaten. Nach unten hin, zum Hosenbund, springen die Knöpfe auf einmal lustig weit vor. Denn die hôtesse hat ein stattliches Bäuchlein. Einen Wanst geradezu.
Der unter ihrer weiten Kutte verborgen blieb, als sie, die nun durch ein Lorgnon ihre Gäste betrachtet, noch die Ehrwürdige Mutter war. Quer über ihren Knien liegt ein Pracht- und Musterstück ihrer Zigarren, unan-gezündet, als Szepter und Symbol ihrer geschäftlichen Potenz.
„Es ist der Willen von Erlaucht dass her nicht geraucht wird“ meldet der kleine Turbanschwarze mit einer Verneigung und vor der Brust ge-kreuzten Händen. Manche Zigarre schnell in seinem Turban abgelegt, um unbehindert bei der Gastgeberin die Honneurs zu machen.
„Eine beauté ersten Ranges.“
Das gilt der Schönen neben ihr, in einem weißen Griechenkleid. Ihre Brüstchen sind verwegen hoch geschnürt. Höher geschnürt als die weib-lichen Gäste es sich getraut haben.
„Wo sie die bloß her hat„ zischt die Fürstin Lichnowsky der Auersperg zu, nun erst so recht glücklich, dass ihr Gatte ferngeblieben ist.
„Bei einer beauté ersten Ranges g’hört nicht g‘forscht nach Umstän-den des Erwerbs und diesem ganzen indiskreten frou-frou“ zischt die Au-ersperg zurück „weil sie eh aus nix anderm besteht als wie eben dem frou-frou.“
Das Frou-frou selbst könnte den Damen keine stimmigere Auskunft geben. Der beauté erscheint selbst nur noch sehr ungewiss, dass sie einmal die Demoiselle Pfrenhuber gewesen sein soll.
Wegen des neuen und allerletzten Gastes, der durch die Tür des Sa-lons eintritt, hätte es keine Supraporte über dem Eingang gebraucht. Der letzte Gast ist die Beiläufigkeit in Person. Wenn drei wie er beieinander stehen, fällt einem erst der vierte auf.
„Ist noch Einlass ?“
Der Späte ist ironisch, nicht hiesig und nicht laut. Propodonsky hätte ihm mangels Stimm-Umfang kein Engagement gegeben, nicht einmal Unterricht. Anders als Propodonskys Schüler hat er seiner Bleichheit nicht mit künstlichem Rouge aufgeholfen. Die Bleichheit kommt ihm zupass, eine weitere Maske.
„Wer vom Hofe kommt, genießt das Privileg der Ultimus zu sein.“
Fünf Schritte hinter ihm ein Begleitmensch. Adlatus, Adjutant, was auch immer. Propodonsky offeriert dem Bleichen Gumpoldskirchner. Auch wenn er weiß, dieser hier trinkt nicht. Aber er verkostet.
„Zuviel Säure für einen 1798er Merlot.“
Woher der bleiche Rheinländer das weiß. Aber der bleiche Rheinlän-der weiß alles
„Seine Durchlaucht Clemens Lothar Wenzel Fürst Metternich“ schreit de Kleine mit dem Turban und geht ihm vor zur Gastgeberin.
„Themen der Konversation bisher ?“ fragt Metternichs Begleitmensch Propodonsky, der betont an ihm vorbei schaut und dafür den schwarzen Koffer betrachtet, den der Begleitmensch in der Hand hat.
„Ziehen Sie das Geplauder ab. Geben Sie nur die Kernstimmung.“
Die Kernstimmung, referiert Propodonsky, wird bestimmt vom näch-sten Krieg.
„Dem vierten Koalitionskrieg gegen den Gewissen für den Sie einmal geschwärmt haben, junger Freund.“
„Ich bin nicht Ihr Freund. Weiter.“
„Mit dem Ausbruch wird täglich gerechnet. Mehr Truppen als je, mehr Ausrüstung als je. Das lässt Rendite erwarten. Wer zu spät investiert, ge-hört heute schon zu den Besiegten.“
„Präziser, wenns beliebt.“
„Es wurde die Gründung dreier neuer Aktiengesellschaften verabredet. Die Dame da drüben – die in dem honiggelben Kleid – fiebert sie auf den nächsten Waffengang.seitdem sie Logengast war bei einer Kampfhand-lung zwischen den Österreichern und den Franzosen. Bei der nächsten, sagt sie, feiern die von ihr finanzierten Rüstungsgüter Feuertaufe. Sie will ihrem Reibach zuschauen. Reibach, wörtlich. Und zwar auf beiden Seiten. Auch wörtlich.“
„Name bekannt ?“
„Sehr wohl.“
„Wir wollen wissen wieviel sie anzulegen gedenkt.“
„Schriftlich ?“
„ Schriftlich. Sie handhaben eine höchst kunstvolle Kalligraphie.“
„Mir eine Ehre.“
„Bemerkenswert für einen, mit Verlaub, Lakaien. Die fürstliche Kanzlei ist jedesmal erfreut, wenn sich eine Notiz von Ihnen einstellt.“
„Meine Schönschrift – „ Propodonsky räuspert sich betont – „rührt her vom Abschreiben der Rollenbücher. Wie es üblich ist im Schauspiel-beruf.“
„Schauspielberuf ! Die Zeit der gelernten Komödianten ist abgelaufen. Dilettanten drängen auf die Bühne. Wer vordem Viehtreiber war, ist Corporal geworden. Wer Corporal war, hat Aussicht auf den Othello.“
Der Adlatus scharrt, Metternich verlangt nach seinen Diensten.
„Wenn Sie gestatten, Kunterkasten. Eine Frage meinerseits – „
„Ich höre.“
„Was tragen Sie da in dem Koffer mit sich herum ?“
„Spielzeug, Propodonsky. Nichts weiter als Spielzeug.“
Und beeilt sich, es seinem Herrn, Metternich, hinterher zu tragen in den Thronsaal der Hausherrin. In dem ihr gerade der Monsignore aus Sankt Pölten seine Aufwartung gemacht hat, gefolgt von Graf und Gräfin Sedlnitzy, Ehrwürden Batthiany und den Herrschaften Auersperg.
„Ma biche…mon tresor“ schnaubt die Ehrwürdige Mutter der Demoi-selle ins Ohr in den Verschnaufpausen zwischen den cours. Sie bringt ihr die Koseworte dar wie die Turmaline, Smaragde, böhmischen Granaten, die die Prunkgewänder der Allerheiligsten Jungfrau geschmückt haben. Jetzt ist die Allerheiligste Jungfrau umbesetzt. Zum ersten Mal in ihrer Karriere fühlt sich die Demoiselle so inszeniert wie sie es immer schon herbei geträumt hat, und sie muss nicht einmal mehr Text lernen.
„Wir sind in eine Epoche hineingeschmissen worden, chérie, in der sich alles zuunterst zuoberst umstülpt. Nur du bleibst, was du immer warst… meine Principessa…“
Und küßt der Principessa den Nacken, hinter einem gespreizten Fächer mit Ornamenten aus Tabakblüten.
„Kurios“ zischt die Sedlnitzy, „ich könnt beschwören, wie ich mich verneigt hab vorhin vor der Belleza von der Hausherrin, da hab ich mei-nen linken Ohrring doch noch g‘habt“.
„Und ich meinen Armreif“ zischt die Batthiany.
„Das Ökonomische“ lächelt die Ehrwürdige Mutter derweil der Auers-perg zu „allerdings ist meiner mignon durchweg ein Graus“.
Aber da hat sie sich in ihrem mignon getäuscht.
„Der Mensch da drüben“ hat die aufgeschnappt, „der da mit seinem viel zu vielen Rouge, der geht hausieren mit den appetitanregendsten Kondi-tionen. Er ist gerade eine Filialbank am Einrichten, für den Herrn Papa aus Frankfurt. Hier bei hier uns in Wien.“
„Und die Brüder“ hat die Auersperg erlauscht, „in London, in Neapel, und in Paris.“
„Paris ! Man höre : Paris.“
„Die Dividenden, sagt auch der General, sollen horrend sein.“
„Ah, Sie meinen den mit diesem ornamentigen Französisch in der Aus-sprache.“
Propodonsky genießt die Schmeichelwölkchen, die sich um seinen Schüler verdichten. Der Schüler nimmt Propodonskys Blick auf, zwinkert ihm zu. 2400 Gulden zu acht Prozent, artikuliert mit zierlich fran-zösischer Einfärbung, das ergibt übers Jahr gerechnet…einen Moment s’il vous plait, lassen Sie mich das überschlagen… Propodonsky zwinkert seinem Schüler zurück. Ganz der Theaterdirektor, der beim Solo des Helden in der ersten Kulissengasse steht. So wie Dalberg seinerzeit in der ersten Kulissengasse stand, als Propodonsky den Franz Moor gegeben hat.
Aber Dalberg stand nie in der Gasse, und Propodonsky war nie der Moor. Und nun ist Propodonsky zum Souffleur heruntergekommen. Nein, aufgestiegen, denn er kann seinem Schüler melden „Der Herr mit der grünen Weste da sucht Kapital. Das Produkt dazu hat er schon.“
„Branche ?“
„Schiffsbau, Herr von Rothschild.“
Der Text ist Prosa. Ohne Pathos und ohne Metaphern. Alltagssprache. Aber die Fallhöhe ist gewaltig. Shakespeare und Schiller geraten ins Hin-tertreffen, sogar Sophokles.
„Schiffe neuen Typs für die Donau, Herr von Rothschild. Die Pläne sind fertig“.
Die neuen Schiffe können sowohl Talfahrt wie auch Bergfahrt. Von Wien nach Budapest in zweieinhalb Tagen. Wenn man die Fahrrinne da und dort ausbaggert sogar nur an einem Tag, einem einzigen Tag !
Propodonsky ist donauerfahren.
„Beladen mit Handelsgütern, jawohl auch Tabak ! Und Lustreisenden, versteht sich. Und Truppen, Truppen, Truppen !“
„Und Wallfahrern“ freut sich der Monsignore.
„Auf der Seine in Paris fährt doch seit Jahren so ein Schifferl“ hat auch der General gehört.
„Soll man etwa den Franzosen“ näselt Metternich “schon wieder den Vortritt lassen, auf unserer Donau - ?“
Seine Schleiflaute sind zum Erbarmen, seine Intervalle zwischen den Sätzen viel zu kurz.
„Nicht mehr sklavisch abhängig sein, messieurdames, von der Gunst re-spektive Ungunst der Elemente“ näselt Metternich.
„ Der urgewaltige Antrieb, der schon Ikarus nicht ruhen ließ.“
Propodonsky wird auch Metternich unterrichten, damit wenigstens die Finanzen aus dem Näseln herauskommen.
„Selber kräftige Schwimmstöße vollführen. Oder vielmehr vollführen lassen. Mittels einer Schraube am Heck.“
„Euer Gnaden verzeihen, aber Schrauben sind doch bis immer in a Holz neibohrt worden...“
Metternich lächelt, hebt den Finger.
„Mein Adlatus wird sich sogleich bemühen.“
Kunterkasten bemüht sich, bückt sich zu seinem schwarzen Koffer.
„Eine tragende Rollen nennt man das im Theater“ faucht Propodonsky ihm zu.
„Es verlautet“ faucht Kunterkasten zurück „Sie verhandeln mit dem Kärtnertortheater. Hinter dem Rücken der Herrin.“
Jetzt sind sie quitt. Kunterkastens schwarzer Koffer springt auf.
„Es ist Anschauungsmaterial präpariert worden. Sie werden staunen.“
Kunterkasten räumt aus dem Koffer, was er vorher Spielzeug genannt hat. Dampfschiffe, die wirklich so klein sind wie Spielsachen. Und man staunt.
„Mei, san die herzig…“
„Im Inneren des Rumpfes, ich appelliere an Ihre Vorstellungskraft, ar-beitet eine Dampferzeugungsmaschine.“
Über alle Köpfe hinweg hebt die Hausherrin die Zigarre, die auf ihren Knien gelegen hat, nun doch als Szepter, und dirigiert die Dienerschaft auf Position.
Der Prinzipal zischt dem kleinen Schwarzen Regieanweisungen zu, eine grüne Samtportiere im Rücken, am Kopfende de Tafel, wo die Ehrwürdige Mutter gleich Platz nehmen wird. Und Ihr da werdet hier still zu sitzen haben, Plapperbarone und Wuselmamsells, auf Euren von der Herrin zugewiesenen Plätzen, andachtsam wie im Burgtheater.
Denn Propodonsky wird die Spielfläche ganz allein beherrschen.
„Zum hors-d’oeuvre Trüffelterrine“ wird der schwarze Turbanbub an-sagen, und der histrio primus wird seine Bühne betreten.
Eine Bühne, grandioser als je eine, auf der er früher agiert hat. In den Nebenrollen lauter Originalbesetzungen statt Knattermimen wie die Kun-terkästen und die Langebehns, die sich ausgeben als griechische Göt-ter, römische Helden, schottische Könige.
Hier sitzt Macbeth in Person, Jupiter, Alkmene, Richard III, und an ihren Tischmanieren wird sich erweisen ob sie den Rollen gewachsen sind die sie zu spielen haben.
„Wir geben uns die Ehre die Herrschaften zu Tisch zu bitten“ schreit der kleine Janitschare. Ende des Vorspiels. Die Courtine geht auseinander. Beginn der Aufführung.
In Propodonskys früherem Leben ist der Vorhang für das gesamte Ensemble auseinander gegangen, sogar für Schuff und Kunterkasten. Die grüne Portiere wird allein ihm, Propodonsky, zu Diensten sein. Sie wird sich verheißungsvoll bauschen, dann sich verheißungsvoll teilen und histrio primus in einer tragenden Rolle zeigen. Mit dampfenden Speisen auf dem Tablett, auf die sich aller Augen richten.
Aber der princeps spectaculorum wird die Blicke auf sich selber lenken. Seine Mimik, er ganz zurück nimmt und die umso ausdrucksstärker sprechen wird. Er sie auf die Grazie lenken, mit der er die Arme bewegt, und Spiel seiner Beine. Die Terrine de salmon wird er reichen mit dem sanguinischen Charme des Herzogs aus Wie es euch gefällt, die Beilagen mit dem Schmunzeln des Ritters Götz von Berlichingen mit der eisernen Faust, beim Braten wird man ihn erleben als den Haudegen Lionel aus der Jungfrau von Orleans.
Und wenn er der Fürstin Lichnowsky die Filets vorlegt, wird er dezente Blutrünstigkeit andeuten wie in Shakespeares Titus Andronicus, der doch auch von abgesäbelten Körperteilen handelt. Und wenn Propodonsky schließlich das Ananas-Sorbet aus dem Treibhaus aufträgt, wird er sich ein kleines Extempore um die Demoiselle Pfrenhuber gestatten, wo doch der Schlagobers das Fruchtfleisch umschmeichelt wie die Äbtissin die Ohrläppchen der Demoiselle.
Er wird das Sahnewölkchen dicht an diesem Kinn vorbei schweben lassen, so dass ein Bläschen an ihrer Wange hängen bleibt o pardon quel malheur und ihr mit schnellem Blick bedeuten, dass er es tiefer träufeln lassen möchte in Regionen, die für ihn nun freilich unerreichbar geworden sind.
Alles zunichte.
Die Samtportiere bläht sich, sie faucht wie ein pathetischer Kater, dabei bläht sie die Küchendünste mit herein. Jemand ist in die Falten gerammt, ringt mit der Drapierung, es wird am Samt gerissen, es wird geflucht, aber niemand kommt zum Vorschein. Bis der kleine Schwarze die Portiere auseinanderzieht. Ein Zornroter bricht hervor, halb noch in den Vorhang verheddert, kurzbeinig, krummbeinig, nimmt niemand wahr, ist ganz bei seinen Fingern, von denen er Soße schleckt.
„Der hat sich in der Küche bedient“ erkennt der Graf Auersperg. Er wird von dem Küchenschlecker beiseite geschubst, der Graf Batthiany wird gerempelt.
„Dem gönnt mans dass er für den Napoleon schwärmt“
„Den anderen Dorfhammel.“.
„Und lasst sich auch noch von nennen, wo doch a jeder weiß“ mault die Auersperg, „dass er eigentlich der vom Rübenacker heißt, dabei soll er -“
Die Auersperg schweigt, wie abgeschnitten. Weil der Spätgast einen Finsterblick schweifen lässt. Die Stille ist entsprechend.
Wie auf einen Rübenacker wirft er sich auf das Piano, das ihn stumm-brav erwartet hat. Schwer setzt er die Finger auf die Tasten, wie zehn Krieger. Was für gewaltige Pranken, durchfährt es manche Dame und sie mustert die schmächtigen Hände ihres Gatten, die neben ihr artig gefaltet auf des Gatten artigen Knien liegen. Der am Piano schaut seine Finger genau so wütig an wie eben noch sein Publikum, unter den Nägeln noch Bratensoße.
Seine ersten Noten, allegro assai, rollen düster aus einer f-Moll-To-nika heraus wie Geschützlafetten hinter Pferdegespannen. Es ist eine Lust, die Räder zügig rollen zu hören, das Bedrohliche rollt zügig davon, eine Art optimistischer Gesang rollt hinterher. Ein Depp wer da nicht einstimmt.
„Himmel, was für ein viriler Anschlag.“
Bukolische Sechzehntel lassen die Geschützrohre mit Zweigen über-wachsen, mit freundlichem Laub, als sollten sie vor dem Feind verborgen werden, als sollte die Kanonade doch noch nicht gleich beginnen. Die Damen fühlen sich animiert zu einem Waldspaziergang, vor ihren Füßen schwanken Farnbüsche. In die artig gefalteten Hände der Männer schie-ben sich die Hände ihrer Frauen, wie damals beim Hinaufschlendern hinauf auf den Kahlenberg lange vor der Hochzeit.
Den ersten Satz lässt der Prankenmensch, den Kopf tief auf die Tasten gesenkt und unter tiefem Durchschnaufen, unmittelbar in das Andante con moto des zweiten übergehen. Mit zarten Trillern, die Pranken sausen auf der Klaviatur hinauf und hinunter. Wie das Piano das nur hergibt, das Instrument auf dem er uns das spielt, das gibt’s doch noch gar nicht. Und da singen auch die Kanoniere wieder, die hochgeschnürten Brüste wo-gen, auch und grade die faltigen. Den Damen wird’s feucht im Schritt, Fächer wandern zwischen die Schenkel. In diesen Fingern, in diesem Gesang der Kanoniere, das keinen Widerspruch zulässt, ist die neue Zeit.
Metternich vermerkt mit Missbehagen, wie dem Auditorium die Con-tenance abhanden kommt. Das unwiderstehlich Voraneilende dieser Mu-sik ist ihm ein Graus. Er will nicht dass vorangestürmt wird, wenn er selber nicht vorne dran ist. Jedes con moto ist ihm suspekt, bei Noten wie bei Untertanen. Wechsel der Tonart erst recht, unversehens wächst er sich aus zum Wechsel des Regimes.
Erst auf dem Notenpapier, dann draußen in der Wienstadt und dann in ganz Europa. Er, Metternich, vor der Trikolore geflohen, hat die Ohren offen zu halten für Schwarmgeisterei der Töne wie der Gesinnungen.
Durch die Gardinen der angelehnten Fenstertüren sieht er draußen auf dem Balkon Langebehn. Sieh an, der eine Herr Tonkünstler hält die Nähe des anderen nicht aus. Selbstvergessen bläst er auf seinem blechernen Instrument, das noch keinen Namen hat.
Und Metternich erspäht noch zwei andere Schattenrisse draußen in der Nacht, in aufgeregter Bewegung, vorne am Geländer. Sie wenden ihm und Langebehn die Rücken zu. Metternich schiebt den Vorhang beiseit und erkennt nun das das Paar.
Salomon Baron Rothschild mit der Demoiselle Pfrenhuber. Metternich muss lange seine Augen ans Dunkel gewöhnen, um wahrzunehmen was die beiden da in so flattrige Bewegung bringt. Etwas, das sie auf der Brüstung des Balkons entlang gleiten lassen. Und nun lächelt Metternich doch noch. Die führen sich auf wie letzthin beim Geburtstag der Kinder. Fehlt nur noch dass sie Seil hüpfen.
Die Demoiselle und Rothschild spielen mit den Miniaturen der Dampfschiffe, seiner Dampfschiffe !
Sie hüpfen nicht Seil. Sie spielen Dampfkessel.
„Fffff…..t ! Fffffffffffffffff…t !“
Wie aus einem Munde. Beider Spucke spritzt fröhlich über die Bal-konbrüstung. Sie hören nicht, dass der illustre Küchenchlecker vorzeitig sein Spiel beendet hat. In seine Pianissimo hinein hat ihm Langebehn von draußen ein keckes Gis geblasen. Eine ordinäre Tonfolge, frech und fies, Blechzwerg gegen Pianoforte. Niemand sonst im Saal hat es wahrge-nommen. Allein der am Panoforte. Er ließ sich auf eine Zwiesprache ein, setzte den fiesen Gassenhauer fort mit einem leichten gis-Lauf der linken Hand, lächelte sogar und wartete auf eine Antwort von draußen.
Aber es kam keine Antwort. Langebehn war das Blasen auf der Mund-harmonika langweilig geworden. Stattdessen hörten nun alle drin im Sa-lon die beiden mit den Dampfschiffen.
„Ffffffffffffffffffft !“
Und sogar eine Schiffssirene, nachgemacht :
“Ooooiiiiöööööngwuffwuff !“
Auch der bleiche Metternich lief rot an. Der am Piano hieb mit der rechten Faust auf die tiefen Tasten, als wollte er dem Instrument den Garaus machen. Erzeugte aber nur einen dunklen klagenden Akkord, der noch nachhallte und weiter durch das Gehäuse grollte als der Ehrengast schon hinaus gestürmt war.
„Ffffffffffffffffffffffffffffffft ! Meins hat sogar ein Schaufelrad !“
„Ffffffffffffffffffffffffffffffffffffft ! Meins hat sogar zwei Schau-felräder, eins auf jeder Seite, da bin ich im Nu in Budapest.“
„Wir werden Napoleon überholen, fffft, fffft, wenn er daher gefahren kommt mit seiner Flotte, um Belgrad zu erobern…“
„Er grüßt Sie, Demoiselle, mit seiner Dampftute…“
„Zu spät, ich bin schon in der Walachei, und kein bisschen seekrank dabei, ätsch.“
„Walachei schon vorbei, jetzt kommt das Delta gleich, aufpassen !“
„Und schon ist wer / schaun Sie her / im Schwarzen Meer !“
Bängibängi läutet die Schiffsglocke und fuuuut fuuuut tönt das Nebel-horn. Und da ist auf einmal ein neuer Ton aus Rothschilds Mund –
„Tschindatschingtschingbong“.
„Was soll denn das sein ?“
„Das ist die Janitscharenkapelle an der Hohen Pforte. Sie ist auf-marschiert Ihren zu Ehren, gnädiges Fräulein.“
„Ooohhh…“
„Denn uns empfängt der Sultan von Konstantinopel höchstpersönlich. Da steht er an der Landebrücke, und da…“
Da sind die Dampfschiffchen abgestürzt, hinunter in die Nacht.

Die Janitscharen marschieren, sie marschieren voran und nichts hält sie auf, wie denn auch, sie marschieren mit der Strömung, ihre Welt und Weisung ist das Flussbett wo es am tiefsten eingegraben ist seit Jahr-tausenden, ihre Gesichter sind verschlossen wie Tuffstein und versiegelt von Mollusken, die Manöver der Lastschiffe ihnen zu Häupten beirren sie nicht und auch die Protuberanzen der mächtigen Heckschrauben die die Strömung zerreißen reichen in ihren Abgrund nicht hinab, für das Brüllen der Schiffsmotoren sind sie taub, die Gefallenen haben sich eingereiht in den Zug –

Die Dreimastbark, die auf Kurs auf Genua hielt, wurde von einer bewaffneten französische Caravelle aufgebracht und gezwungen, den Hafen von Catania anzulaufen. Der Schleppzug dorthin wurde von zwei österreichischen Linienbooten vereitelt, die das Feuer auf die Franzosen eröffneten. Durch ein unglückliches Verhol-Manöver geriet die Dreimast-bark in die Feuerlinie und erhielt fünf Treffer backbord. Sie sank schnell, da überladen mit Fracht übersetzt mit Passagieren.
Einer der ersten, die ertranken war Strönebald.
Kunterkasten hat die Ehrwürdige Mutter auch später keinen Blick mehr gegönnt. Das gehört sich nicht, hat sie gefunden, gegenüber jemand den sie einmal angespuckt hat.

- die Gefallenen haben sich eingereiht in den Zug eine Staumauer versperrt ihnen den Weg aber Janitscharen hält kein Widerstand auf, sie berennen den Eisenbeton mit ihren Leibern, gleiten ab an den Moosen die die Mauer überwuchern, die Wucht ihres eigenen Anpralls lässt sie abgleiten und drängt sie dem Ufer zu , den Kai hinauf, enger anein-andergekettet denn je, Schlinggewächse haben sie miteinander verknor-pelt und lianenartig verknotet, wenn einer fällt, wird er von den anderen mitgeschleift, aber ein Janitschar fällt nicht , schwarzer Schlick schlemmt sich als glitschige Spur das Ufer hinauf, die Miesmuscheln die sich auf ihnen angesiedelt haben klappern schwer und eisern wie Rüstungen, der klirrige Rhythmus ihres Marschtrittes ist weithin zu hören ehe noch die Heersäule selbst eine menschliche Ansiedlung erreicht hat, die Bewohner fliehen bereits vor dem nahenden drohenden Ton ohne dass sie wissen dass es Miesmuscheln sind die sie bedrohen aber wenn sie es wüßten würden sie noch halsüberkopfiger fliehen, und jetzt, da das Wasser ihnen nicht mehr die Last abnimmt, beschweren die Janitscharen die Tonnengewichte, die sie mit sich zerren, lassen sie nicht mehr vorankommen, die Signalmasten havarierter Flussboote, die der Tang ihnen angebunden hat, verfangen sich in Gartenzäunen , die Anker-winden untergegangener Flusskähne reißen geparkte Autos mit sich, und dazwischen winden sich gestrandete Aale, aber die verlorenen Anker-ketten längst auf Grund gelaufener Schiffe ziehen sie wieder in den Strom, beglückt plumpsen sie wieder ins Wasser plumpsen unhörbar dem Meer entgegen wo ihre Hoffnung sie erwartet der große Leviathan der sie in sich aufnimmt auf dass sie werden Schlamm zu Algen zu Plankton -

„Was war denn das ?“ ruft die Frau auf dem Beifahrersitz.
„Das war doch ein Stein oder sowas. Wer bewirft uns denn da ?“
Aber es ist kein Stein, es ist das blecherne Modell eines Dampfschiffes.
„Schau dir das an – sogar mit Schaufelrädern ! Das ist ja ein Samm-lerstück. Sowas von fein gearbeitet. Echt eine Antiquität.“
„Untersteh dich und steig aus. Es is grad grün und hinter uns jede Men-ge Verkehr.“
So bleibt das Schiffchen auf dem Asphalt liegen. Eben als der Mercedes anfährt, landet auf dem Dach ein zweites Blechschiffchen. Im Autoradio spielt Alfred Brendel Beethovens Appassionata, opus 57, von 1806.














































"Adolf Hitler besichtigt die
Schreckenskammer der Kunst-Bolschewisten".
Ganz rechts DIE SCHÖNE GÄRTNERIN
von Max Ernst
EIN HAUS FÜR GRILLEN
In einem Ferienhaus nisten nicht nur Mauergrillen, sondern auch üppige Schichten von Strand- und anderem
Plunder, mit dem die Familie es vollstopft fast bis zur Nicht-Mehr-Benutzbarkeit. Wie aber, wenn zwischen all die
Luftmatratzen,Surfbretter und Gummistiefel auch eines der berühmtesten verschollenen Kunstwerke gequetscht
ist : Max Ernsts SCHÖNE GÄRTNERIN, die seit der Schand-Ausstellung ENTARTETE KUNST von 1937 nicht
mehr gesehen worden ist ?
Ich erzähle, wie die Schöne ins Ferienhaus kam : eifrige Hitlerjungen wollten seinerzeit dem Schicklgruber zur Hand
gehen und die entartete Kunst vernichten helfen. Sie wurden davon gescheucht, denn die Nazis wollten ja das Entartete in Luzern gegen Devisen verkloppen.Nur die SCHÖNE GÄRTNERIN blieb bei den Jungs, deren Weg durch Nazizeit und Krieg
ich nachzeichne, immer mit etwas Verbotenem in der Hinterhand, das sie bald verschwörerisch verband,bald entzweite.
Und als die SCHÖNE GÄRTNERIN in der Nachkriegszeit dann neuen Wert erhielt ...

( weiterlesen >>> links unten )
>>>
Melchior Schedler
EIN HAUS FÜR GRILLEN
Roman

Nun wird meine Schöne baden.
Der See leckt sich schon die Wellenlippen, denn die Schöne steht auf den Planken an seinem Ufer. Die Schöne ist bereits nackt und ausge-zogen. Das lässt den See, das lässt auch mich erwartungsvoll auf-schäumen. Seine Gischt wird meine Schöne gleich umfassen. Seine Begier nach meiner Schönen ist so stürmisch, dass er schäumt als wäre er nicht ein See, sondern als wäre er die See, die See schlechthin, das Meer, der Ozean, Thalatta, als wäre er alle sieben Meere auf einmal.
Nur diese Felswände hindern ihn daran, sich schon jetzt ihrer zu bemächtigen, wo sie noch nicht einmal einen ihrer zierlichen Zehen in ihn getaucht hat. Die Felswände hegen ihn ein, sie gemahnen ihn daran dass er eben nicht das Meer ist sondern ein See, nach allem was von ihm sichtbar ist sogar nur ein Tümpel. Der sich nicht zu viel zutrauen soll und meine Schöne nicht durch Geschäume verprellen. Durch Versprechungen enttäuschen, die er nicht halten kann.
Denn ich will nicht, dass meine Schöne enttäuscht wird, nicht durch ihr künftiges Badewasser, nicht durch das griesgrämige Gewölk über ihr, nicht durch die Planken unter ihren Füßen, die einen heimtückischen Rostnagel hochrecken. Oder ist es ein Damenschuh, gar ihr Schuh ? Oder ein Flaschenhals ? Der Hals einer Flasche, in dem eine Flaschenpost wartet. Auf wen ? Auf sie ? Auf mich ?
Meine Schöne indes ficht das alles nicht an, sie wendet alldem den Rücken zu, sie ist abgewandt in vielen Hinsichten. Wem aber ist sie zugewandt ? Auch mir nicht, ihrem Betrachter, der sie als einziger von vorne sehen darf. Sie betört mich trotzdem, sie betört alle, mich ebenso wie den schäumenden Ozean in seiner viel zu kleinen Wanne. Sie betört mich, weil sie gesenkten Blickes an mir vorbei schaut, als wäre ich, ihr Betrachter, ihr Bewunderer, ihr Anbeter gar nicht vor-handen. Ihre niedergeschlagenen Augen haben nur einen im Blick. Mit aller Verschämtheit, mit aller Angstlust, mit aller Begehrlichkeit.
Diesen anderen, diesen Jemand hinter ihr. Der doch gar kein Jemand ist, wie ich ein Jemand bin, sondern ein Nullmand. Einer der sich erst bildet oder der schon damit beschäftigt ist zu vergehen –



Es ist beschwerlich zu unserem Sommerhaus zu gelangen. Wer noch nicht da gewesen ist, dem muss der Weg umständlich beschrieben werden. Nicht die erste rechts abbiegen, erst bei der dritten ! Und dann achtgeben, denn gleich danach muss man überraschend nach links einbiegen. Kein Verkehrsschild weist darauf hin, keine Markierung, nur diese alte zerklüftete Pinie. Hoffentlich steht sie noch da, viele Sommer lang hat sie jedenfalls da gestanden und ihren freundlichen Dienst als Wegmarke versehen.
Aber dann bitte nicht vorm Fenster parken. Gewiss, es sieht aus als wäre es das Fenster unseres Hauses. Aber auch wenn es aus unserem Haus herausschaut - es gehört schon zum Anwesen des Nachbarn, diese alten Häuser sind nun einmal verschroben ineinander ge-schachtelt.
Am besten beraten ist, wer erst gar nicht mit dem Auto zu uns kommt. Mit dem Bus ist die Anreise noch beschwerlicher, und die Haltestelle weit entfernt. Aber wer einmal in unserem Sommerhaus war oder gar mehrfach, der wird diese Beschwerlichkeit auf sich nehmen. Der Weg zu ihm ist bereits eine Einstimmung auf das was einen erwartet. Der Weg durch die Ginsterdickichte, an den Austernteichen entlang, die je nach Ebbe oder Flut voll sind oder leer und in denen Reiher stehen. Sie fassen den Neuling ins Auge ohne dass der es bemerkt. Wenn er ihnen missfällt, fliegen sie davon.
Und dann das Geheimnis wo der Schlüssel liegt. ! Er zirkuliert nur unter wenigen, und diese Wenigen sind Auserwählte. Nämlich in der Mauer liegt er. Er wird immer in die Mauer gelegt, sie umschließt den Garten. Zweihundertvierzig Steine von der Hauswand aus gezählt und sechsundzwanzig Steinreihen von oben, von der Mauerkrone her. Zugegeben, die Mauerkrone ist überwuchert von Trompetenblumen und das Abzählen der Mauersteine schon wieder beschwerlich, aber so ist das nun einmal bei einem Geheimnis.
Wer richtig gezählt hat, darf den Stein abheben.
Welchen Stein denn gleich ? Sie sehen sich alle ähnlich, hör ich da sagen. Das versteht sich, sind sie doch alle aus ein und derselben Familie. Dem Kalkgestein, aus dem auch die Insel besteht. Je nachdem aber wie lange sie in der Mauer gelegen haben, je nachdem von wie vielen Baumwurzeln sie umschlungen wurden, verändert sich ihre Steinhaut. Ja gewiss doch, auch Steine haben eine Haut, und ein individuelles Gesicht. Wusstest du das nicht ?
Heb also den Stein ab ! Ja, eben diesen, den zweihunderteinundvier-zigsten, der zugleich der siebenundzwanzigste ist. Du wirst dabei Eidechsen aufscheuchen, das schon. Aber sie sind dir nicht gram. Sie sind die ältesten Bewohner hier mit den ältesten Wohnrechten, von den Mauersteinen einmal abgesehen, auch wenn sie ihnen ähneln, und sie sind nachsichtig. Und allgegenwärtig.
Sie beobachten dich.
Heb also den Stein ab. Den Auszählstein, den Zauberstein. Der Schlüs-sel, das Schlüsselchen erwartet dich, eben noch von Eidechsen um-ringelt. Und nun schließ damit auf. Eine besondere Kunstübung, wie du nun bemerken wirst, und man beherrscht sie erst, wenn man hier schon einige Male eingekehrt ist. Schloss und Schlüssel haben ihre Allüren und Biestigkeiten. Und nur der Eingeweihte weiß, wie tief der Bart ins Schlüsselloch gesteckt werden muss.
Wenn der Schlüssel sich also nun im Schloss dreht - der Schlüssel im Schloss, dass ich nicht lache ! Der Schlüssel, wirst du bereits bemerkt haben, ist ein Zwerg aus Messing, gerade kräftig genug, um seinen Bart ehrwürdig von sich herab hängen zu lassen, den er nun con brio ins Schloss stecken soll um das Schloss zu bewegen und ihm zu gehorchen. Dabei ist das Schloss viel größer als er und zudem aus Eisen, aber dieses Schloss ist eine Drolerie von Schloss, und das Drehen des Schlüssels darin ist auch eine Drolerie. Wie oft und beschwerlich muss der drehen, der ins Sommerhaus gelangen will ? Wieder zweihunderteinundvierzig und siebenundzwanzig Mal ?
Eine Lachhaftigkeit, denn jedes Kind könnte die Tür mit einem Fußtritt aufsprengen. Kein Kind aber käme darauf, jedenfalls wenn es zu den hier Auserwählten zählt, denn Lachhaftigkeit gehört zum Regel-werk des Hauses. Ist das Schloss klamm ? Von Ameisen bewohnt ? Oder nur das Schlüsselchen widerborstig ? Oder zeigt sich das Schloss zu einem Spielchen aufgelegt, einer kleinen Balgerei ? Oder will es nur herausschmecken, wer von der Familie da den Schlüssel dreht ? Oder gar nicht zur Familie gehört, sich als Novize zu erkennen gibt schon dadurch, dass er das Schlüsselchen beim Linksdrehen ein paar Millimeter zu weit nach unten drückt ?
Und nichts verstanden hat vom Schloss- und Schlüsselspiel, und darum auch alles andere in diesem Haus genau so wenig verstehen wird, die ganze lange Ferienzeit über, die nun beginnen soll. Und als Tölpel wieder davongehen wird, der das Haus mit seinen Drolerien nicht genießen konnte. Durfte. Wollte. Adieu, Grützkopp ! Auf Nimmerwiedersehen, Stumpfbold !
Beim Schlüsseldrehen wird das Haus hellhörig. Denn das Haus ist ein Organismus, der sich aus vielen kleinen Suborganismen zusammen setzt wie eine Staatsqualle draußen im Meer. Wer ist es, lauschen alle diese Organismen, der da zu uns herein will ? Kommt er zu mir, gerade zu mir ? Endlich jemand zu mir ? Ist es endlich der, der schon so lange hätte kommen sollen ?
Denn es sind die Gegenstände die die Besucher erwarten. An die die Besucher und Schlüsseldreher, vorläufige Durchreisende in ihrem eigenen Haus, keinen Gedanken verschwenden.
„Hört euch das an ! Schon an diesem Kraksen wenn er den Schlüssel reinsteckt, hör ich dass er’s ist. Ich kenn ihn heraus unter allen, die zu uns reinwollen.“
„Und ob. Das ganze Jahr über mache ich mir ein Bild von ihm. Diesem Krakser. Dann kommt er, und er entspricht ihm. Meinem Bild ! Von einem Krakser. Ich habe ein ganzes Jahr lang über ihn nachge-dacht. Ihn mir zurecht gedacht. Umgedacht. Und dann kommt er endlich in Person und ist der Krakser, der er immer war.“
„Hört euch das nur mal an, wie er den Schlüssel undankbar beiseite schmeißt, wenn er endlich drin ist ! Wo der ihm doch eben geholfen hat überhaupt herein zu kommen.“
„Ein Stumpfbold ist er. Und wegen dem bin ich hier.“
„Ich auch.“
„Ich auch.“
„Und ich…“
Ein Chor, der sich fortsetzt bis hin zu den Mauergrillen, die mit ein-fallen, weil sie gewohnt sind in alle Geräusche mit einzufallen die das Haus aus seinen Innereien heraus hervor bringt. Und die die Mauer-grillen für ihren eigenen Gesang halten. Ihnen ist, als hätten sie gesungen, wer da auch immer gesungen hat, und singen mit. Mauergrillen sind nun einmal so. Die Vibrationen ihres Drumherums, das Rucken und Zucken in den Möbeln, das Knirschen im Gemäuer, das Fallen der Wassertropfen setzt sich bei den Mauergrillen sogleich um in Flügelscharren. Die Flügel der Mauergrillen sind ihre Harfen und ihre Saiten, sind ihre Schlagzeugbecken, ihre Trommeln und Triangeln, und schon entsteht aus alldem Musik.
Dabei können die Mauergrillen nicht geltend machen, sie seien hier-her verbannt und sie müssten nun aus lauter Melancholie musizieren wie die Hebräer und den Wassern von Babylon und wie so manche andere zwischen denen sie im Sommerhaus wohnen. Die Mauergrillen sind auf eigene Rechnung hier, auf eigenen sechs Beinen herein gewuselt, wozu Frotteetücher, Taschenlampen oder Haarföhne niemals in der Lage wären. Die Mauergrillen siedeln hier, weil ihnen das Haus wohnliche Bruthöhlen bietet in den Lücken der Feldsteine aus denen es errichtet ist.
Feldsteine sind gastfreundliche Vermieter, die zwischen sich und der Bindemasse, sei’s Zement oder Sand oder Lehm, genug Raum lassen für die Clans der Mauergrillen, die Sippe der Feuerwanzen, die Stämme der Tausendfüßler, die Vettern und Basen aus den verästelten Familienzweigen der Ohrwürmer, und dazu die Völkerschaften der Spinnen, Laufkäfer und Silberschiffchen.
Um es bei diesen zu belassen, vorerst.
Denn du weißt noch nichts von alledem. Schließ also endlich auf. Und betrete dieses Haus, das auf dich wartet.

Meine Schöne steht wie dem Wasser entstiegen, aus dem Wasser geworfen, aus dem Wasser entstanden, wie vom Badestrand kommt sie zurück. Man möchte meinen, sie fröstelt. Wassertropfen hängen noch an ihr, in die der Wind fährt, und wer ein Handtuch hat, der eile herbei und rubble sie mollig warm.
Aber die Schöne fröstelt nicht, es ist wohlig warm um sie her. Der Eindruck entsteht nur, weil man nicht sieht, wie durchblutet ihre Haut ist. Und das sieht man nicht, weil alle, die sie zu kennen meinen sie nur von dieser einzigen einfarbigen alten Fotografieher kennen, die von ihr in Umlauf ist.
Aber ich, ihr einziger Betrachter, kenne sie in ihrer wahren Far-bigkeit. Was blau ist an ihr, was rosa, was resedagrün und grau. Ja, ich weiß sogar wie sie duftet, nur ich weiß dass sie überhaupt duftet. Und wie sie sich anfühlt.
Denn ich bin der bei dem sie Unterschlupf gefunden hat.


1937
Sie sangen nicht die Lieder die Baldur von Schirach oder Hans Baumann für sie gedichtet hatten. Jedenfalls nicht bei diesem Ausmarsch. Sie johlten selbst Zurechtgelegtes wie „Klotz klotz klotz Klavier am Bein / wie lang ist die Chaussee“ oder “Links bloß Schrott und rechts bloß Schrott / in der Mitte Gotschi Ott“.
Gottfried Ott, den alle Gotschi nannten, war der Rotblonde in der ersten Reihe. Oder –
“Links Schlawiner rechts Schlawiner / in der Mitt der Pframminger.“
Dabei war Pframminger Alfons gar keiner von den Schwabinger Nichtsnutzen, die in der übrigen Stadt Schlawiner hießen, sondern der Kameradschaftsführer und marschierte deswegen vorne, neben dem Ott Gotschi. Oder -
„Links ein Arsch aus Gips und rechts Arsch aus Gips / in der Mitt der Lamprecht Fips.“
Fipsi Lamprecht war der Schmächtige mit den Bügelfalten in Hemd und Hose. Oder –
„Links im Sack sind keine Eier/ rechts im Sack sind keine Eier / Da kommt der Rudi Ruttmeier.“
Der Ruttmeier Rudi war der, dessen Uniform immer noch nicht voll-ständig war, weswegen er die Breecheshosen seines Vaters auftragen musste statt der offiziellen schwarzen Bux. Wofür er sich bei jedem Appell einen Anpfiff einhandelte, denn in solchen Beinkleidern mit Kniebund waren ihre Großväter und Großonkels herumgelaufen, was hier aber marschierte war die Speerspitze der Zukunft. Oder –
„Links ne Vettel rechts ne Vettel / in der Mitte Alwin Krettel“.
Alwin Krettel war der größte und schlankeste, der mehr daher wehte als dass er marschierte. Oder –
„Offen ist sein Hosentürl / bloß nichts drin beim Felix Hierl“.
Felix Hierl war der Jüngste von allen, grade vierzehneinhalb und grade aus dem Jungvolk, Fähnlein 11, in die Kameradschaft 93 aufgerückt, die da zu sechst durch den Boulevard der Prinzregentenstraße mar-schierte. Solches Gefrotzel machte ihnen Laune. Das war was Eigenes, wie aus Haselnussholz herausgeschnitzelt mit dem Fahrtenmesser. Sowas traute sich sonst keiner zu singen in so einer etepeteten Straße. Schon gar nicht die Wehrmacht oder der Reichsarbeitsdienst oder gar die mopsigen Weiber vom Bund Deutscher Mädel.
Die sechs hatten die letzten Wochen lang Handzettel verteilt und damit, wie sie fanden, Ansprüche erworben auf Belohnung. Handzettel in Signalrot. Der Farbe des Aufbruchs und des Angriffs. Die auf den Fahnen der Bewegung das allerheiligste Zeichen der Bewegung umschloss. Hoppla jetzt komm ich, sagte die Farbe, wie auch der Hans Albers im Film sang, oder alle mal herhören, wie die Obersturm-bannführer zu rufen pflegten. Rotrotrot ! Eine Farbe, die ein Rufzeichen war. Im Straßenverkehr wie in der Politik.
Gequälte Leinwand Seelische Verwesung hatte auf den roten Zetteln gestanden, die die sechs Jungen in ihren wöchentlichen Dienstzeiten verteilt hatten.
Krankhafte Phantasien Geisteskranke Nichtskönner ! Seht euch das an ! Urteilt selbst ! war weiter unten gedruckt.
Besuchet die Ausstellung ENTARTETE KUNST.

Kein einziges Mal hatte sich ein Erwachsener getraut, das rote Papier nicht entgegen zu nehmen. Wie sich auch keiner getraut hatte, es in die Abfallkörbe zu werfen oder in der Tasche verschwinden zu lassen. Alle, wirklich alle hatten es im Weitergehen, oder auch im Stehenbleiben diensteifrigst gelesen. Oder doch so getan. Als hätten die Jungs es ihnen befohlen, jedem einzelnen Passanten. Da drüber senkte sich Stolz in ihre Brust, ein rarer Stoff für Fünfzehnjährige. Dass auf den Boulevards die Erwachsenen stehen geblieben waren, feine Herrschaften, herausgeputzte Damen, Uniformträger sogar und Parteimenschen in ihrem braunen Tuch, weil ihnen Buben aus dem Kleineleuteviertel ein Stück Papier hingestreckt hatten.
Es wurde ein herrlicher Sommer draus,"a unbandiger Heumond", wie ihr Kameradschaftsführer, der Pframminger Alfons, hinterher allen im Ferienlager vorschwärmte, die nicht hatten dabei sein dürfen und die roten Handzettel verteilen. Und als sich im Herbst herumsprach dass zwei Millionen Menschen dem Appell gefolgt waren Besuchet die Ausstellung, da war der Appell auf den roten Zetteln ihr Appell. Der Befehl der sechs aus dem Kleineleuteviertel. Zwei Millionen, das war mehr als doppelt so viele Menschen als wie überhaupt in der Stadt wohnten, und der Befehl des Pframminger Alfons befolgt hatte sie auf die Beine gebracht, des Ott Gotschi, des Lamprecht Fipsi, des Rutt-meier Rudi und des Krettel Alwin. Wo sie doch alle erst fünfzehn Jahre waren.
Nur der Hierl Felix war erst vierzehneinhalb.
„Kunst“ für die Staatliche und Städtische Institute gewissenlos Millionenbeträge deutschen Volksvermögens verschleuderten, während deutsche Künstler zur gleichen Zeit verhungerten.
Die sechs machten sich nichts aus Kunst, schon gar nicht aus krankhafter. Sie genossen die Wehrertüchtigung im Sommerlager und hielten sie für Indianerspiele oder Räuber und Gendarm, sie genossen sechs Wochen ohne Rechenaufgaben, Tischgebet und Wasserspülung, Sie kamen zurück als durchgepustete Wolfsrüden, bereit – Seid bereit war ja ihr Kampfruf – sich nun in jedwede Beißerei pfeifen zu lassen.
Die Beißerei war das Kaputtkloppen und Auf-den-Misthaufen-Schmeißen der seelischen Verwesung, die auf ihren roten Zetteln ge-standen hatte. Und dann ein lustiges Lagerfeuer mitten in der Stadt. Flamme empor ! Das würde ihrem Oberindianer Baldur von Schirach gefallen, und erst dem Führer ! Denn der war selbst ein Künstler, aber ein gesunder und arteigener. Wenn er auch nicht mehr mit Farben malte sondern mit dem deutschen Volk. Und das Volk, und damit auch die sechs von der Kameradschaft 93, die Farben auf seiner Palette waren.
So hatte es der Krettel Alwin gesagt, der Schlanke und Klügste von ihnen, der mehr daher wehte als dass er marschierte. Und eben weil der Führer seelisch so gesund war, wusste der Alwin, haben sie ihn nicht auf die Kunstakademie gelassen. Die seelisch krank war. So dass er in die Politik hat gehen müssen zum großen Aufräumen und eben ein Führer werden.
Die Segnungen davon hatten die sechs, die da marschierten. Der Pframminger Alfons, der Ott Gotschi, der Lamprecht Fipsi, der Ruttmeier Rudi, der Krettel Alwin und der Hierl Felix. Alle sechs waren beim Führer tief in der Dankesschuld, und nicht nur sie. Aber die sechs versuchten sie zu begleichen, indem sie nun die gequälten Leinwände vernichteten.
„Das gibt a Hetz !“
Und obendrein würde es ein Feuer geben wie anno 33 bei der Bücherverbrennung. Die sechs haben es damals nur in der Kino-Wochenschau gesehen. Und nicht verstanden, aber unbandig gefunden und danach beim Kinderfilm mit dem Wettlauf von Hase und dem Igel waren sie immer noch neidisch, dass sie seinerzeit noch nicht dabei waren bei so einer Hetz.
Dabei war die Hetz damals bis ins Kleinste durchorganisiert und eingefädelt von ganz oben, nämlich vom Goebbels, der sich auch selber eitel ins Bild gerückt hat, dabei nicht selber abgeplagt mit dem Ranschleppen der Bücher, die von ihm aus auf den Scheiterhaufen gehörten. Während die Hetz jetzt, der Scheiterhaufen heute von ihnen selber organisiert und eingefädelt sein würde. Und Leinwände und Keilrahmen und Bilderrahmen, das weiß jeder, viel lässiger brennen als wie dem Goebbels seine Bücher, die so hochnäsig sind dass sie grade mal an den Kanten ankokeln. Zur Sicherheit hatten sie alle Esbit-Stückchen einstecken von ihren Kochern im Sommerlager, und Feuerzeuge sowieso, als alterfahrene Biwakhengste. Und der Kameradschaftsführer hatte sogar eine Flasche Spiritus mit dabei.
Flamme empor !
Gleich da auf dem Rasen vor dem Museum, neben dem Kriegerdenkmal. Das war in der Erde versenkt, auf einem steinernen Sockel lag da ein steinerner Soldat, den die Erbfeinde totgeschossen hatten wie auch den Vater vom Ruttmeier Rudi. Das Feuer, das sie gleich entzünden würden mit ihren Esbit-Bröckchen, das würde auch dem erschossenen Krieger ins Gesicht flackern und ihm Freude machen da drüben in seiner einsamen Ewigkeit. Wie es auch dem Vater vom Ruttmeier Rudi Freude gemacht hätte.
Und beide wären, hätte der Krettel Erwin ausgesprochen, was die anderen fünf nicht so in Worten zurechtdrechseln konnten, angemessen gerächt.

Es rührte sich nichts in dem Gebäude, wo die gequälten Leinwände hingen. Das Gebäude sah müde aus, es hatte Feierabend, zwei Millonen Schaugierige und Anstoßnehmer hatte es verkraften müssen in den letzten fünf Wochen, nun ruhte es sich aus. Der Haupteingang war brav beamtenmäßig abgesperrt. Im Kellergeschoss darunter aber fanden sie eine rostige Eisentür, die nur angelehnt war. Knarzend ungern, eben rostig, eben doch beamtenmäßig, ließ sie die sechs Jungen hinein. In ein Gewölbe, in dem es nach Moos und verrostetem Gusseisen roch. Dafür hallte es hier, und es war eine Lust dort zu brüllen wie die Indianer beim Angriff auf das Fort der Yankees, oder wie ein Wolfsrudel. Der Führer war selber ein Wolf, seine Vertrauten durften ihn so nennen, jetzt sollte er hören, dass seine jungen Rüden auf dem Weg waren um ihm zu helfen.
Beim Umzug zum Tag der Deutschen Kunst im Juli waren sie alle sechs Krieger gewesen, mit Schwertern aus Holz. Sie hatten in Reih und Glied marschieren müssen, tausende standen auf den Gehsteigen und bestaunten sie, und die Wochenschau war auch da, und die Marschmusik dazu kam aus den Lautsprechern längs der Straßen. Im Sommerlager dann waren sie Krieger fast wie in echt, nicht mehr bloß Mitmarschierer, schwärmten aus in die Fichtenschonungen, schlugen Schlachten, waren mit ausgerenkten Fersen und Fleischwunden Widukind und die Wilde Jagd.
Iihre Eltern hätten sich vor ihnen gefürchtet, und das war ihre oberste Lust.
Von da an waren sie Krieger in eigener Regie, begierig darauf es dem Feind zu zeigen, und dazu gehörte es sich dass sie ihre eigene Schlachtenmusik machten. Mit ihren Stiefeln auf der eisernen Wendeltreppe hinauf ins Obergeschoss, unter ihren Tritten wummerte sie wie eine alte Schachtel die stöhnt. Auf geht’s zur Walstatt -
Deutschland Vaterland wir kommen schon !
In den oberen Stockwerken fanden sie es genauso eng wie unten in den Gewölben, nur dass es nicht mehr hallte wenn sie sangen "Reckt die Fahnen höher Kameraden". Es war so eng und schummrig wie in ihrem HJ-Heim, nur dass hier nicht Plakate an den Wänden hingen und verrutschte Stoffbahnen mit Aussprüchen von Baldur von Schirach. Sondern Bilder, noch und noch Bilder, ebenso schief und wie von Hitlerjungen schludrig an die Stellwände genagelt. Und dazwischen, als hätte es der Karli, der Malerlehrling von der Kameradschaft 306 hingehunzt, Aussprüche die nicht von Baldur von Schirach waren, oder doch ?
„So sieht ein krankes Gehirn die Natur!“
Alles in einer eckigen Fraktur, die irgendwie aussah wie zerknickte Hufeisen.
„Deutsche Bauern, mit jiddischen Augen gesehen!“ oder „Der Neger als Rassenideal und Verhöhnung der deutschen Frau - Ideal Kretin und Hure“.
Zwar wusste keiner von ihnen was ein Idealkretin war. Aber dass sie vor den anderen hochstapelten, sie kennten sich bei Huren bestens aus, das gehörte zu ihrem fünfzehnjährigen Komment. Also eine Räuberleiter gemacht, und eins von den Hurenbildern heruntergerissen. Deutschland Vaterland wir kommen schon. Und raus damit aus dem Fenster ! Der Wind nahm sich des Bildes an. Auch wenn der schwere Rahmen es niederzerrte, der Wind gab ihm einen Drall von unten her und hielt das Bild ein paar Augenblicke in der Schwebe wie ein Segelflugzeug. Ließ es sich um die eigene Achse drehen, als sei es unschlüssig, wohin es davon schwirren sollte.
„Verreeeeeeeeeeeck!“ brüllten die Jungen aus dem Fenster, wie man einer Henne nachbrüllt der man es neidet dass man sie nicht mit einem Steinwurf erledigen kann weil sie Flügel hat. Endlich, mit einem hilflosen pfluff, fiel das Bild schließlich doch ins Gras nieder, und die Jungen brüllten noch einmal, diesmal wie die Sieger einer Luftschlacht.
„Heut ist aber geschlossen !“
Ein älterer Wachmann hinten am Ende des Flurs.
„Nehmen Sie Haltung an !“ sagte der Hierl Felix, noch weiter hinten als der Wachmann, und eher zu sich selber und als Jux. Aber der alte Mann, der den kleinwüchsigen Felix gar nicht sehen konnte, nahm tatsächlich Haltung an, weil er sah wie ein uniformierter Haufen auf ihn zukam.
„Kameradschaft 93 im Sondereinsatz“ traute sich der Pframminger Alfons zu rufen, der sich darauf besann, dass er doch der Führer dieses Haufens war. Nun zog sich der Wachmann sogar die Dienstmütze vom Kopf. Ein Beamter im Hofgarten zog die Mütze vor den Buben aus dem Kleineleuteviertel ! Einer der bestimmt schon dem König gedient hatte. Sie verbissen sich vor Stolz sogar das Grinsen, mannhaft. Ein deutscher Jungmann lässt sich kein Triumphgehabe anmerken, auch wenn er einen Triumph eingefahren hat. Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und flink wie die Windhunde. Sie werden in der Zeitung stehen, wenn es so weitergeht mit der Anerkennung. Und in die Wochenschau werden sie auch kommen, wie der Goebbels. Und bei ihnen werden die Flammen höher schlagen als beim Goebbels, wetten ? Und was nicht verbrannt ist von der entarteten Kunst und seelischen Verwesung, weil’s aus Bronze ist oder auch bloß aus Gips, wird auf den Lastwagen geschmissen, mit dem der große Bruder vom Pframminger Alfons schon wartet, und dann wird die ganze seelische Verwesung von der Brücke in den Fluss geschmissen dass es bloß so kracht und scheppert und die Leute stehen am Geländer und klatschen, zu was denn sonst haben sie alle die roten Zettel der Hitlerjungen gelesen. Und es gibt zweimal eine Hetz, und der Goebbels hat das Nachsehen, denn der hat bloß einmal seine Hetz gehabt.
„Und von seinem ganzen Bücherhaufen ist ihm bloß so ein bissl Aschenstaub übrig blieben“.

Sie machten sich ans Werk. Ein Fenster stand nun schon offen, ein Stück seelische Verwesung lag bereits besiegt drunten auf dem Rasen. Seid bereit ! Aber die anderen Hurenbilder hingen zu hoch für sie. Sie brauchten Leitern, um die übrigen Huren auch noch zu besiegen, stürmten suchend durch die Flure, rannten fast einen feinen Herrn um, der ein Fliegenschleife dort hatte wo andere eine Krawatte haben. Der Wachmann nahm schon wieder Haltung an, diesmal vor dem mit der Fliege, immer noch die Dienstmütze in der Hand.
„Ah ah ah !“ lachte der mit der Fliege “Sowas von Sturm und Drang !“
„Kameradschaft 93 beim freiwilligen Einsatz !“
„Fabelhaft ! Rassig, diese junge Garde.“
Und lachte wieder. Und die sechs lachten auch, denn nun kassierten sie bereits Anerkennung bevor sie etwas vollbracht hatten.
„Wir haben grade Leitern gesucht, damit wir….“
„Hellwache Bürschchen, flink wie die Windhunde ! Leitern her für die Garanten der Zukunft !“
Der mit der Fliege klatschte in die Hände. Der Wachmann setzte sich in Bewegung. Leitern her ! Erst im Laufen, als er schon eine Leiter über der Schulter hatte, stülpte er sich seine Dienstmütze wieder über. Und hielt die Leiter fest, ohne dass es ihm befohlen worden war, damit die Garanten der Zukunft hinauf klettern konnten.
„Vorsehen, meine Kinder, Vorsehen…“
Der mit der Fliege meinte nicht die Jungen, er meinte die Bilder. Die er nicht mit Fußtritten traktierte, wie sogar der Wachmann es erwartet hatte, und er stieß auch nicht die Rahmen auf den Fußboden bis sie zerbrachen. Sondern er stellte sie so an die Wand, so dass man die bemalten Seiten nicht mehr sehen konnte. Wie Schüler, die sich vor der Klasse zu schämen haben. Den Jungen war das vertraut. Erst das Schämen und die Schande. Und danach dann, wenn die Demütigung schwer in den Knien geworden ist wie Betonklötze, die Strafe. Der Vollzug. Das Aus-dem-Fenster-geworfen-Werden. Und danach dann die verdiente Einäscherung, die Esbit-Stückchen, der Feuersturm der Kameradschaft 93.
Flamme empor !
Der Krettel Alwin, er war der Hellste in der Gruppe und Klassenbester, verstand dass sich hier ein oberster Organisator eingeschaltet hatte. Wie der Goebbels in Berlin bei der anderen Verbrennung. Blinde Volkswut führte nur ins Chaos, wie sich zu Zeiten der Republik erwiesen hatte, und durch die war sein Vater arbeitslos geworden war. Blinde Volkswut ist dumme Wut, und seine Kameraden hielt er allesamt für dumm. So dumm, dass sie für ihren Ruhm nicht vorgesorgt hatten. Aber nun, dank der Umsicht des tonangebenden Herrn mit der Fliege, der ihn so sehr an seinen Vater gemahnte, würden drunten die Leute von der Wochenschau warten mit ihren Kameras auf dieses Flammen-Schauspiel der Kameradschaft 93, einbestellt von einer umsichtigen Regie, die der Volkswut imposante Konturen gab.
Besser : Konturen verlieh. Wie er zu sich selbst sagte.
Alsdann eben die Bilder an die Wand stapeln. Zum Aus-dem-Fenster-Schmeißen würde der Herr mit der Fliege dann aufrufen. Auf den Treppen drückten sich zwei in dünnen Mänteln herum, die gedämpft mit dem Wachmann sprachen, an den mit der Fliege trauten sie sich nicht heran. An die Jungen, die sich mit den Bildern zu schaffen machten schon. Sie wollten zurück haben, redete einer auf den Hierl Felix und den Ott Gotschi ein, was ihnen gehörte. Sie würden sich auch entsprechend erkenntlich zeigen. Nicht bloß mit Schokolade, sondern mit gutem Geld. Und ließen ein paar Scheine sehen, wollten sie dem Gotschi schon in die Brusttasche stecken. Aber der war jetzt eingeschnappt wegen der Schokolade. Naschwerk das, für Pimpfe ! Wo der Gotschi doch schon Flaum auf der Oberlippe hatte, genau so braun wie sein Hemd.
Ein dritter – wie hatten sie sich nur hereingeschlichen – mühte sich damit ab, dem Pframminger Alfons klar zu machen, das Bild das er da grade mit zwei Armen stemme sei ein kostbares Sammlerstück. Ausgerechnet dem Alfons, der nicht einmal wusste dass man überhaupt etwas sammeln kann, seien es Briefmarken oder Bierdeckel. Der Krettel Alwin musste dazwischen gehen und dem Unbekannten das mit der seelischen Verwesung in die Visage hauen. Und ob der Herr Volksgenosse vielleicht selber so ein Verwester wär.
Der Verweste traute sich nicht bekennen und starrte mit grauem Gesicht zur Seite. So nahm er schneller auf als die anderen beiden, dass der mit der Fliege wieder hereingekommen war. Lachend. Mit geducktem Kopf machte der Verweste sich eilends davon, die anderen hinterdrein. Von der Eisentreppe herauf hörte man ihre Füße wummern. Durch das Kellergewölbe also waren sie eingedrungen, wie die Jungen auch.
Lemuren aus der Unterwelt, sagte der Alwin zu sich selbst.

Die befohlene Arbeit war getan, und alle Bilder von den Wänden. Wie Gefangene standen sie da, die sich mit ihren erhobenen Händen von der Mauer abstützen, die Langbeinigen über die Kurzbeinigen hinweg wie der Krettel Alwin über den Ott Gotschi. Jetzt galt es Vollzugsmeldung zu machen. Dem Pframminger Alfons, obwohl Kameradschaftsführer, war schon wieder einmal der Mund zugepappt vor lauter Hinterwäldlertum, und Alwin musste übernehmen. Schon wieder einmal.
„Alles bereit zum Autodafé“ grinste er, mit hoch erhobenem rechtem Arm, und wurde nun doch ein wenig rot dabei.
„Autodafé - ?“
Der mit der Fliege verstand nicht gleich. Alwin überlegte, ob er sich vergaloppiert hatte mit diesem Ausdruck, aufgeschnappt von seinen Eltern. Der Vater musste die Mutter immer in die Oper begleiten, und in irgendeiner von Giuseppe Verdi kam eben das Autodafé vor. Aber Verdi war immerhin ein Landsmann von Mussolini. Dem Duce.
„Ketzerverbrennung“ setzte Alwin darum nun ein, und hob den rechten Arm noch höher, als könne der beredter für ihn sprechen als er selbst.
„Ah, ich verstehe. Scharfsinnige Anspielung - Don Carlos !“
Der mit der Fliege lachte nun wieder. Gleich würde er den Duce hochleben lassen.
„Akt des Glaubens“ lachte nun auch Alwin, als seien er und der mit der Fliege innigst einig über eine Oper, die er doch gar nicht gesehen hatte.
„Mit Scheiterhaufen und allen Schikanen.“
Jetzt lachte der mit der Fliege nicht mehr. Jetzt lächelte er versonnen, fast genießerisch. Als sehe er die Scheiterhaufen vor sich, die Goebbels für die Bücher hatte errichten lassen. Mit vielen Wochenschaukameras drum herum.
Flamme empor.
Sie standen sich jetzt dicht gegenüber, Nase an Nase, Alwin eher einen Kopf größer als der mit der Fliege. Zwei Herausgehobene, die es unter sich ausmachten. Der eine der Senior, der andere sein Junior und Adjutant. Und der Depp Pframminger mit den anderen weit abgehängt, mit hängenden Armen, wie es ihnen zukam.
„Wir haben Spiritus dabei, als Trockenwürfel und auch in der Flasche. Vorsorgehalber.Damit’s auch voll zum Klappen kommt, das mit dem Abfackeln" sagte Alwin gedämpft zu dem mit der Fliege.
Warum soll einer nicht dämpfen, vertraulich, wenn er weiß dass der andere innigst eins mit ihm ist. Aber der mit der Fliege lachte auf einmal nicht mehr. Er trat einen Schritt von Alwin zurück, sogar vier oder fünf.
„Ihr …ihr halbgaren Bürschchen…“
Die Stimme versagte ihm. Die Fliege vor seiner Kehle ruckelte, als er Luft holte. Und die Luft brauchte er, denn nun brüllte er.
„Dass das schon mal klar ist, und zwar im Namen des Führers : Rowdytum findet hier nicht statt ! Übergriffe werden nicht geduldet, meine Herrschaften !“
Der Pframminger hinten pisste sich fast in die Hose bei dem Wort Herrschaften, denn wenn er auch nicht wusste was Ironie war wusste er doch dass diese Anrede Häme war und eine Herabwürdigung, auf die ein Anschiss folgte, dass einem der Arsch nur so mit Grundeis ging. Und dem Anschiss folgte die Degradierung, und der Degradierung folgte die Einweisung in - der Pframminger Alfons kam nicht weiter mit seinen Angstereien, denn der mit der Fliege brüllte schon wieder.
„Und wieso bitte befinden die sehr verehrten Herrschaften sich überhaupt hier in dieser Ausstellung ?“
Weil wir das Hilfskorps des Führers sind, wäre die Antwort gewesen, beim Endkampf gegen die seelische Verwesung. Ein junges Volk steht auf zum Sturm bereit / reißt die Fahne höher Kameraden. Vor allem aber wegen der Hetz. Und der diese Antwort hätte überbringen müssen, wäre der Kameradschaftsführer gewesen, schon wieder. Aber der Pframminger Alfons kämpfte gegen seine volle Blase und gegen sein Muffensausen, beide hatten sich zusammengetan, und der Alfons wollte am liebsten hinter die angelehnten Bilder kriechen.
„Ich höre - ?“
Der mit der Fliege hörte nichts außer Angstschnaufen.
„Befehl vorzeigen, und zwar schriftlich, gefälligst !“
Wir haben keinen, Herr Brüller. Es war unsere eigene Selbstverpflichtung. Und Selbstverpflichtung, hatte Baldur von Schirach gesagt, ist Dienst an Volk und Führer. Gegengezeichnet Kameradschaft 93.
„Was ihr Grünlinge euch also…also hier erlaubt…also…das verstößt gegen …gegen…“
Gegen den ausdrücklichen Befehl des Führers, fuhr es dem Alwin Krettel in den Sinn, wie einem Souffleur in der Oper, wenn der Tenor das Stichwort nicht mehr weiß. Den Befehl des Führers und nichts drunter. Warum sich mit einem Niederrangigen aufhalten. Und siehe da, eben diesen Satz nahm der mit der Fliege jetzt tatsächlich in den Mund :
„…verstößt gegen den ausdrücklichen Willen des Führers !“
Irgendwie waren sie eben doch Senior und Junior, Alwin und der Brüller mit seiner Fliege. Herausgehobene beide. Der Senior griff ein rotes Papier aus seinem Jackett. Alle sechs kannten dieses Rot, sie hatten es auf allen Straßen verteilt.
„Und was steht bitte hier rechts unten, Kleiner ?“
Der Kleine war Alwin, der den mit der Fliege um einen halben Kopf überragte.
„Für Jugendliche unter 18 verboten.“
„Wiederholen !“
„Für Jugendliche unter 18…“
„Verboten ! Und wie alt seid ihr Windelbübchen, eh ?“
Jetzt war sogar der Krettel Alwin stumm. Das mit dem Junior und dem Senior und dem innigsten Eins-Sein musste er wohl noch etwas zurückstellen. Der mit der Fliege erhob den Arm, nicht so hoch wie vorher Alwin, aber das Signal war deutlich genug.
Nachdem sie über die eiserne Wendeltreppe hinunter gerannt waren, die wieder ihr Wummern hören ließ, gejagt von der Drohung des Herrn mit der Fliege, er werde SS holen, stand niemand auf der Wiese beim Kriegerdenkmal. Kein Schaulustiger und keine Kamera von der Wochenschau. Nur das Bild, das sie aus dem Fenster geworfen hatten, lag noch da, als warte es auf sie.
Die schöne Gärtnerin war hinten drauf gemalt auf die Leinwand.

Meine Schöne ist verstört. Sie ist gedemütigt worden, sie ist misshandelt worden. Sie ist verletzt worden. Sie haben ihr alles genommen. Aber sie ist nicht gestürzt. Sie steht unerschüttert aufrecht, wie eine Statue. Sie gewährt ihren Peinigern nicht die abscheuliche Wonne dazuliegen und zu strampeln. Sie ist nicht das Opfer, sie ist die Überlebende.

„Der hat ja irgendwie allerhand jüdisch ausgeschaut, der mit der Fliege.“
Abend. Schotterinsel in der Isar.
„Das war der Professor Ziegler“ wusste der Krettel Alwin. Seine Eltern waren Kulturmenschen und hatten ein Konzert-Abonnement bei den Philharmonikern.
„Ein Jud kann er doch trotzdem sein, dein Brotfresser.“
„Weil, der Jud treibt sich doch überall rum“.
Der Krettel Alwin hatte einen Katalog dabei von der Ausstellung, die den Sommer über im Haus der Deutschen Kunst zu sehen gewesen war. Und da stand schwarz auf weiß : Professor Adolf Ziegler Präsident Reichskunstkammer. Gleich unterm Führer gedruckt war er.
„Was sag ich. Deswegen hat er auch so eine noble Fliege um gehabt.“
„Schwule Ober haben auch so eine um.“
Dabei wäre ein Ober jetzt eben recht gewesen, der hätte ihnen ein Bier bringen können.
„Der Alois hat versprochen wir kriegen nur eins, wenn wir…“
Kein Autodafé, kein Bier. Der Alfons schwieg, und die Isar gluckerte. Der Alois war sein älterer Bruder.
„Der Alfons hat sowieso keins in der Hinterhand, der Spruchbeutel.“
Doch, habe er, treuhänderisch für seinen Bruder. Als Siegerlohn. Ein ganzer Kasten liege da hinten in der Isar, strategisch versteckt. Und wegen der Kühlung. Wenn es aber nun weggeschwemmt wurde ? Nie wird’s weggeschwemmt, versicherte der Pframminger Alfons. Was ein Pframminger vertäut, hält für die Ewigkeit, und wenns ein Dampfer vor dem Stapellauf wär.
„Das hört man doch.“
Alle lauschten durstig. Aber keiner hörte, dass die Wellen an Bier-flaschen klopften. Zwischen ihnen auf dem Kies lag das Bild, die Schöne Gärtnerin. Anfangs hatte der Pframminger Alfons mit beiden Füßen in die Leinwand springen wollen weil die Schöne so dämlich hilflos auf dem Rasen lag. Aber der Hierl Felix war dazwischengefah-ren : Gefangene werden nicht misshandelt.
„Genfer Konvention ?“
Ehrenkodex deutsche Hitlerjugend. Ein paar haben gelacht, aber die Stimmung war unten durch. Beim Weitertrotten hatten sie das Bild missmutig hinter sich her geschleift. Ohne Marschordnung diesmal, keinem war nach einem Lied von Baumann oder Schirach, und auch nicht sowas Aufge-zwirbeltem wie Links bloß Schrott und rechts bloß Schrott / in der Mitte Gotschi Ott. Bis sie an den Fluss kamen. Dort, auf einer Schotterinsel, lagen Reisighaufen herum. Einladend zu einem Lagerfeuer, wie im Sommerlager. Um, keiner musste es erst auch noch aussprechen, das Bild endlich brennen zu sehen. Als Genugtuung, dass sie sonst nichts erbeutet hatten.
Im Sommerlager haben ihnen die aus dem Arbeiterviertel bei-gebracht, wie ein richtiger Trapper das Feuermachen angeht. Stöck-chendrehn bis die Handballen fast so glühen wie das Holz, und dann mit Indianergeduld in diese Glut pusten. Nicht auf die piefig pomadige Manier mit Spirituswürfeln oder gar Streichhölzchen. Das war was, pfui Spinne, für verpimpelte Bürgerseppel, wo sie zu Hause eh immer am Sterben huch, Ernst sieh dich vor ! sind aus Schiss dass ein Zimmerbrand ausbricht. Und wie man dann, wenn die ersten winzigen Baby-Flammen blau züngeln, das Feuer in die Höhe lockte mit den richtigen beschwörenden Liedern.
Eigentlich waren es die gleichen Lieder, die auch die sechs hatten lernen müssen, wenn wir schreiten Seit an Seit / und die alten Lieder singen, aber die aus dem Westend wussten dazu noch andere Reime, fremde Strophen, denn die Westendler waren früher bei den Kom-munisten gewesen und kamen den sechsen verwegen und tiefschwarz vor, wie richtige Apatschen. Hatten die ihnen nun auch kommu-nistisches Feuermachen beigebracht ?
Flamme empor !
Auch das Feuer gehörte jetzt den Hitlerischen, alle vier Elemente ge-hörten den Hitlerischen. Gehen wirs an, Flamme empor ! Das Feuerchen züngelte schon, nach kommunistischem Rezept. Der Pframminger Alfons, er musste jetzt endlich einmal den Kameradschaftsführer he-rauskehren nach dem Fiasko mit dem Bier seines Bruders das nicht da war, stemmte mit dem Fahrtenmesser das Bild aus dem Rahmen.
„Dann hammer länger was davon“.
Darum hielt er dem Feuer erst einmal den Rahmen hin. Das Feuer wich nach rechts und links aus, mäkelte und zierte sich, schon wurde Unmut laut unter den sechsen. Plötzlich aber, als errege der Lack seinen Heißhunger, raste das Feuer an der Kante hoch und fraß so grell und gierig, dass der Pframminger Alfons den Rahmen los ließ und der in die Glut fiel. Beifall für das Feuer und Missfallen für den bänglichen Kameradschaftsführer. Kaum war der Rahmen gefallen, wurde das Feuer lahm und wollte nicht weiterfressen. Nun galt das Missfallen ihm. Und der Lamprecht Fipsi sinnierte :
„Wie stehn wir jetzt da vorm Goebbels.“
Der hatte womöglich rumgeschummelt mit Brandbeschleunigern und mit Benzin, das er in die Buchseiten hätte kippen lassen. Und auf ein-mal waren sie doch wieder froh dass ihnen keine Wochenschau zu-schaute.
Null Beute, null Bier, null Feuer. Und weil sie grätig und vergrätzt waren, auch auf sich selber, schauten sie zum ersten Mal das Bild an.
„Die is ja nackert !“
Wir machen Messerwerfen auf die, kam auf, mit dem Hineintreten ist sie nicht genug bestraft für unsere Niederlage.
„Wer aus fünf Meter Entfernung ihre Möse trifft“ schrie der Gottschi Ott, „der darf …“
Der - was ? Was darf der, der trifft ?
Der Gotschi hatte drei Schwestern, darum verließ ihn jetzt die Traute und es wurde kein Siegespreis ausgesetzt. Aber in den anderen köchelte es weiter. Ein paar lachten schon mit roten Ohren über ihre eigene Ver-wegenheit, ihre Unzuchts-Allmacht, und sie holten ihre Fahrtenmesser aus den ledernen Scheiden, die an ihren Gürteln hingen. Da ergriff der Längste das Wort, der Krettel Alwin.
„Das Fahrtenmesser ist zu edel für so Sauereien.“
Edel !!! wurde geschrien, ob der Alwin vielleicht den Arsch offen habe oder erzschwul sei oder beides auf einmal. Aber wenn der Klas-senbeste der Sexta von der Rederitis erfasst wurde, dann hatten auch die das zu schlucken, die nur in die Volksschule gingen. Und so predigte der Alwin, dass ihr oberster Jungmann, Baldur von Schirach, ihnen das Fahrtenmesser anvertraut hatte, einem jeden deutschen Jungen persönlich – persönlich ! anvertraut, aber –
„Aber eigentlich gehört es dem Führer.“
Da konnte es kein Murren mehr geben. Denn der Führer schaute auf sein Messer und damit auf jeden deutschen Jungen ganz persönlich. Denn eigentlich ist das Messer symbolisch gesehen ein Schwert.
„Und einem Schwert muss man sich würdig erweisen als Jungmann.“
Dem Schwert, das schon ein Siegfried geschwungen hat und Alarich und Hermann der Cherusker. Geschmiedet aus dem deutschem Edelstahl, wo draus doch auch die deutsche Jugend insgesamt geschmiedet sein soll. Und so ein Symbol gehört nicht grade eben mal hergenommen für eine billige Artistennummer.
Weil, Messerwerfen ist eine Artistennummer.
„Oder sind wir vielleicht der Zirkus Pframmizutschi ?“
Weil, Zirkus ist dekadent, minderrassig, französisch.
Schweigen. Nur der Fluss traute sich weiter zu glucksen.
„Und außerdem“ zeigte der Hierl Felix den anderen „hat die da auch noch schwarze Haare.“
„Deswegen gehört sie ja grad extrig abgestochen.“
„Der Führer sticht seine Feinde nicht ab, merk dir das !„
Das war diesmal nicht der Krettel Alwin, sondern der Ruttmeier Rudi. „Der Führer siegt einzig und alleinig durch die Wucht seiner Worte, die wo die Volksgemeinschaft dann in die in Tat umsetzt.“
Und nicht durch Rohheit.
„Weil Rohheit ist jüdisch.“
Nicht nur der Kameradschaftsführer sollte heraus hören, dass der Rudi selber gerne HJ-Führer und sogar Scharführer werden wollte. Die Isar gluckerte, weil die sechs so lange schwiegen.
„Nicht einmal Schamhaare hat die.“
„Woher weißt du schon was Schamhaare sind !“
„Von meinen Schwestern, du Arsch.“
Rot wahrscheinlich, wie die Wuschelhaare des Ott Gotschi selber.
„Wie willstn das beurteilen ob die überhaupt Schamhaare hat oder nicht. Bei der hockt doch die blöde Taube haargenau vorm Haupt-eingang.“
„Als Einladung zum Vögeln !“
„Echt jüdisch.“
Alle lachten. Bis auf den Krettel Alwin.
„Ein deutscher Junge redet nicht so daher !“
Alwin, der Vordrängler. Schon sein Vorname drängte sich vor im Alphabet, wie Adolf. Nein, wie Adam ! korrigierte er dann immer, denn er war streng evangelisch erzogen. Alwin, der Pastor, der Dozent, der Siebengescheite, ach was das reichte gar nicht, Alwin der Acht-zehngescheite, der Hundertgescheite. Der Pframminger Alfons hätte ihm sein Fahrtenmesser in den Schlund rammen können als er sich nun hinstellte in seiner arroganten germanischen Hochgewachsenheit und klugscheißerte, den Katalog vom Haus der Deutschen Kunst in der schmalfingrigen Hand, vom neuen Frauenbild des Nationalsozialismus. Und die Kameraden sollten sich das anschauen, hier die arische Schönheit die zur Mutterschaft drängt, und da auf dem Kies die minderrassige Hure.
Die Kameraden, und das gönnte der Alfons dem Alwin, verstanden nichts von Frauenbild und arischer Schönheit, sondern rissen ihm den Katalog aus der Hand.
„Leckmich ! Schauts euch die an !“
„Und die da !“
„Erzscharfe Weiber ! „
„Die zeigen vielleicht was her …“
„Die Titten, was die da rumschleppt…“
„Da möcht ich auch mal drüber !“
Die Seiten waren feucht vom Schweiß des Krettel Alwin, denn er hatte den Katalog hinten im Gürtel stecken gehabt.
„Mannomann… affengeil ! Badende, schau, von Karl Truppe…“
„Bei der kommts dir im Nu…“
„Auch in schwarzweiß ?“
„Da kannst aber einen lassen drauf.“
Wenn sie das gewusst hätten im Sommer. Da hätten sie all die Flei-schespracht in Farbe sehen können, lebensgroß. Ins Haus der Deutschen Kunst wären sie auch mit fünfzehn hineingelassen worden. Und nicht gouvernantig rausgeschmissen von einem piefigen Brotfresser mit schwuler Kellnerfliege um.
„Weil der Führer will dass er uns steht“.
„Geil wie Göring.“
Mit seinem Ruf ein deutscher Junge redet nicht so daher konnte Alwin nun nichts mehr ausrichten.
„Auf geht’s, Männer, bei der holen wir uns einen runter.“
Wer das gesagt hatte, wurde später noch oft erörtert. Alle sechs bean-spruchten es für sich.
„Alle auf einmal ?“
„ Als Treuschwur auf…auf…“
„Auf was denn, du Arsch.. ?“
Auf was, das würde sich dann schon noch finden. Ein rechter Wikinger greift an und fragt erst hinterher was es denn war.
„Auf die arische Schönheit !“ fiel einem ein. Alle lachten.
„Die wo wir verteidigen.“
„Ich mach nicht mit. Ich bin katholisch.“
„Grad die Katholischen habens notwendig.“
„Aber dann im Beichtstuhl damit rausrücken, das giltet nicht. Wo der Kaplan auf Sünden scharf ist gegen das sechste Gebot.“
„Ehrensach. Weil der Kaplan is doch selber der oberste Wixer.“
Der Katalog lag zwischen den Kieselsteinen, aufgeschlagen bei der Badenden von Karl Truppe. Der Name klang nach Armee und Militär-operation, da waren sie auf der sicheren Seite. Der Fluss gluckerte auf-munternd.
„Der Kameradschaftsführer muss den Einsatz geben.“
„Seid bereiiiiiiiiiiiiit !“
Alle strengten sich an. Die Isar gickelte und gickste und freute sich, aber der Wind blieb unbeeindruckt und blätterte den Katalog um. Erst auf eine Alpenlandschaft, dann auf den Führer. Und das zweimal. Danach schien ihm ein Bauer mit Bäuerin und Kuh zu gefallen, denn die blies er nicht mehr fort.
„Sabotage !“
„Heimtücke, echt jüdisch.“
Man sollte das Fahrtenmesser in den Wind rammen, er verdients nicht anders. Alwin brachte ein, dass der Wind in der Genesis vom alten Christengott erfunden worden war, also jüdisch ist. Nix da, widerlegte ihn der Ott Gotschi, der Wind ist germanisch, sonst hätte er die Wikinger doch nie in den Süden geblasen, damit sie den Halbaffen da drunten eine Kultur mitgebracht haben.
„Dann legen wir halt vier Kiesel drauf.“
Auf den Katalog.
„Ich glaub, ich kann besser bei der anderen Nackerten …“
Der von Ivo Saliger als bei der von Karl Truppe. Vielleicht eben doch wegen dem Militärischen.
„Ich auch !“
„Ich auch !“
„Abstimmung !“
Man merkte, dass der Lamprecht Fipsi früher bei der Natur-freun-dejugend war, bei den Sozialdemokratischen. Beschämt schwieg er still und ließ seinen Vorschlag auf sich beruhen. Aber die Isar gickste und ermutigte.
„Seid bereiiiiiiiiiiiiit - !“
Sie strengten sich noch einmal an. Aber nun spielte ihnen der Wind noch jüdischer mit und blies welke Blätter auf den Katalog. Der Pframminger Alfons schleuderte den Katalog ins Wasser. Kein Erguss. Kein Feuer. Kein Bier. Das Bild das sie erbeutet hatten, lag still und ergeben auf dem Schotter, und der Wind konnte ihm nichts anhaben. Es lag so still als warte es auf sie.
„Hej, die ist sogar in bunt.“
„Und viel größer. Da haben alle was davon.“
Sie standen nun in breiter Reihe, einer neben dem anderen.
„Ich kann nicht…“
„Schwuler !“
„Ich kann nicht, weil der Kerl da hinter ihr schaut mir genau aufs Hosentürl.“
„Bei mir schaut er auch.“
„Der Kerl ist ein Neger“.
„So wie der tätowiert ist.“
„Der kann auch ein Indianer sein.“
„Wie der Winnetou.“
„Dann wärs wieder auf der Reihe. Weil, die Indianer sind Brüder.“
Und der Tätowierte hätte ein Recht darauf hinter der Nackten zu stehen. Denn wie die deutschen Jungen werden die Indianer von den Plutokraten von der Wallstreet verfolgt. Und die Plutokraten, das haben die sechs gelernt, die sind immer auch Juden. Die Isar gurgelte bekräftigend dazu, als Wildfluss hielt sie von Natur aus zu den Indianern.
„Pack ma’s halt noch amal…“
„Seid bereiiiiiiiiiiiiit - ! !“
Nun rauschte die Isar Respekt, als sie sich die Hosen wieder zu-knöpften und gluckerte so munter als sei ihr Wasser das Bier das sie nicht kriegten, obwohl sie es sich nun verdient hatten.
„Der Alois hat keins rausrücken wollen.“
Aber dafür verband sie jetzt ein Geheimnis. Ein Jungmännergeheim-nis, das sich auswachsen konnte zum altgermanischen Mysterium, in das nur sie eingeweiht waren, sechs altgermanische Verschworene. Verschworen mit Odin, und Thor, und Loki. Das sei ja, wusste der Ruttmeier Rudi, der heimlich büffelte für den Lehrgang zum Scharführer, das sei das Unbandige an den Germanen gewesen, dass die Initiationsriten abgehalten haben, mitten in der Wildnis, in der Nacht, mitten im reißenden Fluss, und danach gestählt hinaus gegangen sind in den Kampf.
„Weil, Kampf ist der Kern vom Germanischen.“
Unverwundbar durch Drachenblut. So wie der Siegfried. Und sie sechs wollten doch alle Siegfried sein. Man musste sich als Siegfried nur vorsehen dass einem niemand hinterrücks ein Eichenblatt auf den Rücken pappte.
„Aber hinterrücks is schon wieder jüdisch.“
Die Nackte war nun ihr Geheimbesitz. Ihr Schatz, der alle sechs zusammenschmiedete. Das Beutestück, das den Männerbund stiftete. So wie die Vandalen eine Venus aufbewahrt haben, eine nackerte versteht sich, erbeutet in Rom, und sie versteckt haben vor ihren Müttern, ihren Schwestern, vor Frauen überhaupt. Damit Odin ihnen auch glaubte eines Tages, dass sie ihren Mann gestanden hatten im Gemetzel, wenn sie nach Walhall aufgefahren sind.
Als der Pframminger Alfons in seine Straße einbog, wollte er, dass die Niederreuther Helene es auch sah, die Stockkatholische mit ihren Affenschaukeln, dass er ein mächtiger Führer war. Und darum an der Spitze marschieren durfte, als Zweitkleinster. Aber dafür hielt er sich um so strammer und haute die genagelten Schuhe aufs Pflaster, dass es nur so hallte, als Werbelied hinauf stieg es hinauf zum Küchenfenster der Niederreuthers im dritten Stock.
Dahinter war Licht. Lauter also der Gesang !
„Denn die Fahne ist mehr als der Tod...“
Helene, schau herab auf deinen Anschmachter ! Er hat zwar keine Fahne mit dabei diesmal, aber so etwas wie eine Fahnenstange, ein Beutestück, eine Trophäe.
Das gerollte Bild.
Oben im Fenster die Silhouette einer Weibsperson. Der Pframminger Alfons riss den rechten Arm hoch, um den Hitlergruß zu entbieten hinauf in den dritten Stock. Dazu gehörte es sich, dass er die linke Hand ins Koppelschloss hängte wie der Führer es ihnen in der Wochenschau immer vormachte. Ganz lässig, ganz souverän, und dabei doch kampfbereit zu allem entschlossen. Dazu musste der Alfons aber das gerollte Bild von seiner Schulter umpacken zu dem der neben ihm marschierte.
Der neben ihm war eben noch der Ruttmeier Rudi gewesen, der aber zurückgeblieben war weil er sich Flusskiesel aus dem Schuh räumen musste. Nun marschierte der Hierl Felix neben ihm, der die linke Hand ebenso in das Koppelschloss gestemmt hatte wie der Führer. Diese Hand aber nun zackzack herausziehen musste um von seinem Kame-radschaftsführer die Leinwandrolle zu übernehmen. Und sich eins zu grinsen, weil der hochgerissene Arm seines, na wenn schon, Vorge-setzten, nicht ihren allerallerobersten Reichsjugendführer grüßte son-dern ein Küchenfenster.
Hinter dem nicht einmal die Heißersehnte stand, wie der Kame-radschaftsführer es sich ausgemalt hatte, nicht Helene mit den brü-netten Affenschaukeln, sondern Helenes Mutter in der Küchenschürze. Die sich durch den Gruß so wenig geehrt fühlte, dass sie die Gardine vors Fenster riss, als hätte es mit einem Mal zehn Grad minus. So ka-tholisch war die immer noch.
Ehe die Jungen sich zerstreuten, riefen sie, wie nach jeder Feldübung ihr „Schwiegermutter / Schinderluder Heil heil heil !“
Dreimal hintereinander. Überlaut. Das ganze Viertel sollte es hören, dass sie trotzdem Sieger waren, irgendwie.

Wenn der Ott Gotschi von der HJ nach Hause kam, setzte es Geschimpfe von seiner Mutter, weil er Lehm und Kieselsteine in den Flur mitbrachte. Ganz anders als seine drei Schwestern. Die lernten alle Verkäuferin, zwei in Feinkost, eine in einem Weißwarengeschäft. Die von der Feinkost mussten im Dienst Aufsteckkrönchen aus gesteiftem Leinen tragen, die sie sich selber jeden Abend mit Kartoffelstärke nachjustierten. Dafür hatten sie nur einen Spiegel, denn mit der Hoffart hatte man es nicht bei den Otts, und kein Bild zierte die Wände.
Und in diesen Tempel der Reinlichkeit brach der Bruder, der Ott Gotschi, jüngster auch noch, grobianisch ein mit seinen lehmigen Stiefeln. Wenn auch, Kruzifixhalleluja ! im Dienste des Führers. Wie konnte der Führer Verunreinigung in einem deutschen Heim dulden, das war doch Insubordination, das war Sabotage, und der einzige Bub in der Familie, so herzig adrett letzthin noch bei seiner Erstkommunion, war in ein Erdferkel verwandelt, verludert da draußen in der unberechenbaren Natur, zu einem Negerwildling unter anderen Negerwildlingen.
Die Schwestern dagegen hielten auf sich. Und wie sie auf sich hielten, Reinlichkeit war ihnen zweite Natur und erste Pflicht zugleich, denn sie hatten jeden Morgen in der Früh wieder in ihren Geschäften anzutreten mit säuberlich gestärkten weißweißweißen Krönchen, das strahlende Leinen stand für Bonität und Ansehen der Firma, die Oberverkäuferin kontrollierte persönlich, und Waschwasser war rar in der Wohnung der Otts. Es musste Eimer für Eimer aus dem Hof heraufgeholt werden, dann angeheizt, und wer schleppte die Kübel, schleppte das Brennholz, schleppte die Briketts ? Und wie ging Brikettdreck mit gestärktem weißen Leinen zusammen ?
Also mussten die Männer die Dreckschlepper sein, Gottschi Ott und sein Vater Gottfried senior, der Straßenbahner. Er war es auch, der dem Sohn die Erde von den Stiefelsohlen kratzte mit der selben Bedäch-tigkeit mit der er als Junger den Pferdedreck aus den Schienen der Straßenbahn geräumt hatte. Und dabei dem Jungen einbimste, unter uns Männern, er müsse was Besseres werden und heraus aus dieser Weiberherrschaft, Scharführer zum Beispiel bei der Hitlerjugend. Uniform ist Uniform. Die eine blau wie die vom Senior bei der Straßenbahn, die andere braun wie die vom Junior beim Hitler.
Braun war zwar auch das, was sich früher in den Straßenbahnschienen abgelagert hat als noch die Pferdedroschken drüber-fuhren, aber in den gegenwärtigen Zeiten war es die Farbe der Hoffnung.
Wenn der Pframminger Alfons von der HJ nach Hause kam, roch es ihm nach fauligen Kartoffeln entgegen, die, und auch das roch man schon beim Eintreten heraus, bereits rundum Triebe ansetzten. Alle in der Pframminger-Familie rochen nach Kompost, die einen rochen mehr nach Lauch, der schon überständig war, die anderen mehr nach Karot-ten oder nach Wirsing, den sie vor drei Tagen fortgeworfen hatten, der aber unter ihren Fingernägeln hängengeblieben war und weiter gärte und weiter kompostierte. Die Eltern Pframminger, bei denen es keinen Wandschmuck gab außer einem Jahreskalender der Samenhandlung Schmitz vom Viktualienmarkt, die Eltern schwiegen wenn der Alfons von der HJ nach Hause kam und waren damit beschäftigt das Haupt-buch zu führen. Unter stummem Lamento, denn schon wieder waren die Tomaten vom Bodensee zu grün gewesen und die Kartoffeln aus dem Dachauer Hinterland ausgeblieben.
Bei den Pframmingers waren sie zu siebt, fast jedes Jahr rückte ein neues Kind nach, und die Mutter dem Mutterkreuz in Gold näher. Das nächste Kind würden sie Adolf nennen, bei einem frisch geborenen Adolf übernahm der Führer persönlich die Patenschaft und der Führer wäre damit auch quasi persönlich in der Familie anwesend, fast schon als ein weiterer Pframminger.
Der Vater Pframminger hatte immer schon etwas übrig gehabt für den Führer, schon lange vor der Machtübernahme, und das war nichts Politisches bei ihm, denn das Politische verabscheute der Vater Pframminger, und mit ihm in stummem Einvernehmen, wie es ihre Art war, alle Pframmingers, weil im Politischen mit seinen Mauscheleien und Bescheißereien fanden sich nur die Juden zurecht.
Die Hochachtung der Pframmingers galt vielmehr dem beispielge-benden Geschmack des Führers, der die Kühnheit hatte ein Vegetarier zu sein, einsam bekennerisch an der Spitze eines Volkes von lauter Weißwurst- und Schnitzelfessern. Das aufs pframmingersche Gewerbe dünkelhaft herabsah, als wären die Pframmingers schuld am Steck-rübenwinter von 1916 mit seinem Dotschland Dotschland über alles.
Allenfalls dass die Hautevolee hin und wieder ihre Küchenmamsells hereinschickte wegen einer Handvoll Sellerie oder einem Bund Schnittlauch als Garnierung für ihr ungesund üppiges Fleischmahl. Währenddem der Führer, ein Sohn einfacher Verhältnisse wie auch die Pframmigers, seine gesamte Lebensphilosophie herum garnierte um das Wirsingmenu, den Kohlrabi-Eintopf und die Radieschen mit Topfen.
Darum würde der Vater Pframminger ihm zu Ehren noch ein sechstes, siebtes, achtes Kind zeugen. Und weil des Führers Hitlerjugend und BDM und Reichsarbeitsdienst ihm die Erziehungslast abnahmen, brauchte der Pframminger sie nicht selber krumm zu schlagen.
Einmal in der Woche kam das Weltgeschehen in die Souterrainwohnung der Pframmingers, in der es nach Kompost und vergammeltem Lauch roch. Ein Braununiformierter stellte den Stürmer zu und kassierte auch gleich dafür ab. Keiner in der zahlreichen Familie der Pfram-mingers wusste, wer den Stürmer je abonniert oder bestellt hatte, der Braununiformierte wusste es auch nicht und blieb bei jedem Kassieren die Antwort schuldig. Er war pressant, musste noch viele Male den Stürmer zustellen im Viertel, obwohl dort niemand Zeit und Licht genug hatte ihn zu lesen, auch wenn es das Warnblatt schlechthin war, allzeit auf der Hut. Und die feineren Leute in den feineren Vierteln um-so aufmerksamer Botschaften aufsaugten wie Jüdischer Mordplan gegen die nichtjüdische Menschheit aufgedeckt und ihm dafür satt Trinkgeld gaben.
Und die Pframminger gaben nichts, und darum eben war er pressant.
Der Stürmer schmuggelte aber auch Bilder bei den Pframmingers ein, von denen ihre Behausung sonst leer war. Sinnenfreude und Schau-vergnügen sprang ihnen entgegen aus seinen deftigen Karikaturen. So sauzotig, dass die Brüder sie ausschnitten und auf den Abtritt hängten, wo die Schwestern sie wohl oder übel im Blick hatten wenn sie auf der Klobrille saßen.

Wenn der Lamprecht Fipsi von der HJ nach Hause kam, eigentlich hieß er ja Willi wie der Kaiser, aber der hatte den Krieg verloren, wenn-gleich unverschuldet, und der Führer würde den Kaiser schon noch rächen und dann heimholen, aber Willi hießen ohnehin schon die meisten in seiner Klasse, der Sexta, so nannte ihn der Kameradschafts-führer eben unsern Fipsi weil er immer noch nicht alle Teile seiner Montur beisammen hatte und als Schluderling verspottet wurde. Mangelhafte Montur gab wiederum ein mieses Bild bei Appellen und Aufmärschen, das fiel auf die ganze Kameradschaft 93 zurück. Ausgerechnet durch den Fipsi, der ein Muster hätte sein sollen, wo er doch nach dem Kaiser hieß.
Wenn der Lamprecht Fipsi also nach Hause kam, in eine graugriesliche Wohnung in der keine Bilder an der Wand hingen, eine Wohnung mit einem graugrieslichen Sisalläufer, mit Messinghaltern festgepfropft als sollte der Sisalläufer daran gehindert werden aus dieser Wohnung zu fliehen, wenn der Lamprecht Fipsi also nach Hause kam, erwarteten ihn zuhauf die Bestellungen seiner Mitschüler, denn der Fipsi war der beste Zeichner in der Sexta, und darin nun doch wieder ein Wilhelm und ein kleiner Kaiser. Bei der Hitlerjugend war etwas so Weibisches wie Malenkönnen schlecht angesehen. Geländeübungen machten den Mann aus, Bewährung beim Ringen und mit dem Luftgewehr. Aber sogar der Klassenbeste ließ beim Fipsi arbeiten, und der, Alwin, war auch beim Ringen der Primus. Der Zeichenlehrer, der den immergleichen Strich sehr wohl erkannte, obwohl der sich bemühte nicht erkannt zu werden schwieg dazu still. Der Zeichenlehrer war bis vor einigen Jahren noch freier Maler gewesen, sogar mit einem Atelier das er mit zwei anderen geteilt hatte, die nun verfemt waren und aus deren zersetzendem Dunstkreis er sich herausgewunden hatte dank seinem Schwager, einem Schulrat, und nun in den Fächern Kunsterziehung, Geometrie und Werken sein Festes hatte. Damit aber an des Fipsi langer Leine lief, denn der Schulrat war Fipsis Patenonkel. So ergab sich ein hündisches Geflecht von Halsbändern und Leinen und alle hüteten sich daran zu zerren.
Die Dienste des Fipsi waren alles andere als selbstlos. Sie berechtigten ihn laut ungeschriebener Satzung, dass er bei den anderen abschreiben durfte. Bei Krettel in Mathe, dem Klassenbesten, der allein bei der Kunsterziehung schwächelte. Nur im Sport war das mit dem Abschreiben haarig. Aber der Turnlehrer hatte, glücklicherweise, gewisse Dunkelzonen in seinem Lebenslauf, weil er sich beim Ar-beitersportverein umgetan hatte, ante Adolf. Da half dem Fipsi, bei allem Ungenügen im Weitsprung, der Hinweis – es war Alwin, der ihn gab -, dass der Fipsi bei der Hitlerjugend eine ausgesprochene Weitsprungkanone sei.
„Ein richtiger Springbock. Warum also nicht auch bei Ihnen ? Wohl noch nicht ausreichend eingeschworen auf die Körperkultur der nationalen Bewegung, wie ? Bewegung !!! Gell, der Begriff schon !“
Und so schaute der Lehrer, um sich Alwins Zensuren zu ersparen, bei Fipsis Klimmzügen geflissentlich weg und schrieb ihm am Barren umso mehr kraftvolle Unterschwünge gut.
Wenn der Lamprecht Fipsi also von der HJ nach Hause kam, setzte er sich zwar vor seinen Malblock , aber war der Krettel Alwin. Für eine Viertelstunde, die er brauchte, um ein Blatt à la Alwin vollzukriegen, wofür als Tarif galt : zweimal bei Alwin in Algebra spicken dürfen. Fipsi bewunderte Alwin in allen Fächern und führte den Pinsel so wie er sich vorstellte dass Alwin ihn geführt hätte wenn der es denn gekonnt hätte. Fipsi führte den Pinsel genialisch, als Alwin. Und geriet so, mit Deckfarben, in die Seelenvertiefungen des Primus, betonte das Blasierte an Alwin mit langen steilen Bleistiftstrichen und das Hochgestochne mit Silberbronze.
Und danach war er vor seinem Malblock für jeweils eine Viertelsunde der Hierl Felix. Ein Blatt à la Felix vollkriegen, hieß in Deutsch, Englisch und Französisch spicken dürfen, und er führte den Pinsel so wie er sich vorstellte dass der Felix ihn geführt hätte wenn der es denn gekonnt hätte. Und so durch und so weiter, der Fipsi war nacheinander der Ernst und der Gustav und der Theo, er hatte die halbe Klasse als Kundschaft. Er gab den Mitschülern mit Bleistift und Pinsel Farben und Gesichter, die sich nicht hatten und in die sie hineinwuchsen durch ihn, den Fipsi.

Wenn der Ruttmeier Rudi von der HJ nach Hause kam, dämpfte er unwillkürlich seine Stimme. Er hatte als einziger in der Kameradschaft schon den Stimmbruch durchgestanden und eine Männerstimme. Aber nun drehte er sie herunter, wie er auch vorher schon seine Knabenstimme hatte herunterdrehn müssen, denn seine Mutter saß über ihrer Näharbeit. Alles Geräuschige verstörte sie, sie stach sich zwar nicht in die Finger dabei wie des Schneewittchens Mutter im Märchen, aber sie geriet aus dem immergleichen Rhythmus ihrer Nadelstiche, der alles was von ihr gefertigt war aussehen ließ als wäre es vor hundert Jahren schon genadelt worden. Denn eine Nähmaschine besaß Rudis Mutter nicht. Trotzdem nähte sie immerzu, und immerzu für andere Leute.
Kein einziges Bild hing an der Wand. Keines mit Alpenlandschaften oder Blumen, auch wenn es nur Öldrucke gewesen wären, oder gerahm-te Postkarten. An den verfärbten Rechtecken auf den Tapeten konnte man erkennen, dass vor Zeiten da sehr wohl Bilder gehangen haben mussten. Aber die Mutter hatte sie abgenommen, als der Vater des Rudi im Weltkrieg gefallen war. Bei einer Wittfrau ziemen sich keine Blumen, wenn der Mann auf dem Gottesacker liegt. Ihr Mann lag in Flandern. Und sie konnte nicht einmal hinfahren, um ihm welche aufs Grab zu legen. So blieben nur Fotos von ihm, die auf ihrem Nacht-kästchen standen. Ein stattlicher Mann als Bräutigam, als Rekrut und auch noch in einer späteren Uniform, die Rudi nicht kannte. Schon damals hat sie für ihn alles genäht was zu nähen war, die Winkel an die Uniform und die Hemden darunter und die Kissen auf denen sie alle schliefen.
Als der Rudi in der Schule Rechnen gelernt hatte, hat er auch errechnen gelernt, dass er fünf Jahre nach dem Krieg geboren worden war und zog Erkundigungen bei den anderen Erstklässlern ein, wie lange denn ihre Tragezeit gewesen sei und wie lange sie in den Bäuchen ihrer Mütter hatten verbringen müssen. Die anderen aber waren in derlei Dingen noch weniger bewandert, auch das mit den Bäuchen war ihnen fremd, so schlief das Thema in der zweiten Klasse ein, und die Mutter nähte weiterhin. Nicht nur für Rudi sondern für jedermann in der Straße und im Viertel. Mit stets klammen Fingern, die so weiß waren wie die Hemden und die Wäsche an denen sie stichelte.
Im Frühjahr war auf einmal ein hünenhafter Auftrag in die Stube geweht, sogar der Rudi durfte nun lärmen. Vor Freude, wenn auch nur dieses eine eine Mal. Der Auftrag war durch eine Dame in der Beletage vermittelt worden, die Mutter hatte ihr ein Tanzkleid auf den Leib geschneidert, mit dem sie im musischen Zirkel der NS-Frauenschaft manche Hallos eingeheimst hatte.
Nun durfte die Mutter an den Kostümen mit nähen für den feierlichen Umzug im Sommer, zur Eröffnung des Hauses der Deutschen Kunst. Es wurden Stoffballen geliefert, Quasten, Litzen, Reißverschlüsse und Schulterkissen. Die dunkle Stube füllte sich auf einmal mit Farben, die Finger der Mutter waren weniger weiß trotz vergrößerter Anstrengung oder grade drum, und die Maskenseide warf farbenfrohe Reflexe auf die nun nicht mehr düsteren Wände.
Nach einer Woche erschien der Blockwart, rammte den Bauch an die Nähmaschine, die der Mutter eigens gestellt worden war, und schrie. Der Vater, erfuhr Rudi nun, der sich auf dem Abort versteckt hatte vor dem Geschrei des Blockwarts, der Vater war einer von jenem unseligen Häuflein gewesen, das anno dreiundzwanzig auf die Hitlerischen hatte schießen müssen, als die zur Feldherrnhalle marschierten und war dafür seinerseits tot ge-schossen worden. Und das Eheweib von so einem, der sich auch noch Beamter geschimpft hat, schrie der Blockwart, und seinen Dienst beim Feind verrichtet, vergriff sich jetzt an der Ausstattung für das große Fest des Führers !

Schrie der Blockwart. Er meinte schreien zu müssen, denn draußen auf der Straße stand der Schneidermeister Niblich, der sich bei der In-nung darüber beschwert hatte, dass ihm durch die Ruttmeiersche, Rudis Mutter, ein Auftrag des Führers entgangen war. Wo doch die Rutt-meiersche, und das schrie der Blockwart noch lauter, damit der Schnei-dermeister Niblich es auch deutlich hörte, nicht einmal einen Gesellenbrief vorweisen konnte.
Der Blockwart ließ die bunten Tuchballen wieder abholen. Er über-wachte persönlich dass die Mutter listengetreu alles wieder herausgab, Garne, Quasten, Litzen, Reißverschlüsse. Und quittierte bis hin zur letz-ten Öse, denn auch die war selbstverständlich Eigentum des Führers. Der Rudi überstand den Hoheitsakt des Blockwarts, bei dem diesmal nur Schneidermeister Niblichs Jüngster überwacherisch zugegen war, denn der Blockwart hatte die in ihn gesetzten Erwartungen voll erfüllt, Rudi also wollte sich den Schaulustigen auf der Straße nicht auch noch in der Uniform der Hitlerjugend zur Schau stellen. Und in seiner anstößigen Breecheshose, die vorher ein Volksverräter angehabt hatte, sein Vater.
Auf dem Abort lag noch immer sein Rasierzeug. Die Mutter hatte ein Zahnputzglas darüber gestülpt, so dass es nun aussah wie ein in Formalin eingelegtes Präparat im Lehrmittelzimmer und mahnend aufbewahrt als Schabgerät für den Sohn. Denn wenn der Rudi einen Bart bekam, dann einen erheblichen, sein erheblicher Stimmumfang war ein Vorbote. Ein Foto auf dem Nachtkästchen seiner Mutter zeigte den Vater mit Schnurrbart. Ein Schnurrbart aber stand allein dem Führer zu. Und der Sohn, dem die Schande der Familie zu tilgen oblag, würde mit dem Rasierzeug des Vaters, des Volksverräters, seinen eige-nen unbotmäßigen Bartwuchs niederzukämpfen haben. Mannesmut erweist sich erst in der zielführenden Selbstbeschränkung. Glatt rasiert, würde der Rudi aussehen wie die glattrasierten Männer, die den Führer umgeben durften und die es gleichfalls nicht wagten, seinem Schnauzer etwas entgegen zu setzen, was auf Oberlippe Kinn oder Backen spross.
Nachdem die Nähmaschine wieder abgeholt worden war, die für wenige Tage mit ihrem emsigen Gesurr die Stube belebt hatte, brütete nun wieder Stille bei Mutter und Sohn Ruttmeier wie auf einem Soldatenfriedhof. Aber nicht wie einem Friedhof für rechtschaffene und rechtmäßige Soldaten, dem stand der schimpfliche Tod des Vaters entgegen, und die Stille wurde dadurch noch würgender.
Nicht einmal einen Wellensittich ließ die Mutter zu, wie bei anderen auf der Mittelschule. Nicht einmal eine Standuhr. Nur ein Reisewecker durfte Laut geben. Die Mutter stellte ihn jeden Tag auf halb sechs. Nun auf dreiviertel fünf Uhr. Sobald der Wecker seine Pflicht erfüllte und klingelnd seine Aufziehfeder entspannte, versetzte sie ihm einen Schlag wie einem Übeltäter, und sein Geschrill blieb das einzige Spektakelchen des ganzen Tages.

Wenn der Krettel Alwin von der HJ nach Hause kam, stand sein Vater schon hinter der Tür bereit.
„Willkommen zurück vom Dienst am Deutschtum“.
Der Vater sagte nicht Heil Hitler. Er sagte nichts Schneidiges, nichts Zackiges. Auch nicht Lautes. Er sagte das vom Dienst am Deutschtum beiläufig leise, wie zu einem schon Erwachsenen, der von einem langen schweren Schaffenstag nach Hause kommt. Hinten spielte die Mutter auf dem Flügel, den sie mit in die Ehe gebracht hatte, und in den Räumen hingen Seestücke aus ihrem bremischen Erbe, alles Drucke, mit Prachtexemplaren der kaiserlichen Marine darauf. Man konnte nicht unterscheiden, was ein Kreuzer war oder ein Schlachtschiff, denn die grünen Portieren an den Fenstern ließen nur spärliches Licht herein.
Für den Sohn stand ein Glas Buttermilch bereit.
„Leg erst einmal ab, mein Junge.“
Aber nicht der Junge musste ablegen, der Vater besorgte es. Zog dem Sohn die Stiefel aus, so umständlich, als wären es langschäftige Reitstiefel, nahm ihm die verschwitzte Sturmbluse ab und das Koppel, das er sogleich wieder sorgsam schloss bevor er es verwahrte.
„Wir haben ja nur ältlich rumgehangen, seinerzeit zu meiner Zeit. Eine Mensur, das schon, das war gefordert unter Kommilitonen Aber diese Ertüchtigung, die euch heute widerfährt ! Diese leibseelische Verwirklichung der Ideale des Wandervogels !“
Alwin wusste nicht was das für ein Vogel war, den sein Vater da rühmte. Der Vater selber hatte nichts an sich von einem Vogel, es sei denn einem Raben, denn er trug auch nach dem Arbeitstag in der Kanzlei noch seinen schwarzen Anzug in der Wohnung, die dadurch noch dunkler erschien. Nur das Parteiabzeichen glomm an seinem rechten Revers, wie ein Leuchtkäfer, der sich verflogen hatte.
Alwin hatte dieser freche rote Funke schon fasziniert als er zwei oder drei Jahre alt gewesen war.
„So richtig ins Leben getreten ist man seinerzeit erst, wenn man die fünfzig schon gekreuzt gehabt hat. Mit der Folge, dass man sich sozu-sagen hat auf älter schminken müssen und die Schande überdecken dass man überhaupt jung war. Sich schon als Student einen Bart wachsen lassen, denk mal an ! Damit man ausgesehen hat wie der Admiral Tirpitz. Dabei hat man’s doch in der Behaarung allenfalls zum Rübezahl gebracht, und das mit zwoundzwanzig.“
Wenn der Sohn die Buttermilch ausgetrunken hatte, stand sogleich ein frisches Glas da.
„Aber heutzutage…schon mit zehn oder mit fünfzehn lässt man die Jugend spüren, dass sie die Herren von morgen ist. Und letztlich seid ihr’s ja heute schon. Die Herren…“
Damit trug er Alwins Stiefel ins Badezimmer, um sie später zu reinigen. In ihrem Zimmer spielte die Mutter Brahms.
„Wie ich euch beneidet habe beim Festzug…“
Sagte der Vater in die schweren Akkorde der Klaviermusik hinein, Variationen über ein Thema von Händel B-Dur und so schonungsvoll, als wolle er seine Gattin nicht behelligen, obwohl zwei geschlossene Türen zwischen ihnen waren.
„Richtiggehend beneidet…“
Wiederholte der Vater immer wieder, den ganzen Herbst lang. Mit dem Festzug meinte er, wie sein Sohn im Sommer durch die Stadt gezogen war. Nicht der Sohn allein und auch seine Jungschar nicht allein, sondern mit tausenden anderen. Und nicht mit Braunhemden uniformiert sondern gekleidet in die Trachten vergangener Jahrhunderte und ferner, schon versunkener Nationen, wie der Wikinger und Griechen samt Karl dem Großen, Heinrich dem Löwen, Friedrich Barbarossa, die an beiden Längsseiten flankiert wurden von germanischen Kriegern, und gefolgt von Sonnensymbolen, gotischen Domen und Gott-heiten auf Tiefladern, eskortiert von Wehrmacht und SS. Seit Kaisers Zeiten hat es solche Aufmärsche nicht mehr gegeben.
Nein, auch nicht zu Kaisers Zeiten.
„Damals warens ja nur Paraden mit Tschingderassabum, grässlich veräußerlicht und eitel alles, sonntags oder am Sedantag, aber immer für die Spießbürger und die Mädels.“
Gewiss, mit Husaren und klingendem Spiel und weißen Uniform-hosen und wehenden Helmbüschen, aber doch eben untergeordnet rein militärischen Leitzielen, während diese Mostra im Sommer – man kanns vorerst nur italienisch ausdrücken, bei Mussolini ist das Ästhetische schon ja schon weitaus herangereifter, nur wir haben noch keine Begriffe dafür – der Ausdruck und Aufbruch und Ausbund und Ausfluss war von etwas ganz und gar Neuem, das sich da Gestalt schuf.
Mit seinem Sohn Alwin mittendrin und seiner Kameradschaft 93. Und der Vater hatte Zeuge sein dürfen, stolz erregt. Noch ein Glas Buttermilch ? Noch ein Glas Buttermilch. Hinten spielte die Mutter Brahms, op. 10, die dritte Ballade, d-Dur, Andante.
Zur ewigen schmückenden Erinnerung an den großen Tag seines Sohnes hatte Alwins Vater den Festzug leibhaftig aber en miniature in die Wohnung geholt. Man konnte ihn jetzt in Spielzeuggröße erstehen. Freilich, der Vater hatte noch nicht den kompletten Satz beisammen. Aber bereits die Formation, in der sein Sohn hatte mitmarschieren dürfen. Gemeinsam mit Alwin stellte der Vater den Zug auf den Perserteppich.
In der Erinnerung an den Sommer fehlten nun zwar die Massen der Zuschauer, ihr massenhaftes Angerührtsein und ihre Papierfähnchen mit dem Hakenkreuz. Aber das eifrige Schnaufen von Vater und Sohn machte es wett. Die Mutter spielte Schumann, den Marsch der Davidsbündler, Opus neun, und Vater und Sohn stellten dazu die Epoche des Nationalsozialismus, wie sie im Festzug offiziell geheißen hatte, um die Anrichte herum auf. Drei gewaltige Großplastiken und drei urtümliche Krieger, die je den Glauben und die Treue und die Opferfeier versinnbildlichten. Dahinter, zwischen Herolden mit eben-so urtümlichen Fanfaren, auf einem Prunkwagen das Modell des Hau-ses der Deutschen Kunst, wie es seit neuestem am Prinzregenten-Boulevard stand, da freilich aus Tuffstein-Quadern und nicht nur aus Zinn.
Die Generation der Väter und Großväter Krettel waren mit Zinn-soldaten aufgewachsen, den heruntergezwergten Armeen Friedrichs des Großen. Und sonntags durften sie die Schlachten bei Leuthen oder Hohenfriedberg nachstellen, als zwergische Manöver für die Schlachten, in sie die dann selbst geschickt werden sollten. Der zinnene Festzug der sich durch die dunkle Wohnung wand aber zielte nicht ins Rückwärts der friderzianischen Bataillen, sondern ins entschlossene Vorwärts, er kündete vom Aufbruch und dem Anbrechen einer neuen Ära. Noch nie war die Menschheit, hatte der Führer gesagt im Aussehen und in ihrer Empfindung der Antike näher als heute.
Dies im Sinn, setzten Vater und Sohn ihre Figuren auf den Teppich.

Für jeden Einser, den Alwin nach Hause brachte, wurde er mit neuen Zinnfiguren belohnt. Anfangs mit einzelnen Stücken, wobei der Vater nicht die blanke Version aus rohem Metall wählte, die erst noch eigen-händig bemalt werden musste, sondern diejenige, die bereits bemalt war, getreulich nach den Farbvorlagen. Hin und wieder, wenn der Sohn nur eine Zwei vorweisen konnte, war ein Figürchen aus den Fußtruppen die nun schmälere Prämie.
Späterhin entschloss sich der Vater zum Erwerb vollständiger Gruppen, bestehend aus Zentralwagen, samt Vor- und Nachtrab, konn-te er es doch selbst kaum erwarten dass die Kunst-Prozession so voll-ständig wie im Juli übers Parkett zog. Wenn Alwin sich weiterhin so stramm hielt im Gymnasium, würde der Festzug noch vor dem Ende des Schuljahrs von der Wohnungstür bis ins Esszimmer reichen.
Aber nicht bis ins Musikzimmer. Dieser Raum war geheiligt, dort stand Mutters Flügel, ein Boesendorfer von 1908, und der war noch schwärzer als alles andere in der Wohnung und sogar Vaters Anzüge. Von Schumann und Brahms hatte sie sich nun zu den Liedern ohne Worte vorgearbeitet. Die Lieder ohne Worte waren immer dabei, auch wenn sie statt Brahms hin und wieder etwas von Rachmaninow spielte. Sie waren der Scheitelpunkt der Musik, die ihr teuer war. Alwin liebte den geheimnisvoll runkelnden Titel und versuchte immer wieder, sich die Worte vorzustellen, die der Komponist dem Zuhörer vorenthielt. Er liebte diesen Schmelz, vielleicht auch nur dieses Schmalz. Das aus Mutters Tasten durch die dunkelgrünliche Wohnung floss. Durch das dünne Nachmittagslicht, das durch die Fenstervorhänge fiel, auf den Teppich mit den Zinnfiguren. Sie wurden ihm eins mit den Liedern ohne Worte, venezianisches Gondellied, op.62, Nr.5, a-Moll.
Die Gondel lag still im Wasser, vielleicht weil der Fahrgast es so geheißen hatte, vielleicht auch lag der Gondoliere ganz allein auf der Polsterbank die für die Passagiere bestimmt war, hielt eine Siesta, döste, Sonnenkringel perlten auf dem Wasser, aus der Tiefe der Lagune stieg grünes mänadenhaariges Geschlinge hoch, der Schatten der Gondel wanderte übers Wasser, und die rechte Hand der Mutter spielte ein Melodie, die dazu einlud, ihr eigene Worte und Strophen und Sehnsüchte beizugeben.
Alwin wusste nicht dass die "Lieder ohne Worte" ein gewisser Mendelssohn komponiert hatte, Enkel des Moses Mendelssohn, Aufklärungskünder und bucklig und schon mit dreizehn auf der Talmudschule.

Wenn der Hierl Felix von der HJ nach Hause kam, traf er den Vater selten an, denn der Vater war eine unabkömmliche Gerichtsperson. Von den Verhandlungen, die sich über den ganzen Tag, ja über mehrere Tage hinzogen, wusste der Vater finster und ausführlich und in einem orakelhaften Ton zu berichten, als sei der Gerechtigkeit dank seiner Mitwirkung zwar vorerst eine Schneise geschlagen, das Tal der Zukunft aber, durch das seine Kinder, Felix und Ortrud zu wandeln hätten, weiterhin von Düsternis umstellt.
Schon wieder Düsternis, düster war auch ihre Wohnung, und der Vater richtete bei seinen Erzählungen den Löffel, den er gerade abgeleckt hatte auf das einzige Fenster, als stehe das Unheil in Fleischesperson da draußen im Hellen schon bereit, um alle zu verschlingen, die sich hinaus wagten. Die Mutter zog ihre Strickjacke eng um sich, als sei das Licht von draußen klirrend kalt, und Felix wurde bewusst, dass dieses Fenster, das sie vor dem Unheil leidlich bewahrte, niemals geöffnet wurde.

Niemals wurde ein Fenster geöffnet, auch nicht in den Wohnungen der anderen fünf, die Familien tunkten in ihrem selbsterzeugten Mief wie eingedoste Bohnen in der Konservenbrühe und die Hitlerjungen waren die einzigen die dieser Käfighaltung entrannen, wenn sie zu ihrem Baldur von Schirach ausrücken durften, hinaus in den Sauerstoff.
Auch zu Sondereinsätzen bei Gericht , denn es wurde laufend gegen katholische Geistliche verhandelt, die sich an kleinen Jungen vergangen hatten. Der gesunde deutsche Jungmann, verkündete der Bannführer in seinem Tagesbefehl, müsse diese perversen Ultramontanen ins Visier nehmen wie den angreifenden Feind durch das Scherenfernrohr, das sei lehrreicher als der Hyänenkäfig im Zoo. Keiner im Bann wusste was ultramontan war und kaum einer was pervers, aber wegen der Aussicht auf einen Zoobesuch, der für einen Gerichtsbesuch winkte, schoben sie sich erwartungsvoll in die Zuschauerbänke.
Zwischen den Herren auf der Gerichtsempore entdeckte Felix seinen Vater. Er amtierte als Schöffe zwischen anderen Schöffen, und seinem Sohn tat er leid weil er keine Robe tragen durfte wie der Richter und der Staatsanwalt, die mit ihren weiten Ärmeln so hochdramatisch wedeln konnten. Und sie wedelten oft, denn die Untaten der Schwarzberockten die vor ihnen standen waren vom widerwärtigsten Kaliber. Wieder und wieder gab der Scharführer den Jungen auf den Bänken Einsatz, dass sie Schweinepriester ! riefen oder Pfui Deibel du Rammelstengel oder ihr Gelächter in den Saal kippten wie heißes Badewasser, je nach Anweisung drohend oder verächtlich.
Nur der Vater sah still unter sich, stellte nie eine Frage und nahm den Sohn nicht wahr. Felix versuchte ihm Zeichen zu geben, aber der Vater sah weiter unter sich. Der Richter fragte hin und wieder einen Kaplan, ob er Scham empfinde vor den deutschen Knaben von der Hitlerjugend dort in den Bänken für das, was er anderen deutschen Knaben angetan hatte. Wenn der Angeklagte nichts zu erwidern wusste, stimmten die deutschen Jungen in den Bänken ein bedrohliches Knurren an, das in spitzes Wolfsheulen auslief und Felix legte sich dabei am meisten ins Zeug damit der Vater ihn endlich bemerke.
Aber der sah unter sich.
Die Verhandlungen verliefen zügig und kurz, der Angeklagte war stets geständig, aber der Vater kam dennoch immer erst spät nach Hause. Um dann den Prozess als mehraktiges Drama zu schildern, das sich noch über viele Tage hinziehen würde. Den Löffel in der Hand, wies er dabei hinaus ins Freie und Felix dämmerte es, dass er nach nicht auf das Unheil deutete, sondern in die Freiheit. Die Freiheit für sich selbst, das Schöffengeld zu kassieren und dann seine Geliebte aufzusuchen.
Sie hieß Fanny, erzählte man sich in der Nachbarschaft, und hatte ein Frisörgeschäft vier Straßen weiter, an der Straßenbahnhaltestelle und mithin in einem geschäftsförderlichen Umfeld.

Unsere Schöne ist in unserem Versteck aber sie ist selbst das Ver-steck. Sie öffnet sich wie ein Wandschrank um sich darin zu verbergen, denn ein anderes Asyl will sich ihr weitum nicht bieten, in der gnadenlos leeren Landschaft um sie her ist sie gnadenlos sichtbar. Ein leichtes Ziel, ein gejagtes Tier, das die Jäger aus der Ferne schon ausgemacht haben. Sie haben ihre Fährte aufgenommen, ihre Flinten und ihre Hunde sind bereits gierig auf sie und ihr Fleisch, ihr Belfern eilt ihnen voraus, ihr Blutdurst verdunkelt den Himmel..

«Gell, diese Künstlers da alle in der Schreckenskammer des Kunstbolschewismus“, dabei lächelte der Krettel Alwin beiläufig am Zeichenlehrer vorbei, “die hätte man gleich an Ort und Stelle mit ausstellen sollen.“
Der Zeichenlehrer kriegte das als launige Zugabe, als der Krettel Alwin seine Hausaufgabe ablieferte, angefertigt von Fipsi Lamprecht.
„Anbinden hätte man sie sollen neben ihren Machwerken, damit ihnen ein jeder Deutsche ins Gesicht spucken kann“.
Auch dieser Spruch war nicht vom Alwin. Er hatte ihn auf einem Zettel gefunden, von einem Besucher in den Rahmen der Schönen Gärtnerin gesteckt. Der Zeichenlehrer hörte heraus, was er heraushören sollte. Dass er selbst Gefahr lief angebunden und angespuckt zu werden. Denn Alwins Vater, das wussten alle in der Kameradschaft, im Lehrerzimmer und in der Klasse, war in der Partei. Und sogar ein alter Kämpfer, einer von vor dreiunddreißig, der seinerzeit nur sträflich ignoriert hatte dass sein Associé im Notariat Halbjude war. Weswegen der Vater in der Systemzeit in die Bredouille gekommen sein soll, und danach schon wieder in die Bredouille, wegen dem nichtarischen Associé. Der gleich nach der Machtergreifung gegen einen noch Älteren Kämpfer ausgetauscht wurde, sogar einen Blutzeugen, mitmarschiert beim Putsch anno dreiundzwanzig. Und der nun der Kanzleichef war und Alwins Vater, als Alter Kämpfer, wieder nur schlichter Associé.
Der Zeichenlehrer blieb stumm, stumm gemacht und lächelte nicht zurück. Ist er selbst dort gewesen, wo er angespuckt gehört hätte oder ist er auf der anderen Seite des Boulevards gewesen, im Haus der Deutschen Kunst, und hat ihn dort stumm gemacht, was er da sah ? Würde er seinen Schülern nun beibringen wie man Bäuerinnen, Kühe, Feldmarschälle und nackte Badende malt ?

Unsere Schöne die wir ins Verborgene gebracht haben lächelt uns aus dem Verborgenen heraus zu und ermuntert uns dass wir uns als verwegener und schöner achten dürfen eben dadurch dass wir sie zu unserem Geheimnis gemacht haben.
Sie ist unser Geheimnis das uns vor uns selber groß macht.


1938
Wenn sich jetzt die Schar 19, zu der Alfons Pframmingers Kameradschaft 93 gehörte, weimal in der Woche, war es anders als vordem. Als über Fußball palavert wurde, Raufereien und daraus entstandene Rachsüchte, das Taschengeld, so man welches bekam, an Rudi Ruttmeiers Breecheshosen wurde gemäkelt, über die dummstolzen Mopsigen vom BDM hergezogen, Judenwitze ein- und umgetauscht wie Maikäfer, auch Witze über Parteibonzen und Mädchen waren willkommen und am liebsten über alle drei auf einmal.
Aber nun war der Scharführer zum Fremden geworden, schlimmer noch, zum Uneingeweihten. Der Scharführer wäre nie auf den Trichter gekommen mit dem Sondereinsatz gegen die Entarteten so wie sie und ihr Alwin, nun sollte er auch nichts aufschnappen von dem schmählichen Halbsieg und glorreichen Scheitern des Kommando-Unternehmens der sechs von der Kameradschaft 93.
Ein Primitivling, belehrte der Alwin die anderen fünf, noch dazu einer aus dem Ausland, aus dem Nachbarviertel Obergiesing. Einem Glasscherbenviertel. Sein Bruder soll irgend ein Oberkosak gewesen sein beim Rotfrontkämpferbund von den Kommunisten. Das musste er nun abbüßen und abstottern, der Primitivling, indem er sich wegen abgerissener Knöpfe bei den Bessergestellten rot brüllte oder weil sich nicht genug von denen als Blechbüchsenhalter meldeten zur Straßensammlung fürs Winterhilfswerk.
Aber auch die von den anderen Kameradschaften durften nichts aufschnappen, und die vom Jungvolk schon gar nicht. Die vom Jungvolk waren überhaupt das Letzte, spionierten überall herum, kletterten überall hoch, krochen überall hinein mit ihren vollgepissten Hosen, schon für ein halbes Glas Erdbeermarmelade und eine Rippe Schokolade wurden sie zu Verrätersäuen.
“Wie gehts ihr ?“ wollte jetzt jeder von den fünfen den sechsten fragen. Aber diese Frage wäre zu ungetarnt gewesen, den anderen hätte ja schwanen können es ginge um heimliche Poussagen mit Weibern. Den dummstolzen Mopsigen vom BDM. So bürgerte sich unter den sechs Verschworenen als Code ein Was macht der schwarze Kerl ?
Gemeint war der hinter ihr. Und die Antwort war Der passt auf.

Das Bild, hieß das, ist wohl verwahrt. Und wenn ein anderer Hitlerjunge mithörte und nachfragte was es denn mit welchem schwarzen Kerl auf sich habe, konnten die Verschworenen antworten : das ist der Jud, der tagaus tagein hinter einem lauert. Wie auf den Plakaten, die überall aushingen. Den wirst du doch spüren im Rücken, als deutscher Jungmann. Später, im Krieg, sollte dieser schwarze Kerl sich dann verwandeln in den Kohlenklau, genauso schwarz. Auch der Kohlenklau war der Jud, Kohlenklau und Jud in Personalunion, und danach dann geisterte er noch schwärzer über die Plakatwände als riesiger Schatten hinter dem Volksgenossen, und darüber schrie eine Schrift "Feind hört mit" !
Wenn die gewusst hätten.
Ihre niedergeschlagenen Augen haben nur ihn im Blick. Mit aller Verschämtheit, mit aller Angstlust, mit aller Begehrlichkeit.
Die sechs hatten nun ein eigenes Banner, eine Sub-Fahne, eine Untergrund-Standarte. Die Fahne ist mehr als der Tod. Die Fahne der anderen in der Hitlerjugend maß in der Länge viel mehr als die Hitlerjungen. Und sogar in der Breite war sie noch höher als die meisten von denen, die ihren Schaft in den Händen hielten. Oder halten durften, mit gespreizten Beinen, sonst riss der Wind sie mit der Fahne fort. Andererseits, wenn kein Wind sich erbarmte, konnte sie nicht zünftig flattern.
Denn flattern musste sie, wo doch der Reichsjugendführer persönlich gedichtet hatte "unsre Fahne flattert uns voran / unsre Fahne ist die neue Zeit."
Das Klotzigste auf ihr war ein roter Totenschädel, anzusehen wie der Totenschädel auf den alten Seeräuberflaggen. Aber auf den neuen Flaggen kreuzten sich eine Axt und eine Fackel auf seeräuber-schwarzem Grund, wo auf den alten nur zwei Röhrenknochen hingen. Um diesen seeräuberischen Totenschädel der HJ legten sich an zwei Seiten weiße Streifen, die aussahen wie ein säuberlicher Umlegekragen oder eine Serviette, die sich ein Mampfender umgebunden hat. als Schlabberlatz gegen Kleckereien. Oder wie der Rand eines Schulheftes, in den die ABC-Schützen nicht hineinschreiben dürfen, wohl aber der Lehrer mit seine Tinte, um seine Zensuren hinzukrakeln. Und folgerichtig war auf die weißen Streifen ein schwarzes S hingekrakelt, ein blitzgekrümmtes S, eben die altgermanische Rune, die Sieg bedeutete. Aber diese Rune sah nicht nach Wikinger aus oder nach Piraten, sondern wie das Lehrerkürzel für "In Ordnung so, braver Junge " ! Du sollst die Axt schwingen und die Fackel, braver Junge. Eine Fackel ist ein Gerät nicht nur für Fackelzüge, und ob der Totenkopf dein Schädel ist oder Schädel von dem, den du mit der Axt erschlagen und abgefackelt hast, wird sich beim nächsten Zeugnis erweisen.
Denn deine Fahne zählt mehr als dein Tod.
Die heimliche Fahne der Kameradschaft 93 dagegen flatterte nicht im Wind, sie war aus fester Leinwand und nicht aus dünnem Fahnen-stoff, und nicht viel höher als einer von den Verschworenen. Auch nicht der Krettel Alwin. Auf ihr war ein Mädchen abgebildet das vor einem Gewässer stand, auf dem kein Piratensegler auszumachen war. Still stand es, in ihr Gesicht konnte man alles hineinlesen was man wollte oder wonach einem gerade zumute war. Furcht. Erwartung. Scheu. Verzagtheit. Neugier. Sehnsucht. Sie gab einem nicht recht, sie gab einem nicht unrecht. Sie schwieg. Ein beredtes, gemaltes Schweigen. Auch mit der weißen Taube an ihrem Schoß sprach sie nicht, dabei war die kurz davor in sie hinein zu schlüpfen als sei der Bauch der Schönen ein Vogelbauer oder ein Taubenhaus.
Ganz anders der Kerl hinter ihr.

Sie erwartet ihn. Einen Muskelkerl, einen zum Anfassen. Der ihr die Taube von ihrem Schoß wegreißt, ehe er in sie eindringt. Es wird ihr weh tun, sie weiß es aber trotzdem ist sie für ihn schon weit offen.
Aber er macht keine Anstalten dazu. Er ist gar nicht bei ihr, er hält Ausschau hinüber zum Horizont jenseits von ihr. Oder eher noch zu denen, die das Bild betrachten. Und damit auch ihn. Er gefällt sich in weit ausfahrenden Gesten, um auf sich aufmerksam zu machen.
Ein Fuchtler. Einer der vielen vieles verspricht,und sich selber am meisten. Einer, der Pläne im Kopf herumträgt, die nur erst Ahnungen sind, Schwampf und Kuddelmuddel. Er ist das hingestrichelte eigene Ich, das von sich selbst noch gar nichts weiß. Eine Strichzeichnung, ein Entwurf zu einem Menschen. Wenn wir das Bild das nächste Mal betrachten, wird aus seinen Konturen Fleisch geworden sein, ein Mann, ein Liebhaber, ein Bettgenosse. Wir müssen uns gedulden.
Und die Schöne auch.


Den beiden Schwestern Ott widerfuhr Übles, als sie an einem frühen Novembermorgen ihren Dienst in ihrem Feinkostgeschäft antreten wollten. Die Oberverkäuferin, die ihre leinenen Krönchen allmorgendlich kontrollierte, war nicht auf ihrem Posten. Vorne im Laden ein Poltern und Gesplitter, zuerst war an Umzugsleute zu denken, aber Umzugsleute zerbrechen nicht mutwillig was sie wegtransportieren sollen, und es ging vieles zu Bruch, ohne dass jemand ein "Passts doch auf, ihr Lackln !" geschrien hätte wie es sich gehört.
Es waren keine Möbelpacker, die vorne im Laden die Regale auseinander rissen und sich die Feinkostware aus den Schiebefächern griffen, sondern adrette Anzugherren von der Straße, auch Damen darunter mit umgehängten Fuchspelzen, und einige hatten sogar Dienstpersonal mitgebracht, das ihnen die Pasteten, Käselaibe und Pralinengläser fortschaffte. Nicht durch die Eingangstüren, denn die waren der frühen Morgenstunde wegen noch versperrt, sondern durch die Schaufensterscheiben, die fast alle zerbrochen waren. "Aufpassen, verletzen Sie sich nicht !" riefen einige vom Verkaufspersonal ihnen zu, Kolleginnen der Schwestern Ott, halfen den schwer Bepackten sogar über die bedrohlichsten Glaskanten hinweg, Hand her, Frau Kanzleirat und waren ihren Kunden auch noch in dieser unerquicklichen Situation gefällig, wiewohl es sich nicht mehr um Kunden im hergebrachten Sinne handelte.
Dank der Umsicht eben dieser Verkaufsfräulein waren tatsächlich keine Verletzungen zu beklagen, wenn man vom Chef des Hauses selbst absah. Die freilich schon vorher zugefügt worden waren, und der Verletzte bereits abtransportiert. Sein Blut war noch auf der Treppe zu sehen, vom Kontor herab auf jeder Stufe, und die Oberverkäuferin raffte ebendort hastig die Geschäftspapiere zusammen, um sie ihm in die Haft nachzuliefern.
Wofür sie keinen Dank erfuhr. Der zu eigenem Schutz Festgenommene hat sich nie wieder in der Firma blicken lassen, und auch sein weiterer Verbleib blieb verschwiegen.
Die gestärkten Aufsteckkrönchen, flennten die Schwestern Ott zu Hause, hatten sie darüber hinweg getäuscht, dass in diesem Geschäft längst nicht alles so reinlich gewesen war wie sie selber. Und der Chef, wie hätten sie das ahnen können, überhaupt nicht arisch ! Ihre Krönchen, jeden Abend eigenhändig gestärkt, hatten als unschuldsweiße Schutzwälle der Wohlanständigkeit gedient für das Judentum, dem allwöchentlich im Stürmer die Maske von der Mörderfratze gerissen wur-de.
Auch die Kameradschaft 93 hatte sich in dieser Nacht zur Verfügung gehalten, aber es waren viele andere Freiwillige zur Stelle, viel zu viele, und die die sechs hatten allen Grund verstimmt zu sein. Am 1. April vor fünf Jahren wurden sie von ihren Müttern weiter gezerrt, wenn vor einem Laden, vor vielen Läden ein paar Kerle in braunen Hemden standen und das Schaufenster weiß übertünchten und das nicht als Aprilscherz.
„Was isn das für ein Stern, den der da Mann da hin malt ?“
„Still doch.“
“Warum darf man denn nicht kaufen bei Juden ?“
„Sei staad.“
„Was isn das überhaupt, ein Jud ?“
„Halt endlich den Mund.“
Aber am Dienstag drauf, oder am Mittwoch, wurde doch wieder gekauft in dem Geschäft, dessen Schaufenster eben noch weiß zugeschmiert,, nun aber wieder blank waren und die darin ausgestellten Sortimente so taten als sei nichts vorgefallen.
Mit den Jahren aber erfuhren die Kameraden eben doch weidlich, was von den Juden zu gewärtigen war, die in ihrem Viertel nicht ausgenommen, sogar in ihren Schulklassen. Gerade wenn Juden schlagartig verschwanden, wie gewisse ihrer Mitschüler, blieb höchste Wachsamkeit geboten. Auch der Bandwurm schädigt im Unsichtbaren, so mahnte der Biologielehrer, auch die Streptokokken und Tuberkelbazillen zersetzten den Körper ohne dass derjenige es wahrnahm dem dieser Körper gehörte. Ein gleiches, mutatis mutandis, galt von den Juden. Sie hörten nicht auf mit dem Zersetzen, aus ihrem Schattenreich heraus.
Wie die Streptokokken.
Aber die sechs waren wachsam geblieben und auf Posten. Sie hatten ihren Beitrag geleistet, unaufgefordert, ihren Wehrbeitrag gegen die jüdischen Streptokokken, als sie gegen die Entartete Kunst ausmarschiert waren. Aber wie schofel hatte es man ihnen gedankt ! Nun würden sie einstweilen keinen Finger mehr rühren im Endkampf.
In der Nacht der Großen Empörung, die der Goebbels – der schon wieder – im Alten Rathaus ihrer Vaterstadt ausrief, haben die sechs Karten gespielt. Der Ott Gotschi hatte noch den Vorschlag gemacht, der Hierl Felix sollte die Schöne Gärtnerin aus dem Versteck holen. Und in den Männerbund der sechs Aufrechten, damit sie sich darum versammelten und ihren Schwur erneuerten.
Oder einfach wieder zum Wichsen.
Aber dazu hätte er seine Mutter wecken müssen, denn die Schöne war in ihrem Bettkasten verstaut, mit zwei Schichten Laken oben drüber, als Schutz gegen das Entdecktwerden durch Mutter und kleine Schwester. Glücklicherweise hatte der Pframminger Alfons Schafkopfkarten dabei in dieser denkwürdigen Nacht der Empörung, das gab dann den Ausschlag. Der Alfons mischte in Muße, und sie konnten mit anhören wie andere auf Lastwagen sprangen und zu ihren Einsatzorten ver-frachtet wurden.
„Und wer gibt ?“
Der Lamprecht Fipsi, stellte sich heraus, konnte keinen Schafkopf. Dafür zeichnete er, während die anderen spielten, die Schöne aus ihrem Bild. Aus der Erinnerung zwar nur, aber für jeden der Kameraden je einmal, und auf kariertem Papier.
So musste der ältere Bruder des Pframminger Alfons, der Pframminger Alois, ohne seinen Bruder nach dem Rechten sehen. Ohne das schlotterige Spargelstängerl, von dem er ohnehin nichts hielt und der es trotzdem zum Kameradschaftsführer gebracht hatte. Statt dem Spargelstängerl ließ der Alois die fünf jüngeren Geschwister auf den Lastwagen steigen. Eigentlich war der grade mal ein Dreirad, und gehörte dem Vater, mithin der Firma, und der Alois hatte, er war ja erst siebzehn, noch nicht einmal einen Führerschein. Aber auf die Ladefläche passte allerhand drauf auch schon in normalen Zeiten.
Acht Obstkissen, vier Kartoffelsäcke, wenn man umsichtig stapelte und Salatköpfe und Wirsing dazwischen stopfte.
Jetzt waren keine normalen Zeiten, jetzt passte noch mehr drauf. Eine Kommode, hochgestellt, zwischen ihren Beinen eine Standuhr, und Teppiche gestopft. Geborgen aus einer Wohnung in der Inneren Wienerstraße, wo der Besitzer rätselhaft abhanden gekommen war und die Tür eingetreten, und die kleineren Geschwister hingen bei der Rückfahrt außen an die Bordwand gekrallt. Aber in dieser Nacht der Empörung passte sowieso kein Polizist auf, fragte auch nach keinem Führerschein, denn es war eine besondere Nacht, in der es nicht um kleine Verkehrsvergehen ging sondern um das große Vergehen wider das deutsche Volk.
Um auch noch um Polstermöbel zu bergen, musste der Bruder noch einmal ausrücken zu zwei Wohnungen im Villenviertel, ehe der Regen sie zuschanden machte, denn hier waren sämtliche Fensterscheiben eingeschlagen und die Wohnungsinhaber hatten nicht einmal die Vorhänge zugezogen ehe sie sich verdrückten und ihren Hausrat sich selbst überlassen. Diesmal stopfte der Alois Tafelsilber zwischen das Mobiliar, Porzellan-Services, in Pelzmäntel gewickelt, und zwei silberne Leuchter.
Silberne Leuchter in Pframmingers Wohnküche ! Aber niemand grinste, die Eltern lobten den Ältesten dass er das Judengut denen rückerstattet hatte denen es von den Juden weggenommen worden war. Wer eine solche himmelschreiende Falschverteilung nicht wieder einrenkt, vergeht sich moralisch jetz amal g’sehgn bekräftigte der Alois, am Volksvermögen insgesamt.

Der Pframminger Alfons verglich allabendlich, wenn die Familie sich um ihren großen vierschrötigen Tisch versammelte, der nun mit Damast bedeckt war, die Hintern in ungewohnten Polstermöbeln, und aus Porzellangeschirr aß, der Alfons verglich seine Ausbeute mit der seines großen Bruders. Auf dem erbeuteten Bild konnte man nicht sitzen wie auf den erbeuteten Fauteuils der abgehauenen Juden, man konnte nicht davon essen wie von dem jüdischen Porzellan. Man konnte es nicht einmal anziehen wie die Pelzmäntel die durch den Bruder ins Haus gekommen waren, die auf dem Bild hatte ja selber nichts zum Anziehen. Zur Not hätte man es an die Wand hängen können, aber in der schmalen Wohnküche stießen nun schon eng auf eng die Standuhr und die Chippendale-Kommode aufeinander, mit den silbernen Leuchtern drauf. Und außerdem war die Schöne Gärtnerin Malkunst, und die Pframmingers hatten vorn und hinten nichts für Kunst übrig.
Der Urheber von sowas, der Künstler, war einer, der anschreiben ließ aber niemals nie nicht ans Bezahlen dachte." Kunst is allweil verhunzt", philosophierte der alte Pframminger, falls denn die Rede je auf diesen Eiterpickel kam. Und das obwohl der Führer selber doch ein Künstler war. Der erste sogar des deutschen Volkes, wie auch die Pframmingers vernommen hatten. Was sie ihm aber nachsahen, wie sie dem Göring seinen Bauch nachsahen, den der sich nicht mit Salat und Karotten draufgeschafft hatte sondern mit Koteletts und Gänseleberpasteten aus dem Sortiment der Konkurrenz.
Trotzdem stellte der kleinere Bruder Pframminger sich selber den Freischein auf mehr Stolz aus als dem größeren Bruder. Der Fang des Jüngeren war ein Husarenstück der Jugend, wie die rotzfrechen Kaper-Fahrten des Seegrafen Luckner im Weltkrieg Husarenstücke gewesen waren. Der Jugend steht es zu, dass sie drauflos fuhrwerkt. Vollbringt. Vernichtet. Die Zukunft wird’s dann erweisen, dass es das Richtige gewesen ist.
Und vollbracht und vernichtet worden ist stellvertretend für die begriffsstutzigen Massen, die nur knickebeinig hinterher gehatscht sind. Wer wie der Pframminger Alfons ein Husarenstück auf dem Pluskonto zu stehen hatte, der durfte sich allemal als Graf Luckner fühlen gegenüber einem Bruder, der bloß Möbel von A nach B verbracht hatte wie jeder x-beliebige Spediteur auch.

Die Strichzeichnung, die der Lamprecht Fipsi für die Verschworenen gezeichnet hatte wurde von jedem der sechs je anders betrachtet. Der Ott Gotschi, der Abgebrühteste was weibliche Anatomie anlangte wegen seiner drei Schwestern die ihn einrahmten, verglich die Schöne nur prima vista mit der Fleischlichkeit, die ihn umgab solange er denken konnte. Am ehesten noch erinnerte ihn die Schöne, die mit einer Art Handtuch zugange war, an seine Schwestern, wenn die sich die Haare trockneten. Am Waschbecken, denn einen Badezuber oder gar eine Wanne gab es nicht im Ottschen Haushalt. Und an diesem Wasch-becken spielten sich kämpferische Szenen ab, Überfälle mit Schmutz-wasser, Angriffe mit Kernseife in den Rachen, Seifenschaum in Ohren und Augen. Drei gegen einen, fast immer den Gotschi, und die Mutter musste eingreifen. Diese Waschkriege von frühauf demütigten die Männlichkeit des Gotschi fast jeden Morgen und Abend und bestärkten ihn in dem Wunsch Scharführer zu werden. Mit Trillerpfeife und weiberloser Befehlsgewalt und eigenem Waschzuber.
Dem Krettel Alwin war weibliche Nacktheit schon vertrauter, wenn auch nur auf Kunstdruckpapier. Im Bücherschrank der Eltern standen Bildbände von Tizian und Raffael, Venüsse und Lukrezien, die sich einen Dolch in den nackten Busen stachen. Alwin verstand nicht wes-wegen, aber es erregte ihn, führte ihn zu Erektionen, auch wenn die Busenstecherei schon vierhundert Jahre her war. Des Fipsi Lamprechts Bleistiftweibchen konnte dagegen nicht ankommen, zumal auf ka-riertem Rechenheftpapier. Zu penibler Ordnung erzogen, faltete Alwin es trotzdem penibel zusammen und sortierte es unter einem Stichwort in sein Gymnasiastenarchiv ein, das er alsbald wieder vergessen hatte.
Für den Lamprecht Fipsi selbst war seine Zeichnung eigentlich nur eine weitere Strichübung gewesen wie die Hausaufgaben seiner Klassenkameraden, schon wieder mit verstelltem Strich. Aber der kam ihm diesmal wie sein eigener vor, von dem er nur noch nichts ahnte. Er stocherte mit dem Bleistift im Entarteten und der wollte ihn verlocken sich weiter und weiter hinein zu begeben in die Schöne, bis er ihr gehörte und sie ihm. Sie zu verändern nach seiner Lust, den Umriss-Kerl neben ihr zu vollenden bis dieser er selber wäre, Fipsi Lamprecht, und doch ein ganz anderer Fipsi Lamprecht als der den er bisher an sich kannte, ein entarteter, ein pervers Umgedrehter, ein glücklicher.
Die anderen fünf hatten nur je eine karierte Nackte aus dem Rechenheft, aber der Hierl Felix hatte sie selbst. Nicht aus Fleisch und Blut, aber aus Leinwand und Farbe. Darum musste die Nackte in den Untergrund abtauchen, und dieser Untergrund war er, der Hierl Felix selbst. Sie war die geraubte Prinzessin die von seinen Gnaden in seiner Höhle gefangen lag, ihm anbefohlen auf Gedeih und Verderb. Wenn er sie nicht speiste und tränkte, verschmachtete sie und wenn sie sich ihm nicht hingab, lieferte er sie aus an den allesverschlingenden Drachen, an Goebbels, an Professor Adolf Ziegler mit seiner Kellnerfliege.
Der Pframminger Alfons, der bis dahin keine Erfahrung mit Bildern hatte, von den Sudelbildern des Stürmer einmal abgesehen, die er für seine Schwestern auf den Abtritt pinnte, der Alfons betrachtete Fipsis Zeichnung voller Gier. Er dachte an Helene Niederreuther, weil er immer an Helene Niederreuther dachte und dieses irgendwie Madon-nenmäßige, wenn sie hinterm Küchenfenster stand und zu ihm herunter sah und doch nicht herunter durfte weil ihre Mutter stockkatholisch war. Und irgendwie katholisch schaute auch die auf der Zeichnung aus und das Onanieren gelang nun viel besser als im Kreis der Kameraden, obwohl der Kaplan ihm früher immer gesagt hatte dass das eine Todsünde ist und mit mehr Buße bestraft wurde als das Stehlen oder Fluchen oder Fleischessen am Freitag. Und grade weil die Helene so katholisch war und auf solche wie den Kaplan hörte, war der Reiz nun noch größer und er konnte seinen Schwanz gar nicht mehr aus der Hand lassen und der Bruder Alois fragte sich was er denn so lange trieb im Kartoffelkeller, denn das war der einzige Ort wo er mit der Helene Niederreither allein sein konnte, auch wenn sie nur eine Bleistiftzeichnung auf kariertem Papier war.
Der Ruttmeier Rudi hatte sich die Zeichnung übers Bett gehängt. Nun war die Schöne, denn schön war sie auch noch in Fipsi Lamprechts Umrisszeichnung, das einzige Bild in der sonst bilderlosen Wohnung. Aber so-gleich hatte die Schöne den Rudi erbarmt, sie schien, wie sie da so einsam hing, noch entblößter als vorher schon, und zu frieren schien sie auch und die Leere um sie her ängstigte sie. Rudi nahm sie darum wieder von der Wand und klemmte sie zwischen seine Schulsachen, ins Alge-braheft, wohin sie wegen ihres karierten Papiers, auf dem sie Unter-schlupf gefunden hatte, rechtens ja auch gehörte.
Die schöne Gärtnerin war eine zweifach Versteckte, einmal im Gewahrsam des Hierl Felix und einmal beim Rudi. Aus den karierten Heftseiten heraus, so schien es dem Rudi, rief das Fleisch der Schönen nach ihm, dem Rudi, und er fiel in Träume wie er sie noch nie gehabt hatte und diese Träume bewirkten dass ihm fünfmal in zwei aufeinan-derfolgenden Nächten heißer Samen ins Bettzeug schoss.
„Ein so großer Bub“ sagte die Mutter eher besorgt als vorwurfsvoll am Morgen „der schon eine Stimme hat wie ein Mann und bieselt noch ins Bett wie ein Säugling !“
Rudis Vater war schon zu lange tot, seine Witwe konnte das eine Männer-Nasse von dem anderen Männer-Nassen nicht mehr unter-scheiden, und der Rudi war zweifach verängstigt. Er wagte nicht mehr einzuschlafen aus Angst vor neuerlichen Ergüssen und schließlich mel-dete er sich zur motorisierten Abteilung der Hitlerjugend.
Nun, da per Gesetz alle Jungen in der HJ sein mussten, auch die Dicken, die Verwöhnten, die Kirchenbubis genauso wie die Stinkigsten aus dem Glasscherbenviertel, war der Freizeitspaß zur Pflicht für Krethi und Plethi geworden An den Tagen der Jugenddienstpflicht kamen nun Automobile vorgefahren, aus denen frischgebügelte Pimpfe mit ihren Mamas stiegen, Thermosflaschen und Butterbrote in Aluminiumbüch-sen unterm Arm. Für ihren Bubi.
“Sie müssen meinen Ernstl hart anfassen, weil der braucht eine ganz feste Hand“.
„Wenn sie meinen Otto wieder so scheuchen, werd ich das nächste Mal bei der Kreisleitung vorstellig, das garantier ich Ihnen.“
Das war der Typ von Mutti, der am Rand der Aufmarschwiese stehen blieb und ständig zum Bubi herüberwinkte, die Aluminiumbüchsen unterm Arm.
„Mein Herbert hat sich dermaßen auf die Reiterstaffel gefreut und jetzt kriegt er egalweg bloß Geländespiel geboten, Geländespiel, Gelän-despiel ! Wo er doch sowas von tierlieb ist, durch und durch geprägt von Blut und Boden. Weil, der Vater von meinem Mann ist nämlich Landwirt.“
Eine Reiterstaffel, musste her, für das Blut wie für den Boden, wie die SS sie schon lange hatte. Aber hier, mitten in der Stadt, fehlten naturgemäß die Pferde. Der ratlose Scharführer ließ exerzieren. Links-rum, rechtsrum, durchs Gelände, sprung auf marsch marsch, Liegestütz, Bockspringen. Fahnenschwingen. Die feinen Muttis am Rand der Wiese murrten und aßen in ihrem Grimm die mitgebrachten Butterbrote selber auf.
Die motorisierte HJ war die andere Verheißung. Das Kraftfahrer-korps, wie die SA schon seit der Kampfzeit eins hatte. Aber dafür fehlten nun wieder die Motorräder. Der Primitivling aus dem Glas-scherbenviertel hatte die paar, die aufgetrieben werden konnten für die Seinigen gekrallt. Voller Stolz, als Arbeiter der Stirn und der Faust, knallerten sie an den Kameraden Bürgerbubis vorbei, und der Stolz hatte gerechte Wurzeln, denn die meisten Knallräder waren eigenhändig zusammengeschraubt.
Der Ruttmeier Rudi, auf der Flucht vor seinen Sperma-Spring-brunnen, meldete sich, da kein Motorrad aufzutreiben war, zum Sonder-einsatz Altmaterial. Zusammen mit dem Hierl Felix rief er in den Hinterhöfen aus, sein Kommando sei zur Stelle, um entgegen zu nehmen was in den Haushalten eh im Weg umgeht, nämlich den Ramsch. Dessen aber die Rüstungsindustrie dringend bedürfe, weil das internationale Judentum das Reich von seinen Rohstoffquellen ab-geschnürt hat, wie die Volksgenossen vom Herrn Generalfeldmarschall Göring oft und oft gehört haben werden. Her also mit Alteisen, Kupfer, Blechernem, Rasierklingen, Flaschen, Papier. Und auch Stanniol und leere Zahnpasta-Tuben sind dem Göring willkommen. Hier auf dem Hof steht die Kameradschaft 93 und nimmt‘s in des Feldmarschalls Namen entgegen.
Und da standen sie, aber entgegen zu nehmen hatten sie nichts, denn die Fenster in den Hinterhöfen blieben zu. Da wurde dem Ruttmeier Rudi seine Männerstimme bewusst. Die er im stillen Nest seiner Mutter her-unter gewürgt hatte als wäre sie ein wildes Tier, das man besser nicht aufweckt. Bis sich seine Männlichkeit von ihm trennte und ihre eigenen Auswege suchte und ins Bettlaken schoss.
Hier aber in den Hinterhöfen war er selber baff, wie weit seine Stim-me trug und ihm ein Echo zurückwarf, vor dem ihm bange wurde, als wärs eine gänzlich fremde aus einem Lautsprecherwagen. Aber es war er selbst, es war des Ruttmeier Rudi mannhafte Röhre, und wenn auch er selber noch keinen Bartwuchs hatte, aus der Stimme spross die Männ-lichkeit so stachlig dass es nur so eine Lust war.
„Alteisen ! Kupfer ! Blech ! Rasierklingen ! Flaschen ! Papier ! Stan-nniooooooooooool !“
Aber die Fenster blieben zu. Aber die Lust des Rudi an seiner Stim-me blieb auch, und so einigten sich die beiden Auf-dem-Hof-Steher auf Arbeitsteilung. Der Hierl Felix, der als Jüngster in der Kameradschaft noch seine Knabenstimme hatte, sollte hinauf in die Etagen steigen und an jeder Wohnungstür klingeln. Ein bittendes Kind in kurzen Hosen weist niemand ab, und er war ja auch maulmäßig der weitaus gewandt-ere. Und der Rudi sollte auf dem Hof weiterhin den Lautsprecher geben. Weil er nun das mit dem Alteisen und dem Kupfer und dem Blech allmählich leid war, versuchte er seine Männerstimme jetzt am Gesang.
“Es zittern die morschen Knochen/ der Welt vor dem großen Sieg…“
Das tat gut. Sein Zwerchfell vibrierte. Die Stoppeln, die aus seinem Kinn zu sprießen begannen, setzten sich um in Gesang.
„Unsre Fahne flattert uns voran/unsre Fahne ist die neue Zeit…“
Er lernte den Atem vorhalten, in die Lunge einströmen lassen, die Stimme drauf setzen und dann los lassen. Bis zu den Dachrinnen hinauf.
“Ostwärts wolln wir reiten/ ostwärts wolln wir ziehn….“
Er genoss es. Er kostete es aus. Heute Nacht würde er nicht spritzen. Er hatte den Mann in sich gefunden, und dieser Mann saß in seiner Stimme und nicht in seinem Stengelchen, das doch bloß weiberhörig war.
Der Hierl Felix ging derweil von Tür zu Tür, von Stockwerk zu Stockwerk, aber niemand machte ihm auf. Unten im Hof stand der Rudi, war am Ende mit seinem Repertoire von HJ-Liedern und traute sich nicht weiter zu Schwiegermutter / Schinderluder / heil heil heil. Weiß der Geier wie viele Schwiegermütter hier wohnten. Und ehe die Heiserkeit seine Stimme einholte, verfiel er auf das, was er weit vor den Zeiten bei der Hitlerjugend angelernt bekommen hatte.
Den Wiesengrund.
„Im schönsten Wiesengrunde / stand meiner Heimat Haus / da ging ich manche Stunde…“
Auf einmal brauchte der Hierl Felix nicht mehr zu klingeln. Die Türen gingen auf. Der Felix bekam Flaschen, Stanniol, sogar Messing und Kupfer. Er konnte sich gar nicht so viel auf die Arme laden, er musste den Kameraden herauf bitten.
„Ah, da is ja der junge Herr Sänger persönlich.“
Und ob junge Herr Sänger das bittschön noch einmal singen könnte, das mit dem Brunnen vor dem Tore ? Und das mit dem stillen Tal ?
Und ob der konnte. Er ließ Töpfe und Kuchenbleche neben sich aufs Pflaster fallen, das ergab eine kleine Kakophonie, die stimmngsvoll überleitete zur nächsten Gesangseinlage.
„Muss aus dem Tal jetzt scheiden / wo alles Lust und Klang / das ist mein herbstes Leiden…“
Sie lagen in den Fenstern, sie klatschten. Und ob er muss i denn muss i denn zum Städtele hinaus auch noch drauf habe? Man werde dann auch kräftig stöbern, auf dem Dachboden sei bestimmt noch so dies und das, was den Herrn Generalfeldmarschall zum Entzücken gereichte.
Und der Rudi sang. Immer noch einmal den Brunnen vor dem Tore, und Zugabe bittschön ! Und danach den schönsten Wiesengrund. Und Zugabe, und danach auch noch die Lorelei.
„Die schönste Jungfrau sitzet / dort oben wunderbar – „
Nun wurde der Rudi schon kühner, er wies auf diese oder jene Donna am Hoffenster hinauf. Die bezog es geschmeichelt auf sich und ließ noch eine Kaffeekanne herunter scheppern.
„- ihr goldnes Geschmeide blitzet/ sie kämmt ihr goldenes Haar – „
Wie Heinrich Heine es so anrührend gedichtet hat. Als Jude verboten, aber als Rührbruder nun Volksgut.
„Ich glaube die Wellen verschlingen/ am Ende Schiffer und Kahn./ Das hat mit ihrem Singen/die Lorelei getan.“
In den folgenden Nächten spritzte der Rudi nicht mehr.

1939
Dass der Führer den Polen drohte, bekamen die sechs schon deshalb nicht mit, weil auch sie Asse waren im Niederpöbeln anderer. Mit Wor-ten, in denen immer schon die Fäuste sausten ohne dass sie gleich auf die Nasenbeine krachen mussten. Warum der Führer auch noch allen anderen umliegenden Völkern drohte, bekamen auch die Erwachsenen kaum mit, weil sie zu tun hatten mit ihrem eigenen Bauch. Denn wie viel man essen durfte und ob man überhaupt noch essen durfte wurde einem von nun an amtlich vorgeschrieben. Der Durchschnittsmensch, nun Normalverbraucher genannt, durfte 2400 Gramm Brot in der Woche essen und 500 Gramm Fleisch, und die Pframmingers mit ihrem Grünzeug hatten auf einmal Oberwasser, denn die Gemüseration war nicht vorgeschrieben. Noch nicht.
Auch die Hitlerjugend hatte Oberwasser, denn sie und nicht die Beamten von der Post oder aus den Rathäusern durfte den Volks-genossen die neuen Lebensmittelkarten ins Haus tragen, Halbwüchsige in kurzen Hosen als Staatsvollstrecker. Diesmal musste der Ruttmeier Rudi nicht erst vorweg auf dem Hof Du mein stilles Tal singen, denn das Volk öffnete freiwillig die Tür.
Diese Erhöhung, die Erwachsenen ausfragen zu dürfen, streng amtlich ! Wie viele Personen hier wohnhaft bitte, und welcher von de-nen der Haushaltsvorstand, und der solle vortreten. Er trat vor auch ohne Aufforderung, die in den kurzen Hosen wurden artig in die Stube gebeten, an den größten Tisch gesetzt, damit sie ob ihre amtlichen Blät-ter darauf ausbreiten konnten, und ein Glas Limonade wurde dazu gestellt. Man wusste ja nicht, gell, wie lange man sich’s noch leisten konnte. Dann durfte die jugendliche Amtsperson von der HJ die Zahl der schlachtbaren Nutztiere ermitteln, ob Karnickel oder Hühner oder was. Juden aber hoffentlich keine. Das war die einzige Gelegenheit, bei der gelacht werden konnte. Pflichtschuldigst.
Eine Aufgabe so recht für den Ott Gotschi, nicht nur weil der Einblick hatte in die Lebensmittelbranche von seinen Schwestern her, den Ver-käuferinnen, sondern weil er auch einen strikten Ordnungssinn in sich entdeckte von seinem Vater her. Der war Straßenbahnfahrer, vorher freilich ein unterer Sekretär bei der Gewerkschaft, was er aber in Da-chau piefsäuberlich abgebüßt und abgelegt hatte. Sein Sinn jedoch für das Aufschreiberische und das Buchhalterische, das nüchterne Erfassen von nüchternen Daten war ihm verblieben, eine Ordnung gehört her grad mitten im Chaos und wenns bloß auf dem Papier ist war stets und ständig sein Wort. Ein anderes Wort wurde nun Zuteilungsperiode. Die Zuteilungsperiode gliederte das, was auf einen zukam und das, was einem zukam, und machte es überschaubar, auch wenn es unerträglich war. Das unbestimmbare Künftige wurde mit Hilfe der Zuteilungs-periode bestimmbar, brachte den Mangel wenn schon nicht zum Ver-schwinden, so doch in ein übersichtliches Rastersystem. Wie Garten-beete oder Schokoladenrippen, die sich freilich ihrerseits nun ins Mär-chenreich verabschiedet hatten.
Zudem waren die Lebensmittelkarten ein Happen Sozialismus, den Hitlers Partei zwar in ihrem Namen von ihren Anfängen an verheißen hatte, auf den der Vater Ott, der Gewerkschaftler, bis jetzt aber hatte warten müssen. Nun, wo die Polen und Engländer das Reich bedrohten, kurz vorm Schießen, war er auf einmal hochgeschossen wie Spargel, die es auch nicht mehr gab. Hochgeschossen und erblüht auf farbigem Papier. Das nun auch die allerfeinsten Damen im Feinkostladen den Schwestern Ott vorweisen mussten. 40 Gramm von diesem und 25 Gramm von jenem, schnipp-schnapp machte die Schere, ein unbe-stechliches Schnipp-schnapp, das die klassenlose Gesellschaft ver-wirklichte. Vor dem Führer waren nun alle gleich, die Volks-gemeinschaft war abakadabra hergestellt über den Magen. Der gnädigen Frau Kanzleirat stand kein papierenes Rechteckchen und damit kein Gramm mehr zu als der Arbeiterfamilie im Westend.
Abends klebten die Schwestern die ausgeschnittenen Rechteckchen mit Mehlkleister auf Packpapier, und das Werk ihrer Hände war hübsch anzusehen, wie Tulpenfelder aus der Vogelperspektive. Je nach Farbe säuberlich getrennt in Reichsbrotkarte, Reichsfettkarte, Reichsfleisch- und Reichswurstkarte. Und der Vater Ott saß dabei und lobte die Übersichtlichkeit, die Verwaltungsweisheit und im Stillen auch den Sozialismus, auch wenn er nun braun war statt rot.
Und die Schwestern stärkten, wenn sie mit dem Aufkleben des Sozia-lismus fertig waren, nach wie vor ihre Aufsteckkrönchen. Nun noch sorgfältiger als je, denn die Kunden sollten wenigstens schmückend Dekoratives zu sehen kriegen im Laden, aus dem die Waren verschwunden waren.
Wenn die anderen damit liebäugelten, als HJ-Kraftfahrerkorps auf Motorrädern durchs Viertel zu knattern um ihren Eltern und Nachbarn zu imponieren oder auch der Helene Niederreuther, leistete der Krettel Alwin sich den Traum von der Marine-HJ. Das lag oder hing für ihn näher als sonst irgend ein Ziel, waren doch die einzigen Bilder in der Wohnung Seestücke. Lithografien und Stahlstiche, die kühne Wellen-kämme darstellten, auf denen unbeirrt Dreimastbarken und Schoner der kaiserlichen Marine schwammen. Die Seestücke waren Alwin zu Fen-stern geworden, sogar zu Bullaugen, durch die er ins Weite geblickt von Kindheit an. Sie waren das einzige Draußen, das die Eltern herein ließen. So wie die kaiserliche Flotte wäre auch Alwin gerne kreuz und quer auf den Weltmeeren herum vagiert und navigiert, er hätte sich gerne dem Wind ausgeliefert, steifen Brisen, so wie auf den bremischen Drucken an der Wand, von Windstärke acht an aufwärts. Alwin genoss es wenn im Sommerlager der HJ Sturm aufkam und am Zelt riss, aber in der Wohnung der Eltern war nicht einmal ein Pusterchen zugelassen. Und auch drau-ßen gab es kein hinreichend sturmgepeitschtes Gewässer, auf dem die Marine-HJ hätte herum schippern können. Sogar der Bodensee lag weit entfernt, die Nordsee noch weiter. Und die Adria gehörte Mussolini.
Die Mutter erging sich wieder beim a-Moll ihres Venezianischen Gondelliedes. Herausfordernd unbeweglich lag die Gondel im Wasser, Sonnenkringel perlten darauf, aus der Tiefe der Lagune stieg grünes Geschlinge hoch, und die Wellen gluckerten in Alwins Träume von der Seefahrt hinein. Ebenso grünlich wie der Schatten der Fenstervorhänge.
In dem dünnen Licht das sie durchließen, kniete der Vater auf dem Teppich und rückte die Figuren des Festzugs der Deutschen Kunst zurecht. Die Armee der Zinnzwerge war nun vollzählig, und weil sie nicht ins Musikzimmer einmarschieren durfte, ringelte sie sich mäan-dernd um den Esstisch herum. Die Ornamentik des Teppichs gab die Route vor. Der Vater respektierte sie, als bildeten sie wirkliche Straßen-verläufe ab, die Ludwigstraße, den Odeonsplatz, die Theresienstraße Nummer 13 bis 15. Vor denen stellte er sechs Fanfarenbläser und Pau-kenschläger zu Pferd auf. Vor der Theresienstraße 17 einen Prunk-wagen, auf dem Frau Luna in ihrer Mondsichel saß.
Die Hausnummern waren ihm vertraut, denn er hatte beurkundet, dass diese Immobilien für ein Viertel ihres Schätzpreises den Besitzer wechselten. Dann aber, noch vor dem Bein des Esstisches, bog er in die Fürstenstraße ab. Warum ausgerechnet in die Fürstenstra-ße, fragte Alwin, nie war der Zug da entlang gezogen, Alwin musste es doch wissen, er war vor zwei Jahren dabei gewesen als altgermanischer Schwertträger.
Aber der Vater wollte es durchaus nicht wissen, das Anwesen Für-stenstraße 23 hatte seiner Kanzlei den höchsten Jahresumsatz einge-fahren. Somit war eine Reverenz angebracht, und dem früheren Eigner Finkelstein, jüdisch, wie dem nunmehrigen Besitzer Kreitmayr, arisch, zu Ehren zog der Zug der Kunst nun eben an der Nummer 23 vorbei. Die Mutter war wieder in den Liedern ohne Worte bei op.53 Nr. 6 angelangt, und dem Vater war anzusehen, wie ihm zu deren lebens-bejahenden A-dur seine eigenen Frühlingsbilder vor Augen kamen. Er setzte siebzehn berittene Walküren hintereinander auf den Teppich.
Alwin musste heraus aus dieser stickigen Windstille, auch wenn es eine fürsorgliche Stickigkeit war. Er fuhr hinaus zu den Segelfliegern von der HJ. Wer sich hier nützlich machte, war ihm versprochen worden, wurde bei der Luftwaffe angemustert. Mit etwas Glück, dem er nachhelfen konnte, wenn er sich in den Werkstätten nützlich machte, sich beim Reparieren und Schmieren umtat und beim Hochkatapultieren und bei der Landung mit anpackte. Für den Novizen galten hier die selben Regeln wie im Rennstall, für fünfmal Striegeln gabs eventuell die Aussicht nächstlich reiten zu dürfen.
Einmal ums Karree der Ställe.
Solch untertänlicher Schacher war nicht Alwins Stil. Und Alwin leistete sich viel Stil, als Klassenbester und Hochaufgeschossenster, wo andere sich nur Pickel und Stimmbruch leisteten. Alwin kehrte vom Ausflug ins Vulgäre zurück in die dunkle Wohnung, hinten spielte die die Mutter für sich allein Brahms, und er baute für sich allein Segelflugzeuge en miniature. Unter den Kameraden setzte sich die verhuschte Legende fest, der Alwin sei eher früher als später bei der Luftwaffe gelandet.
„Der Gscheitdaherredner ist abgehoben.“
Wie daher geweht, so davon geweht. Mit den Wolken. Hatte er doch immer schon etwas von einem Doppeldecker gehabt, bespannt mit Segeltuch, leicht trudelnd, und null Motorenknattern.

1941
Der Luftschutzwart durfte das Haus und alle Wohnungen betreten wann er wollte und alles sehen und inspizieren was er wollte. Vor kei-ner Türe durfte auch nur ein Fußschemel stehen, ein leerer Papierkorb, Fluchtwege durch die Bank frei für den Fall X. !
Dieser Fall X wird niemals eintreten, da ist schon der Führer vor und die Luftwaffe seines Fliegertrabanten Hermann Göring, denn der wird den Feind bereits bei sich zu Hause in Grund und Boden bombardieren. Aber warum fehlt hier der Sandeimer ? Warum klebt in dieser Luke noch kein schwarzes Papier ? Zweite Abmahnung ! Bei der dritten wird Meldung gemacht.
Und wann würde der Luftschutzwart, der sich, so kam es Felix vor, in der Hierlschen Wohnung viel länger aufzuhalten schien als in den anderen auf der Etage, wann würde er auf der Suche nach Terpentin und Reinigungsbenzin und Wachsresten die Schöne Gärtnerin aufstöbern ?
Die Schöne, die nun eine Hässliche war, eine Gesuchte, von der es gewiss schon ein Fahndungsfoto gab, oder doch ein Signalement wie für eine Person die aus der Haft entsprungen ist Höhe 196 Breite 114, Haare schwarz, unbekleidet. Wer ein Judenbild hat, konspiriert auch gegen den Führer, ist mit Juden im Ausland verbandelt, hängt an einem Spionagenetz, gibt der britischen Luftwaffe Lichtsignale.
Der Luftschutzwart kommt : jedesmal eine Prüfung. Der Luftschutz-wart kommt nicht : noch schlimmere Prüfung. Er schickt dafür Leute in Uniformen, die Felix noch nie gesehen hat. Keine Polizei, keine Wehr-macht, keine Rangabzeichen, und Fragen stellen sie auch nicht mehr. Sie deuten nur mit schwarzen Handschuhhänden. Und wem sie die Richtung gewiesen haben, den kriegt man nie wieder zu sehen. Dieb-stahl am Volkseigentum in Tateinheit mit Hehlerei und seelischer Verwesung ! wird die Hausgemeinschaft im Luftschutz-keller über Felix herziehen, und das in unserem Haus, wo sich nie jemand was hat zu Schulden kommen lassen !
„Der Engländer über uns und die Verbrecher mitten unter uns.“
“Auch noch einer aus der Hitlerjugend !“
„Und für so ein Früchterl muss mein Mann an der Front den Kopf hinhalten“.
In so einer Familie, wird weiter gehechelt werden, wo egalweg tagaus tagein Klavier gespielt wird, da gehört das Feindsenderhören doch bestimmt zum guten Ton.
„Sag ich doch. Und das Klavier muss es zudecken.“
„ Wer weiß was die sonst noch verstecken.“
„Und wen !“
„Sag ich auch – vor allem wen !“
Denn im Luftschutzkeller wird man hellhörig fürs Versteckte.

Im Kino, in der Wochenschau, war es für die sechs eine Gaudi, wenn sie Feuer zu sehen kriegten. Mündungsfeuer der eigenen Artillerie, die unentwegt vorrückte, Feuer der Flammenwerfer, das die Bolschewiken ausräucherte. Feuer aus explodierenden Treibstofftanks, stets waren es gegnerische, während die eigenen Bomber drüber hinweg sausten wie kichernde Wespenschwärme. Die Feuersbrünste in der Wochenschau machten weit mehr her als die Umzüge der HJ mit ihren paar dutzend Fackeln, zu denen sie früher geschickt worden waren. Und sie vergaßen darüber fast das eigene Feuerfest, das die sie hatten entfesseln wollen. Die Wochenschau zeigte ihnen die Glut der Schlachten zwar nur in schwarz und weiß, aber es waren Fanale gegen die Düsternis die sie selber umgab. Auf den Straßen war die nächtliche Beleuchtung ab-geschaltet worden, die Hitlerjugend musste die Bordkanten weiß be-malen, damit die Volksgenossen sich nicht die Glieder brachen, die der Führer doch noch brauchte, und drinnen in den Behausungen ihrer Eltern wurden schwarze Rollos vor die Fensterscheiben gezogen und noch knausriger mit Lampenlicht gespart als bisher schon.
Das Feuer dagegen im Kino, das war die Wucht. Wenn auch nur auf vier mal sechs Meter, und in schwarzweiß.
Als die ersten Bomben fielen, kamen die Farben dazu, und das Feuer füllte nun das ganze Bild. Das Rot, das Violett, das Orange, das Gelb und das irisierende weißliche Blau. Das war der Feuersturm, den sie in ihren Zeltlagernächten herbei geträumt hatten. Die Scheiterhaufen des Goebbels, die angezündeten Synagogen waren nur die Vorübungen und Vor-Feuerchen dafür gewesen. Für den Brenne-Orkan, der das widrige Alte heißhungrig vertilgte, und eine neue Welt würde zum Vorschein kommen, und sie saßen nicht mehr nur davor im Kinosessel, sondern durften mitten drin sein. Der Jude warf Tod und Vernichtung herab auf die Stadt, aber sie waren wehrhaft, hatten Helme auf und Gerätschaften in den Händen.
Sie waren nun Luftschutzhelfer.
Wie der Ruttmeier Rudi. Der durfte, der musste nah an der Keller-treppe sitzen. Auf einem Hocker neben den Schaumlöschern. Ein Amtssitz, ein Ehrenplatz, eingerahmt von Eimern voller Sand und Feuerpatschen, die wie eine Kompanie in Habt-Acht-Stellung hinter ihm an der Wand Posten bezogen hatten. Ein Thronsitz geradezu für einen gerade erst Neunzehnjährigen. Aber auch eine Schranke und ein Grenzposten, an dem jeder vorbei musste der berechtigt und verpflichtet war den Luftschutzkeller aufzusuchen, und dem Herrn Luftschutzhelfer Ruttmeier glaubhaft versichern dass er seine Woh-nung da oben vorschriftsmäßig zurückgelassen hatte und die Fenster geöffnet. Wegen der Glasscherben und wegen dem Luftdruck. Und den Wohnungseingang unverschlossen zurück gelassen für den Fall des Schadensfalles, damit die Einsatzleute ungehindert tätig werden konnten. Wie auch, dass jeder Luftschutzberechtigte, Juden selbst-redend wiederum ausgenommen, hier unten im Luftschutzraum alles Vorgeschriebene bei sich führte, Lebensmittel für mindestens drei eventuelle Tage, vollzählig die Papiere sowieso, und vollzählig waren sie nur inklusive Ahnenpass, und keine Person mehr dort oben unbefugt verweilte.
Weil, das war strengstens verboten. Juden natürlich wiederum aus-genommen.
An der Wand über Rudi hing das Plakat Feind hört mit mit dem schwarzen Schatten des Feindes, der allgegenwärtig lauschte, seinen Schatten über alle missgünstig breitete, so dass jeder jedem miss-traute. Auch in diesem Keller. In dem der Rudi zur einzigen Vertrau-ensperson befördert war, gleich neben der letzten Stufe der Keller-treppe, und verantwortlich für das gesamte Haus über ihm.
Hier in seinem Kellerreich wusste keine Seele vom schändlichen Verrätertod seines Vaters und den noch schändlicheren Stoffballen, die seine Mutter fast veruntreut hätte. Der Rudi durfte den Dienst hier, quasi im freundlichen Ausland, als Befreiungsbad begreifen und nie-mand nahm mehr Anstoß dass er noch immer die Breecheshosen anhatte. Scheiß aufs Fesch-Angezogen-Sein ! Hier zu ihm herunter hasteten alle mit dem, was sie eben noch zusammenraffen konnten, sobald die Sirene die Warnstufe drei ausrief.
Anfangs noch sah man Hüte bei einigen Damen die auf sich hielten weil sie im ersten Stockwerk mit den Parkettfußböden wohnten, Ausgehmäntel, umgelegte Schals, aber bald nur noch Wolldecken um die Hüften geschlungen, vier lange Unterhosen übereinander, Fäust-linge auch im Sommer, und so viele Schuhe wie‘s nur irgend ging, an den Schnürsenkeln zusammengeknüpft um den Hals gehängt, und in deren Fersen hineingesteckt Zigaretten, Zahnbürsten, Zahnpastatuben und Heiligenbildchen.
Ja, Heiligenbildchen.
Und inmitten dieses Andrangs wie zur Arche Noah im Gewitter-sturm saß amtsernst der Ruttmeier Rudi in seinen altmodischen Hosen und sah auf einmal aus wie ein Jagdherr auf seinem Hochsitz zu Kai-sers Zeiten und teilte Beruhigung aus, hierhin und dorthin. Und gerade wegen seiner altmodischen Hosen wie aus Kaisers Zeiten ließen die Kellerinsassen sich vom Rudi beruhigen.
Am aufgescheuchtesten war immer die mit dem um den Kopf ge-schlungenen indischen Stoffdingsda, die stets als letzte herunter ge-hastet kam und sich stets auf die unterste Stufe der Kellertreppe setzte. Der Rudi jagte sie bei jedem Alarm von diesem Platz fort, denn der war feuerpolizeilich strengstens gesperrt. Und bei jedem Alarm muss-te er ihre gezischten Vorwürfe ertragen. Ihre Stimme war tonnentief und zugleich krächzig schwach, aber ihr Nikotin-Atem und ihre Mimik waren enorm. Ihre schwarz ummalten Augen hätten ihn fast geängstigt, wäre er nicht eine Amtsperson sein müssen und ein künf-tiger Scharführer sein wollen, und damit sie sich endlich niedersetzte, brauchte es jedesmal einige Rauferei, denn sie war sehnig stark.
Das ist die mit der Ballettschule, wurde geraunt, aber dann über-nahmen Flugzeugmotoren das Gespräch und erstickten es. Draußen fauchte es, bloß ein leichter Angriff bibberte man, bloß Brand-bomben, sie sparen sich die Sprengbomben noch für später auf. Man war ja nun schon bewandert im Luftkrieg, einige beteten ganz unverhohlen laut, obwohl der Führer das nicht mochte, andere wieder taten als ob sie trotzdem schliefen.
Kaum dass die Bomber abgedreht hatten und eine grausig leere Stille zurück ließen, musste Rudi zum Einsatz, seine Tour machen, als erster das Stiegenhaus hinauf und nach den Schäden sehen. In den oberen Stockwerken flackerte etwas, im dritten, vierten Stock war es heller als es hätte sein dürfen. Ein Brand, das war seine Chance. Wenn Rudi sich bewährte, würde er Scharführer werden. Nach dem letzten Angriff waren gleich drei Jungen vom Bann 18 zu Gefolgschaftsfüh-rern befördert worden, ohne lästigen Umweg über die Ränge darunter, weil sie beim Löschen ihren Mann gestanden hatten. Und auch noch dafür gesorgt hatten, dass es bemerkt wurde.
Und da drin gabs was zu Löschen. Einen kleinen Happen des ganz großen Feuers, das die sechs sich herbeigewünscht hatten. Aber die Tür war versperrt, gegen jede Vorschrift. Das wird Rudi melden müs-sen. Noch ein Punkt mehr für den künftigen Scharführer, der sich nun gegen die Tür warf, drei-, viermal. Weil es eine Flügeltür war und alt, hielt sie dem Rudi nicht lange stand und brach auf.
Aber zum Löschen war da nichts. Eine brennende Gardine war durchs Fenster herein gewischt, nicht viel Ruhm für den angehenden Scharführer, der die Glut mit der bloßen Hand auspatschte. Die Häuser eine Straße weiter brannten weitaus titelbringender. In ihrem Flacker-licht sah Rudi Spiegel, wie er sie noch nie gesehen hatte, sie reichten vom Boden bis zur Decke. Er kam sich vor, als stünde er sich selbst gegenüber, mehrfach, viele Rudis vor vielen Rudis in Lebensgröße und alle in Breecheshosen, und hinter den Rudis tanzten Frauen auf silber-gerahmten Fotografien.
Die Verrenkungen, die sie vollführten, waren von ganz anderer Art und überdrehter als das was die mopsigen Mädchen vom BDM bei den Gaufesten immer vorhüpfen mussten in frischgewaschen weißen Leibchen und mit zuckenden Zöpfen, zu zehnt in einer Riege und alle mit Kinderreifen in den roten Pfoten. Denen auf den Fotos schlugen seidene Streifen um die sehnigen Beine, und außerhalb des Bildrandes hatten sie vielleicht gar nichts mehr an. Jeweils zwei oder drei bogen sich ihre Hälse entgegen, an denen die Muskeln schwollen wie Schlangen, die Münder geöffnet wie von Stöhnschreien, die Finger hochgereckt im Brandlicht zu magischen Botschaften und zum Gebimmel der Feuerwehrwagen draußen auf der Straße. Da hätte der Rudi gerne mitgetan, das war Blocksbergsause, er versuchte die Beine so weit hochzukriegen wie die Fotomiezen, aber seine Schuhspitzen erwischten nicht einmal die Stange, die auf Hüfthöhe um den Raum herum lief und er schämte sich seiner Breecheshosen wie nie zuvor.
Als er sie eben ausziehen wollte, hörte er hinter einer Tür etwas wie Winseln. Er knöpfte den Bund der Breecheshosen wieder zu, riss die Tür auf. Aber kaum war sie aufgerissen, war sie auch schon wieder zu. Draußen klingelten die Feuerwehrwagen, und der Rudi riss die Tür erneut auf, und erneut klappte sie zu, und das Kreischen dahinter nahm es an Laustärke mit dem Schrillen der Feuerwehr auf. Rudi begriff, dass ein bösartiger Schließautomat gegen ihn kämpfte. Den hatte er als Amtsperson auszuschalten, den Widerstand zu liquidieren, grobianisch, und seinen memmenhaften Breecheshosen zum Trotz.
Er zog ein Wesen hinter der Tür hervor, das kratzte und miaute. Mehr als eben ein Wesen war nicht zu erkennen. Brände irrlichterten über seinen krauswolligen Kopf und auf Rudis Hände ergossen sich Tränen. Rudi ekelte sich, er prügelte auf das Wesen ein, das Wesen brüllte wie ein Tier.
Und es biss auch wie ein Tier. Rudi schleuderte es mit einer Kraft, die er gar nicht in sich vermutet hatte, gegen den Spiegel, aus dem ein langes Dreieck heraus brach, auf Rudi zustürzte, sein dumm bestürztes Gesicht im Näherfallen vergrößerte und vergrößerte und ihm mit der Kante den Arm aufschnitt, ehe es auf dem Parkett zerbrach. Das Wesen rannte hinter seine Tür zurück, zog sie hinter sich zu und jaulte dahinter weiter, bis auch die Entwarnungssirene draußen zu jaulen anfing, als könnte sie das Jaulen des Wesens nicht mehr mit anhören.
Als er im Stiegenhaus der mit der Ballettschule begegnete, drückte sich Rudi beiseite damit sie nicht sah dass er sich mit Ruß das Gesicht bemalt hatte.
Denn er war im Dienst, und Dienst leidet keine Schminkspielereien bei einem Scharführer. Und er war so gut wie Scharführer, er hatte eine Anzeige in Sachen Lebensunwertes Leben in petto.
Das brachte zusätzlich Punkte.
Beim nächsten Alarm fünf Tage später kam die Ballettlehrerin mit ihrem indischen Umschlagtuch nicht in den Keller und der Rudi brauchte sich nicht mit ihr zu raufen.

1942
Nachdem die Bomber für diesmal abgedreht hatten und die Helfer zu den Verschütteten vorgedrungen waren, legten sie Mutter und Tochter nebeneinander auf die Straße. Die Mutter erkannte der Pframminger Alfons an ihrer Küchenschürze. Die Tochter Helene daran, dass sie neben der Mutter lag, sonst an nichts mehr. Auch die brünetten Affenschaukeln waren weggebrannt. Das Haus dahinter, wo er immer in der Küche im dritten Stock das Licht gesucht hatte, klaffte offen und man konnte bis zur Brandmauer hindurch sehen. Von denen in der Kameradschaft 93, die bereits an die Front gemusst hatten, wurde über ihn hergezogen, Verdrückerfonsi wurde er geschmäht. Und nun musste er die Helene fortschaffen. Die Bahren waren ausgegangen. Die Helene wurde auf eine Tür gelegt, die aus dem zerstörten Haus ins Freie geschleudert worden war. Beim Forttragen zerbrach die Tür zweimal, denn sie war an der Scharnierseite verkohlt, und die Helene fiel zweimal in den Schutt.
Als sie noch klein waren, pflegten die Erwachsenen sie am Kopf hochzuheben, mit beiden Händen.
„Komm, darfst nach Paris schauen.“
Es tat bitter weh. Aber den Erwachsenen machte es Spaß. Ein humoriger Beitrag zur Kindererziehung und zur Ertüchtigung der Ga-ranten ihrer aller Zukunft
„Und, hast du Paris gesehen ?“
Ja doch ja hatte man’s gesehen, wunderschön war‘s, denn man wollte die Erwachsenen dran hindern dass ihnen Paris gleich noch einmal gezeigt wurde.
Nun stand ihnen die Welt offen, nicht nur Paris. Sie durften auf Reisen gehen, und der Staat kam dafür auf. Es ging viel weiter fort als bei der Hitlerjugend, wo sie immer nur ins Isartal fuhren zum Som-merlager. Nun durften sie ins Ausland reisen und der Führer kam auf für die Kosten.
Als der Ott Gotschi in den Krieg geholt wurde, konnte er sich seines Aufstiegs zum Scharführer nicht mehr freuen, denn der oberste Führer von allen brauchte ihn nicht mehr für Geländespiele, sondern um sie in Ernst umzusetzen und Feindesland zu überrollen. Der Vater wün-schte dem Gotschi, er müsse sein Ehrenkleid nicht besudeln wie er selbst im Schützengraben an der Somme.
„Weil, Uniform ist Uniform und hält einen Kerl erst zusammen in seiner Selbstachtung.“
Als der Lamprecht Fipsi in den Krieg geholt wurde, kam ihm sein Zeichentalent zunutze, denn er wurde nach den Gefechten vom Kom-paniechef freigestellt und durfte die Täfelchen beschriften, die an die Birkenkreuze geheftet wurden. Linseisen Peter geb. 1919, gef. f. Volk und Führer 3.4.1940. Richter Herbert geb. 1921 gef. f. Volk und Führer 7.9.1941. Baumann Kurt –
Die Täfelchen waren aus frischen Holz gesägt, das soff viel Farbe, die war an der Front schwer heranzuschaffen, und die fein gemalten Buchstaben verliefen dem Fipsi nach allen Seiten hin, so dass er manch-mal froh war dass der Zeichenlehrer sie nicht sah, der seine früheren Leistungen in der Schönschrift sehr geschätzt hatte. Einmal hat der Fips sogar ein Kriegerdenkmal entwerfen dürfen und es selber in Holz geschnitzt und in Relieftechnik. Das war schon in Weißrussland, aber niemand hatte einen Fotoapparat dabei, um der Heimat von seinem Werk Zeugnis abzulegen.
Als der Pframminger Alfons in den Krieg geholt wurde hatte er vor-her noch eben den Hierl Felix denunziert. Weil der eine Geliebte bei sich verwahrte, wenn auch nur eine gemalte war, und ihm war seine He-lene vor den Augen weggestorben. Weswegen er sich freiwillig mel-dete. Auf dem Musterungsbüro erfuhr er, dass sein Gestellungsbefehl schon auf ihn wartete und sein Eifer vertan war. Seine Wahl war die Marine, aber der Gestellungsbefehl bestimmte ihm die Infanterie. Und der Führer eröffnete für den Alfons, der Reichsführer für den Kamerad-schaftsführer im Süden eine neue Front, von Führer zu Führer, und schickte ihn nach Griechenland.
Ob und wie der Krettel Alwin in den Krieg geholt wurde, erfuhren die fünf anderen nicht, der war ja abgehoben. Der Hierl Felix hatte nach dem Bombenangriff, bei dem das Krettelsche Wohnhaus in sich zusammengestürzt war an die einzige noch stehen gebliebene Mauer geschrieben Alwin melde dich bei mir. Aber es ist nie eine Antwort von Alwin gekommen und auch die Mauer fiel wenig später zum übrigen. Darum schrieb der Felix noch einmal, und diesmal an die eigene Hauswand Alwin ! habe jetzt eine Feldpostnummer.
In Sütterlin und mit Kreide. Eine Feldpostnummer haben, das hieß Erwachsensein und Mitreisendürfen an den Fronten, die überall vor-rückten. Auch diese Inschrift war nicht lange zu lesen, das Löschwasser wusch sie fort, als das Haus niederbrannte. Seine Schwester Ortrud und seine Mutter überlebten es nicht.
Der Vater war vorher schon mit seiner Frisöse ins Tölzer Land gezogen. Der Sohn watete im Schutt bis zu den Knien, als er in dem grub, was nicht verbrannt war. Unscheinbar Unnützes unter unscheinbar Unnützem. Zwischen dem Felix die Schöne Gärtnerin in einem Koffer verborgen hatte. Aus Aluminium, an dem der Luftschutzwart nicht An-stoß nehmen würde, weil er feuerfest war. Aber dieser Koffer war nicht mehr da.
Er war nicht verbrannt, er war verschwunden. Wie die Bücher aber die seinerzeit der Einäscherung durch die Goebbelsleute widerstanden, hatte sich auch hier ein widerständiges Bündel Papier nicht von der Feuersbrunst verzehren lassen. Die Gerichtsprotokolle des Vaters. Und Felix fand, wonach er im Schutt seines Vaterhauses gar nicht gesucht hatte, nämlich die Antwort darauf, warum der Vater bei den Verhand-lungen immer unter sich geschaut und seinen Sohn nicht wahrge-nommen hatte. Wegen der Krakeleien, die er auf die Akten malte. Die Tiraden der Anklageschriften hatte der Vater devot unterstrichen, wie es wohl auch die anderen Schöffen taten. Was auch sollten sie andres tun, sie taten ja nicht den Mund auf. So hatten sie Energien frei fürs Unterstreichen.
“Wandte der Angeklagte sich dem ihm schutzbefohlenen wie auch minderjährigen Ministranten in obzönster Weise zu“ – da hatte der Vater sowohl das minderjährig für unterstreichenswert befunden, sogar mit einem Lineal, wie auch das in obszönster Weise und es mit drei Rufzeichen versehen. In einem anderen Schrieb hatte der Vater gleich ganze Sätze unterstrichen, wie „…beobachtete der Angeklagte sein späteres Opfer über längere Zeit hinweg heimtückisch aus dem Sakristei-Fenster heraus, ehe er die Tat einleitete“, und es blieb unklar ob der Vater das Beobachten oder die Tat für anstößiger hielt oder ob nur der Staatsanwalt gerade herschaute, wie der Vater mit dem Lineal hantierte.
Hinterher hatte er ohnehin stets für schuldig in allen Anklagepunkten gestimmt und damit die Höchststrafe. Auf der Rückseite der Gerichts-papiere aber war ganz anderes niedergelegt. Gespinste, Linien, Männ-chen die wie Kastanienblätter aus Fragezeichen heraus wuchsen und hinter Ausrufezeichen her flatterten und von Spinnweben eingeholt wurden. Insgeheimes Murren über die Prozessführung oder die Aus-flüchte der Angeklagten ? Geistesabwesenheiten ? Luftsprünge der brachliegenden Einbildungskraft ? Oder Bleistiftnetze, die er zu seiner Geliebten spann, der Frisöse ? Manchmal waren die Akten geknickt, als hätte der Vater sein Gekritzel rasch verstecken müssen, weil der Staats-anwalt schon wieder herschaute. Warum hatte er ihm diesen Konvolut da gelassen, den Koffer seines Sohnes aber mitgenommen ?
Als der Ruttmeier Rudi in den Krieg geholt wurde, hatte er noch nie ein Mädchen gehabt, nur das Masturbationserlebnis vor der Schönen Gärtnerin. In fröhlicher Gemeinschaft mit den anderen, dieses eine Mal, mit denen die Gemeinschaft sonst immer unfroh war. Unfroh wie danach der Arbeitsdienst und gleich danach die Rekrutenzeit, und gleich danach das Verschobenwerden in laut ratternden Güterzügen an die Front in den Höllenlärm des Karabiner- und Geschützfeuers und der Maschinengewehre und seine Stimme, eines Hinterhofsängers kam nicht mehr dagegen an. Dabei hatte doch nur der Friedhofsstille in der Stube seiner Mutter entfliehen wollen, und war nun dem grellen Fo-rtissimo der eigenen Stukas ausgeliefert und, als die vom Himmel verschwanden, der Stalinorgel. Und zuletzt war der Rudi abgeschnitten von seiner Kompanie mit den Resten seines Zuges, es waren weniger als die Kameradschaft 93 gezählt hatte und sie lagen in einer Bau-ernkate, deren Bewohner sich nicht mehr hatten davon machen können. Und wenn sie auch noch Munition hatten, zu beißen hatten sie alle zusammen nichts mehr.
Als die Färse der Bauersleute aufgegessen war, fuhren zwei Panzer auf das Gehöft zu.
“Die holen uns raus !“
Die Bauersleute sagten dasselbe, nur dass die Soldaten es nicht verstanden und beide nicht recht hatten, denn die Panzer waren russische T 34 und auf dem Vormarsch, hatten keine Zeit sich um die Bauernkate und seine Insassen zu bekümmern, machten Fahrt auf die Front zu, das zurückweichende zwölfte Regiment. Nun schlachteten Rudis Leute mit ihren Bajonetten auch die Ziege, und es gab keine Milch mehr.
„ Die schleichen sich in der Nacht raus, da kannste wetten drauf, schau dir nur die Fressen an, und holen uns die Partisanen auf den Hals.“
„Die flüstern schon drüber.“
„Die flüstern nicht, die beten.“
„Beten ! Solang die nicht für uns beten, sind die unsere Feinde.“
„Du glaubst doch gar nicht an Gott.“
„Der ist auch unser Feind. Deswegen beten sie ja zu dem.“.
In den Tagen darauf kein Gefechtslärm mehr, aber auch nichts zu futtern. In der Stille dröhnte der Hunger. Als wieder Gefechtslärm auf sie zukam, hoffnungsvoller Lärm, denn es musste ihr Regiment sein, das an Boden gewann, brachen Rudis Leute mit ihren Seitengewehren die Wandbalken auf. Nur hier konnte der Proviant versteckt sein. Aber da gab es nur dürres Moos, das sie heraus fetzten. Durch die Lücken brach der Eiswind herein. Ein Gefreiter schob dem Jüngsten der Familie sein Seitengewehr in den Mund, an dem noch das dürre Moos hing.
„Essentrinken dawaj dawaj dawaj, oder -“
Ein Weib versuchte wortlos klar zu machen, ihre Vorräte seien bereits aufgezehrt gewesen bevor die Germanskis sich bei ihnen einnisteten, wegen der Kampfhandlungen hätten sie nichts ernten können, und vollführte dazu mit den Fingern pantomimische Puppenspielereien, bei denen sich ein Jahrmarktspublikum scheckig gelacht hätte. Der Gefechtslärm kam näher. Die Zuversicht stieg. Der Unteroffizier schoss dem Weib zwischen die Augen.
Die Familie kroch schreiend in den Ofenwinkel und unterbrach den Schrei auch nicht als der Unteroffizier weiter auf sie zielte, obwohl er wusste kaum mehr Patronen im Lauf hatte. Der Schrei wurde noch schriller und klang nun wie ein Pfeifen. Rudi steckte dem Unteroffizier den kleinen Finger in den Lauf.
„Wenn wir schon nichts zu beißen haben dann könnten wir uns doch wenigstens vorstellen, ich meine in der Fantasie, dass wir was haben.“
Auch das Schießen draußen war verstummt, als sei es erschrocken.
„Du bist ja total durchgeknallt !“
Die Magensäfte ließen sich, beharrte Rudi, überlisten durch Einbil-dungskraft und er lieferte sogleich ein Exempel indem er ein Rinder-gulasch beschrieb wie er es in seiner Kindheit oft gesehen, freilich niemals zu sich genommen hatte. Dennoch schilderte er umso genüss-licher den beizigen Geschmack der Soße und der Kartoffeln die darin schwammen die Zartheit des würzigen Fleisches und -
Draußen rollte wieder ein T 34. Der Lärm seiner Ketten überdeckte die Schilderung des Rudi und der Unteroffizier verschoss seine allerletzte Patronen. Als der Kettenlärm sich entfernt hatte, war nur noch der Todeskampf der Bauersleute zu vernehmen.
„Jetzt du !“
Der Rudi wunderte sich über sich selbst, dass er auf einmal den Geschmack von Gulaschsoße auf der Zunge hatte.
„Schieß endlich !“
Der Rudi war kurz davor, seine von ihm selbst erfundene Salz-kartoffel zu zerbeißen, nein zu schlürfen, denn sie war so schmackig weich und vollgetränkt mit Bratensoße, als der Unteroffizier brüllte das sei Befehlsverweigerung dass der Rudi nicht schieße, und er stehe so gut wie vor einem Standgericht und werde selbst erschossen.
Da schluckte der Rudi die Kartoffel hinunter, nahm seinen Karabiner hoch und schoss. Dass der Unteroffizier rief, nun werde er den Rudi fürs EK I vorschlagen, hörte der schon nicht mehr, denn er war aus dem Haus gerannt und von dem Panzer bemerkt worden. Der kehrte wegen dem Rudi nicht um, er drehte nur seinen Turm ein klein wenig und sein 0,8- Geschütz bellte.
Rudi hinterließ viele Feldpostbriefe, alle unabgeschickt und an ein und dieselbe Frau. Da er kein weibliches Wesen hatte außer seiner Mut-ter, waren sie an die einzige gerichtet mit der er je Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Immer wenn er an sie schrieb, und er schrieb ihr oft, stellte er die Zeichnung vor sich hin, die der Lamprecht Fipsi von ihr angefer-tigt hatte.
Aber vorgesungen hat er ihr nie etwas, aus Angst, dass die anderen im Regiment über ihn lachen.

Der See leckt sich schon die Wellenlippen, denn die Schöne steht auf den Planken an seinem Ufer. Sie ist bereits nackt und ausgezogen. Das lässt ihn, das lässt auch mich erwartungsvoll aufschäumen. Seine Gischt wird meine Schöne gleich umfassen. Seine Begier nach meiner Schönen ist so stürmisch, dass er schäumt als wäre er nicht ein See, sondern als wäre er die See, die See schlechthin, das Meer, der Ozean, Thalatta, als wäre er alle sieben Meere auf einmal.

1945
Als Felix Hierl aus dem Krieg nach Hause kam, kam er in eine far-benlose Welt. Das helle Braun der HJ-Hemden war noch das Hellste in seinem Leben gewesen. Sogar der Igel, dem sie in der Schule hatten zuschauen dürfen wenn das Schulfräulein die Jalousien herunter ließ und den Filmprojektor anschaltete, war grau und hauste in einer gries-grämigen Erdhöhle, gefilmt in Schwarzweiß und er begab sich unter einen trüben Himmel, wenn er den Hasen auf der Buxtehuder Heide in einen finsteren Tod hetzte.
Die Schule entließ sie dann in eine Zeit der eingezogenen Lichter und Funzeln, der Verdunklungen, des Luftschutz, danach zum Feldgrau der Wehrmacht, der Tarnfarben und Tarnnetze, in die Düsternis der Bunker und Unterstände. Der weite Himmel war ein Schrecknis, weil er von den feindlichen Flugzeuge beflogen wurde, die weiße Streifen hinter sich herzogen und deren stählerne Körper in der Sonne glänzten, aber es waren Todesvögel. Sie machten den hellen Tag unsicher mit glitzernden Streifen, die sie über der Stadt abwarfen, damit die Kinder sie auf-sammelten und, so wurde ihnen gesagt, an ihrem Gift qualvoll verreckten. Während die Höhlen der Luftschutzkeller, in die die Menschheit zurückgekrochen war, Geborgenheit bot wie in der Urzeit vor den Bären.
Und nun war das Feldgrau des Krieges nicht mehr da, weil die Krieger nicht mehr da waren. Aber es war nun erst recht dunkel. Dunkler als vorher. Die Mauern waren schwarz verräuchert, die Strom-sperren würgten das Licht, das man sich nicht anzuschalten traute weil die sechs Jahre alte Angst vor den Sirenen und dem Luftschutzwart noch immer in einem saß. Die Krieger schlurften durch die dunklen Ruinen mit Greisengesichtern. Es gehörte sich nun, dass man alt war, nicht weil es befohlen wurde, es wurde nichts mehr befohlen, man war verlassen und allein gelassen in sich selbst in seiner grauen Gräm-lichkeit. Der Führer hatte ihrer aller Jugendkraft nicht ausgeschöpft, sondern sich davon gemacht und sie nicht mitgenommen.
Dorthin, wo er jetzt war. In einem Bunker in Grönland, in der Hölle oder in Südamerika. Das sprach gegen die Jugendkraft. Ihre Jugend-kraft, die verschmäht worden war. Sie war dem Führer nichts wert gewesen, also waren sie selbst nichts mehr wert und Greise, die ihren Tod erwarteten.
Die Greise hatten nur ein einziges Gesicht, das Gesicht für Schmerz. Ob der Kamerad neben ihnen niederfiel beim Angriff in der Schützen-kette oder ob nach der Währungsreform einer falsch herausgab oder ob man Schlange stehen musste bei Kälte oder auch bei übergroßer Hitze, stets brachten die Gesichtsmuskeln nur einen und einzigen Ausdruck zuwege. Den für Trauer, Wut, Verbitterung. Und es gehörte sich, die-ses in Schmerz erstarrte Gesicht stets und überall aufzubehalten.
Auch für Freude hatten sie nur ein einziges Gesicht. Aber das konnte nur der Führer abrufen, dem Führer war es vorbehalten das Licht in ihnen zu entzünden. War es das Licht in ihnen, oder war es das Licht des Führers ? Nun war der Führer nicht mehr da, und das Licht er-loschen.
„Man lebt so bänglich dahin, ganz ohne Angst, gell.“
Ohne Angst vor dem feindlichen Angriff, der Stalinorgel, dem Ver-hungern, dem Heranfliegen der Bomberflotten. Die Angst hatte den Kreislauf angeregt. Die Verdauung. Die Atemwege. Die Angst hatte einem geheißen, wann man geradeaus schauen sollte und wann man sie besser schloss, wann man hinhörte oder weghörte. Die Angst ließ einen das bisschen Sonderzuteilung Leben auskosten, das man rationenweise zugeteilt kriegte wie Butter und Nährmittel und Spinnstoff auf den Lebensmittelkarten. Die Angst soufflierte einem verlässlich, wo der Feind grade stand, der Iwan, der Engländer, der Jude.
Aber wer sagte einem jetzt, wo der Feind stand ? Am meisten fürch-teten sie die Hoffnung. Denn die war das Trügerischste von allem, hin-terging einen mit Zuversicht, wo doch das Verderben hinter jeder Rui- nenwand bereit stand. Eine Ruinenwand konnte jederzeit über einem zusammenstürzen. Oder ein Blindgänger hochgehen.
Es gingen viele Blindgänger hoch, und viele Mauern stürzten ein.
Auf einer, die noch stand, es war die Ruinenwand des Hauses in dem er gewohnt hatte, hinterließ Felix eine Nachricht. Die Ruinenwand war die unversehrteste im ganzen Viertel, deswegen hingen schon viele andere Botschaften dort. Es war als wisperten sie miteinander, lauter papierne Vögel, die gleich losfliegen würden. Felix schrieb auf seinen Zettel Was macht der schwarze Kerl ? Als Flaschenpost, auf gut Glück. Das acht Jahre alte Codewort, das nur sechs Menschen auf Erden verstanden.
Die Flaschenpost kam an ein Ziel, einer schrieb eine Antwort auf Felix‘ Zettel, und sie trafen sich. Wo die anderen seines Alters noch unter ihrer abgetragenen Wehrmachtsuniformen litten, weil ihnen sonst nichts gegen Kälte und Regen verblieben, kam Gotschi Ott zufrieden in seiner Uniform daher. Die eines Kameradschaftsführers der Hitlerjugend war sie nun doch nicht, auch nicht frisch vom Schneider, aber sie war blau. Sie berechtigte ihn, auf einer ausgedienten Gruben-lok zu sitzen, die Rauchsäule hinter ihm hochgereckt wie ein Eich-hörnchenschweif, auf Dämmen aus Schutt in offenen Loren, die noch in Tarnfarben angestrichen waren und auf alten Eisenbahnschienen daher ratterten.
Immer gradlinig auf Turnus wie schon sein Vater, fahrtechnisch wie weltanschaulich auf sicherem Schienenbett, das einem die Richtung vorgab und jede Entscheidung abnahm. Und wenn sie sich da hinter ihm auch drängten und sich gegenseitig von den ratternden Loren schmissen, den Fahrer griff keiner an.
Den Schaffner schon, der flog bei mancher Keilerei aus den Wagen.
Felix durfte neben Gotschi sitzen. Der schwarze Kerl passt auf sie auf war eine aufwärmende Floskel, pfiff eine Kindheit zurück, die Jahrhun-derte zurücklag, Politik war keine dabei, aber der verwegene Nach-Genuss am gemeinsamen Schwanzreiben und komischer Kummer über nicht getrunkenes Bier.
Was macht der schwarze Kerl war das Wiedererkennungswort, und es war gut, ein Wiedererkennungswort zu haben, denn ohne sie und die Antwort Der passt auf sie auf hätten sie sich nicht wiedererkannt. Das brachte sie sogar zum Lachen, und sie erzählten sich die Abenteuer ihres Überlebens.
Mehr wollte Gotschi nicht wissen. Als ob er gar nicht damit rechnete, dass die Liebesgespielin von der Schotterinsel den Krieg ebenso über-standen haben könnte wie er. Eben dass Gotschi die Schöne überging als ob ihr Überleben nicht zustünde, holte sie für Felix aus dem Schlund des Krieges zurück. Was wäre da jetzt bei einem Tauschgeschäft jetzt mit den Amerikanern herauszuholen, und Gotschi sprach von nichts anderem als von Tauschgeschäften. Briketts, Glühbirnen, Türblätter, und Zigaretten, vor allem Zigaretten. Wer lucky strike und Chesterfield in der Brusttasche trug, dem gehörte die Zukunft. Auch wenn es keine Zukunft mehr gab.
Hinten rauften sie sich. Abgezehrte in Wehrmachtskluft beschimpf-ten andere Abgezehrte in Wehrmachtskluft als Judensäue und SSler, in ein und dem selben Satz.
„Dich haben sie vergessen zu vergasen !“
Felix sprang von der Lore herunter. Er musste nach dem Bild fahn-den. Er musste die Spur seines Vaters aufnehmen. Die Gleise der Reichsbahn waren vollgestellt mit ausgebrannten Züge, fast gar nichts rollte, wo noch eben bemalte Stoffbahnen versprochen hatten Räder müssen rollen für den Sieg. Die Fahrgäste in der Eisenbahn hatten keine Hände frei zum Raufen, weil sie sich außen an die Züge klammern mussten. In den Straßengräben lagen Kübelwagen, deren Mannschaften das Weite gesucht hatte. Mit einem Fahrrad das vielleicht einen Herrn hatte, nun aber Felix dienen musste, organisieren nannte man das und pflegte bitter zu grinsen dabei, gelangte er hinaus aufs Land. Vaters Frisöse oblag nun der Land-wirtschaft, und der Vater musste mittun. Es fehlte ein Mann auf dem Hof, da kam der Vater gerade recht, auch wenn er untaugliche Büro-hände hatte. Der Bauer und Bruder war in den letzten Tagen des Krie-ges noch gefallen. Eine Respektsperson im Dorf, deswegen war er zum Kreisbauernführer bestimmt worden. Aber er hat keine Politik gekannt, sein Augenmerk lag auf dem verantwortungsbewussten Wirtschaften, er hat auf seine Kühe gehört und seine Wintergerste, nicht auf den Hitler, darum war sein Hof ein Schmuckstück. Zuerst trafs die Stadt, das mit den Terrorangriffen, hochgesteckte Haare haben die Frisösen anfangs noch witzelnd Entwarnungsfrisur genannt, irgendwas Sonniges braucht der Mensch auch im Luftschutzkeller. Aber dann gabs immer weniger eine Entwarnung, im Keller nicht und jetzt gibt’s erst recht keine Ent-warnung, die Sieger rechnen ab, der Frisörsalon ist hin, das groß-deutsche Reich ist hin und der Hof, das Schmuckstück, voller Ausge-bombter. Sogar droben im Heu liegen noch zwei Familien mit sechs Kindern alles in allem.
„Was der Jud uns alles angetan hat !“
Felix wurde nicht ins Haus gebeten. Den Vater sah er nur von weitem, wie ehedem. Diesmal aber nicht weiter als hinter den Hühnersteigen, auch dort in der fürsorglichen Obhut seiner Frisöse. Die Felix nun fragte, ob der Herr Sohnemann vielleicht sowas wie eine Zuzugs-bescheinigung vorweisen kann. Statt einer Antwort gab Felix im Brüllton zurück, die Frau Bäurin sei ihren Manieren als Mädelschafts-führerin treu geblieben. So laut, dass der Vater es hören konnte, zwischen den Hühnern.
Dieser Hohn und Spott vom Sohn eines Mannes, den sie gutwillig aufgenommen hat, brüllte nun auch die Frisöse, ihre Mädelschafts-uniform verbrannt, schon das eine harte Buße, mitsamt dem Frisörladen und den Lockenwicklern. Nur die Berchtesgadener Wolljanker des Bundes Deutscher Mädel haben dem Ausradieren getrotzt, als Dankeschön des Schicksals dass sie mit ihren Mädels noch und noch Pulswärmer gestrickt hat für die Ostfront. Für die Eingeschlossenen in Stalingrad ! Ob sich der Herr Sohnemann vielleicht auch in Stalingrad hat einschließen lassen, im Kessel, wo die Besten krepiert sind ?
Wär ja auch ewig schad um die Wolle gewesen, in seinem Fall. Ob der Herr Sohnemann ihr jetzt, zum Dank dass er noch am Leben sein darf, einen braunen Stern annähen will vielleicht. Ihr die sich frettet und schindet, damit solche Nichtsnutze wie der Herr Sohnemann in der Stadt eine Verpflegung in den Wanst kriegen. Und jetzt gar noch das Dorf überfluten und ihnen das Letzte wegfressen.
„Immer nur nimm und nimm, aber nie net gib. So wie letzthin sogar die SS. Führt die auf einmal KZ-Häftlinge durch unser Dorf spazieren. Den ganzen Krieg ist das Gschwerl geatzt worden auf Kosten von uns Landbevölkerung und jetzt sollen mir vom Reichsnährstand die auch noch – „
Felix hörte sich den Sermon der Frisöse nicht bis zum Ende an, wenn sie denn je ein Ende fand. Er hatte sich die ganze Zeit schon gewundert dass das Gebirge, das auf den Hof herab schaute nicht mit Tarnfarben angestrichen war und aus den Felswänden keine Geschützrohre heraus-fuhren.
Der Vater eilte ihm hinterher.
„Ihr Bruder ist nicht gefallen. Er hat sich erschossen am Tag bevor die Amerikaner eingerückt sind.“
Und stellte den Aluminiumkoffer vor ihn hin. Als er sich bereits um-gewandt hatte, holte er ein Hühnerei aus der Hosentasche und reichte es seinem Sohn, als Dreingabe zum Koffer. Oder war der Koffer die Dreingabe zum Ei ?
Danach hat Felix seinen Vater nie mehr gesehen.
Felix machte sich auf den Rückweg, auch wenn er nicht wusste wo-hin zurück er denn sollte. Den Koffer zurrte er auf dem Gepäckträger, der ihm nicht gehörte so fest, als enthalte dieses Aluminiumgehäuse sein ganzes Leben. Der Sommer war verwöhnerisch warm, aber nie-mand wollte sich verwöhnen lassen. Der Sommer war über seine Landsleute gefallen wie eine zweite Besatzungsmacht Man ergab sich dem Sommer wie einer siegreichen Armee, ohne Behagen.
Mit dem Koffer kam Felix nun langsamer voran. Zur Nacht blieb er, auch wenn der Himmel noch so tiefblau war, in einem schwarzen Logis, einem der halb ausgebrannten Eisenbahnwaggons, abgestellt auf freuer Strecke, und auch da logierte er nicht allein. Erst als alle schliefen, öffnete er den Koffer.
Und wunderte sich, was er in fernen Zeiten einmal für mitneh-menswert, aufbewahrenswert, lebensnotwendig erachtet hatte. Er hockte in einem Eisenbahnzug zwischen Versprengten, die noch weniger gerettet hatten als er und bestaunte das Haarnetz seines Vaters. Ein paar Pullover, von der Mutter gestrickt, aus denen er längst drausgewachsen war. Eine Tornisterausgabe von Gedichten eines gewissen Weinheber, wer war bloß Weinheber ? Allerhand Weißblechbüchsen, um darin Butterbrote zu verstauen, aber kein Krümel, den er mit dem Finger hätte aufstippen können.
Kein einziges Foto. Von seinen Eltern, seiner Schwester, von ihm selbst. Ein Band Karl May. Der Schatz im Silbersee. Ein Unterseeboot aus Blech. Ein Weihnachtsgeschenk, als Felix zehn war. Seine Jung-fernfahrt hatte es in der Badewanne absolviert und war dabei gesunken. Ein Salzstreuer. Warum ein Salzstreuer ? Ein Tunichtgut, ein Volks-schädling fast. Denn er hatte auf den Karl May durchgenässt.
Eine rätselvolle Flaschenpost das alles. Eine absurde Versammlung von lauter Gegenständen, die nichts miteinander zu tun haben wollten. Gemeinsam war ihnen nur, dass Felix sie vormals gezwungen hatte in dem Koffer zu hausen. Um dem Ehrengast Gesellschaft zu leisten, als dessen provisorisch hingehunzte Bettstatt, und dem Ehrengast den Aufenthalt erträglich zu machen, nach Kräften sogar bequem.
Durch sanfte Wollwärme, die Erinnerung an Haarpflege, die Erinne-rung an ein Picknick. Um den Ehrengast zu schützen, abzupuffern und auszusteifen und zur Unterhaltung Karl May und diesen Dichterling namens Weinheber.
Und als Wachposten das Unterseeboot. Felix entfaltete das Bild und breitete es vor sich aus auf den Bohlen des verkohlten Waggons.

Meine Schöne ist verwundet. Verschorftes Blut sickert aus ihren Haaren, ihr Leib ist aufgerissen. Aber noch steht sie aufrecht, sie ist am Leben. Sie muss am Leben sein, ich erhoffe es für mich selbst, denn ich habe sie erwartet. Mich hat niemand erwartet. Wie auch auf meine Schöne niemand gewartet hat außer mir.
Jetzt sind wir immerhin zu zweit.


Der schweißtriefende Abend ging in eine Nacht voller Regenschauer über. Beide waren eingenässt. Für das das Bild, nun sein Gefährte, sorg-te er zuerst und tupfte ihm das Wasser mit den Pullovern ab. Als der Morgen kam, hielt er die Rückseite des Bildes der Sonne hin wie ein Tischtuch, über das Milch gekippt worden war. Auf das Fahrrad musste er verzichten, ein anderer, der auch nicht der Besitzer hatte es bis auf weiteres entlehnt.
Felix wusste nicht dass er einen Onkel Kruthein hatte. Dieser Onkel Kruthein wusste es selbst nicht, hielt sich mit einigen guten Gründen für einen Einspänner und wurde nun gezwungen, sich dieses Neffen Felix anzunehmen. Beileibe nicht freiwillig und nicht auf den ersten Schubser der Behörden hin, sondern erst nach dem siebten oder achten Tritt.
Der Onkel Kruthein hörte, wenn auch grollend, auf Beamtenerlasse, denn er war selbst Beamter, aber eigentlich und recht besehen kein Onkel. Sondern nur mit Felix‘ Mutter auf eine verästelte Weise ver-sippt. Und weil die Mutter tot war, hatte das für die Behörden diese Familie etwas übersichtlicher gemacht und Felix wurde bei Kruthein einquartiert und Kruthein war nun sein Onkel.
„Wie traut sich der Bengel zu heißen, Felix ? Der Glückliche ! Was nimmt der sich heraus in solchen Zeiten.“
An seinen Wänden gab es keine Bilder.
Zudem war er taub. Nicht so taub allerdings, wie er sich bei seinen Antrag-stellern gab, aber doch taub genug, um aus ihren Wehklagen und Beschwerden just eben das Pensum heraus zu filtern, das zu bewältigen war ohne dass er abends Aktenordner mit nach Hause schleppen musste.
„Felix ! Es gehört eine Steuer eingeführt auf provozierende Namen.“
Aber es war auch ein Segen, wenn einer Beamter war. Ein Beamter hatte Anspruch auf Sonderzuwendungen, von denen die vor seinem Schalter nicht einmal wussten. Der Beamte war eine feste Burg in Zei-ten in denen nichts Festes mehr auszumachen war außer eben ihm selbst, Onkel Kruthein.
Der Onkel Kruthein ließ sich die bewegliche Habe vorlegen, die Felix mitbrachte, einschleuste in die anderthalb-Zimmer-Wohnung des Onkels, wie Asservaten beim Antritt zum Strafvollzug. Auf den Tisch legen. Übersichtlich, nebeneinander, und schön in einer Reihe.
Soso, Pullover. Was sollen die denn alle jetzt mitten im Sommer. So-was von fahrlässiger Vorausplanung. Und wo sind Hemden ? Unter-hemden ? Unterhosen ? Soso, keine Unterhosen. Warum keine Unter-hosen ? Und was soll da vorstellen ? Ein Haarnetz, Herr Onkel. Soso, fängt man mit sowas Haare ? Sind Haare neuerdings sowas wie Heringe, oder Weißfischchen ? Sprotten ?
„Der Vater hat es sich zur Nacht über die Frisur gezogen, Herr Onkel.“
„Und zu was soll das gut sein ?“
„ Damit sie nicht zerknauscht, Herr Onkel.“
Der Onkel grunzte. Er war kahlköpfig.
„Zerknautscht zerknauscht zerknautscht ! Ein Gigolo verwöhnt mit solchen Corsagen seine Lockenpracht, oder ein Stehgeiger ! So einer der hinter den Weibern her ist.“
Oder die Weiber hinter ihm, Herr Onkel.
Aber das sagte Felix nicht. Der Onkel verlangte nicht, dass Felix das Haarnetz fortwarf. Er durfte es behalten, so sinnlos es ihm auch schien. Am Ende sogar war. Dem Onkel ging es um Grenzkontrolle, Waren-transferinspektion, Bleiberechtigungsfeststellung.
Man wiederhole : Blei-be-rechti-gungs-fest-stell-ung.
In dieser Ära der Unübersichtlichkeiten durften die Wächter sich ihre Wächterpflicht nicht entwinden lassen.
Nächster Antragsteller : die Aluminiumbüchsen. Leere Aluminium-büchsen, soso. Und leer werden sie auch bleiben ! Felix, der fremde Spund, sollte sich bloß nicht einbilden dass er sich mit Onkel Krutheins Beamten-Rationen den Wanst stopfen kann. Schon wieder den Wanst, wie bei der Frisöse.
Und das hier ? Sieh einer an, ein Salzstreuer.
„Ein unnützer Gegentand, Herr Onkel. Ich weiß gar nicht warum ich ihn überhaupt eingepackt hab, vielleicht war grade Fliegeralarm, und in der Hast….“
Still doch, junger Stiesel. Ein überaus nutzbringender Gegenstand das, so ein Salzstreuer ! Jawohl, nutzbringend, endlich. Weil, ein Salz-streuer erbringt Leistung. Ein Salzstreuer versieht Dienst. Ein Salz-streuer ist ein volkwirtschaftlicher und ordnungspolitischer Faktor. Schon fast wie ein Beamter.
Felix war zugleich eifersüchtig und beglückt. Eifersüchtig, weil ihm ein Besitztum weggenommen wurde und beglückt für den Salzstreuer, weil wenigstens der aufgenommen, anerkannt und eingebürgert war.
Onkel Kruthein, an seinem Schlagbaum : der Karl May ist von Salz angenässt. Verabsäumte Aufsichtspflicht deinerseits, junger Dösel ! Der Schatz im Silbersee. Von Karl May. Soso. Der Neffe soll sich bloß nicht einbilden er könnte in der Wohnung herumindianern und Prärie spielen und Lasso werfen ! Dem Neffen steht allein das Kabuff da neben der Küche zu, Einschränkung mehr als genug für den Onkel. Die anderen Räume : alle wohnraumzwangsbewirtschaftet. Onkel Kruthein führte das Gesetz auf.
Und die da drin eingewiesen sind ? Klauen samt und sonders wie die Raben.
Nächster Eindringling ? Soso. Ausgewählte Gedichte.
„Von einem gewissen Josef Weinheber …“
Der Onkel kannte den Namen. Der Beamtenmürrling kannte einen Dichter. Und der Beamte las. Er las länger als er einen Antrag gelesen hätte oder einen Fragebogen.
„Zeit, wo die Kühle sich senkt !/ Stund, wo der heimlich Verstör-te/bitter den Abschied bedenkt.“
Und knurrte. Aber er knurrte anders als er bei einem Antrag geknurrt hätte oder einem Fragebogen. Dann legte er das Bändchen beiseite. Aber nicht zu dem Häufchen des Felix, sondern so dass es für ihn, Onkel Kruthein, greifbar war.
Die Kritzeleien das Vaters würdigte er nicht einmal eines Knurrens. Der Onkel, schloss Felix daraus, hatte keine Augen. Felix brauchte seine als Flaschenpost eingeschmuggelte Freundin nicht seiner Kont-rolle auszuliefern.
Soso, ein Unterseeboot ! So was von kindisch. Kinderspuk. Pimpfen-frevel. Damit habt ihr jungen Stiesel die Weltmeere bedroht, gegen alles Seerecht ! Und zuletzt noch die Widerstandsnester der HJ, hinter ihren Maschinengewehren, den sinnlosen Krieg wollten sie sich partout nicht wegnehmen lassen. Ihren Krieg !
„Wenns euch nicht gegeben hätte, Werwölfe und das ganze Schla-massel, was wär uns erspart geblieben !“
Schämt euch und büßt, junge Kloben, dass ihr jung seid.
Das Unterseeboot durfte Felix trotzdem behalten. Wie das Haarnetz, die Pullover, die Butterbrotdosen und den Karl May. Felix beschloss fortan alle Gegenstände aus seinem Koffer zu lieben. Er wollte über-haupt alle Gegenstände lieben, respektieren, in Ehren halten, als wären sie Personen. Stellvertreter von Menschen, die nicht um ihn waren. Stellvertreter ihres Duftes, ihrer Gesichtszüge, ihres Streichelns. Ihrer Bescheidenheit, ihrer Eitelkeit, ihres Mundgeruchs, ihrer Langwei-ligkeit. Und keiner sollte ihm mehr abhanden kommen, wie ihm die Menschen um ihn abhanden gekommen waren.
Das Bild verbarg er unter seiner Lagerstatt. Die bestand lediglich aus einem alten Bettvorleger als Matratze, einem abgedankten Vorhang als Zudeck und den Pullovern, die immer schon zum Anziehen zu klein gewesen waren. Aber wenn er auch noch die Gerichtsakten mit den Kritzeleien des Vaters über die Schöne Gärtnerin über sie breitete, war sie hinreichend geschützt.

1946
Als Alfons Pframminger aus dem Krieg nach Hause kam hatte er gelernt wie man mit solchen umgeht die einem an den Karren fahren wollen. Solchen wie die auf dem Balkan oder sein älterer Bruder Alois, der ihn immer verprügelt hatte allein von dem Rechtstitel her dass der Bruder Alois anderthalb Köpfe größer war.
Jetzt erlaubte der Alfons niemand mehr anderthalb Köpfe größer zu sein. Auf dem Balkan waren alle kleinwüchsiger als er, verkauften ihm Apfelsinen zum Nach-Hause-Schicken, Frischware für eine Vitamin-händlerfamilie, aber hinterrücks schossen sie dann auf einen. Die Apfel-sinen kamen verfault an, aber die Pframmingers lernten dadurch was Südfrüchte waren und der Mittelmeerraum die natürliche Vorratskam-mer für sie. Und die Balkanesen lernten, wie ein Gutmütiger den man reizt herausgeben kann mit Handgranaten, schwerem Maschinen-gewehr, Mörser und Flammenwerfer. Die da unten schossen ohnehin seit eh und je um sich, auf die Türken, auf die Engländer, auf ihres-gleichen. Und das aus freien Stücken, während die Deutschen es nur auf Befehl tun. Alfons Pframminger hatte Kreta mit erobert und damit im Grunde den Erbfeind England, denn Hermann Göring hatte gesagt, wenn wir Kreta erobern gibt es keine Inseln mehr, denn Großbritannien ist praktisch betrachtet auch bloß eine Insel. Über Kreta hatte Alfons aus einem Flugzeug springen müssen mit einem Fallschirm, was eine Herausforderung ist für einen Gebirgsjäger der von Hause aus Gemüsehändler war, aber er hat sie gemeistert. Max Schmeling dagegen, der Weltmeister im Schwergewichtsboxen, hat sie nicht gemeistert, und das Flugzeug musste umkehren wegen ihm weil ihm schwindlig war.
Wenn Alfons Pframminger gelernt hatte wie man mit Untermenschen Fraktur redet, würde das auch dem Amerikaner nützen gegen den Iwan. Der Pframminger würde mit dabei sein, vom braunen Kameradschafts-führer zum olivgrünen GI war nur ein kleiner Schritt wenn Pflichter-füllung und Endkampf angesagt war.
Das Amerikahaus sah aus als ob einem die Fassade mit der Faust drohen wolle. Mit vielen Fäusten, und in jeder eine Steinquader zum Totprügeln. Nicht einmal die amerikanischen Sprengbomben hatten gewagt dieser Fassade etwas anzutun, und das Sternenbanner hing nun schüchtern davor als ob es die bedrohlichen Steine besänftigen wollte dass die Amerikaner hier eingezogen waren. Alfons Pframminger wäre zur Hitlerzeit, anno Adolf, nie durch das große Portal gegangen, so ein Palast war viel zu großkotzig für einen der immerzu Gartenerde unter den Nägeln hatte und nach Kompost miefte. Aber jetzt war es was anderes, und die amerikanische Flagge das Wahrzeichen der künftigen Waf-fenbrüderschaft gegen den Iwan. So betrat er den Führerbau von anno Adolf, der nun Amerikahaus hieß, zur selben Zeit wie ein anderer Kamerad, dem er gleich begegnen sollte.
Wer hier eingeht wird gefressen, zermalmt und hinuntergeschlungen. Wenn nicht das Sternenbanner vor der finstergrauen Einschüchterungs-fassade geweht hätte mit seinem putzmunteren Dreiklang aus blau, weiß und rot. Als Felix sich durchs Portal getraute, wurde er nicht gefressen, zermalmt und hinuntergeschlungen. Er wurde von Düften empfangen, wie er sie noch nie gerochen hatte. Von Marmorplatten die sich ausnah-men wie angefaulter Schinken, in einem Schlachthaus der Riesen ausgewalzt zur Größe von Tennisplätzen, stiegen Aromen aus frischem amerikanischem Bohnerwachs auf wie aus Blumenfeldern. Die Innen-räume in denen Felix bislang gelebt hatte, muffelten nach vermotteten Kleidern, ungewaschenen Bewohnern, Verdrießlichkeit und der Erb-sensuppe vom vorvergangenen Jahr.
Hier aber duftete es nach den Bienen von Tennessee, deren Honig zu Wachs destilliert war, den Moschus-Malven der Appalachen, dem blühendem Weizen von Minnesota, dem Lärchenharz von Montana, dem Ahorn-Sirup von Maine, den Tabakblüten von Virginia und dem Sandelholz aus Florida. Als Felix sich weiter ins Innere traute, duftete es nach noch anderen Blüten, frisch gedruckten Büchern. Thomas Wolfe las Felix auf ihren Rücken, John Steinbeck, William Faulkner, Walt Whitman, William Saroyan, Ernest Hemingway, James Thurber. Wenn Felix sie aufschlug, und sie ließen sich öffnen auf eine Weise die erkennen ließ dass sie das Geöffnetwerden genossen, mit einem freundlichen Schmauchen und Rauschen, sie lagen wohlig in der Hand, kein fettig-grünes Schrankpapier umpanzerte sie wie Felix es von seinen Schul-Lesebüchern her kannte.
Und heraus sprangen die Aromen der Wissbegier, die Bienen-schwärme des Wissensdrangs und der Wollust des Lesens.
Felix belud sich mit Büchern, und als er sich vollgeladen hatte, traf er auf Alfons Pframminger. Auch der war vollgeladen, mit Gemüse-kisten wie eh und je. Daran hätte man ihn schon fast erkannt. Aber nicht daran, dass nun auch Alfons duftete, während Felix noch stank wie sie als Jungen alle gestunken hatten, nach Achselschweiß, Puber-tät und Verdruckstheit. Das alles war bei Alfons ausgelöscht vom Par-füm amerikanischer Rasierwässerchen, amerikanischer Seifen und amerikanischen Kaugummis, der seinen Gaumen zu einer Verdamp-fungshöhle von Himbeer- und Pfefferminz-Essenzen veredelt hatte. Alles aus den PX-stores, wo die Siegreichen einkauften. PX-stores waren Läden allein der Army vorbehalten, aber für Alfons fiel man-ches mit ab, denn er lieferte frisches Gemüse. Die Amis wussten Grün-futter endlich zu schätzen, ganz anders als der Schnitzelfresser Göring, vitaminbewusst wie sie waren als Sportlernation, und Karotten wie To-maten gediehen besonders üppig auf den Ruinengrundstücken.
„Nährstoffreicher Boden“ grinste Alfons „weil, die Toten liegen da alle noch drunter.“
Weil der Warenverkehr so quick am Rollen war, beiderseits, konnte Alfons auch gleich seine HJ-Kluft losschlagen zum Liebhaberpreis, dazu alles was der Vater an braunem Tuch im Schrank hatte, auch den BDM-Fummel der Schwestern, aber der ganze große Reibach war mit schwarzer Ausrüstung rauszuholen, weil de Amis stehn auf Totenkopf wia narrisch. Wohl dem, der in der SS gewesen war, seine Ehrendolche und Rangabzeichen nur vergraben und nicht weggeschmissen hatte. Auch legten die Amerikaner, wie es bei den Pframmingers immer schon üblich war, ihre Füße auf den Tisch, ohne Rücksicht aufs damastene Tischtuch.
„War eh so eine hochg‘stochne Schnapsidee von meinem Bruder, das mit dem Damast von de Juden.“
Freilich, die Amerikaner legten die Füße viel entspannter hoch, lo-ckerer, legerer halt, und sangen dabei ihr O babariba hej babariba so wie die Cowboys im Saloon, sparten sich dabei den Damast, hatten aber scharfe Bügelfalten. Überhaupt eine Hygiene aus dem ff. Und scheiß-gutmütig, beim Wacheschieben hatten sie bloß Helme aus Pappe auf.
„Solangs der Russ nicht erfährt…“
O babariba hej babariba !
Dem Alfons waren drei Finger abgeschossen worden auf dem Bal-kan, und dennoch kämpfte er weiter.
„Struggle of life, verstehst.“
Den Ausdruck hörte er jeden Tag im PX. Wer keinen Colt zieht und sein Leben nicht verkauft zum Patronen-Tarif, der ist schon ein Luhser und Verlierertyp. Wenn der Rudi Ruttmeier gefallen ist, dann weil er immer schon Verlierertyp war und auch noch auf der falschen Seite. Er, der Alfons Pframminger war auf der richtigen Seite. Schulter an Schulter mit dem Amerikaner würde er die Ukraine einnehmen im Ruckzuck. Vollmotorisiert diesmal. Die massig Landwirtschaftsflächen die wo der Iwan gar nicht fachgemäß zum nutzen versteht. Wohl aber die Pframmingersippe, die schon mit Gartenerde unter den Fin-gernägeln auf die Welt gekommen ist.
Wie ein Schatten stand der Russe hinter den Pframmingers, wie der Feind-hört-mit-Riese, wie der schwarze Kerl hinter der Schönen. Trotz-dem sprach Felix das Codewort vom schwarzen Kerl nicht aus, nicht vor dem Alfons. Und der kam auch nicht zurück auf ihr Vorleben, es war zugekleistert mit Erdnussbutter und ertränkt in Coca Cola.

Wenn Felix jetzt mit dem Gotschi fahren durfte, dann wieder in einem Straßenbahnwagen mit elektrischer Oberleitung, aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg zwar, aber so blau gestrichen wie Gottschis blaue Uniform. Die Bombentrümmer hatte man dem Gotschi von den Schie-nen geräumt. Die Schienen glänzten dankbar und unternehmungslustig, sie beherrschten die freigeschaufelten Straßen, es waren überhaupt nur noch Straßen da und keine Häuser mehr. Der gigantische Kraftakt der Hitlerherrschaft war zerknallt und hatte eine Leere hinterlassen, die dem Gotschi zum wohlgeordnetes Vakuum wurde mit akkurat gezogenen Trassen und gefegten Geraden. Mochten für die Automobilisten der Treibstoff unerreichbar sein, Gotschi hatte 600 Volt Gleichstrom unterm Hintern. Gotschi, der es zum Scharführer hatte bringen wollen um der Dreierherrschaft seiner Schwestern zu entrinnen, war nun Kapitän des einzigen Verkehrsmittels der Stadt, Ritter hoch zu Elektro-Ross, und seine Schwestern, die Verkäuferinnen, standen als Ange-schmierte da, weil es nichts zu verkaufen gab.
Wenn er seinen Turnus fuhr, gehörte ihm die Stadt. Diese Steigung da gehörte abgetragen und jene Kurve entfernt, Kurven kosten bloß Strom und Schmieröl, die Schienen gehörten stracks durch das Brachland gelegt, auf dem da die lästige Ruine des Wohnblocks immer noch unnütz herumlungerte.
„Es gibt eh keine Einwohner mehr, bloß noch Fahrgäste.“

„Was macht der schwarze Kerl ?“ grinste Alfons.
Und die richtige Antwort, das Codewort der Verschworenen ?
„Der passt auf“.
„Bingo !“
Alfons Pframmingers Erinnerungsvermögen war also doch nicht in Erdnussbutter versunken und mit den Chesterfield in Rauch aufge-gangen. Doch, war sie. Aber Colonel Claudius D.Tennenbaum hatte sie wieder auferweckt.
„Der Colonel kennt sich aus in der Kunst. Weil, der stammt aus Fürth. Rein herkunftsmäßig jetzt amal g‘sehn.“
Der Colonel hing an den Rettichen seiner Jugend, die er während seiner Ausbildung in der Army hatte vermissen müssen. Alfons verschaffte sie ihm. Der Colonel war damit nicht unbedingt in Pfammingers Schuld, aber Alfons beherrschte nun ein paar Lamellen auf des Colonels Zunge und arbeitete sich von da aus vor. Der Colonel sprach noch immer die Landessprache, wenn auch in fränkischer Mundart, nun mit heimischem Gemüsesaft frisch aufgeraut, und er sammelte Kunst ein. Er sammelte sie nicht, er sammelte sie ein. Er stapelte sie im collecting point of the US forces wie der Alfons Gemüsekisten stapelte, nur dass es bei Colonel Tennenbaum eben Gemälde und Plastiken waren, alte und neue, barocke, gotische und solche, die vor kurzem noch im Haus der Deutschen Kunst ausgestellt wurden, das nun Offiziersmesse der Army war.
„Schaun mir doch amal, ob unser Bild auch dabei ist unter dem Haufen Kunst.“
Unser Bild. Felix musste ein paar Gemüsekisten schultern, damit es obenhin nach Dienst und Geschäft aussah, und durfte mitkommen.
O babariba hej babariba.
Die Gemälde, die Felix und Alfons aus dem Katalog kannten, die Alwin Krettel damals auf der Isarinsel dabei gehabt hatte, schwarzweiß, standen nun leibhaftig und in Ölfarbe an den Wänden. Felix erinnerten sie sofort an die anderen Bilder an ihrem Abenteuertag, die genauso an den Wände gestanden hatten. Wie Soldaten, die sich ergeben haben und mit erhobenen Armen darauf warten, dass sie abtransportiert werden. Diese hier aber mussten sich nicht schämen mit dem Gesicht zur Wand, sie durften ihre Ge-sichter zeigen. GIs standen davor, so leger wie Alfons es versprochen hatte, rauchten und machten sich lustig.
O babariba hej babariba !
Namentlich von den kriegerischen Gemälden waren sie angetan. In der Eifel und beim Übergang über den Rhein hatten die GIs die Krieger die hier dargestellt waren ganz anders erlebt, als unter Feuer genom-mene Zitteriche, hungernd in Erdlöcher gekauert, mit ihrer letzten Munition mussten sie knauserig umgehen, um dann, von Panzern ins Visier genommen, heraus zu kriechen wie Kinder die beim Kirschen-klauen erwischt worden sind.
Die auf den Bildern aber waren noch Helden mit noch richtigen Waffen, mit Stiel-Handgranaten, Sturzkampfbombern in der Höhe und Panzern hinter sich. Gegen solche Hectors und Achilleuse lohnte es sich gesiegt zu haben.
O babariba hej babariba !
Vor denen ließ man sich gerne fotografieren. Pathos meets Kau-gummi. Seht euch das an, in Preston / Minnesota, Gainesville / Georgia und Cloud Peak / Wyoming ! Gegen eine solche Übermacht hat euer Jimmy gewonnen ! Und er hat auch noch tapfer fotografiert dabei, ju-belnde Mädchen hat er auf seinem Film, mit Blumensträußchen die sie in die Kamera halten, befreite KZ-Insassen die gerade einen Wach-mann strangulieren, Panzer aus denen der verkohlte Rumpf des Fahrers ragt, erhängte Deserteure an einem blühenden Baum, deutsche Dackel die zum erstenmal in ihrem Leben corned beef probieren, Opa und Enkel die gemeinsam eine weiße Fahne halten, und immer wieder das Schloß zu Heidelberg und davor die ganze Kompanie.
Alfons neidete ihnen diese glückhaften Motive, auf der einzigen Kamera seiner Kompanie war nur zu sehen gewesen wie sie in Saloniki einem alten Juden den Bart abschnitten, aber die Partisanen hatten die Kamera erbeutet samt dem Film, und ohne die Fotos stand der Alfons wie ein Aufschneider da.
An den Nackten auf den Gemälden fanden die GIs weit weniger Ge-fallen. Jeder hatte im Spind eine ganze Galerie von gleichaltrigen Gir-lies angepinnt, einen Harem auf Kunstdruckpapier, und eine jede Nackte ließ sich anmerken dass sie eigens für ihn fotografiert wurde, für ihren Billy Joe Mike, und das deutlich ausgeleuchtet in einem richtigen Foto-Studio. Wenn ihr Billy Joe Mike doch zur Stelle wäre, wenn er doch anträte zum Dienst, wenn er doch zu ihr ins Bild stiege ! Und sie sah nicht verschämt beiseite wie die blasshäutigen Nackten Hitlers und Görings, die den GIs vorkamen wie Matronen im Heilbad.
„Wann mir sowas g‘habt hätten im Spind“, grinste Alfons, „dann hätten mir glatt den Krieg gewonnen“
Bei den Nackten Hitlers und Görings waren sie ganz allein. Plötzlich fasste Alfons Felix am Arm :
„Schau amal die da…“
Die kannten sie doch. Die Badende von Karl Truppe, vor der sie sich damals fast ihre Jungenpotenz gegenseitig bewiesen hätten, hätte der Wind nicht schnippisch das Blatt gewendet, wortwörtlich. Alfons grinste noch immer, als wollte er Felix auffordern das damals Begon-nene jetzt und hier zu vollenden. Wo die Badende doch in Farbe und voller Größe vor ihnen stand. Aber was damals der Wind war, war jetzt ein Sergeant, der daher gestapft kam. Sorry, aber wer zu lange stehen bleibt, der muss im Auge behalten werden, knurrte der Sergeant, es ist sagenhaft viel geklaut worden hier, sogar von einfachen Grenadieren aus der 7ten und der 9ten. Auf die Krauts passen die guys auf, im Gefangenenlager. Aber hier bedienen sie sich ! Dabei ist das hier doch auch nur ein Gefangenenlager.
Als er das sagte, waren sie bereits mit ihm in einem anderen Depot, wo die Modernen lagerten, die Entarteten von anno Adolf, oder doch die Reste, die von den Entarteten übrig geblieben waren.
Aber die Schöne Gärtnerin war nicht dabei.
Wir haben Fotolisten, erzählte ihnen der Colonel, leutselig und frän-kisch. Wie beim Suchdienst vom Roten Kreuz. Auch Kunstwerke haben einen Lebenslauf, Geburtsdaten und besondere Kennzeichen, und ir-gend jemand sucht sie, wer weiß wo in der Welt, wie vermisste Menschen auch. Und ließ sein Foto-Album, einen dicken Akt, vor den beiden aufratschen wie ein Kartenspiel.
Diesmal war die Schöne Gärtnerin dabei. Missing since 1937 stand darunter. Verschollen seit 1937.
Der Kerl hinter ihr war für Felix auf einmal ein schwarzer GI, der nach dem Bild fahndete. Die ganze Armee fahndete auf einmal nach seiner Gefährtin. Eines Morgens wird die Army in des Onkels Woh-nung eindringen, und es wird diesmal kaum weniger ruppig zugehen als damals. Als sie auch schon nicht gekommen sind, Felix !
Aber diesmal werden sie kommen, Felix !
Sie reden mit niemand, sie stellen keine Fragen. Zwar werden sie Kaugummi verteilen an die gaffenden Nachbarskinder, aber abgeführt wird Felix schließlich dann doch. Und die Kinder klauben sich die Kau-gummis aus dem Mund, um ihm Spottverse hinterher zu krähen, und werden dafür von den Gis mit bunten Schokoladenperlen belohnt.
Alfons Pframminger ließ sich nicht anmerken ob er die Gespielin seiner Jugend wiedererkannt hatte. Aber er überraschte Felix mit seinem Aus-total-sicherer-Quelle-Wissen, dass für solche entarteten Schinken seinerzeit Millionen gezahlt worden sind.
„Rein als Richtwert, verstehst, für das was man heut dafür raus-schlagen kann.“
Der Alfons war immer schon der Geschäftssinnigste unter den sech-sen.
Woher er das nur hatte mit den Millionen, von seinem Colonel Tennenbaum ? Kunstpreise gegen Rettiche. Dabei, Alfons, waren das doch bloß aufgeschwemmte Inflationspreise ! Goebbels hat die Papier-millionen nur unter die Bilder schreiben lassen als wärens Goldmark gewesen, um die Volkswut anzuheizen. Der Goebbels war Propagan-daminister, Alfons, und nicht Buchhalter, und ein Wecken Brot hat in der Inflation ja auch so viel gekostet wie ein Ölgemälde wie ein Auto wie eine Villa, und für einen Dollar hat man 20 000 Papiermark gekriegt aber nicht einmal für eine Billion Papiermark einen Rem-brandt.
Alfons wusste nicht wer Rembrandt war aber er rechnete auf einem karierten Zettel.
“Angenommen jetz amal realistisch, das Bild ist zu seiner Zeit, sagen wir, so seine zweitausend harte Mark wert gewesen...“
Dann wäre es jetzt, geteilt durch sechs –
Alfons sprach keine Summe aus. Er zerknüllte das karierte Papier. Als Alfons fort war, wieder bei seinen und des Colonels Rettichen, strich Felix es glatt. Und hatte die Schöne wieder vor sich, die Fipsi gezeichnet hatte, und über ihr das Gitterwerk der Rechenheft-Karos, in dem sie sich ausnahm wie hinter Hühnerdraht

1947
In seinem Wohnwinkel holte Felix den mitgebrachten Krimkrams, den der Onkel so sehr abgewertet hatte hervor und baute ihn um sich her auf. Der Krimskrams war Überlebender des Krieges, wie er ein Überlebender des Krieges war, ein nur zufällig Verschonter und Da-vongekommener, nur zufällig nicht Verbrannter, nicht Erschlagener oder Verhungerter. Ebenso wie die mit ihm hierher verschlagenen Siebensachen Verschonte waren, ein Schwarm von zufällig mit ihm mitgespülten Nichtigkeiten, Bremer Stadtmusikanten unter den Dingen.
Und nun hatten sie sie sich um ihn versammelt als seine Familie. Zu nichts zu gebrauchen, unpraktisch, treudoof, aber vertraut. Sie hatten Wissen über ihn und er hatte Wissen über sie, wie die Schwester über den Bruder, wie die Mutter über die Kinder. Keine großmächtigen Kenntnisse, nur das beiläufige Familienwissen, wie oft der andere auf den Topf musste, wann er abgestillt wurde, wann er zahnte und bett-nässte und die Masern hatte.
Der zerfledderte Karl May wusste, dass Felix vor Jahr und Tag beim Lesen in ihm andere Abenteuer durchlebt hatte als das Sommerlager der Hitlerjugend sie ihm bot. Aber Felix wusste auch, dass das zerfledderte Buch bei den Gleichaltrigen vor vierzig Jahren Abenteuergelüste erweckt hatte die auf die Sommerlager der Hitlerjugend. Wer sich für die Sioux begeistert hatte, fand sie bei Baldur von Schirach.
Wir sind geboren um für Deutschland zu sterben.
Das Unterseeboot versprach eine Seeschlange zu sein, aber Felix wusste dass es wasserscheu und schwimmunfähig war, und nicht taugte, um ihn zu fernen Inseln zu tragen. Der Talg der sich im Haarnetz seines Vaters festgekrustet hatte, erzählte wie der sich mit Pomade aufge-hübscht hatte, um auf seiner Mutter liegen zu dürfen und Felix zu zeugen. Aber anders als der Vater hatte ihn das Haarnetz nicht verlassen und war ihm treu geblieben und teilte seine Unterkunft mit ihm. Wie die Pullover, der Salzstreuer und die leeren Aluminiumbüchsen, die in ihrem Bauch so gerne belegte Brote verwahrt hätten für ihr Mündel Felix.
Dadurch dass die sinnlosen Siebensachen mit ihm freiwillig ihr Leben verbrachten wurden sie zu Individuen, die sorgend auf ihn schauten wenn er sich auf seine Pritsche legte, zur Seite rollte und einschlief.
In seinem Wohnwinkel wagte Felix nun auch das Bild aus dem Ver-steck, und die Schöne war Königin in seinem Reich des zufälligen Krimskrams. Gedemütigt und viermal geknickt. Felix besorgte sich Latten, ein kostbares Gut, denn alles verfügbare Holz wurde in die Öfen verfüttert und in die Gaskessel der Autos.
Felix spannte das Bild der Schönen auf. Es stand nun in seiner vollen Größe in seiner Höhle. Vom Onkel unbemerkt, sonst hätte er von der Schönen Zuzugspapiere verlangt und den Bezugsschein für das Holz auf das Felix sie genagelt hatte. Onkel Kruthein ließ Felix regelmäßig zum Schachspielen antreten. Der Onkel schrieb sich alle Züge auf und legte seine Notizen vom letzten und vorletzten Mal neben sich. Schach ist die hohe Schule der Systematik, Felix. Wer das Schachbrett nicht meistert, meistert sein Leben nicht, Felix ! Schach dem Bauern ! Der Onkel kämpfte darum, dass auch Felix Beamter würde, Turm und nicht Bauer, der Umgang mit den Schachfiguren war der Aufnahmeritus in die Loge derer, die die Existenz der Menschheit ins Lot zu bringen haben. Schach dem Springer !
Aber Felix war bei seinen Büchern aus dem Amerikahaus, er war bei William Saroyan, und zog falsch. Der Onkel, sah es ihm für diesmal nach. Es gab viele Für-diesmals. Aber Felix war bei Hemingway, und zog wieder falsch. Der Onkel seufzte, entließ ihn, spielte die Partie allein weiter. Auch hier notierte er die falschen Züge. Als wären es die seines Neffen, der gar nicht sein Neffe war.
Die Kammer, die Felix zugeteilt wurde, war gar keine Kammer. Je-denfalls keine mit festen Wänden. Sie war ein Verschlag, und hinter den Brettern und Kartonstücken aus denen sie zusammengefügt war, begann das Wüstenreich der anderen Bewohner. Des zweimal Verschütteten, der im Schlaf schrie. Er musste seine Lagerstatt einige Verschläge weiter haben, er wurde jede Nacht aufs Neue verschüttet. Der drei, die sich um die Kochplatte stritten. Felix bekam sie nie zu Gesicht, aber ihre Keife-stimmen kannte er umso besser, und ihre immergleiche Wortwahl auf der Palette der Schmähungen. Aber auch andere Hördramen wurden ihm vorgetragen, wie er sie noch nicht kannte.
„Und es tagte“ las er währenddessen in seinem Thomas Wolfe, „Vögel erwachten; der Square lag gebadet im jungen Perlglanz des Morgens. Ein leichter Wind flatterte über den Platz…“
Jenseits der Bretterwand schritten zwei zur Tat. Unmittelbar hinter dem Kistenholz an Felix‘ linkem Arm, mit dem er das Buch hielt. Sie schubberten im Takt an dem rauen Holz.
„…die Engel auf Gants Terrasse standen erfroren in der harten Marmorstille, und in der Nachbarschaft erwachte das Leben mit har-tem Rädergerassel und dem gemächlichen Klapperklang eisen¬beschla-gener Hufe.“
Felix schreckte auf. Er wusste nicht wie man solche Gurgellaute hervorbringt, wie sie ihm in seine Lektüre sprangen.
„..Eugene hörte den langen, klagenden Pfiff eines Zuges unten am Fluss…“
Er wusste es auch nicht, als die Gurgellaute sich am nächsten Abend wiederholten. Da war er bei John Steinbeck. Und am übernächsten, als er Dos Passos las. Aber er sein Ohr schärfte sich dafür, ob sich hinter den Brettern ein Gefreiter betätigte oder ein Unteroffizier. An welcher Front er gewesen war und ob er, und sei‘s auch nur abschnittweise, siegreich vorgegangen oder geschlagen auf dem Rückzug. Und wie lan-ge seine Gefangenschaft gewährt hatte, das vor allem, denn seine Lust-fantasien und Sehnsuchtsexzesse wurden hinter Felix‘ Wand endlich in Szene gesetzt.
„Daaaaaaaaaaaas verlangst du von mir ?!?!“
Die Frauen waren willige Ausführerinnen.
„Du bist pervers, du bist ja sowas von pervers, perveeeeeeeeee….“
Die Frauen waren stets die beherzteren. Sie waren selber Mannsbilder gewesen und hatten sich in Männerwelten zurecht zu finden gehabt, als die Männer fort waren. Bei der Feuerwehr, in der Fabrik, im Schlacht-hof. Und in der Kunst, das Tier mit den zwei Rücken zu machen. Es mussten, schien es Felix, Tiere mit sehr vielen Rücken sein, die sich da hinter den Kistenbrettern austobten.
Die Schöne schaute dabei verschämt unter sich, und Felix meinte sich bei ihr entschuldigen zu müssen. Aber konnte er gutmachen, was hinter den Brettern geturnt wurde indem er ihr die Gedichte von Walt Whit-man vorlas oder die Aventuren des Großen Gatsby ? Konnte er gut-machen dass die Knabensäfte von sechs Hitlerjungen an ihr klebten, wenn auch vertrocknet, und eins geworden mit der Malfarbe ? Sah sie wegen dieser Schändung so vorwurfsvoll keusch vor sich nieder, und nicht wegen des Gerammels der Unteroffiziere ?
Er beschloss, die Schöne trotzdem nicht mehr in ein kleineres Format zurück zu rollen oder zurück zu falten, und sie nicht unwürdig unter seine Matratze zu schieben, nicht zu ihrer und nicht zu seiner Sicherheit. Sondern mit ihr in ihrer vollen Größe seine Kammer zu teilen. Die Unteroffiziere hatten ihre fleischlichen Gespielinnen, die ihre Lust mit den nackten Füßen gegen die Trennwand stampften und bekreischten, Felix hatte eine schweigsame Gespielin, die ihn seinen Büchern überließ.
Felix las für die Schöne mit.
Als er sich bis zu William Faulkners Absalom Absalom vorangelesen hatte und mit der Hand versonnen über die Wand strich, bemerkte er, dass die Bretter lose waren und eines ihm in den Händen blieb. Man hatte seine Kammer erbrochen, die Fleischeslüstigen hatten bei ihrem Liebesakt den stillen Mithörer wahrgenommen und das Eintrittsgeld bei abkassiert. Alles was er in die Kammer mitgebracht hatte, war ver-schwunden, das Haarnetz des Vaters – möge es dem unbekannten Liebhaber nützlich sein - , die zu engen Pullover, sogar Karl May und das Unterseeboot. Möge es fröhlich kreisen in fremden Badewannen, in denen unbekannte Liebespaare nach gemeinsamem Tun sich ent-spannen, und unter ihren aufgestellten Knien hindurch schnurren. Felix fühlte sich befreit von den verirrten Sachen und damit von einer eigenen versprengten Vergangenheit.
Denn seine Gegenwart hatten sie nicht mitgenommen. Die Schöne Gärtnerin.

Als Fipsi Lamprecht aus dem Krieg nach Hause kam, musste er nicht missfarbenes Wehrmachtszeug auftragen wie die anderen, sondern konnte sich helle, neue Garderobe. Fipsi Lamprecht war Schildermaler bei der Army. ONE WAY ging ihm leicht von der Hand, OFF LIMITS TO ALL CIVIL PERSONNAL oder MILITARY GOVERNMENT CARS ONLY.
Jedes Schild war eine Herausforderung, weiß, groß, weithin sichtbar, blechern. Große Buchstaben, signalhafte Farben. Neue Farben ! Die es hierzulande noch gar nicht gab in dem beknackten bekackten alten Europa. Okey, man durfte nicht rauchen beim Malen, sonst explodierten die Farbdämpfe, aber was war das bisschen Verpuffung schon gegen Brandbomben und Phosphor. OFF LIMITS war Kunst, die ins Leben hinein wirkte. Und alle gehorchten dieser Kunst.
Hinge jemand Dürers Betende Hände oder die Mona Lisa an die Straßenecke, die Spatzen würden drauf scheißen. Aber OFF LIMITS FOR GERMANS war die Fanfare des Jüngsten Gerichts. Die Schab-lone führte Fipsi die Hand, und der Pinsel nahm den vorbestimmten Weg. ONE WAY in die Demokratie.
Ohne Umleitungen.
Grelle Farben fielen über Fipsis Landsleute her, die ihnen nicht bekamen. Aber da das Military Government sie ihnen eben einfach in den Weg stellte, konnten sie nicht ausweichen und mussten ihre zugekniffenen Augen in diese harte Schule gehen lassen. Fipsi war ein ein Signalmast des Neuen, und er genoss es, dass er von weitem für einen Amerikaner gehalten wurde, einen Yankee boy in Ausgeh-Zivil mit seiner beigen Jacke und ihren gelben Kanten, dem Stiftenkopf, dem gemustertem Hemd, das so böse Blicke auf sich zog, und über das ein weißes Unterhemd frech heraus spitzte.
Fipsi und Felix sahen sich nur amerikanische Filme an. Deutsche Kinostüke gab es nicht mehr, Carl Raddatz und Kristina Söderbaum hatten abgewirtschaftet. Fipsi und Felix ließen sich adoptieren von Humphrey Bogart ; wortkarg knurrig kam er den feingesponnensten Gangsterverschwörungen auf die Spur, sein Hut blieb trotzdem stets lässig verrutscht, die Zigarette stets lässig im Mundwinkel, und erst Errol Flynn ! Errol war der große Bruder von Felix und Fipsi, er ver-senkte spanische Schiffe flottenweise und Felix wie Fipsi wussten, dass es eigentlich Hitlers U-Boote waren und trotzdem blieb sein Schnurr-bärtchen dabei stets trocken und keck nach oben gezwirbelt. Im Walde von Sherwood sprang er von den Bäumen herab auf die Schergen des Sheriffs von Nottingham, auf Wehrmacht und Waffen-SS, und Felix und Fipsi mussten sich nicht mehr gestehen, ob sie in der einen oder anderen gedient hatten.
Nun siegten sie mit Robin Hood, nicht mit Panzerfäusten und MG, sondern tänzerisch mit Pfeil und Bogen und erhielten den Ritterschlag von König Richard Löwenherz und den Kuss von Olivia de Havilland. Und sie futterten ihm zu Ehren Cornflakes, bis die Älteren auf den Nebensitzen es ihnen verboten, mit denselben biestrigen Visagen, mit denen sie vor kurzem noch in der Wochenschau die Bombardierung Warschaus und Kiews verfolgt hatten.
Die Frauen in den Filmen erinnerten Fipsi und Felix an die schöne Gärtnerin. Sie waren zwar nicht nackt, aber sie hatten viel weniger an als Marika Rökk und Winnie Markus. Und sie hatten nichts drunter. Unter ihren flattrigen Blusen kamen gleich die Brüste. Es war Frühling. Keine Farben in der Ruinenstadt. Also verabredeten sie sich für den nächsten Farbfilm. DIE BLAUE LAGUNE.
„Wirst sehen, Jean Simmons hat überhaupt gar nichts mehr drunter.“
„Woher willstn das wissen ?“
„Ich war gestern schon drin.“
Ihre Brustwarzen werden gleich scheuern an ihrem südseegemuster-ten Kleiderfähnchen. Nach der Wochenschau, sie hatte grämliche alte Männer gezeigt, die nun die Politik steuerten, ging das Licht noch ein-mal an. Fipsi Lamprecht holte ein Foto aus der Tasche, das er aus einer Zeitung ausgeschnitten hatte.
„Das Bild wars doch, damals auf der Schotterinsel ?“
Felix fuhr die Röte ins Gesicht. Und weil das Licht im Kinosaal an war, konnte Fipsi seine Röte sehen. Das grob gerasterte Zeitungsfoto zeigte die Schöne Gärtnerin in schwarzweiß, es war ihr Pass- und Fahn-dungsfoto vor zwanzig Jahren. Jetzt war sie zerknittert wie auch der Zeitungsschnipsel zerknittert war. Aber nicht gealtert, wie ein Pass-fotomensch altert und seinem Fahndungfoto immer unähnlicher wird. Die Schöne war jung, sie würde immer jung sein, und sie erwartete Felix zu Hause. Das nicht einmal ein Zuhause war, aber es war gewiss, dass sie dort auf ihn wartete wie eine Anvermählte.
Nachdem er das Zeitungsfoto betrachtet hatte, faltete er es gedanken-verloren zusammen. Fipsi wurde wütend.
„Was machstn du da ! Das is doch ein Schatz…“
Entfaltete es wieder, strich es glatt. Legte daneben eine Zeichnung, wie er sie damals für alle gemacht hatte, auf kariertem Papier, auch für sich selbst.
„Und bei welchem von uns ist sie jetzt ?“
Felix gab sich unwissend. War nicht die Vereinbarung, dass sie von einem zum anderen wandern sollte ? Der Krieg hatte die Kette unter-brochen.
Aber Fipsi bohrte.
„Der Alfons sagt, er hat sie dir – „
Da erlöste ihn Jean Simmons. Ihre Brustwarzen rieben an bedruckten Stoff, in Eastmancolor, und ringsum war Südsee. Gemalt wie von Paul Gauguin, und sie haben sich den Film danach noch viermal angesehen. Wenn der nächste Farbfilm kommen würde, die Bilder davon hingen schon aus, Margaret Lockwood in Herrscher der Meere, würde sich Felix dem Fipsi offenbaren. Denn der Fipsi war immer schon der Künstler unter ihnen, schon in der Sexta. Und mit wem sollte man Frauendinge besprechen, wenn nicht mit einem Künstler.

In der Schweiz sind die Entarteten für ein Heidengeld verscheuert worden, wollte Alfons Pframminger erfahren haben, an die Juden nach Amerika, Dieses Judengeld, grinste er, wenn sie das jetzt hätten ! In Schweizer Franken. Er war nun einmal der Geschäftssinnigste von ihnen, da biss keine Maus einen Faden ab. Auch wenn er die genauen Summen nun nicht mehr auf der karierten Rechenheftseite ausrechnen konnte, geteilt durch sechs, mit der Schönen hinten drauf, denn das karierte Papier hatte er ja zerknüllt.
„Geteilt durch fünf. Der Rudi ist in Russland gefallen.“
Dann eben geteilt durch fünf. Sie würden das Bild zum collecting point bringen, der Colonel würde sich nicht lumpen lassen, diesmal in Dollar statt in Schweizer Franken. Das würde sich gestalten zu einem Akt der Traditionspflege und der echten Freundschaft. Mit dem alten Dreirad-Auto wollte der Alfons noch einmal Großes vollbringen, die galamäßige letzte Lieferung, denn nächste Woche kriegt er einen neuen Lieferwagen. Von einem Nazi, der seine Fahrerlaubnis verwirkt hat. Beziehungen muss der Mensch haben, wenn er vorankommen will, auf nunmehr vier Rädern.
„Gesetz WER WEN, verstehst.“
Und dann wird ein Fass aufgemacht und gefeiert, auf ihrer Schotterinsel, für das Bier steht diesmal der Alfons selber grade, er hat es aus Cincinnati, trotzdem steht Hofbrauhaus drauf, dazu Bourbon Whiskey, isargekühlt. Wo also hat Felix das Bild vergraben ?
„Wer sagt dir denn, dass ich es hab.“
„Ich sags ! Weil, dir hab ich’s doch übergeben. Zu treuen Händen.“
„In diesem Krieg ist so viel abhanden gekommen, mein Zuhause, meine Familie….
„Du bist auch so ein ewiger Luhser. Wie der Rudi.“

Pframmingers älterer Bruder Alois, der den Alfons immer als schlott-riges Spargelstängerl beschimpft hatte, war nun selbst das Spar-gelstängerl, und weniger als das. Beide Beine waren ihm weggeschos-sen worden vor Smolensk. Und beinahe wäre auch er selbst dort ge-blieben, sein Lazarett wurde auf dem Rückzug mit der Nachhut gerade noch mitgeschleppt. Er erlebte den Rückzug im Ätherrausch und wusste darum nicht, wie viele, die auf den Pritschen um ihn herum gelegen hatten, aufgegeben und als lebende Tote zurückgelassen wurden. Er wurde nicht zurükgelassen, er war ein Pframminger. Gesetz wer wen.
In der Heimat angekommen und wieder bei Bewusstsein, fasste Alois in die Vertiefungen, in denen einmal seine Oberschenkelknochen gesessen hatten und in den blutigen Harsch seiner Stümpfe. Die Schen-kel brüllten nach den Beinen, die in Smolensk zurückgeblieben waren. Das Brüllen wurde zu Schmerzen, die durch seinen ganzen Leib tobten, nicht nur durch die Stümpfe. Die zivilen Ärzte konnten nicht genug Schmerzmittel beibringen, sie konnten überhaupt keins beibringen, und er verfluchte sie. Er verfluchte alle Welt, den Iwan, seine Schwestern, die Überlebenden, weil sie nicht tot waren und die Gefallenen, weil sie ihn nicht mitgenommen hatten. Er verfluchte alles was um ihn war und ihn damit verhöhnte. Die Amerikaner, weil sie nicht am Westwall schon zu Krüppeln geschossen worden waren wie er und nun mit seinem Bruder Geschäfte machten, und er verfluchte diesen Bruder, dem wegen Kollaboration mit dem Feind die restlichen sieben Finger auch noch weggeschossen gehörten. Wo er, der Alois, doch für alle den Kopf hin-gehalten hatte, bei Smolensk, wie auch damals als er das Eigentum der Juden gesichert hat, die sich aus dem Staub gemacht hatten, und er hat ihr G‘raffl heil durch den Krieg gebracht, und sie wussten ihm keinen Dank dafür.
Er saß auf ihren Polstermöbeln, die er gerettet hatte und betäubte sich. Weil niemand ihm Morphium gab, trank er den Gin, den der Bruder aus dem PX-Laden ihm mitbrachte. Wenn er voll war, zerschmiss er das jüdische Porzellan und lamentierte, dass er seinen Karabiner nicht mehr hatte um auf die Standuhr zu schießen. Das Judenvieh, ihr ungerührtesTicktack verhöhnte ihn. Hatte er Russland und den Iwan überstanden, seine Beine zurückgelassen vor Smolensk, damit die Uhr ihn nun angrinsen durfte mit ihrem jüdischen Zifferblatt ?
Als der Bruder ihm keinen Gin mehr brachte, weil der es leid war dafür nur Unflat zu hören, schickte er seine Schwestern auf den Schwarzmarkt auf dass sie ihm Schmerzbetäubendes brächten das der Dank des Vaterlandes ihm schuldig blieb. Die Schwestern gerieten an Gepanschtes, das gar nicht mehr Trinkbares war sondern Menthyl-Alkohol, und der Alois krepierte fast daran. Halbwegs wieder am Leben - seine Beschimpfungen, auch seiner selbst, brachten ihn ins Leben zu-rück - wähnte er sich im Krieg. Der Russ greift an ! Politkommissare alle erschießen ! Alles Juden ! Er wollte fliehen, er wollte angreifen, beides zugleich, er konnte es nicht mehr unterscheiden, und er stürzte bei beidem die Treppen hinunter.
So ging es jede Nacht. Und Alfons, der seinen Schlaf brauchte, weil er am Morgen wieder zu den Bauern aufs Land musste, um auf seiner nun vergrößerten Ladefläche die Army-Küchen zu beliefern und gleichzeitig auf der Hut sein vor Dieben die ihm diese Ladefläche wieder leer räumten, Alfons musste den Bruder wieder ins Bett schleppen und zur Ruhe bringen. Mit Alkohol, der wiederum beschafft werden musste im Tausch gegen die Zigaretten der Amerikaner auf dem Schwarzmarkt. Aber der Bruder war nicht zur Ruhe bringen, der Schmerz brüllte in ihm wie der Lärm der Artillerie, für ihn war auch bei Tag Nachtangriff, wie er ihn im am Kuban-Brückenkopf mitgemacht hatte.
„In der Nacht muss man ihn packen, weil da schlaft der Iwan“.
Weil er bis obenhin abgefüllt ist mit Wodka. Mehr braucht der Russ nicht als Wodka, keinen Proviant, kein Gemüse, nur Wodka. Während der Deutsche andauernd Proviant braucht. Darum ist der Iwan ihm so schmählich überlegen gewesen. Darum muss man ihn im Schlaf überraschen, abgefüllt, und kaltmachen, sonst holt er seine Stalinorgel raus und sät Tod und Vernichtung. Das ist eine Taktik, die wo der Ame-rikaner erst noch lernen muss, verkündete der Alois und fuhrwerkte mit dem vollen Glas Gin durchs Zimmer als stünden die Stabsoffiziere der US-Army um ihn herum.
Felix Hierl, der das Bild geraubt hat, wurde ihm immer mehr zum Russen.
„Nüber zu eam !“
Hinüber zu ihm.
„Mir greifnnnnnooo….“
Wir greifen ihn an.
„Bis er koan Muckser mehr macht…“
Und wieder die Treppe hinunter, mit seinen Stümpfen. Die Prothesen ließen weiterhin auf sich warten. Verschoben wahrscheinlich. Auf dem Schwarzmarkt vermauschelt. Der Jud schon wieder ! Und Felix Hierl war schuld. Rache also am Hierl, an dem Sauhund, selber ein Jud, an irgendwem muss man doch sich rächen, wenn sich schon alle feige verkriechen vor dem Alois. Rächen, rächen, rächen, bis auch der Bruder Alfons erfasst wurde von dem Rachewahn und sich an Felix rächen wollte für das was er allnächtlich zu ertragen hatte.

1948
Schätze drängten ans Licht. Das Licht war warm, wie in der Südsee, in dem Jean Simmons‘ Brustwarzen sich am bunten Stoff rieben, und lockte lange Verborgenes hervor. Mauern öffneten sich und gaben Tabakkisten preis. Hinter Wandvertäflungen, noch angerußt von Brand-bomben, denen die Stockwerke darüber zum Opfer gefallen waren, kamen Gewürze zum Vorschein, Cognac und Fleischkonserven, sogar Parfüms, Zigarren und Armbanduhren und sogar Manschettenknöpfe. Garagenbesitzer, die sich fünf Jahre mit Holzgasmotoren hatten abplagen müssen, stießen unter dem zerschmetterten Pflaster ihrer Hinterhöfe auf wohlgefüllte Tanks voller Treibstoff, wo man sie niemals vermutet hätte.
Konfektionsladenbesitzer, die jahrelang nur ausgeblichene Fotos von Modeschönheiten aus den dreißiger Jahren im Schaufenster hängen hatten, waren bass erstaunt, in zugenagelten Zwischenböden Stoffballen zu entdecken und die Vorübertappenden hatten Kleiderpuppen zu bestaunen, die die allerjüngste Mode zur Schau trugen. Aus Paris, in dem das Leben weitergegangen war obwohl die deutschen Truppen es hatten räumen müssen. Dernier cris ! Und die Vorüberschlurfenden verhielten den Schritt, erträumten sich die französischen Verwegenheit selber am Leib zu tragen ohne Spinnstoffkarte, und warum auch nicht, die neue D-Mark erhöhte sie alle zu Lebemännern und Lebefräuleins, der dernier cri war auch ihr Lustschrei.
Und die eben noch Schlurfenden gingen als Flaneure weiter.
Auch Bilder kamen zum Vorschein, Gemälde, die eigentlich alte Ge-mälde waren, weil sie ante Adolf gemalt wurden. Sie kamen sogar noch vor den gehorteten Waren zum Vorschein, in ungeheizten Galerien und Museen war statt stahlgrauer Adler, die auf stahlgrauen Bergtannen horsteten und nackter badender Volksgenossinnen, nun verwegen Farbiges zu sehen. Gelbe Dreiecke und orangene Kreise quasi von den amerikanischen MPs an die Wand gezwungen. Diese neualte Malerei sei noch immer so entartet wie vor der Machtergreifung, raunzten die wenigen, die hereinschauten, als stünde der Blockwart immer noch hin-ter ihnen. So sieht ein krankes Gehirn die Natur konnte nun freilich nicht mehr geraunzt werden, denn auf den Bildern war keine Natur mehr zu sehen, nur noch Farben.
Und Farben ängstigten, gelb war auch der Schwefel der Brandbom-ben, weiß auch das Phosphorfeuer, rot auch der Schwelbrand. Die Schreckenskammer der Kunst-Bolschewisten hat überlebt, der Führer nichts ausgerichtet gegen die jüdische Rassenseele. wollte Alfons Pframminger erfahren haben
Aber die schönen Städte lagen in Schutt und Asche.
Die Schöne steht auf Spanplatten mit denen man Schaufenster auslegt. Vielleicht sind es auch nur Hartfaserplatten, vielleicht ist es sogar nur Pappe, aber die Schöne setzt ihre schmalen Füße zierlich nach außen gedreht auf diesen Kaufhaus-Estrich, als wäre es der einer marmornen Estrade, wie sie ihr wohl anstünde. Vielleicht ist der Schaufensterboden eben erst frisch gebeizt worden, unbeholfen braun, die Schöne setzt ihre schmalen weißen Füßen nur zögerlich am Rande darauf, aber der Abdruck ihrer Fersen und Fußballen werden die Kaufhaus-Pappe veredeln wie eine Marmor-Maserung.
Im Hintergrund hat man eine Tapete geklebt worden, sie soll eine Meereslandschaft darstellen, man ist neuerdings gierig auf Meeres-landschaften. Schon stoßen Unternehmer mit Reisebussen zum Mittel-meer vor, von wo sie sich eben noch in Schützenpanzern davon ge-macht haben, bieten Dreitage-Reisen zum Gardasee und zum Lago Maggiore an, alles inklusive. Über und über mit Zitronen behangen kehren die Busse zurück wie die Söhne Jakobs aus dem Lande Kanaan, man wird sich nun ein Herz fassen und noch weiter vorstoßen in das Land, wegen dem man eigentlich den Krieg verloren hat, wird an der Adriaküste buchen und von dort aus Capri erobern.
Man verzeiht den Italienern die Niederlage. Mit Weinlaub auf dem Kopf statt einem Stahlhelm, fühlt sich jeder Heimkehrer als Bacchus,
und der Chianti lindert ihnen die Niederlage.

Eines Nachts stand Alfons unter Onkel Krutheins Fenster und brüllte aus sich heraus, was er für den Felix zu erleiden hatte. Der Whiskey kam seiner Anklage in die Quere, er verhaspelte sich, Reden war noch nie seine Stärke, schon seinerzeit nicht als Kameradschaftsführer, dabei hatte er nur klares Wasser in sich, allenfalls versetzt mit Frigeo-Brause, und keinen Bourbon. Im Morgengrauen, als er zum Gemüsemarkt stolperte, entsann er sich schon nicht mehr der Anklagepunkte gegen den Kameraden. Aber für Felix wurde der Nachtangriff der Pframmingers zur Obsession. Er schreckte auf, sobald sich draußen in der Dunkelheit wieder ein Pframminger auf den Bürgersteig stellte, um herauf zu brüllen, was der Felix ihm angetan hatte.
Aber stand nie mehr einer draußen, und kein Pframminger brüllte.

Die Schöne erwartet, dass sie eingekleidet wird. Hinter ihr preist ihr der Konfektionsladenbesitzer die Mode der Saison an, sie gibt sich zaudernd, aber er, vielleicht ist er auch nur der Dekorateurlehrling, wirft emphatisch die Arme in die Luft, als wedle er schon mit den fremden Stoffen, die er ihr gleich um den Leib drapieren wird. Fremd-artige Gewebe mit Namen wie Organdy oder Chiffon, er wird sie damit herausputzen wie er selbst schon herausgeputzt ist mit Girlanden aus Pfirsichen, Mangos, Orangen. Er wird weit schwin-gende Röcke um sie legen, und wenn sie in ihnen dahin schreitet wird sie wie Gewölk erscheinen das über den Horizont zieht.

1950
Beim nächsten Kinobesuch hatte Fipsi Lamprecht ein Mädchen dabei.
Der Fipsi als Galan, der scheue Fipsi ! Und Felix hatte nur das Bild. Aber darüber schwieg Felix nun erst recht. Die Schöne war ein Geheimnis zwischen Männern und sollte es auch bleiben. Fipsis Freun-din, anders als Jean Simmons, trug ein Mieder. Ein Festungsbauwerk unter ihrem graugelb quergestreiften Kleid.
„Sie fragt mich immer, wo das Bild geblieben ist.“
Welches Bild ? Fast hätte Felix es mitgebracht. Gerollt auf der Schul-ter, so wie es ihm damals vom Pframminger Alfons auf die Schulter ge-laden worden war. Die Freundin war viel breiter in den Schultern als die Schöne, und die grauen und gelben Querstreifen machten sie noch breiter. Die Schöne Gärtnerin, das gemeinsame Inbild einer Frau, konn-te dem Fipsi nicht als Modell gedient haben bei seiner Balz.
„No das Bild, was das ihr andauernd redet drieber“.
Taten sie das ? Redeten sie von einem Bild ? Von einem unbewegten, und nicht von den laufenden, wo Jean Simmons‘ Brustwarzen an den von Gauguin gemalten Kleidchen scherten ?
„Gerda hat da so ein Feingefühl dafür. Ihre Eltern sind alle zwei Lehrer.“
Gerda leitete ihre Sätze mit jöih ein, sagte schauen statt sehen, und setzte Hilfszeitwörter an die erstaunlichsten Stellen in ihren Sätzen, wo Hilfszeitwörter gar nichts zu suchen hatten .
„Jöih, wir mechtn den Film schaun mitm Herrscher von die Meere.“
Sie kam aus einem geografischen Zwickel, von dem Felix noch nie et-was gehört hatte. Nach dem Herrscher der Meere mit einer Margaret Lockwood, die nun wie Gerda auch ein Mieder trug, saßen sie zu dritt beim Eis im neuen Eis-Salon.
„Du Felix, die Gerda hat dir was zu sagen…“
Gerda fand das Bild abscheulich, eier Bild da, den Zeitungsschnipsel als Beweismittel in der Hand. Dass Fipsi die Schöne gezeichnet hatte, wagte der ihr nicht zu gestehen. Sie fand so eine Malerei widernadier-lich, rein jüdisch irgendwie.
„Jöih, wie gennt ihr bloß als gesunde Jinglinge sowas Entartetes verstecken !“
Sie mutmaßte hinter der gewissen Chose da mit dem Gemelde mechte viel mehr dahinterstecken als bloß ein verstecktes Bild, etwas durch und durch Illegales womehglich, ein Komplott um eine abgetauchte Frau-ensperson, ein leibhaftiges Weibstick, von dem nun Unheil drohte irgendwie, Rache, Vergeltung, so was in der Richtung.
„Jöih, ihr mechtet eich noch wundern. Unheil droht überall wo was Jidisches mit dabei ist. Braucht ihr bloß amal denken an die Weisen von Zion.“
Wenig später wurde geheiratet. Und Fipsi vereinnahmt als Zuwachs für die sudetendeutsche Turnerschaft, in der ihre Familie tief verwurzelt war. Die sudetendeutsche Turnerschaft hatte dort hinten, wo diese Wurzeln waren, das Gesunde und das Tüchtige, das Dichdige hochge-halten. Was dem Slawen von seiner Natur her ewig fremd bleibt, kör-perlich untersetzt wie er ist.
„Jöih, wann wir das alles mechtn gehabt haben damals unterm Tsche-chen an Geschenken vom Staat her, was man eich hier hat angedeihen lassen so an Zeltlagern und Wehriehbungen und Fackelziehgen …“
Sie meinte Fackelzüge, und der Satz versickerte in der Kümmernis der Austreibung. Aber Felix wusste, wie er weiterging : dann hättet ihr nicht mechtn missn ein nackertes Weibsbild lassn verschwinden.
Danach blieb das Bild noch verschwundener. Fipsi Lamprecht, der was ja ein Ginstler is, malte keine Buchstaben mehr für die Ame-rikaner, er malte selbst Bilder. Und schwärmte mit Felix für Ingrid Bergman. Nicht mehr das Mädchenhafte und Südseeische zog ihn nun an, sondern das Frauliche und Nordische, im Gleichklang mit seiner fraulichen nordischen Gerda. Erst lange später erfuhr Felix dass Ingrid Bergman gut einen Meter achtzig groß war mit Schuhgröße fünfundvierzig, und dass sie neben Partnern wie Humphrey Bogart auf eine Seifenkiste steigen musste. Wenn man ihre Körpergröße hoch-rechnete, mussten ihre Schultern in der Breite etwa so viel messen wie die von Gerda. Aber ihre Proportionen, jeder Filmmeter zeigte es, waren glücklicher verteilt. Sie erschien schlank und graziös, und Gerda war und blieb untersetzt, auch wenn sie ihr graugelb Quergestreiftes einmal nicht an hatte.
„Jöih, bloß gut, dass das Bild spurlos beim Deibel ist“
Zu dritt im Kino. Sie waren nun bei Sonja Ziemann angelangt. Der deutsche Film rückte wieder in die Kinos vor.
„Jöih, endlich was Arteigenes. No, die Ziemann ist fast so innig als wie die Kristina Söderbaum.“
Gerda hieß jetzt Lamprecht, nicht mehr Bosbischil. In der Wo-chenschau noch immer die grämlichen Gesichter der alten Männer. Auf den Zuschauersitzen auch.
„Jöih, das Kino bringt den Wilhelm wenigstens a bissl weg von seinem Gepinsel“.
Sie nannte Fipsi jetzt wieder bei seinem Taufnamen, darauf war vor-dem noch nie jemand gekommen. Bei Gerda hörte es sich an wie Willlllem und wie ein Befehl. Der Willlem malte modern, hatte sie zu klagen. Er musste von diesem gewissen Bild angesteckt sein, das viel-leicht doch nicht verschwunden genug war. Buchstaben und Frauen-figuren in einem. Wer so malte, der musste krank sein.
„Und das grade jetzt wo wir unsern Erstling erwarten“.
Und wenn der Erstling dann da ist, hängt an den Wänden entartete Kunst.
„Jöih, und der Seigling mecht mir erbkrank werden.“
Als der Säugling da war, untersagte die Gattin Fipsi das Malen ent-arteter Bilder, aber Fipsi verblieb im Bannkreis der Bildenden Künste und wurde Schildermaler für den Film. Er durfte nun Ingrid Bergman so groß auf Hartfaserplatten malen, dass sie eine ganze Hauswand füllte. Dahinter Gary Cooper als dunklen Begleiter, wie der schwarze Kerl hinter der Schönen. Aber auch auf den Brüsten von Sophia Loren stieg Fipsi herum mit der Malerbürste in der Hand, wenn die großen Kino-Transparente vor ihm auf dem Boden ausgebreitet lagen. Seine Frau Gerda sah es mit Sorge, seine Töchter sahen es mit Wonne.

Für Alfons Pframminger nahm die Schöne die Gestalt der Aller-heiligsten Jungfrau an. Die Russen haben die Heiligen abgeschafft und den Heiligenhimmel nach Sibirien verschleppt. Hätte Hitler aber an die Heiligen geglaubt und auf sie gebaut, wäre Moskau vor ihm in die Knie gegangen ohne einen Schuss. Die Eroberung der Krim ohne die Gottlosen von der Waffen-SS wäre ein Flutsch gewesen, gerade so lang wie ein Rosenkranz. Hinter der Madonna tauchte für Alfons Pframminger Helene Niederreuther auf, als Märtyrerin in ihrem Blut, beide ergaben ein Doppelbild, wie die Schöne und der schwarze Kerl.
Sein Bruder Alois Pframminger trug seine Schmerzen zu dem Wunderheiler Gröning, der allen Leidenden Genesung verhieß und ein Kropf hatte.
„Der kriegt“ da war sich der Alois sicher „ schon noch zwölf Jünger zsamm, wie der Jesus, weil der Gröning ist der Heiland von der Jetzt-zeit“.
Als sie den Gröning einsperrten wegen Betrug, denn er konnte niht einmal seinen eigenen Kropf wegheilen, da pilgerte Alois Pframminger nach Heroldsbach im Fränkischen, wo die Allerheiligste Jungfrau höchstselbst erschien und nicht nur als Zwillingsschwester von Helene Niederreuther wie bei seinem Bruder. Und als die Kirche diese Wall-fahrt zumachen ließ, trat Alois beim Kriegsopferverband ein, da hatte er schon neue Prothesen, und brachte es alsbald zum Stellvertretenden Bezriksvorsitzenden. Mit den Funktionärskameraden saß er des nachts beisammen, nun nicht mehr bei amerikanischem Gin, sondern bei Aquavit aus neuer deutscher Erzeugung, und sie überrollten Moskau, stießen bis zur Krim vor und über den Ural und vereinigten sich am Amur mit den Truppen des Tenno.

1951
Dass Onkel Kruthein verstorben war, erfuhr Felix von Verwandten des Onkels, die ein amtliches Papier vorzeigten und sich mit diesem als Erbberechtigte auswiesen. Sie räumten, es war keine anders lautende Verfügung des Onkel zu finden, seine Wohnung leer, entfernten die Zwischenwände, und es erwies sich, dass sie ein ganzes Stockwerk umfasste, in dem freilich für Felix nun kein Platz mehr war. Nach dem Verbleib des Bildes fragte er die Möbelpacker vergebens, und die Erben bekam er nicht zu Gesicht.
In manchen Nächten kam Alois Pframminger noch. Er nahm nicht den Fahrstuhl, er kam auf seinen Krücken die Treppe herauf, das verlieh seinem Überfall mehr Wucht. Felix hörte ihn schon von weitem, ohne zu erwachen. Alois Pframminger hielt sich nicht lange damit auf, an die Tür zu pochen. Ein echter Pframminger hat stets sein Handwerkszeug dabei. Wenn Alois den Meißel ansetzte, schreckte Felix hoch und war wach. Aber der Alb war nicht weggewischt.
Es stand noch immer einer vor der Tür.
Niemand stand vor der Tür. Felix schaute in den Flur, hinauf, hin-unter. Nach Stunden wieder. Hinauf, hinunter. Gegen Morgen stand der, den er erwartet, dessen Kommen er gefürchtet hatte, unten auf der Straße. Felix löschte das Licht, aber der da unten hatte seinen Umriss im Fenster gesehen. Felix hörte den Fahrstuhl brummen. Er ließ die Tür angelehnt, er wollte den Mitbewohnern das Anpochen ersparen.
„Setzen Sie sich doch bitte.“
Felix sagte es auf Deutsch, auf gut Glück. Der Besucher setzte sich nicht. Das Licht war noch immer ausgeschaltet, aber im Schummer der Straßenbeleuchtung sah Felix, dass der Besucher Narben von alten Verwundungen im Gesicht trug. Wie der Andere hinter der Schönen, dessen Tätowierungen ebenso Verwundungen waren.
„Ich habe das Bild nicht.“
Und nach einer Pause : „Nicht mehr.“
Der Besucher schwieg, und Felix überlegte, ob er verstanden worden war und in welcher anderen Sprache er es denn versuchen sollte.
„Sie können sich gerne persönlich überzeugen.“
Ein Studentenwohnheim bietet nicht viel Platz, fremder Herr.
„Ich brauche mich nicht zu überzeugen. Ich weiß es.“
Der Besucher hielt sich, es musste wohl Altersgebrechlichkeit sein, nur mühsam aufrecht.
„Suchen Sie es. Für mich.“
Und im Weggehen sagte er noch : „Suchen Sie es für uns.“

3.7.
Sie heißt Beatrix !
Und damit eigentlich so wie ich, der Glückliche. Jetzt holt mich die innere Wahrheit meines Namens so recht erst ein, weil sie die Be-glückende ist und ich der Glückliche. Hieße sie z.B. nur Beate, die Selige, wärs nur ein Cousinen-Name. Aber dieses knirschige X am Ende ihres Namens lässt den nicht einfach sanft ausklingen, sondern schickt ihm noch ein ermunterndes Kringelchen hinterher. Ein fröh-liches Knacksen. Ihr Name endet wie kleines Hoppla, dem ein Stern-werfer hinterher zischt. Und wenn er abgebrannt ist, schickt sie noch ihr Lachen hinterher. Wie kann man ihr lachen ! Ich lerns von ihr. Sie trainiert mich richtig wie ein Feixlehrer wie ein Coach. Die an den anderen Tischen gucken dann
immer verbiestert rüber. Mir legt sich ein Sandsack auf die Brust, aber B. zeigt auf die Sauertöpfe mit dem Finger & lacht noch mehr !!
Nächstes Treffen morgen 17 Uhr.
3.7. 22 Uhr 40
Beatrice hieß doch auch Dantes Angehimmelte und Angedichtete. Aber er hat sie nicht gekriegt ( erotische laterna magica, in Kunst bzw. Poesie überlagert. Eine Gefahr von der auch nicht frei. )
Wohingegen meine Beatrix-Beatrice…
( Verklemmtes Mittelalter/Zupackendes 20.Jahrh. ? Bei Gelegenheit vertiefen )
8.7.
B. ist keck. Ihre Nase ist die von der Kecken. Schmal, vorne aber Bugspriet. Nase stößt voraus & drauflos, B. segelt hinterher. Und ich in ihrem Kielwasser.
B. ist in allem vorneweg. Unternehmend / initiativ / jeweils die beste Seminararbeit ! ( Ich hinteres Mittelfeld ) Wenn ich noch über der Eiskarte brüte, hat B. bereits bestellt. Ich werde rot ! Nie in meiner Kindheit, hätte auch niemand bemerkt. Ich merke es auch nicht, B. macht mich drauf aufmerksam. B. behauptet : werde dann noch röter. B. lacht aber nicht über mich, sondern knetet mir Ohrläppchen ( beide ).
16.7.
B. ist hell, finde keinen treffenderen Ausdruck. B. = nicht eigentlich blond, eher Stich ins Brünette, aber die einzelnen Haarsträhnen glänzen im Licht, als ob sie einzeln dahin flögen wie Altweibersommer wie Goldfäden.
23.7.
Absolut sicher, B. = nicht der Typ welcher für mich bügeln wird. Nicht geschaffen für Sorglichkeit/Sorge. Nicht dieses Nachtschwe-sternhafte was z.B. Ruth Leuwerik herausstellt in ihren Filmen ( B. mag mehr Catherine Hepburn. Hat generell dieses vital Zupackende der Girls von der US-Ostküste. Linie Highschool-Hockey-Mannschaft / F.Scott Fitzgerald ! Ansporn / Herausforderung für Felix. Gleichziehen gleichziehen, Felix, gleich ziehen !!!! )
Unterm Strich : Amerikahaus-Lektüre trägt jetzt voll Früchte.
2.8.
Glückhaft, dass mir DIE SCHÖNE GÄRTNERIN abhanden gekommen ist ! Glückhaft zum genau richtigen Zeitpunkt. GÄRTNERIN hat ausschließlich/beherrschend ( wie ich jetzt erst gewahre ) Vorstellung von Frau bestimmt. Imago von Frau nach Gemälde ! Psychisch unge-sund. Unter Berücksichtigung dass Mutti tot u. auch Schwester Ortrud = null Erfahrung mit weibl. Nähe i. tägl. Umgang usw. Verschlungene Sozialisation + männliche Rollenfindung, da auch Vater null Rolle gespielt = weder Vorbild noch Antipode sondern bloß Vakuum.
Ersatz : Schwärmerei für Jean Simmons u.a. im Kino : dort zwar viel Realismus / Anatomie !! aber nicht z. Anfassen.
Das allzu lange Zusammenleben mit GÄRTNERIN = geschwisterlich, aber im Sinn von Klosterschwester. Madonnenhaftes / Wachsfigur hin-ter Glas / Andachtsbild = Felix Klosterbruder Eremit. Unbefleckte Hl. Jungfrau hängt a. d. Wand u. hütet Knaben.
Und verhütet Mannwerdung ! ( Gelegentl. vertiefen ).
3.9.
Wozu vertiefen, Felix ? Beatrix nimmt jetzt Platz von GÄRTNERIN ein u. das in allen Belangen. Primär fleischlich !
23.9.
Jean Simmons oder Ingrid Bergman ? In Beatrix = ideal beide vereint.
Morgen 19 h !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!

1952
Es traf sich, dass man sich traf ohne sich treffen zu wollen. Felix mit dem neuen und ersten Glück Beatrix. Fipsi mit dem nun schon be-kannten Glück Gerda. Fipsi, alter Junge ! Den Felix sich nicht mehr so anzureden getraute, aber wie hieß Fipsi gleich wieder wirklich? Er blieb immer und ewig nur der Fipsi, während Felix nun zu einem Glücklichen herangewachsen und endlich in seinen eigenen Namen eingetreten war. Das rot-ohrig Gärende der Jungs-Verschwörung, das ihre Kino-Besuche noch elektrisiert hatte, kam Felix nun vor wie Kinder-Kokolores, aus dem er herausgewachsen war. Leibhaftige Frauen hatten sich einge-mischt, die Jungmannen mussten nicht mehr mit zurückgebeugtem Kopf zu ihnen hoch auf der Leinwand starren, sie waren in den Zuschauerraum herunter geklettert. Was die Buben sich in ihren Zelt-Nächten nicht einmal auszumalen trauten, lag nun allnächtlich damp-fend bei ihnen im Bett.
Fipsis Frau duldete nicht, dass ihr Gatte länger auf den Brüsten von Sophia Loren herum stieg. Auch wenn sie es so nicht in den Mund nahm, obwohl ihr eigener Balkon beträchtlich an Umfang zugenommen hatte. Fipsi sollte nun einmal nicht mehr für Lichtspielhäuser klecksen, schon gar nicht für ausländische Filme. Fipsi blieb einsilbig und schwieg darüber, auf welche andere Weide er sein Künstlertum in Zukunft treiben würde.
Die anderen vier Kameraden waren verweht, der Wind des Lebens hat sie hier hin und da hin geblasen. Nur du, Fipsi bist noch da, der für uns alle gemalt hat ! Der Löcher geschnitten hat in unseren zugeklebten Gesichtssinn. Kleine Löcher zwar, im Tauschgeschäft gegen kleine Schwindeleien, aber eben doch Gucklöcher hinüber in die Kunst, durch die wir hätten spähen können. Um selber sehend zu werden.
Der uneingelöste Künstler Fipsi verschwand hinter seiner Rolle als Vater Wilhelm Lamprecht. Er stand hinter dem Kinderwagen wie hinter einer Brustwehr. Links und rechts hielt ihn ein Kind fest, als würde er von zwei Feldjägern abgeführt. Du hast mich zum visuellen Krüppel gemacht, Fipsi. Du hast mir die Augen zugenäht und meine Hände dran gehindert, selber Zeichenstift und Pinsel zu entdecken. Jetzt musst du etwas vollbringen, Fipsi, das rechtfertigt dass ich nie selbst das Malen versucht habe. Tu’s für mich.
Du bist es mir schuldig, Fipsi.
Willllem, berichtete seine Frau in den knappen Sätzen, die verblieben zwischen ihren Berichten von den Schul-Fortschritten der Kinder, ihre Darmbeschwerden, Gewichtszunahmen, Wuchsgeschwindigkeiten, Wi-lllem hatte sich eine Foto Kamera-Ausrüstung gekauft. Wie alle in diesen Zeiten –
„Wo es so begliggende neie Entwicklungen gibt. No, die deitsche Wirtschaft fasst wieder Tritt, jöih !“
Aber der Willlem hat sich nicht nur eine Ausrüstung gekauft wie jeder Rimini-Urlauber, sondern eine mit Stativ und Tele-Objektiv und überhaupt allen Schikanen. Und Fipsi, lachte Felix in sich hinein, Fipsi blieb damit dem Bildnerischen treu.
Fipsi hatte so viele Zeichnungen gemacht für die ganze Klasse, und sich verstellt dabei, Fantasien auf jeden einzelnen verwendet, wie dieser und jener wohl künstlern würde wenn er denn künstlern könnte, war in dessen Gehirn und Vorstellungskraft hinein gekrochen, aber immer nur abwärts. Nie hinauf. Seine Fälscherkunst war, begriff Felix erst jetzt als er neben dem erloschenen Jugendfreund stand, immer nur eine Ver-stellungskunst ins Untere und nie ins Obere. Fipsi hatte nie zu malen versucht mit Zutrauen zu sich selbst wie ein Picasso, van Gogh, Brue-ghel, oder auch nur ein Fipsi Ott. Immerhin ein Fipsi Ott.
Sondern immer nur wie der Gerlinger Herbert aus der vierten Bank. Im Gegengeschäft fürs Abschreibenlassen in Latein und der darum nie gelernt hatte, mit eigenen Augen zu schauen. Und der Fipsi wiederum hat im Gegengeschäft mit dem Gerlinger Herbert nie das Malen gelernt. Wie der Gerlinger Herbert.
Im Abgehen, als seine Frau den Kinderwagen schon wieder fort fortgeschoben hatte, bekam Felix doch noch ein paar persönliche Sätze von Fipsi.
„Stell dir vor, sie lassen mich jetzt sogar teilnehmen am Sommer-lager.“
Fipsi erinnerte sich. Gerdas Landsmannschaft, Witokobund Alt-Wi-schnerwitz.
„Du, das ist wie damals ! Ich mein, das Lagerfeuer und so, Morgen-appell, gemeinsam Waschen im ausgehöhlten Baumstamm, du wirfst dir das Wasser eiskalt über den Körper, um fünf Uhr in der Früh …“
Es fehlte nur, dass er sagte um fimfe in der Frieh. Dann führten seine Kinder ihn ab.

1953
Die neuen Waren, die nun in den Hausstand kamen, aus denen sich ihr Hausstand bröckchenweise überhaupt erst zusammenfügte, empfing Felix so freundschaftlich als wären es Menschen, die auf zwei Beinen zur Tür herein kommen. Er hatte sie erstanden von seiner schmalen Entlohnung als Referendar, es war hin- und hergerechnet worden, ob und wieviel von ihnen denn notwendig seien, aber als sie nun auf dem ersten eigenen Tisch standen, den Beatrix angeschafft hatte, da schnup-
perte Felix zum Empfang an ihnen. Liebevoll und respektvoll.
Er berubbelte sie, strich über sie hin wie er über Beatrix‘ Haut strich‚ und Beatrix lachte, als hätte diese Zärtlichkeit ihr selbst gegolten. Ihr Lachen wurde für Felix eins mit den neu erworbenen Gegenständen.Sie lachte durch sie, und den Gegenständen blieb der Nimbus ihres Lachens.
Für ihn erlebten die neuen Dinge, wenn er sie über die Schwelle trug, ihren ersten Schöpfungstag. Damals war die ganze Schöpfung noch im Duft. Nur Gott hat geschwitzt in der Genesis, auch wenn der Bericht-erstatter es zu notieren vergessen hat. Er roch von der Anstrengung und musste sich zwischen den einzelnen Schöpfungsakten jeweils eine Siesta gönnen. Die Palmen aber, die Eidechsen, die Kiesel- und Kirsch-steine freuten sich ihrer Frischgeborenheit, bewunderten ihre Falten-losigkeit, beschnupperten sich, probierten sich aus, und eben diese selbe selbstbespiegelnde Freude war jetzt in jedem Gegenstand den Beatrix und Felix neu gekauft in ihre Wohnung einwanderte. Sie waren hell wie Beatrix und lösten die Finsterlichkeit der Gegenstände, Menschen und Lebenskulissen ab, zwischen denen Felix bisher gehaust hatte. Sie dufteten wie Beatrix duftete, und seine Nase machte sich ein Vergnügen daraus, den Eigenduft der Waren mit dem zu vergleichen den Beatrix an sich trug. In verzwickten Fällen ergriff Felix Partei für Beatrix‘ Duft, bis sie lachte :
„Du vergrämst unsere schönen Dinge, noch bevor sie sich bei uns ein-gelebt haben !“
Da musste er ihr Recht geben. Es gehörte sich, die Neuankömmlinge als eigenständige Persönlichkeiten zu würdigen. Sie hatten viel geko-stet, sie waren aufwendig verpackt, sie waren es wert, respektvoll ausgewickelt zu werden.
„Willkommen, Tauchsieder, deine verchromten Röhren wendeln und winden sich so edel wie eine Sandviper. Ich meine eine Sandviper, die der Kalif von Bagdad in Silber hat schmieden lassen. Hab ich mich angemesssen auzsgedrückt ?“
Felix kriegt einen Kuss dafür. Nicht vom Tauchsieder, aber in dessen Namen.
„Grüß Gott, Isolierkanne, man kann sich in deiner Außenhaut be-schauen und sieht dann fast so vorteilhaft aus wie du selbst.“
„Warum duzt du eigentlich unsere Haushaltsgeräte ? Du hast dich ihnen doch noch gar nicht vorgestellt.“
„Bitte um Vergebung, Herr Schneebesen, mein Name ist Felix, Sie sehen sehr sportlich aus an diesem Morgen. Treten Sie ein, gnädige Frau Bügeleisen, ihr Rumpf gleitet daher wie eine Segeljacht.“
Und der Handfeger tritt auf wie ein Löwe mit stolzer Mähne. Ein Löwe mit Lampenfieber und Selbstbewusstsein. Lampenfieber, denn er die Begenung mit dem Staub noch vor sich. Und Löwe, weil er seine Mähne schüttelt in der Erwartung, gekrault zu werden. Und er wird gekrault, Felix lässt die Handflächen durch seine Borsten gleiten, sie erinnern ihn an die Schamhaare von Beatrix.
„Ich werd mich noch ewig und drei Tage genieren vor ihm“ lacht sie, „seine Behaarung ist so viel üppiger“.
Aber nun zu den Schatten, die die Neuen hinter sich warfen. Den im Dunkeln Ausgemusterten. Dem Schrott. Auf einmal war es chic ge-worden, Altes auszumustern. Dem Winter feldgrauer Miesepetrigkeit folgte der Frühling des Resopals und des Schleiflacks. Felix‘ Krempel, es war nur wenig, und Beatrix‘ Krempel, es war schon etwas mehr, wurde zum Gebrauchtwarenhändler abgeführt. Zwischen eisernen Bett-gestellen, schleimfarben, jedermann ein Graus waren weil sie ans Nothospital erinnerten, und schwarzen Anrichten, die beleidigt beleidigt ihre letzten Jahre verdämmerten, und auf deren Konsolen Waschkrüge in behäbigen Waschschalen hockten wie brütende Enten, überzogen mit mit Seerosen-Zirat, sah Felix ein rechteckiges Gebilde lehnen, das aus vier Latten zusammengenagelt war.
Er kannte jede Latte, jede war aus anderem Holz, er hatte sie selbst zusammengenagelt. Er brauchte das Gebilde nicht umzudrehen, er wusste was die Vorderseite zeigte.
Die Schöne Gärtnerin.
Beim ersten Mal ließ Felix sie stehen wo sie stand. Bei der letzten Fuhre, es waren nun nur noch ein paar Bücher abzuliefern, Prüfungs-pandekten von Felix‘ und Beatrix‘ Examen, wissenschaftliche Soufflierbücher zweier Xe, griff er im eiligen Vorübergehen nach dem was er zusammengenagelt hatte. Beiläufig, als sei ihm eingefallen, dass er noch ein paar herausragende Nägel krumm zu hämmern hatte. Er war glaubhaft in der Rolle des vergesslichen Heimwerkers, niemand niemand im Trödelladen hielt mit ediner Frage auf.. Aber er war nun auch rechtschaffen ein Dieb und unzweideutig straffällig. § 242 römisch eins Strafgesetzbuch. Ein missliched Mitgift für einen angehenden Lehrer.

Und niemand teilte fünffach die Schuld mit ihm wie beim ersten Klau. Wenn es denn ein Klau war und nicht eine Rettung.

1955
Das Zeltlager der Turnerschaft von 1842 hat unterm Kaiser Franz Jo-seph jeden Sommer stattgefunden, und stets ließ sich ein k.u.k. Stabs-offizier sehen und inspizierte wohlgefällig den Nachwuchs, der da an Ringen hing oder dem Waldlauf oblag, angeführt von einem Korporal der Reserve. Unterm Tschechen dann hat das Zeltlager mehr im Verdeckten stattfinden müssen, deswegen galt es ein paar Dorfpoli-zisten zu bestechen. Als die Sudetenlande schließlich heim ins Altreich gefühtrt waren, gab der oberste Turner Konrad Henlein, den Alt-Ig-lauern Turnern persönlich die Ehre, hängte sich selbst an die Ringe, schwang sich aufs Reck und musterte frische Gefolgschaft für seine germanischen Kampfscharen. Als die Turner vom Tschechen davonge-jagt wurden, fand das Zeltlager der 1842er im Altreich wieder statt ohne dass Dorfpolizisten bestochen werden mussten, freilich auch ohne den Vorturner Henlein, aber frisch fröhlich frei wie seit 1842. Und die Pa-role war und blieb wehrhafte Ertüchtigung.
In Gerdas Aussprache Erdichdigung.
Sie selbst, ihres Leibesumfanges wegen, nahm nur von ferne teil, das jeweils Jüngste auf dem Schoß. Fipsi aber, den alle hier nur als Willlem kannten, warf sich eifrig auf die Ertüchtigung, seinen und anderen Kindern ein Vorbild und konnte zeigen, was er in früheren Sommer-lagern gelernt hatte. Kaninchenfallenstellen, den Umgang mit Fahrten-messer und Kochgeschirr, und wie man unter diesem zünftig ein Feuer entzündet, indem man Holzstückchen aneinander reibt.
Dass er das von den Kommunisten hatte, verriet er aber niemand.
Noch bevor der Morgenappell angeblasen wurde und die Lagerfahne gehisst, war er draußen, lange vor den andern, es war ihm eine Lust in dem ausgehöhlten Baumstamm zu plantschen, entblößt in den Brun-nentrog zu hüpfen, und prustend wieder heraus, sich von den nassen anderen verfolgen zu lassen oder sie selbst zu verfolgen. Wer die Jagd durchs Unterholz nicht mehr durchhielt, setzte sich atemlos zu Gerda und lobte, wie jungenhaft ihr Willlem sich erhalten habe seit damals, und niemand brauchte auszusprechen, was mit diesem Damals gemeint war, das ihnen entgangen war unterm Tschechen.
Aber nun hatte es sie eingeholt. Dank Willlem. Der war ebenfalls eingeholt von seinen Verfolgern, oder sie von ihm, man schleppte die Eingefangenen kreischend in die Zelte, und Fipsi hatte, auch als Einge-fangener, seine Foto-Ausrüstung immer dabei. Die Bilder, die dann ent-standen, ließen ein nur runkelrauziges claire oscure erkennen, denn es war finster in den Zelten. Fipsis Blitzlicht erhellte sie an den über-raschendsten Partien und zeigte Szenerien, die vielen rätselhaft blieben. Trotzdem riss man sich um Fipsis, vielmehr Willlems Lichtbilder, wenn auch unter der Hand, und bestätigte sich über der Hand, der Willlem sei nun gar kein Wilhelm mehr, sondern ganz und gar zu einem Fipsi geworden.
Und dann kicherte man, verbat den Minderjährigen alles weitere Nachgefrage, schickte sie hinaus und verlangte die Fotos gleich noch einmal zu sehen.

Nun wird meine Schöne baden und wenn sie es verweigert werde ich sie in den Brunnentrog werfen. Das Wasser leckt sich schon die Lippen, das Wasser ist grimmig grausam kalt und wird unsere Glieder verätzen und ich werde es genießen und es fotografieren mit Selbst-auslöser. Der hinter mir reicht mir das Badetuch, er rubbelt mich, er rubbelt uns, er ist umsichtig und er ist brutal, er beißt und ich beiße zurück, ich bin sein Siegfried, er ist meine Brünhilde, ich verweigere ihm strikt die Dias die er verlangt von sich von mir von uns allen dreien damit er sie womöglich dann spießig herumzeigen kann bei den anderen Spannern in Mühldorf am Inn.

1962
Den Kindern fällt als ersten auf, dass hier kein Autofahrer einem anderen Autofahrer den Stinkefinger zeigt. Sie finden es zum Prusten komisch. Sie beweisen Großmut damit, entgeht ihnen doch die vertraute Farce beim langweiligen Hintensitzenmüssen. Und an die Stirn tippt sich auch niemand in diesem Land, wenn er überholt. Zuhause bestätigt sich bei jedem Überholen, im Straßenverkehr überhaupt, die seit Generationen eingebläute Hackordnung. Du da, mach Mores, wer bist du schon, ins zweite, dritte, vierte Glied mit dir, ins Glied überhaupt, der Unteroffizier hat Vortritt vor dem Gefreiten, der Gediente vor dem Zivilisten, der Ältere vor dem Jüngeren, das Mannsbild vor dem Weibs-bild. Die gestufte Tradition immerwährender Herabwürdigung. Was glauben Sie eigentlich wer Sie sind, Sie ! Nehmen Sie Haltung an, wenn Sie mir reden ! Und die Hände aus den Taschen…Sie !
Als müsse man sich das Sie erst verdienen. Du bist nichts, dein Volk ist alles.
Hier aber lacht man sich an wenn man überholt. Man lacht überhaupt. Was für ein seltsames Land.
Beatrix, die es sich nicht nehmen lassen will am Steuer zu sitzen das steht mir zu, ich hab den knuffigsten Realitätssinn in der Familie , auch Beatrix kann, kann dabei, dieses Land genießen. Seine Weite. Die tieferen Atemzüge seiner Natur. Dreißig, achtzig, hundert Kilometer Fahrt ohne einem anderen Auto zu begegnen. Weite Auenwälder, weite Auenwälder, weite Auenwälder und oft setzt die Landschaft völlig aus und sie fahren durch eine grüne Fermate, in die nur hin und wieder ein silbergraues Städtchen hinein getupft ist. In dem man kein Gebäude ausmacht, das später als, sagen wir, 1608 errichtet worden ist. Allgegenwart einer Vergangenheit, die nicht als leidige Verwit-terung und Abnützung hingenommen wird, sondern geachtet, ja res-pektiert.
Felix genießt in diesen silbergrauen Städtchen die ausgeblichenen Reklameschriften auf den Hausfassaden, die Waren anpreisen die es längst nicht mehr gibt und die es vielleicht nie gegeben hat. Wie steinalte Mimen, denen die Schminke noch in den Runzeln klebt von Rollen, die sie vor Zeiten gespielt haben. Und deren Texte sie vergessen haben, wie sie die Waren vergessen haben. Und auch die Hausfassaden lächeln, wehmütig, aber sie lächeln unter ihrer Schminke.
Sie lächeln, denn in diesem Lande haben sogar die Häuser Gesichter, alle voller Falten, Schrunden und Risse, durch die Jahrhunderte erwor-ben. In den Flüssen treibt der flutende Hahnenfuß in endlosen Ketten, die in der Strömung schwänzeln wie Seeschlangen. Die Myriaden ihrer Blüten sehen aus wie Schwärme winziger Schmetterlinge. Die laszive genüssliche Bewegung der Hahnenfußketten, hoch- und niederquellend, erinnern Felix an die Schenkel von Beatrix, wenn sie ihrerseits träge in einem Gewässer schwimmt.
Frankreich ist ein Land der trägen Gewässer, sogar die Regierungs-bezirke sind nach Flüssen benannt, allenthalben von Rinnsalen kontu-riert, die es nicht eilig haben, und pensionierten Kanälen. Die Kinder genießen es. Wenn sie sich wieder einen Halt ertrotzt haben und aus-giebig in einem mooskieseligen Bachbett waten, stellt Felix Betrach-tungen darüber an, wie nahe Kinder dem Fruchtwasser geblieben sind und damit dem Urmeer, aus dem unser aller Urgroßvater, der Quasten-flosser sich voreilig heraus begeben hat. Es werden Steine gesammelt, besonders runde, besonders weiße, besonders schwarze, und da drüben am anderen Ufer locken welche, die aussehen wie Schildkröten. Wenn sie nicht gefangen werden, kriechen sie davon.
„Lass uns doch ein paar Tage hier bleiben !“
Aber Mama ist in Geschäftsdingen unterwegs. Immobilienbranche. Und gerade Immobilien, die Unbeweglichen, dulden keine langen Auf-enthalte und kein Kieselsteinlesen.
Beatrix weiß nichts über Saint Martin, außer dass es ein Dorf an den Ufern der Ardèche ist und dass die Ardèche ein Wildfluss ist, der sich pathetisch und tief unten durch pathetische Felsen wühlt. Für die Kinder ist Saint Martin ein Zauberladen, in dem Dinge angeboten wurden, an denen kein Kind vorbei gehen kann. Gummitiere, Schwimmflossen, runde Ruderboote, längliche Ruderboote, Korkboote und ganze Flotten aus Gummi. Bereits aufgepumpt wie auch solche, die man aus der Strandtasche ziehen und selber aufblasen kann, mit eigener Puste und nach eigenem Belieben. Aber auch Pumpen dazu, Schwimmtiere, Schnorchel, Schwimm-Matratzen, Taucherbrillen, Tauchflossen. Man kann sich, wenn man ein Kind ist, fühlen wie ein Fisch im Wasser, ein Hai, ein Krebs, eine Qualle, bevor man noch ins Wasser gestiegen ist.
„Bitte, Mama, bitte !“
Für Felix ist Saint Martin d‘Ardèche ein Ort, in dem ein gewisser Maler gelebt hat. Felix hatte sich vor der Reise kundig gemacht.
„Bitte, Papa, bitte bitte bitteeeeeeeeeeee...“
Nur das eine kleine Schwimmtier da, bitteeeeeeeeee. Als Papa sich auf Verhandlungen einlässt, und es ist seine Schwäche sich, anders als Beatrix, immer auf Verhandlungen einzulassen, sind aus dem einen kleinen Schwimmtier sechs Schwimmtiere geworden, für jedes Bitte-bitte-Blag drei, und die müssen sogleich drunten im Fluss ausprobiert werden, und Felix kann seiner Wege gehen.
Für einen, der den Schwarzgalligen herauszukehren gesonnen ist, ist der Hausbesitzer recht leutselig. Leutselig stützt er sich mit beiden Ar-men auf die zementierte Brüstung, als Felix das Relief studiert, das der Künstler vor Zeiten an der Außenmauer des Gartens angebracht hat. Felix nimmt den Schwarzgalligen gar nicht wahr, und der hätte Felix von hinnen gehen lassen können. Aber sei es, dass auch der Schwarz-galligste von der Sonne des Ruhms eines Ruhmbedeckten ein Quantum für sich abknapsen will, weil er nun eben dessen Nachbewohner ist. Oder sei es, dass die Rolle des Schwarzgalligen dem Besitzer gar nicht liegt, der sich da leutselig auf die Mauer stützt und er nur eine finsterliche Maske aufgesetzt hat, weil das Ministerium in Paris ihm keine Gelder bewilligen will für die allfällige Renovierung des be-rühmten Hauses. Aber in Paris sind sie ja alle verdammt, und zu des Besitzers Beschwernis ist es nun einmal, auch wenn es bröselt, ein berühmtes Haus. Sonst stünde der fremde Monsieur doch nicht davor, und betastete das Relief des Meisters als wäre es die Madonna von Lourdes. Und das als Deutscher.
Der Schwarzgallige sagt nicht boche.
Die in Paris lassen Kulturgüter in Staub und Asche fallen, die der ganzen Nation gehören. Alles Barbaren und Bürokratenkaffern. Und der die Last zu tragen hat als Eigentümer dieser Halbruine kann zusehen wie er die Dachziegel geflickt kriegt. Oh monsieur, da gäbe es Dinge zu berichten da sträubt sich die Zunge. Und wie’s drinnen erst aussieht, mon dieu, man schämt sich vor der ganzen Nation. Sie als Deutscher gehen bestimmt nicht so um mit Ihrem Albrescht Dürér.
Wieder sagt er nicht boche.
Denn die, die verbale Abstrafungen verdienen sind nun die Barbaren da in Paris- Und sie beide hier, in der heißen Mittagssonne der Midi, die Kulturhüter. Felix und der Schwarzgallige. Ja, wie siehts denn nun da drinnen aus, wagt Felix nachzuschieben, aber da besinnt sich der Be-sitzer wieder auf den Rest Schwarzgalligkeit in sich. Der monsieur sei doch nicht etwa ein Filmteam, eh ?
Aber was denken Sie, wie kann ein Einzelner ein Filmteam sein ! Und ob er kann, weiß der Schwarzgallige. Sie schicken ein einzelnes Indi-viduum vor, den Einfältigsten von allen ( Danke, monsieur Schwarz-gall ), der verwickelt das Objekt ihrer Neugier in ein Gespräch über das Wetter oder die Umleitung nach Arles, und hinterrücks dringen Kerle mit Kabeltrommeln ein, mit Scheinwerfern, mit Strom-Aggregaten, mit all dem Teufelszeug was ein Fernsehteam so zu brauchen glaubt und was den Überfallenen noch und noch Strom kostet. Erst vor drei Wochen hat er das wieder erlebt, die Schäden sind immens, und er nimmt die Arme von der Brüstung, um sich in sein so prominentes wie zerfallendes Haus zurück zu ziehen. Aber nicht doch monsieur, beeilt sich Felix, er sei ein geplagter Vater, was man ihm nur deshalb nicht ansehe, weil seine Familie grade in der Ardèche plantsche.
In den Besitzer kehrt das Leutselige zurück, denn zu Kindern die plantschen, mithin noch jung an Jahren sind, muss auch eine Mutter ge-hören die ebenfalls gebührend jung an Jahren ist. Nicht nur dass sie in Paris alle verdammt sind, es sind auch alle Frauen attraktiv, sogar in Paris.
Eh bien, der monsieur könne ja wiederkommen wenn es ihm denn beliebt. Mit Madame. Diesmal treibt ihn nicht das Schwarzgallige ins Haus, sondern die Angst vor dem Sonnenstich.
Hier über dem Haus wachsen die Felsen, die das Bild beschreibt. Sie haben an Höhe zugenommen, seitdem sie vom Meister porträtiert worden sind Aber es ist ja auch Zeit vergangen seither, Felix‘ Le-benszeit. Nur das Wildwasser der Ardèche schäumt wie eh und je, ihre Gischt wird meine Schöne gleich umfassen. Ihre Begier nach meiner Schönen ist so stürmisch, dass sie schäumt als wäre sie die See, die See schlechthin, das Meer, der Ozean, Thalatta, als wäre sie alle sieben Meere auf einmal. Nur Felswände hindern sie daran, sich schon jetzt ihrer zu bemächtigen, wo die Schöne noch nicht einmal einen ihrer zierlichen Zehen in ihre Fluten getaucht hat.
Und der Meister es unterlassen hat, Kinder mit Schwimmtieren ins Bild zu malen.
Als Felix anderntags das Haus zu betreten wagt, ist Beatrix ihm von der Haustür an voraus und nimmt zwei Stufen auf einmal. Der Mon-sieur, nicht mehr der Jüngste, hat sich ein buntes Seidentuch um den kahlen Schädel geknotet. Beatrix führt von Raum zu Raum, der Mon-sieur hinterher. Hier, Madame, hat der Meister gearbeitet. Hier hat der Meister seinen Gips aufbewahrt und andere Utensilien, man beachte die ausgetrockneten Blechkannen. Da war der Firnis drin, das Terpentin, was ein Maler so braucht zu seinem Gewerbe, es ist noch drin, vertrocknet aber sacré, und die Staffelei steht noch da, wo der Meister sie hingestellt hat. Die Pinsel, Madame, hat der Zahn der Zeit benagt, aber auch sie sind noch da, als getreue Zeugen. Et voilà, ist es nicht eine Pracht und ein Mysterium, das Fresko ! Der Meister hat es eigenhändig an die Wand gezaubert hat, eigenhändig !
„Monsieur Creèl à dit…“
Dass dieses Werk allein schon das Haus zu einem Schatzkästchen macht, hat er sagt, und dass es dringend restauriert gehört, hat Monsieur Creèl gesagt, denn der ist ein überaus Kompetenter. Aber diese Barbaren in Paris –
Die Kinder langweilen sich. Besonders vor den leeren Keilrahmen. Einige sind bereits bespannt, als erwarteten sie dass der Meister zu ihnen zurückkehrt.
Wie naheliegend, das Bild zwischen sie zu schieben. Der nun nicht mehr Schwarzgallige übersähe bestimmt, dass es nicht schon seit jeher hier gewesen ist, er sieht nur noch Madame. Jetzt zeigt er ihr das Schlafzimmer des Meisters, das nun auch das seine ist, und dann das Badezimmer.
Felix schließt sich nicht an. Er öffnet ein Fenster und misst mit den Augen den Abstand : wieviel wohl, in Zentimetern, vom Fensterbrett bis zum Auto ? Auch damals hat er ein Fenster geöffnet, um der Schönen einen Abgang zu schaffen. Damals von drinnen nach draußen, möglichst auffällig. Diesmal von draußen ins Hausinnere, möglichst unauffällig. Im Badezimmer wird einverständig gelacht. Oder frivol ? Felix huscht auf die Straße, fährt das Auto nah an die Hauswand. Wenn er sich auf den Sitz stellt, kann er das Bild ohne besondere Ver-renkungen übers Fensterbrett lüpfen und auf der anderen Seiten wieder schonungsvoll hinunter gleiten lassen. Er hört innerlich bereits, wie die Latten pianissimo auf dem Estrich aufstoßen werden, als hätte er seine Heimholungs-Tat schon vollbracht. Die Wiederkunft der Schönen Gärt-nerin ! Er ist hoch zufrieden mit dieser Generalprobe. Bei der nächsten Reise wird er das Bild mitbringen und ihre Heimkehr vollenden.
Im Haus wird nicht mehr gelacht, sondern krakeelt. Die Kinder kommen gestürmt, Beatrix wieder voraus. Die Tür wird hinter ihnen zugeschlagen und abgesperrt.
„Schnell, fahr los.“
Beatrix wirft sich ins Auto, als sei sie das Bild.
Ist der Monsieur zugriffig geworden ?
„Nu fahr schon !“
Vor den Kindern - ?
„Du sollst fahren !“
Nun wirft der Monsieur, der nun wieder ein Schwarzgalliger ist, auch das Fenster zu, das Felix geöffnet hat. Eine Schwade Auspuffgas er-wischt ihn gerade noch zwischen zwei Fensterflügeln.
„Hat er eurer Mutter vor euren Augen - ?“
Er bekommt keine Antwort, der Blick Susannes saugt sich schon wieder an einem Gummiboot fest, diesmal mit einem orangenen Drei-eckssegel dran.
„Felli hat ihm die Wand voller Wasser vollgespritzt, wo ein Bild drauf gemalt war“.
Felli ist Susanne. Die reißt sich von dem Gummiboot los und protes-tiert lauthals. Es waren doch höchstens ein paar Tropfen die noch an dem Schwimmtier dranhingen, und sie drückt das Schwimmtier an sich, als Zeugen, und wie um es gegen Verleumdung zu schützen.
„Der Mössjöh hat es sowieso nicht gemerkt – „
„Still jetzt, Susanne !“
„Echt, er hats gar nicht gemerkt mit dem Spritzer“ mischt sich Wux ein, „der hat doch die ganze Zeit mit Mama –„
Wux ist Joachim.
„Still hab ich gesagt !“
Also doch. Nicht nur in Paris sind sie alle verdammt.
Sie fahren westwärts, auf Limoges zu. Erst als sie schon im nächsten Departement sind, erfährt Felix, dass der Monsieur schon unter Vertrag steht. Mit den Kunstwerken des Meisters ? Aber woher denn, mit der Immobilie. Wo Beatrix ihm dermaßen günstige Konditionen geboten hat, aber nein, die Kanaille ist festgezurrt bei Schneider & Zuccard. Die haben ihre Saugnäpfe überall. Die treiben die Preise hoch dass es schon gegen den Ehrenkodex der Branche geht. Ihr Groll entlädt sich in kilometerlangem Schweigen und vielen Gitanes.

„Von welchem Maler habt ihr da eigentlich die ganze Zeit geredet ?“
Felix widmet sich dem Fahren.
„Du, wenn du mir was vorenthältst…das wäre unverantwortlich.“
Beatrix schindet sich ab mit dem Immobilienhandel, ein aasgei-erartiges Gewerbe, solang eins nicht selbständig ist. Die Provisionen stetig magerer, und die Konkurrenz überall auf dem Quivive. Siehe Schneider & Zuccard. Wie konnte sie ahnen, dass die sich bereits bis hierher vorangefressen haben. Wieviel geruhsamer dagegen der Kunst-handel. Nicht der mit irgendwelchen Neulingen, die erst durchgesetzt werden müssen. Sondern mit Klassikern der Moderne.
„Zeig mir das Bild doch mal.“
Welches Bild ?
„Gotschi Ott hat ausgeplaudert, bei unserer Hochzeit, dass ihr da mal so ‘nen Streich gespielt habt.“
Mit einem Bild von … den Maler hat Gotschi Ott vergessen gehabt
„Er sagt, es wär nie wieder aufgetaucht.“
Und mit nie wieder aufgetauchten Bildern will Beatrix einen schwungvollen Kunsthandel eröffnen ! Und Schneider & Zuccard in die Parde fahren. Felix lacht, die Kinder lachen, Beatrix macht nur ihr duldsames Gesicht.
„Zeigs mir doch trotzdem mal.“
„Du tust so, als hätte ich es hier im Koffer stecken.“
„Gotschi Ott hat eine Zeichnung davon gehabt. Er sagt, du hättst auch eine.“
Die Kinder haben sein überrumpeltes Hin und her aufgeschnappt. Sie sind schon wieder unausgeschöpft, was Rauskucken und Entdecken angeht, die Landschaft draußen hat ihnen gerade nichts zu bieten. So erfinden sie das Spiel Papa hats – Papa hats nicht. Das Bild selbst ist ihnen schnuppe, Felix versteht nicht einmal die Spielregeln, vielleicht gibt es auch gar keine, aber sie spielen es glucksend bis Saintes.
„Papa haaaaaaaaaaaats !“
Sie peinigen ihn, diese Teufelchen, und wissen es nicht einmal.
„Papa hats niiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiicht !“
Bei der Rast legt er Fipsis Zeichnung dann doch auf den Tisch, wie ein geständiger Taschendieb, der auf mildernde Umstände aus ist. Er hat die Zeichnung stets dabei.
„Die schöne Gärtnerin“.
„Woher bloß kennst du den Titel ?“
Gotschi hat sich erinnert. Wenigstens daran.
„Aber die ist doch gar nicht schön“ nölt Felli.
„Nee, echt nich“ nölt nun auch Wux. „Richtig greislig is die.“
Jedenfalls in der Wiedergabe durch Fipsi Lamprecht.
„Und mager wie so ’ne Schaufensterpuppe“.
„Wux !!!“
„Die in der Auslage steht und nix an hat weil die neuen Sommer-kleider noch nicht da sind.“
„Felli !!!“
„Is doch wahr. Und `ne Harke hat sie auch nich, wo sie doch angeblich `ne Gärtnerin is.“
Fipsi Lamprecht ist es nicht gelungen die Schöne abzukonterfeien wie es ihr gemäß wäre. Aber kann man vor Kindern enthüllen, wie es um Fipsi Lamprecht bestellt ist, der selber zum Strichmännchen verkam, und noch Unaussprechlicherem ?
Und Beatrix weiß mit den Namen und Wirrungen aus Felix‘ Ver-gangenheit ohnehin nichts anzufangen, Felix sieht es an dem Wechsel von ihrem duldsamen zu ihrem störrischen Gesicht. Um sich ein wieder huldvolles zu verdienen, auch von den Kindern, faltet er das karierte Blatt in lauter Längssegmente.
„Gibt dasn Spiel, Papa ?“
Gut geraten, das gibt ein Spiel.
„Und wie solls gehn ?“
Jeder malt sich die Schöne, wie er sie am schönsten findet.
„Au fein.“
Aber so, dass die anderen es nicht sehen. Dann wird das Blatt geknickt, und der nächste malt weiter.
„Echt spannend.“
Um am Schluß wird’s entfaltet, und alle werden staunen, was dabei herausgekommen ist.
Die Gesichter aller drei sind auf einmal wieder huldvoll, Fellis Zunge angelt nach ihrer Nasenspitze wie immer wenn sie über eine spannende Aufgabe gebeugt ist, und Wux hat zwei ernsthafte Falten auf der Stirn. Beatrix betrachtet lächelnd ihre Brut, die Erinnerung, die Gotschi Ott ihr eingeblasen hat, ist zerstoben. Und wenn Felix sie ansieht, wie sie ihre Kinder ansieht, möchte er sie auf der Stelle auf den Rücksitz werfen und ein drittes auf den Weg bringen.
„Fertig !“
Felix, als Zeremonien- und Spielmeister, darf das Blatt entfalten. Es beginnen die Freuden der Auslegung.
„Das isn Krebs, dem wachsen Zahnbürsten aus den Ohren.“
Zwei oder drei Strichelchen, über die gefalteten Kanten hinaus haben dem jeweils Nächsten gewiesen, wo er mit seinem eigenen Kunstwerk beginnen soll.
„Nö, das is ´ne Gartenschere mit Luftballons als Halskette.“
„Und mit sechs Pfoten. Wie’n doppelter Dackel auf Rollschuhen.“
Das ist Surrealismus, ihr Lieben.
„Und das is´n Storch mit ner Krone und mit ´nem Bart.“
Der nun blau ausgemalt wird, von Beatrix. Gelb von Wux. Grün von Felli. Und sonnengelb von Felix. Möge es als Zuversichtsgelb eine gute Vorbedeutung haben, für die ihr weiteres Vorankommen in dem neuen Land. Aus Freude über ihr gemeinsames Kunstwerk verlangen die Kinder sogleich nach weiteren Blättern und machen sich an ihr zweites Gemeinschaftswerk, in dem die Einfälle des jeweils Einzelnen einge-dampft werden und sich zu einer Staatsqualle aus Fantasien vereinigen, aus denen neue Fantasien hervorquellen.
„Das is ´ne Seejungfrau !“ rufen die Kinder gleichzeitig, so selten sie auch sonst einig sind.
„Papa hat eine Seejungfrau gemalt !“
Mitten im Binnenland, und auch die Seejungfrau steht auf dem Tro-ckenen.
„Bloß dass die keine Flossen hat“.
Wux ergänzt sie.
„Das Meer leckt sich schon die Lippen“.

Das Meer leckt sich schon die Lippen. Seine Gischt wird meine Schöne gleich umfassen. Seine Begier nach meiner Schönen ist stür-misch, mit seiner Brandung greift es nach ihr, das Meer, der Ozean, Thalatta, alle sieben Meere auf einmal...

Die Kinder malen ihre Gummitiere hinein, die sie in Saint Martin d’Ardèche ertrotzt haben, und Felix umgibt den Kopf der Seejungfrau mit den Haaren von Beatrix. Die versteht die Huldigung und gibt der Seejungfrau einen Taschenkrebs bei, der aussieht wie Felix.
„Jetz isses raus : wir fahren ans Meer ! Wir fahren ans Meer !“ jubelt Felli, als das ozeanische Personal komplett ist. Sie haben ja genug Aus-rüstung, um es zünftig mit dem Meer aufzunehmen. Die Schwimmtiere, Schnorcheln und Korkboote liegen tatendurstig im Kofferraum, klopfen ungeduldig an die Heckklappe, sie wollen in ihr Element, und nicht wie das alte Unterseeboot von Felix ihre Stunde der Wasserung und des Stapellaufs versäumen.
Das Klopfen im Kofferraum nehmen nur die Kinder wahr. Felix lässt sich voran geleiten von der Gemächlichkeit der Landschaften, durch die er seine Familie gemächlich chauffiert. Die aber Beatrix mit gänzlich anderen Augen betrachtet als er. Sie ist der Ausguck im Mastkorb, der schnellere Augen haben muss als die Ausgucker von Schneider & Zuccard, die fünfzig Mastkörbe haben, nein hundertfünfzig. Beatrix ist auf Erkundungsfahrt für einen Hotelier, der sich über die Landesgrenze hinaus auszudehnen gedenkt. Ein handfesten Auftrag erteilt hat er von weitem noch nicht, Beatrix hat sich selbst auf zweidrittel eigene Faust als Scout losgeschickt. Frankreich scheint Mode zu werden Mode wie der General de Gaulle wird. Sogar bei jenen Landsleuten, die , wenn’s hochkommt, nur erst von der Bretagne gehört haben, und wissen dass das Elsaß ohnehin zum Reich gehört, während die Cote d’Azur selbst für deutsche Millionäre unerschwinglich bleibt und von affektierten Filmgrößen wimmelt. Beatrix wird Baugrundstücke am Atlantik aus-kundschaften, noch bevor Schneider & Zuccard ihre Speere dort ein-rammen.
Hinter Saintes geht es der Küste zu, Golf von Biskaya steht im Atlas. Sie riechen schon den weichen Seewind und sein grüntangiges Aroma, obwohl sie noch nie am Meer waren. Es wird gewettet, ob sie Hoch- oder Niedrigwasser antreffen werden. Wer gewinnt, darf bestimmen wie lange an der Küste geblieben wird. Die Schwimmtiere werden befragt nach Ebbe oder Flut, Schwimmtiere haben eine angeborene Nase für alles Wässrige.
Beatrix macht ihr huldvolles Gesicht.
Auf einmal ist das Licht anders das auf ihr liegt. Ihr Gesicht ist noch heller als sonst. Das Meer spiegelt sich am Himmel wieder, lange bevor es selber zu sehen ist. Die Kinder haben ihre Wette vergessen, als ein weit ausschwingendes Viadukt sie aufnimmt und wie Wildgänse hoch über den Sund hebt. Tief unter sich sehen sie keine Badestrände, über-haupt keine Strände, sondern bis zum Horizont nur graue Gevierte.
„Guck mal, die haben Schrebergärten im Meer !“
Austerngärten. Die dienen zur Aufzucht von Schalentieren für Fein-schmecker, und die ganze Gegend lebt davon. Also haben sie sich in der Gegend geirrt. Sie müssen ihre Expedition weiter in den Süden voran-treiben, zu den Stränden von Les Landes. Aber dort werden schon wie-der Schneider & Zuccard ihre Speere eingerammt haben.
Und Beatrix, Felix erfährt es erst hier, isst fürs Leben schmackig gern Austern. Nachhall ihrer gepflegt gutbürgerlichen Erziehung. Zu Hause hat sie ihre Lust als snobistisch unterdrückt, hier sind die Glitsch-Tiere Alltagspeise. Volksnahrung.
Der mitgebrachte Badekram von der Ardèche erweist sich als un-tauglich. Der Atlantik lässt ihn nicht gelten, die Pranken seiner Bran-dung sind zu gewaltig für die winzige Flotte aus Gummi und Kork. Felix muss neue Flotten anschaffen, neues Rüstzeug, damit Susanne und Joachim sich den Brechern entgegen werfen können. In den Su-permarchés verschwindet es fast zwischen Tiefkühlkost und Kinder-kleidern, stoische Mütter schieben Karren daran vorbei mit hoch auf-getürmtem Fressgut für die ganze Familie, Vorrat für Wochen, die Kinder tummeln sich drum herum, und alle wohnen sie auf Cam-pingplätzen.
Denn, Madame, keine Chance für große noble Hotels hier. Unsere Gegend ist zu karg, die Strände halten keinen Vergleich aus mit der Midi oder Arcachon. Aber wenn Sie schon in Immobilien unterwegs sind : der Großvater gibt seine Landwirtschaft auf. Ein alter Stier, ein mageres Stück Land, und die Erben alle in Paris. Eh bien, in Paris sind sie alle verdammt, aber der Preis wäre günstig. Nérons, die Winzersleute geben auch auf, beide an die neunzig und zusammen nur noch einen einzigen Zahn. Wer reißt sich schon um den sauren Wein aus unserer Gegend, wo die in Paris doch bloß den aus dem Bordelais gelten lassen. Und Monsieur Sentac gibt auch auf, die Tochter ist Beamte auf Neu-Kale-donien, und Monsieur Garnier gibt sowieso auf, der Austernzüchter, denn Austernzucht ist ein zu saures langwieriges Geschäft für seine alten Knochen, und die Verdammten in Paris machen es einem noch saurer mit ihren Verordnungen.
Außerdem lassen die nur Austern aus dem Niortais gelten, von der Konkurrenz.
Alle wollen sie verkaufen, alle zahnlos, alle mit Gicht im Gerippe und Arthrose in den Knien. Ziegenställe, Schuppen, Remisen. Alles Heraus-forderungen das, Madame, für eine strebsame Immobilienunterneh-merin, une entrepeuneuse entreprenant. Schneider & Zuccard werden sich mopsen. Und man prostet Beatrix zu mit einem Wein, der nun auf einmal gar nicht mehr sauer schmeckt.
Eine Halbruine in der Inselmitte ist am vorteilhaftesten zu erwerben, man ist Besitzer eines Ferienhauses eh man sichs versieht. Beatrix beharrt noch darauf dass die Halbruine sich nie und nimmer rechnen wird, aber schon ist sie überstimmt, die Kinder entdecken, welche Abenteuer in einem Ge-mäuer schlummern, bei dem man nicht auf Parkettböden Rücksicht nehmen muss, auf Nachbarn drüber und auf Nachbarn drunter, und die Oldies hinter den Hausmauern sind ohnehin alle stocktaub. Ein eigenes Gemäuer, das das man sich erst als Gehäuse erschaffen muss und zurecht bosselt, ohne dass einem ein Baumeister oder ein Vermieterkerl dreinredet. Und die Nachbarn – richtig, die sind stocktaub. Ein Baukasten aus lauter Steinchen, die man sich selber zurecht schnitzen und zurecht hämmern darf.
Der Weg dorthin ist bereits eine Einstimmung auf das was einen in diesem Gehäuse erwartet. Der Weg durch die Ginsterdickichte, an den Austernteichen entlang, die je nach Ebbe oder Flut voll sind oder leer und in denen Reiher stehen. Sie fassen die Neulinge ins Auge ohne dass die es bemerken. Wenn sie ihnen missfallen, fliegen sie davon. Bei Susanne und Joachim bleiben sie im Wasser stehen, wippen zustimmend mit ihren langen Schnäbeln und anerkennen sie als künftige Nachbarn.
Die Kinder entdecken, dass in das Haus lange vor ihnen bereits Mitbewohner eingezogen sind. Mauergrillen, Eidechsen, Fledermäuse und viele andere Wusler, die sich den neuen Hausgenossen nie artig vorstellen werden. Händchen geben, Knickse machen, ihre Vor- und Zunamen hersagen. Alles was von einem Menschenwesen verlangt wird. Auch kündigen kann man ihnen nicht, warum sollte man ihnen denn auch kündigen, sie bleiben in ihrem Logis zwischen Steinen und Balken, in ihren Astlöchern, und es wird eben um sie herum errichtet was die Menschen als Behausung zu brauchen glauben. Wie die Mauergrillen und Spinnen legen Felix und Beatrix selber Hand an beim Nestbau, lernen Mörtel anrühren, Balken bearbeiten und Dachziegel legen nach dem uralten römischen Mönch- und Nonne-Prinzip.
Ringsum werden ebenso verlassene Bauernkaten ebenso lärmig ausgebaut, aus andere denen Zahnlose herausgestorben sind. Nein, weit lärmiger. Maschinen aller Art werden, nachdem die Kinder heraus-gequollen sind, aus Kleinautos gehoben und in Gang gesetzt, obwohl heiliger Sonntag ist, aber hierzulande gibt es keine Sonntagsheiligung, die Kirche hat das Regiment seit zweihundert Jahren an die citoyens abgeben müssen. Auch am Tag des Herrn dürfen Kreissägen krei-schen, Betonmischer kockern und Bohrer heulen zum Lobgesang auf die Lebensfreude. Und dass die Zahnlosen gar nicht alle weggestorben sind, erweist sich gegen Abend, wenn sie mit Käse und Wein ange-humpelt kommen und rühmen was aus ihren Gemäuern gemacht wird. Sie verzehren, während sie die sechs- und zehnjährigen Bauleute be-staunen, vor Bewunderung ihr Mitgebrachtes gleich selber. Und die Minderzahl ihrer Zähne steht dem nicht entgegen, wortwörtlich, denn der Wein fließt um diese herum.
Ehe er den Schluckspecht beglückt, und Beatrix und Felix dazu.
Madame Felice und Monsieur Felicien, wie sie nun genannt werden, wenn auf ihr Wohl à vôtre santé angestoßen wird.
Am Montag liegt das Dörfchen dann wieder still da und ruht sich aus von der lärmigen Sonntagsgeschäftigkeit. Nur bei Felix und Bea-trix, die noch nicht am Stromnetz hängen, vielleicht auch nie daran hängen wollen, hört man Gehämmere und Gesäge mit dem Fuchs-schwanz. Ist es Ernst Wiecherts einfaches Leben, das sie nun im Sommerhaus beginnen ? Oder sind es Paul Kellers Ferien vom Ich ? Werden sie zu Defoes Robinson Crusoe mit einer Beigabe Karl Heinrich Waggerl, oder zu Henry David Thoreau mit seinem Walden, und sich in einer Wildnis zu behaupten haben wie er ?
Sie finden sich ein in ihrer Wildnis, wie man in eine abgelegte Zie-genfellkotze kriecht. Die mag kratzig sein, fremdartig, in ihren Ärmeln hausen Milben, Laubballen und festgezwickte Bucheckern, aber sie hält warm und man riecht nun wie die Umgebung.

1963
Felix ist wieder in den Unterschlupf bei Onkel Kruthein zurück-gekehrt, in den er sich diesmal selber steckt und nicht vom Onkel gesteckt wird. Er besiedelt ihn mit der selben Sehnsucht nach einer Familie wie er ihn damals besiedelt hat. Damals mit einer Schat-tenfamilie aus unnützen und darum umso verzweifelter geliebten Dingen.
Diesmal hat er eine wirkliche Familie mitgebracht, eine Fleisch-und-Blut-Familie, und er will sie umgeben mit Dingen, die nicht mit ihnen ein Leben beginnen, sondern die schon warmgelebt sind, vor Felix bereits ein Leben gelebt haben. Oder auch schon mehrere.
Felix sucht Flohmärkte auf. Flohmärkte sind große Sippen-Tableaux, auf denen sich die Objekte familienweise zur Schau stellen. Wie Onkel-Tanten-Neffen-Opas-Enkel-Urenkel beim Picknick lagern sie zu Füßen der Verkäufer und plaudern deren Geschichte und Genealogie jedem Vorübergehenden aus, generationenweit hinein in die Tiefen der Ver-gangenheit, die eben durch sie unvergangen bleibt. Französische Ge-genstände, objets de la paix. sind Überlebende des Friedens und nicht Versprengte des Krieges wie die wirren Siebensachen, die Felix in seiner Jugend besessen hat und die ihm ebenso wirr wieder abhanden kamen als Vermisste dieses Krieges.
Felix betrachtet, wenn er durch die brocants streift, deren Sippen-Panoramen anfangs mit Eifersucht, später mit immer mehr Sympathie und dem Verlangen, aufgenommen zu werden in die Verwandtschaften, die zwischen diesen Kaffeemaschinen, Ofenschirmen, Briefbeschwe-rern und Stickrahmen gelebt haben ohne Bombenkrieg und alltägliche Erniedrigung, ohne die Hetze des Goebbels gegen Entartete Kunst, ohne HJ und ohne Pframmingers.
Die neuen Bewohner des alten Hauses nesteln sich ein, sie tun das Ihre zu dem alten, und die Mauergrillen und Petroleumlampen rücken beiseite. Sie setzen ihre Duftmarken, sie werden Nutzer und nicht bloß Besucher. Als erste Schicht werden die mitgebrachten Gummiflotten und Schwimmflossen von der Ardèche zwischen Mauern und Balken abgelagert. Felix beneidet schon wieder, diesmal die Kinder, dass so kleine Menschen bereits so reichliche Besitztümer haben, um sie fürs erste so nonchalant fort zu räumen – stimmt gar nicht, die Eltern müssen sie fort räumen, nachdem sie tagelang drüber gestolpert sind – und Felix hatte nur eine winzige Gefolgschaft aus Salzstreuer und Unterseeboot und ein paar weiteren unnützen Trabanten, auf deren Zutunlichkeit er aber versessen war. Die folgende Generation ist nun Herr fabrikneuer Gummiflotten, die sie fröhlich missachtet und die trotzdem, Felix weiß es, ihre weitere Karriere zuversichtlich erwarten, wenn auch verbannt zwischen Mauern und Balken.
Die ersten Vorräte werden angeschafft, nicht für die Mauergrillen, Spinnen und Eidechsen, sondern für den künftigen Appetit der Menschenbewohner, die ersten Sardinen und Fischsuppen in Dosen, die ersten Makkaroni und Ölivenölflaschen und Gasanzünder. Das alles akklimatisiert sich im Nu, Felix meint schon Nachbargespräche zwi-schen Zugezogenen und Ureinwohnern zu vernehmen. Die Tonart ist höflich und wohltemperiert. Gespräche nach Landesart sind ohnehin behaglicher als zu Hause, bereits Fontane hat notiert dass alle Franzosen Sanguiniker sind, und überdies breitet der Sommer freundlich seine Hände über ihnen allen aus. Außerhalb des steingefügten Hauses weht beständig eine freundliche Brise vom Golf von Biscaya her, und auch die altgedienten Mauersteine setzen ihre Leiber genießerisch dieser Wärme aus.
Wenn man sich alte Gerätschaften ins Haus holt, Nestoren der Nützlichkeit, so holen die einem wiederum in ihre eigenen Vergangen-heiten hinein. Mit den alten Gegenständen wandern fremde Biografien ein. Die Kommode hat früher Edleres verwahren dürfen als nur Heftpflaster und die Schulstifte der Kinder, darum zieht sie jetzt die Nase kraus, vielmehr das Furnierholz, weil sie ja keine Nase hat, ruhten doch in ihr Corsagen, die nur einmal im Jahr hervorgeholt worden sind und Negligés aus Brüsseler Spitzen zwischen Lavendeltäfelchen einer hochnoblen Firma aus Toulouse als Duftwächtern. Auch die Schatulle ist pikiert, sie hat bei ihren Vorbesitzern gesiegelte Briefe gehütet und die allerersten Ansichtskarten aus Biarritz und Gouadeloupe. Und nun gibt man ihr Gummibärchen und Zahnspangen zur Aufbewahrung ! Und der stumme Diener hat in seinem Vorleben Zylinder und gesteifte Hemdbrüste apportiert, Gamaschen und Panamahüte, und nun muss er sich von Joachims tropfenden Badehosen durchnässen lassen.
Die Kaffeemaschine lässt heraushängen, dass sie die teutonische Art der Kaffeebrühens missbilligt, und nur das Gestell, das früher email-lierte Waschschüsseln tragen musste, ist dankbar für sein Avancement zum Blumenständer. Zwischen ihnen, recht unangemessen unbeschei-den, ein Gerät, das nicht preisgibt wozu es eigentlich hergestellt wurde und zu was sein hölzernes Schraubengewinde, seine Greifarme und seine pathetische Blechhaube eigentlich zu gebrauchen sind. Nicht einmal der Verkäufer konnte da einen Hinweis geben. Und ließ sich trotzdem nicht herunterhandeln. Felix hat das obskure Ding trotzdem erstanden, aus Neugier und aus Mitleid zugleich. Mitleid für das undeutbare Etwasding. Nun thront es selbstzufrieden auf der Konsole, lächelt verschmitzt und bringt mit seinem Geheimgehabe alle, auch die Damen und Herren Mit-Objekte ins Grübeln.
Herausgerissen sind die nun alle aus dem vertrauten Milieu auf dem brocant, wo sie ihr Schwätzchen zu halten gewohnt waren mit der rostigen Modelleisenbahn links, der seit eh und je die Lokomotive fehlte, dem Betstuhl links und den Schellackplatten mit der eingra-vierten Stimme von Charles Trenet, dem Papp-Globus mit den leuch-tend gelb gedruckten Kolonien auf dem Stand von 1902 und dem Schuhmacher-Amboss und den Küchenkellen, alles Schwestern, die wüste Histörchen zum besten gaben von karibischen Pfeffersoßen und dadurch aufgeheizten Hausherren, die am Herd ihre Fleischeslust suchten, während die Gattin droben im Esszimmer aufs Diner wartete und das neu eingestellte Küchenmädchen aus der Auvergne nur eben eine von diesen Kellen zur Hand hatte zur Verteidigung ihrer Jung-fräulichkeit, was glauben Sie wohl, woher die Delle in meinem Schaft kommt ?
Aber nun, in dem gänzlich neu sortierten Ensemble im Ferienhaus, wie soll man da ins Gespräch kommen über Charles Trenet, das Kolo-nialreich und die unzüchtigen Cheyennesoßen mit hochmütigen Petro-leumlampen, die nur ein einziges Thema gelten lassen, nämlich wie grobianisch ihre verletzlichen Höschen angezündet werden von diesen, na Sie wissen schon, diesen neu zugezogenen boches.
Und der verewigte Vorbesitzer des betagten Rohrsessels, könnte er sich nicht just im selben Moment wie Felix in eben diesem nieder-lassen? Felix muss ihm zuvorkommen und die Geschichte dieses Rohr-sessels erzählen, damit die Kinder anerkennen wer hier der Herr im Haus ist. Der vorige Rohrsesselsitzer lässt das natürlich nicht auf sich sitzen, sondern umso schwergewichtiger und damit vernehmlicher in seinem vertrauten Rohrsessel herum knarzen. Das Knarzen des alten Weidenrohrs fällt Felix ins Wort, aber der schürzt seine Geschichte vom Rohrsessel und seinem Vorbesitzer und sich selbst, dem Felix, so spannungsreich, dass nicht mehr geknarzt wird sondern alle nach und nach schweigen. Und wenn Felix geendet hat, ist er in eine neualte Familie aufgenommen worden.
Die Sippe der freundlichen Dinge.
Und in der Nacht sieht man die Sterne viel klarer als im Binnenland.

Nun wird meine Schöne umziehen.
Hierher werde ich sie umziehen lassen ans Meer vor dem sie immer schon gestanden hat, auch wenn es nur ein gemalter Tümpel war, der sich hinter aufgeschäumt groß tat. Aber nun werde ich ihr den wirklichen Atlantik bieten, mit Winden von weither, bis aus Amerika, und mit warmem bernsteinfarbenen Sand, der ihre Haut küsst und rötet und ihr huldigt, und gewaltigen Brechern, die ihr ebenfalls huldigen und die sie nicht ängstigen weil ich sie beschütze. Die Sonne der Küste wird ihre blasse Haut verwöhnen, sie wird zur Sommer-schönheit werden, die bisher nur die verborgene Winter-Schöne hat sein dürfen. Sie wird endgültig ihr Refugium finden in dieser bizarren Villa der Mauergrillen, der hintersinnigen Gegenstände und der weisen Eidechsen, das ich ihr zu Ehren mit poetischen Dingen besiedeln will, damit sie Zwiesprache halten kann nachdem sie so lange hat schweigen müssen.


Hier im Sommerhaus werden die Dinge magisch, auch die mitgebrachten, kein Gegenstand ist so recht am Leben wenn er nicht ein Mysterium um sich hat wie eine Staubschicht.
„Oh was war das für ein göttlicher Tag“ schwärmt das Buch, „als ich mit an den Strand durfte um dort gelesen zu werden. Ich wurde eigentlich gar nicht gelesen, meine Seiten 123 und 124 lagen nur auf-geschlagen da und genossen die Sonne. Sie müssen wissen, es waren die Seiten wo Elisa und Maurice einander näher kommen, erotisch gesehen. Eine Szene die eigentlich der Dämmerung angehört, noch dazu spielt sie in Oslo, wo das Licht ganzjährig spärlich sein soll. Aber keine Rede davon an diesem Tag im August und am Strand ! Es war der 21., ich werde es nie vergessen. Der in mir gelesen hatte, hat mich einfach vergessen, mich weit aufgesperrt liegen lassen, tobte in der auflaufenden Flut herum. Jedenfalls tobten hinterher Sturzbäche von Meerwasser auf mich herunter, als er irgendwann zurück kam.
Und ich wurde derweil von der Sonne versengt. Ja, richtiggehend versengt. Ich hab mir einen veritablen Sonnenbrand geholt. Man sieht ihn noch immer, Jahrzehnte später ! Natürlich nur, wenn man meine Seiten 123 und 124 aufschlägt. Selbstredend erzeugt das Hader in mei-nem Inneren, wie Sie sich leicht ausmalen können. Die anderen Seiten sind anämisch geblieben, käsig, so druckpapierfahl wie Druckpapier nur fahl und käsig sein kann. Dagegen ich…Blättern Sie, ich bitte, blättern Sie. Seite 123…“
„Oh wie ich das verstehe ! Ich wäre zwar nicht ausgeblichen, ich bin ja von Haus aus farbecht, aber hätte ich dieses Erlebnis nicht gehabt, am Strand liegen zu dürfen…diese volle Anforderung meines Berufes ! Den Schweiß der Menschen in mich zu saugen, und dann drüber das Salzwasser, mit seinem Plankton, seinen Algen, dieses ganze Parfüm von Ozean und verwesten Fischen, Sie verstehen was ich meine, und das mir ! Einem doch an sich synthetischen Wesen aus Baumwolle und Perlon…und unter mir der sanft mahlende Sandboden. In gewisser Weise Weizengries und Marmorkorn zugleich, und im Sandboden darunter diese winzigen pieksigen Krebschen, die in mein Frottee gebissen haben hier und da und dort…“
Der Monolog geht im eigenen Kichern unter.
„Auch mich hat das Stranderlebnis zur äußersten Erfahrung meiner Existenz geführt“ weiß ein Wesen aus Metall, „gemeinhin nimmt man unsereins ja nicht mit an die Küste. Aber heutzutage, wo die Kollegen Computer so hyperempfindlich geworden sind …und ich danke es ihnen ! Ich danke ihnen für die Nachmittage, die ich statt ihnen an der plage von La Gautrelle verbringen durfte, die Mittagssonne hat auf mein Farbband gebrannt, gnadenlos ! wann habe ich dergleichen je im Büro erlebt, aber mein Farbband ist nicht ausgetrocknet, sondern hat stand gehalten, und erst meine Walze ! Meine Walze hat gedreht sogar noch unter dem Geriesel des Sandes, ohne zu knirschen, und meine Tasten, probieren Sie nur…“
Da decken die Stimmen der Mauergrillen den metallenen Alten zu. Mauergrillen wollen auch einmal an den Strand, Sonnenbrand, Sand-burgen, Ebbe und Flut kennen sie nur vom Hörensagen. Aber sie saugen Vergnügen aus fremdem Vergnügen und setzen es sogleich in Gesang um.
Die Waschmaschine will endlich zu Wort kommen. Angeschafft vor überlanger Zeit, wie sie findet, fristet sie hier ihr Leben zwischen Alter-tümlichem aus vergangenen Jahrhunderten –
„Wer glauben Sie denn dass ich bin !“ kreischt sie wie eine Diva beim Theater, die sich übergangen meint, schon wieder hat der Intendant einer anderen die Hauptrolle zugeschanzt. Dabei hat sie, die Wasch-maschine, viermal die Bestnote bei der Stiftung Warentest vorzuwei-
sen –
„Mein Bauch ist aus Edelstahl, edler geht’s nicht mehr, streiche nur mal wer über meine Trommel !“
Aber nicht waschen dürfen, das ist eine ebensolche Verwundung für eine Bestbenotete wie nicht Mutter werden zu dürfen für eine Men-schenfrau. Da fällt ihr die Geschirrspülmaschine ins Wort. Zusam-mengeschraubt wurde sie mit der Berufsperspektive, dass sie - „Sogar fragilste Kristallgläser ich betone : fragilste Kristallgläser sensibelst, ich betone sensibelst ! schonend zu baden weiß. Ich betone : schaum-baden !Aber ich bitte Sie, wo ist hier sensibles Kristall in dieser Kate !“
Hier fallen ihr die Petroleumlampen ins Wort, alle ins oberste Bord geräumt, eine grünspanige Phalanx des Beleidigtseins. Vordem sind sie die Könige hier gewesen. Von ihrer Gnade hing es ab, ob man die eigenen Schuhspitzen tief da drunten im Dämmer erkennen konnte oder eben nicht. Bis eines unseligen Tages Rabauken eindrangen in blauem Drillich, Rohrleitungen in die Wände stemmten, obskure Apparaturen an die Decke schraubten, und das Haus war mit grellem Blende-Licht überflutet, ihr Reich elektrifiziert –
„Wenn ich das Wort schon höre ! das klingt ja wie desinfiziert oder mumifiziert !“
„Und wir selbst“ setzt die kleinste und grünspanigste der Petro-leumlampen hinzu, eigentlich ist sie ja eher schon eine Funzel „und wir selbst sind darüber zu Femdlingen geworden in unserem Haus“.
Auch das Bügeleisen meldet sich zu Wort, da kann auch sein Bügelbrett nicht schweigen, der Gemüsehobel stimmt mit ein und der Gasanzünder, das Sirren des Ventilators aber überlagert sie alle. Und sobald der sirrt, müssen auch der UV-Strahler und der Haartrockner sich Gehör verschaffen. Die drei bilden eine Gemeinschaft im Hass, die sie aneinander gekettet, auch wenn sie in weit entfernten Schlie-mannschen Schichten eingekeilt sind.
Der Ventilator ist ein Überlebender jenes denkwürdigen Sommers, in dem die Bewohner des Hauses bereits im Mai unter 32 Grad Celsius litten, und das in der Nacht. Der UV-Strahler ist ein Überlebender des selben Sommers, nur eben des Juni, als die Temperatur auf unter 8 Grad fiel und die Sonne ihrerseits Ferien machte. Der Haartrockner ist ein Überlebender der prachtvoll knielangen Haarmähne Susannes, angeschafft um diese angemessen zu pflegen, aber als das Gerät im bereit stand, hatte die sich gerade für einen Bubikopf entschieden.
Alle drei Klage-Maschinen hatten niemals ihre Stunde, den Augenblick der Bewährung und Erfüllung. Alle drei Geschädigte des wechselhaften Küstenklimas und des mangelnden Weitblicks, nun seit langem unwürdig zusammengequetscht mit nicht gesellschaftsfähigen Gummi-Galoschen, Fußballzeitungen, Fischsuppen und verkarsteten Fahrradreifen. Einträchtig, wenn auch spinnefeind, schreien sie ihren Schmerz hinaus, soweit sie mit ihren zusammengelegten 241,5 Volt denn schreien können, aber übertönt werden sie von den Mauergrillen, die es sich herausnehmen in alles was hier gesagt wird mit einzu-stimmen.
Denn die Mauergrillen halten es für ihren eigenen Gesang.
Die Kinder verlangen, dass Felix ihnen übersetzt was die Mauer-grillen vorbringen. Und Felix übersetzt. Nicht eben wortgetreu, denn Mauergrillen bilden keine Sätze, aber tongetreu, denn sie offenbaren sich in langen ostinaten Melodiebögen.
„Wir sind die Besitzer hier, singen sie.“
Empörungsgelächter der Kinder.
„Unverschämtheit !“
„Hörts euch an, sie haben unwiderlegbare Argumente“.
Die Mauergrillen haben das Wort. Sie schrilpen und schralpen, und die Kinder finden immer mehr ihrer Argumente einleuchtend.
„Ihr müsst ihnen drauf erwidern“.
Felli und Wux spitzen die Münder und bemühen sich, so mauer-grillisch wie möglich zu pfeifen. Sie pfeifen sogar besser, lauter und stichhaltiger, sie pfeifen die Argumente der Mauergrillen unwiderlegbar nieder.
Wie sie finden.
Aber die Mauergrillen geben nicht klein bei, geben sich nicht widerlegt, sie schließen sich dem Gelärme der Kinder an, als wärs ihr eigener Gesang. Nach so viel Verbrüderung im Gesanglichen wäre nun auch eine Verbrüderung im Händeschüttlerischen fällig, ein gegen-seitiges Guten-Tag-Sagen und Ich bin der Joachim und wie heißt du ?
Aber die Mauergrillen kommen nicht aus ihren Höhlenwohnungen heraus und wetzen ihre Schnäbel nicht zutraulich an den Menschen, wie es die Wellensittiche tun. Sie tun es nicht, muss Felix erklären, weil sie etwa Stoffel wären und den Kindern spinnefeind, sondern sie tun es wegen der Akustik. Zwischen den Steinen hören sich ihre Klänge raumgreifender und fülliger an, darin sind sie so eitel wie die Wasch-maschine.
Man könnte die Mauergrillen auch freundlich behäbige Autisten nennen. Oder auch Egomanen oder Solipsisten, aber beides prallt an ihrem Chitinpanzer ab und an ihrem wurstigen Gemüt.
„Aber wir sind ihnen zugetan, weil sie viel schöner singen als wir. Und ausdauernder“.
„Und gefällt das auch den Eidechsen ?“
„Das gefällt den Eidechsen nicht `n Pups, die geben doch nie nich`ne wem `ne Antwort.“
„Aber die sehen sich am neugierigsten um. Sie sind die aufmerk-samsten Beobachter.“
Fast hätte Felix gesagt : Zeitgenossen.
„Du meinst, die schnüffeln heimlich in unseren Sachen rum ?“
Und sehen nach, ob die einigermaßen geordnet sind. Als das Klo-becken installiert ist, ist es nicht ein Kind igitt ich muss doch noch gar nich ! sondern eine Eidechse, die es einweiht indem sie hinein fällt und mit großen Augen darum bittet, wieder heraus geholt zu werden. Ge-dulde dich, schöne Freundin lacerta viridis, du musst erst den Kindern deine Eleganz vorweisen. Deine Farben, blau, grün, den Schimmer deiner Schuppen, wie von einem Silberschmied gehämmert, deine filigranen Zehen. Die Linien auf dem schlanken Körper, die sich zu Geheimschriften ordnen. Man muss sie nur zu lesen verstehen.
Jedes Kind darf die Eidechse in die Hand nehmen. Sie spreizt sich, aber sie wehrt sich nicht, beißt nicht, genießt das Dunkel in den Kinderhänden und die Wärme dort.
„Sie lieben Wärme über alles. Sogar ihre Kinder lassen sie von der Sonne ausbrüten.“
Die tragen dann ihr Leben lang die Sonne in sich.
„Aber wenn Nachbars Katze kommt und sie zum Frühstück will ?“
Dann knickt sie sich den Schwanz ab, an einer Kerbe hinter dem sechsten Rückenwirbel. Das böse Raubvieh, das die Eidechse ver-speisen wollte, hat nur noch den abgeknackten Schwanz im bösen Maul, und der Schwanz ringelt sich als wäre die Eidechse noch dran. Aber die hat sich längst in der Mauer verkrochen.
„Das is doch keine Geschichte, das is Biologiestunde“.
„Du musst uns aber Geschichten erzählen, wenn du uns schon nich `n Fernseher hinstellst.“
Der Fernseher ! Beatrix und Felix haben die Felli und Wux im Sommerhaus endlich für sich. Zuhause steht zwar auch keiner, aber da suchen die Kinder ihre Freunde heim, um anderntags in der Schule mitreden zu können über das Programm vom Vortag. Und danach hat man sie noch weniger für sich, weil sie sich damit vorgefertigten Fantasien ausliefern.
Hier aber vergisst Joachim, dass er eigentlich Fernseh-Indianer wer-den will. Und Susanne vergisst dass, sie Little Joe heiraten will und zu ihm auf die Bonanza-Ranch ziehen. Nun sind die beiden sie selbst und holen keine fremden Bilder in sich hinein, sondern eigene Bilder aus sich herauf.
Wie auch aus Felix.
„Und wo bleibt nu die Eidechsen-Geschichte ?“
„Hier ist sie. Die schöne Melusine und der roi lézard.“
„Wer ist die schöne Melusine ?“
„So hat das Volk sie genannt.“
„Und wie hat sie in echt geheißen ?“
„Eleonore von Aquitanien. Sie war Königin hier.“
„Und warum haben wir sie nicht kennengelernt ?“
„Weil die Geschichte die ich erzählen will schon viele hundert Jahre her ist.“
„Und warum erzählst du die Geschichte nicht endlich ?“
„Die schöne Melusine und der roi – „
„Wer ist denn nu wieder der Roah ?“
„Das heißt König.Und lézard heißt Eidechse.“
Susanne hat es nun begriffen und ruft gebieterisch :
„Die schöne Melusine und der roi lézard !“
Als aber nun die schöne Melusine das siebte Jahr - oder wars schon das achtzehnte ? ach, es haperte mit der Zeitrechnung zum Erbarmen zu ihrer Zeit, aber nicht nur mit dieser – als also nun die schöne Melusine erbarmenswürdig lange in dem Turm gesessen, in den ihr arger Sohn, der König Richard Löwenherz sie gesperrt hatte, da hub sie an in den Atlantiksturm zu rufen, der an ihrem Fenstergitter rüttelte :
„Weh mir, der schönen Melusine, meine Jugend schwindet hin, der Mauerschwamm im Turmverlies frisst meine Schönheit auf, und mein arger Sohn sendet mir keinen Schlüssel !“
„Was hör ich da kreischen, du garstige alte Vettel“ schrie ihr arger Sohn von England her dawider, denn er war König dort zum Schre-cken all seiner Untertanen und seine mächtige Stimme rang sämtlich seine Feinde nieder, so zahlreich sie auch waren, und bezwang sogar den Sturm der die Küste Aquitaniens umheulte tagaus tagein.
“Ich höre dich Melusine nennen“ schrie er „du dreiste Schickse ? Dabei bist du eingesperrt und das zu Recht als Königin Eleonore die ein Ungeheuer in die Welt gesetzt hat vor dem es sogar den Norman-nen graust“.
Und alle Welt verstand : jetzt redet er von sich selber.
„Eingerahmt“ schrie er, „ von zwei Brüdern die Kretins sind, trief-äugig und mit je einem Ziegenhorn dort wo anderen Ohren wachsen !“
„Ganz wie der Papa !“ rief da beseligt die schöne Melusine und grämte sich zugleich, dass es ihr für ihr berühmtes rotes Haar eines Kamms gebrach, dieweil der Mauerschwamm weiterhin redlich sich bestrebte, ihre Schönheit zu zernagen. Und richtete dennoch nichts aus, indes ihr Sohn, der arge Richard ob solcher Reden von Tag zu Tag mehr in Hässlichkeit verfiel gleichwie ein Erdkrott, so dass es in England regnete und hagelte Jahr um Jahr gräulicher und die Themse zufror anlässlich sogar des heiligen Pfingstfestes .
Und als sie, die schöne Melusine, darob ein Tränchen oder zwei vergoss auf das Fensterbord, erscholl von dort ein fröhliches Rascheln.
„Lass mich dein Haar durcheilen, schönste Königin, oh ja, ich darf durcheilen sagen, denn meine Krallen wirken wie ein Kamm, und mit dem Schweif zerteile ich zudem deine Strähnen auf dass du Zöpfchen daraus kannst flechten“.
„Was denn Schweif, wer denn Schweif“ rief da bass erstaunt die schöne Melusine „ist es ein Frettchen, das da zu mir spricht ?“
„Geh Frettchen ! „lachte es da hell, „ich bin der roi lézard“.
Und siehe da, vor ihr saß kein anderer als der Eidechsenkönig, hoch aufgerichtet auf die Hinterbeine und bracht‘ ihr seine Huldigung dar.
„Aber wie „ rief da die schöne Melusine“ soll ich deine Dienste dir entlohnen ? Mein Sohn lässt mich gar arg hier darben und schickt mir keinen Nickel.“
„Mit dem Darben hats ein Ende nun, o Schöne“ versetzte froh der roi lézard.
„Wenn ich dein Haar gekämmt hab, wollen wir zusammen Futter jagen gehen, und Rosenkäfer fangen, Tausendfüßler, Marienkäferchen und fette Würmer und sie froh zusammen dann verzehren unterm Holderbusch.“
Und so geschah’s. Und der arge Richard Löwenherz kriegte keinen Bissen ab.
„Geschieht ihm recht !“
„Gemein, jemand einsperren…“
Löwenherz hat seine Mutter eingesperrt, obwohl sie so schön war, und kam dafür in die Hölle. Und Felix sperrt eine andere Schöne ein, obwohl der Goebbels schon so lange in der Hölle ist

1964
Und wir wollten doch ans Meer. Muscheln sammeln, Seesterne, Strandgut, und nebenbei ein paar herumliegende Wunder. Aber der Regen lässt uns nicht hinaus, tagelang der Regen. Er tut den Laubfröschen gut, belehrt Beatrix. Den Kindern ist es ein Tort, drinnen anhören zu müssen wie die vorlauten grünen Bengel es sich draußen im Regen wohl sein lassen, der Wux und Felli einsperrt. Da muss ein Feuerchen her. Wozu haben wir den ehrwürdigen Kamin, in dem es manchmal nächtens so unheimlich rumpelt und der sein Gesims in die Stube reckt wie das Kinn eines Riesen. Und dazu haben wir Treibholz, das am Strand aufgesammelt worden ist als die Sonne es gerade gut mit uns meinte, und die Badegäste, faul auf ihren Handtüchern hingesteckt zusahen, wie Wux und Felli, Beatrix und Felix angeschwemmte Schiffsbalken, Kisten und Äste die Dünen hoch schleppten.
Die Hölzer haben, obwohl sie nun schon seit Wochen um den Kamin herum gelagert wurden, je ihr Quantum Meerwasser mitgebracht und geben es nicht mehr her. Man muss viel Geduld aufwenden, wenn man es anzündet, nicht nachlassen sie mit Kerzenresten und Petroleum zu begießen und damit ein bisschen umzustimmen. Ein langwieriges Spiel, bei dem das Zündlerische und Brandstifterische in den Kindern zu seinem Recht kommt. Sie werden für ihre Beharrlichkeit als Zündler belohnt, entschädigt für das Flammenlose der Großstadtkinder, denn im Kamin fängt sogar noch das verstockteste Treibholz Feuer. Das ehedem vielleicht einmal ein Besanmast war oder ein Klüverbaum.
Als hätte der Besanmast oder der Klüverbaum selber Freude an seinem letzten Auftritt, bequemt er sich zu brennen, weil er von Kin-dern herausgefordert und gekitzelt wird. Immer von der Mitte her. Und je mehr diese Mitte in Glut übergeht, schießt zu beiden Seiten durch die Schnittflächen das Seewasser heraus. In heftigen Spritzern, die alle zum Lachen bringen als ob der pinkelt ! Der Klüverbaum auf seiner allerletzten Fahrt. Ein Spektakel für Kinder ist ein würdigerer Abgang als im Meer elend von Schwämmen zerfressen zu werden oder zu Modder zerbreit, der nicht einmal mehr den Fischen schmeckt.
Und die Kinder vermissen schon wieder den Fernseher nicht.
Weil sie sich ein noch längeres Schauvergnügen wünschen, schich-ten die Kinder Pinienzapfen auf den nun rundum brennenden Stamm, Verschnittholz vom Bau der Treppe, diesen Vormittag erst abgesägte Zweige vom Kirschlorbeer, Äste der großen Pinie und vom vorlauten Feigenbaum, der den Garten nicht zu sehr mit seinem Schatten überschwemmen soll.
Die Pinienzapfen knattern wie ein ganzes Volk von Kastagnetten, die Feige wirft weiße Blasen, das Harz der Pinie übergießt das Feuer mit Duftregen. Prasseln. Stimmen in den Flammen. Kaskaden. Das Ka-minfeuer erzählt dramatische Geschichten und holt weit aus dabei, entwickelt Seitentriebe und Drüber- und Drunter-Anekdoten. Und wenn alle meinen, es habe den Faden verloren und die Nahrung für seine Flammen auch, dann springen unvermutet hervorbrechende Harz-quellen auf, entzünden alles neu, und den Geschichten fügen sich neue Kapitel an.
Noch tagelang wird duftender Rauch im Haus hängen und die Balken, Vorhänge und Bettbezüge mit Harzgeruch beizen.
Felix hat Pause als Geschichtenerzähler und darf zuschauen, wie statt seiner die Flammen erzählen. Wux, der mit dem Schürhaken das Feuer zur Arbeit anhält damit es nicht einschläft, schläft selbst ein. Beatrix will den kleinen Feuermeister, der sich so verausgabt hat, sanft ins Bett verfrachten. Aber Felli ist durch die Kaminhitze unternehmungslustig geworden.
„Jetzt werden Knickbilder gemalt !“
Da wacht auch Wux wieder auf. Und sie zeichnen drauflos. Aber keiner darfs sehen. Das Blatt wird geknickt, und der nächste ist dran mit dem Bleistift. Susannes Zunge angelt nach ihrer Nasenspitze wie immer. Und Joachim, eben noch Hüter des Feuers, hat zwei ernsthafte Stirnfalten, über die sich quer eine Spur von Ruß legt.
„Fertig !“
Felix darf das Blatt entfalten. Es beginnen die Freuden der Auslegung.
„Ein Strand voller Muscheln.“
Aber ist es wirklich ein Strand, wo er doch unten Räder dran hat und davon rollen kann ? Und da ist ein Seestern voller Vögel, das sieht jeder. Aber ist es wirklich ein Seestern, wenn aus ihm doch Pantoffeln heraus wachsen ? Und wo sind die Leute, die ihre Füße in den Pan-toffeln stecken, wenn der Seestern doch auf zwei Lichtmasten balan-ciert wie ein Storch und unten dran eine bunte Krähe in der Hängematte schaukelt ?
Solange jemand an seinem Abschnitt zeichnet und die Hand davor hält, ist er ganz bei sich und in seinen Geheimnissen. Ein kleiner Schöpfungsakt, eine kleine Kammer in der mit Fantasiesuppe gekö-chelt wird, die zum nächsten, der das geknickte Blatt bekommt, hinüberschwappt und schon wird eine ganz andere Fantasiesuppe dort gekocht. Zwei oder Strichlein nur, die über den Falz hinüberlaufen auf die noch leere Seite, und schon entsteht eine neue kleine Schöpfung, von der noch niemand etwas weiß.
So wie damals im Paradies, kennt ihr die Geschichte ? Als außer Gottvater noch niemand da war, um Gottvater zuzuschauen, wie er die Welt erschuf. Der ganz allein daran herum geknetet hat, verworfen, ärgerlich wurde über seinen Pfusch, wieder verwarf, neu knetete, malte, strichelte. Wie wir.
Eine gute Geschichte, meint Beatrix, wir haben das Meer davon, die Ananas, die Eidechsen und die Kirschen. Eine schlechte Geschichte, hält Joachim dagegen, wir haben den Regen davon, die Grippe, und den Hagel und die Schule und die Nacktschnecken und….Eine gute Geschichte, meint Felli, denn wir können das doch alles auf unser Papier zeichnen und ummodeln. So lange zurecht malen, versteht ihr, bis es uns passt !
Gemeinsam wird es mit Buntstiften ausgemalt. Und Wux beginnt dabei, mit seinen rußschwarzen Falten auf der Stirn, eine Geschichte zu erzählen von Gott im Paradies, wie der die Schule erschuf und Fenster und Türen sogleich mit Kirschbäumen zu wuchern ließ, und Beatrix erzählt, wie die Grippe am Strand spazieren ging und eine Nacktschnecke traf und Felix erzählt, dass die Grippe so geniest hat, dass die Nacktschnecke einen Schirm aufspannen musste. Und nach zwei Sätzen erzählt Wux weiter, und Felli, und Beatrix, und bei diesen Knick-Geschichten bedeckt sich ihr Faltbild mit immer mehr Farben.
Der Regen draußen wird eifersüchtig. Er wünscht sich aufhören zu dürfen, damit er hereinkommen kann und mit malen.

1965
Spinnweben schwappen herab, dem Eintretenden entgegen und strei-cheln ihm ungebeten Gesicht und Ohren. Warum nur spulen die Spin-nen ihre Netze aus ihren Leibern heraus, warum spannen sie so wag-halsige und kunstvolle Trapeze aus, welche anderen Kerbtiere kann es hier zu jagen geben ? Die Mauergrillen, ihre Nachbarn, können ihr Beutevolk nicht sein, denn Mauergrillen segeln nicht durch die Luft. Oder haben die Weberknechte, dünn und staksig wie sie sind, ihre Netze für sich selbst als Schutz errichtet ? Oder als Abwehrschleier für das Sommerhaus, um alle seine Bewohner zu schützen ?
Ins Waschbecken sind zwei Eidechsen gefallen. Ein Ehepaar ? Nur die eine Eidechse hat überlebt, spreizt sich dankbar in Susannes ge-schlossener Hand, wenn sie ins Freie getragen wird. Wie lange haben die beiden sich wohl abgekämpft an den gnadenlos glatten Keramik-wänden ? Tage ? Wochen ? Monate ? Seit dem letzten Hiersein ? Sanft aufgesetzt, schaut die Überlebende sich noch einmal um. Dankbar ? Wird man sich wieder begegnen ? Als Freund, Hausgenosse, Nachbar ?
„Bonjour, madame lézard, wie viele köstliche Regenwürmer haben Sie heute schon verspeist ? Haben Sie den Schock überwunden, ver-zeihen Sie dass ich das erwähne, von damals aus dem Waschbecken ?“
Die Stromrechnung ist wieder einmal nicht bezahlt, die Wasser-rechnung auch nicht. Das Logbuch, das jeder, der das Haus verlässt of-fen auf den Tisch zu legen gebeten ist, wo es den Neuankömmling willkommen heißen soll, enthält nur Beschwerden, Mahnungen, Quit-tungen. Und selbstbelobigende Kühnheiten über Großtaten wie „wir haben einen neuen Gasanzünder angeschafft“. „Das Fenster zur Gasse hin geputzt.“ “Haben zwei Körbe Pinienzapfen für den Kamin gesammelt.“
Diese Zapfen, Beitrag zur Erwärmung des in den Wintermonaten aus-gekühlten Hauses, zusammengeklaubt in, wenn’s hochkommt, zehn Mi-nuten, sind nicht aufzufinden, weil eingepackt in Werbepostillen und fettige Illustrierte aus dickem Kunstdruckpapier, die niemals Feuer fangen werden auch wenn man Benzin zu Hilfe nähme.
Aber nie steht ein Gedicht im Logbuch.
Oder eine Preisung dieses Ortes. Dafür starren Rudel von Konserven-dosen dem Eintretenden entgegen, Schuhe, Regenzeug, Netze, Regen- und Sonnenschirme, Strandspielsachen. Hinterlassenschaften vieler hier Gewesener, zu Schichten gehäufelt wie in Schliemanns Troja. Sand durchrieselt alles was da aufgetürmt ist, so weit der Strand auch entfernt sein mag. Sand hat sich in jeden Gegenstand einquartiert, Streupfeffer des Sommers, Salz des Behagens. In den Schliemannschen Schichten nistet immerwährender Sommer, Dünensand von der Sommerküste, Muscheln aus dem Sommermeer, Schneckenhäuser für Sommerschne-cken, sommerliche Seesterne.
Das Leben aus dem Wasser, in das Sommerhaus vertragen.

Die Schöne ist der Sommer in Person. Der Sommer unserer nörd-lichen Breiten, mit Nebeltagen, kühlen Morgen, Ostwind. Der Schwar-ze hinter ihr ist der immerwährende Sommer in Person, er ist aus Breiten zugewandert in denen die bloße Haut als Kleidung genügt, die mit Ornamenten geschmückt wird zum Dank an die immerwährende Wärme, die solche Pflanzen und Früchte wachsen lässt wie er sie uns von dort mitgebracht hat.

Und dann die Futtervorräte ! Die Hekatomben von Essbarem, die hier herumfläzen.
Wer mag wohl verkarsteter sein, die Steine in der Mauer oder die Spa-ghetti ? Das eingestanzte Verfallsdatum der Fischsuppen wurde längst weggefressen vom Rost, der damit mehr Appetit bewies als die Vor-Bewohner dieses Hauses. Die für ihre künftigen Appetite aber bereits vorgesorgt haben, indem sie schockweise Heringsdosen und Erdnussbutter stapelten zwischen den Schliemannschen Schichten aus vertrock-neten Baguettes und homöopathischen Heilmitteln, der sektiererischen Adelssippe unter den Mundvorräten. Wie die Anwohner eines aufgelassenen Friedhofes ihre Kinder zwischen Grabsteinen krabbeln lassen, und anderthalb Meter tiefer vermodern die Vorfahren, so behauptet sich, wer sich hier herein traut, gegen den Verfall und seine Cousine, die Fäulnis.
Die Teekanne aus dem Studentenhaushalt, hierher ins Exil verbracht, nächtelang hat sie für ihren Kandidaten Tee in ihrem Bauch warm gehalten während des Examens, nun dämmert sie schon seit Jahr-zehnten vor sich hin als Junggesellin und hängt ihren Träumen nach, die als Earl Grey- und Assam-Tapeten ihre Innenwände verkrusten.
Alle Gegenstände im Sommerhaus sind schweigende Junggesellen und stumme Einsiedler. Oder haben sie eine gemeinsame Sprache, von der wir nichts wissen ? Spricht Holz mit Holz ? Fichte mit Rüster, sprechen beide mit dem Mahagoni ? Polyester mit Messing ? Kerzen-wachs mit Pappkarton ? Gibt die chemische Struktur des Materials aus dem sie gefertigt sind, ihnen ein Esperanto in die Münder, die sie doch gar nicht haben ? Dolmetschen ihre Moleküle ? Wenn der eine knarrt, knarrt dann auch der andere ? Wenn die Feuchtigkeit in der Spanplatte hochkriecht, wird davon dann das Gusseisen hellhörig ? Worüber par-lieren alle die vielen Gläser, mit denen der Geschirrschrank vollgestellt ist, Wange an Wange, Bauch an Bauch, zusammengekauft auf vielen weit auseinander liegenden Flohmärkten? Welcher gemeinsamen lingua franca bedienen sie sich, aneinander gedrängt von Menschenhand, wo sie doch aus dem unterschiedlichsten Glas der Gascogne, Böhmens oder Finnlands geblasen sind ? Oder auch nur gegossen, schnöder Industrie- Ramsch, und dazu bestimmt, gänzlich verschiedene Flüssigkeiten in sich aufzunehmen, Bier oder Milch oder Apfelsaft oder Genever oder 1967er Chateau de Vaugrin, und wie beschämt steht zwischen diesen hohen Herrschaften der Plastikbecher mit dem Werbe-Aufdruck, der einen rosa grinsenden rosa Bären zur Schau tragen muss. Oder verstän-digen sie sich, über ihre Rang-Unterschiede hinweg, über ihre gemein-same Sehnsucht nach Mündern, die sich ihnen auftun, um Lippen die sich an ihre Ränder schmiegen ?

1967
Neben dem Sommerhaus steht ein zweites Haus. Es kommt ohne Mauern, Dach und Bodenfliesen aus. Wenn das erste Haus fertig ist, oder schon etwas früher, wird im Baumhaus gehandwerkert. Es ist viel höher als das eigentliche Haus, man sieht weit übers Dorf mit seinen rotbraunen Dachrücken, alle mit altrömischen Mönch- und Nonnenzie-geln auf dem Dach. Die Dächer des Dorfes liegen zufrieden wie eine Rinderherde in der Dämmerung, und die Schwalben machen ihre Flugübungen um die kleinen Kamine herum. Schwalben vollführen zweierlei Flugübungen.
Bei der ersten nehmen sie ihr Abendessen ein, jede hascht und schweigt dabei und wenn sie sich verständigt haben, dass der Bauch nun voll genug sei mit Mücken, tun sie sich zusammen und lassen es darauf ankommen, wie knapp sie an den Mauerkanten vorbeiflitzen können ohne anzustoßen und schreien sich dabei ihre Angstlust aus den Kehlen.
Das Haus in der großen Pinie wird gegen Abend, während die Schwalben noch kreischen, bestiegen, angeführt von seinen Erbauern. Den Kindern. Begrüßt wird man dort von seinen Bewohnern, den Laubfröschen. Zuerst ergreift Monsieur Montand das Wort. Felix hat ihn so genannt, weil er einen gestochen scharfen Tenor hat wie Ives Montand, der Chansonnier. Näher als man diesem auf irgendeinem Konzertpodium käme, kommt man hier dem Frosch. Er schrillt einem geradewegs ins Ohr, wenn man die Leiterlatten hochklettert. Und seine Begrüßung wird sogleich erwidert und ins Unrecht gesetzt von Monieur Dupont, der ein paar Astgabeln höher sitzt und es nicht verträgt, dass er mit dem strahlenden Organ von Monsieur Montand nicht mithalten kann. Für die Kinder ist er eine Herausforderung, und sie versuchen ihn nachzuquaken. Nicht den Monsieur Dupont, der immer etwas belegt klingt, sondern den Monsieur Montand.
Beleidigtes Schweigen antwortet ihnen, und den Menschen wird beklommen. Schweigen ist eine besondere Form des Hinterhalts, und wenn Frösche schweigen, ist es besonders hinterhältig. Plötzlich quaken M. Dupont und M. Montand zusammen los, und M. Dupont klingt auf einmal gar nicht mehr belegt. Alle erschrecken, und als weideten sie sich an diesem Schreck, sind Monsieur Montand und Monsieur Dupont nun ebenso plötzlich wieder still. Als grinsten sie selbstzufrieden in sich hinein.
Die Kinder trauen sich nur mehr zu wispern, und vor lauter Gewisper bemerken sie nicht, dass die Frösche schon wieder an ihrem Gespräch teilnehmen. Mal bestätigend, mal mit Lauten wie das wollt ich auch schon immer sagen, und da kann ich dir nur recht geben. Der eine über ihnen, der andere unter ihnen, Dann wieder hört es sich an, als würden sie die Menschen beauftragen, dem Konkurrenten da oben auszurichten, sein hohes D sei nicht ganz rein gewesen, und dem da unten : bloß kein Legato bei mehr als vier Hertz ! Sie sagens in der Lautstärke und Ton-lage, wie die Menschen sie vorgeben.
„Die machen uns nach !“
Zum Verfertigen von Knickbildern ist es schon zu dunkel, darum muss Felix erzählen, wie Montand und Dupont kurzbeinig nach Paris hüpfen, dorthin wo sie alle verdammt sind, außer den Fröschen, und wie sie zu Monsieur Montand, dem echten, auf das Konzertpodium im ausverkauften Odeón kraxeln – nein, sie brauchen gar nicht zu kraxeln, der echte Montand hebt sie freundlichst hinauf, der eine Frosch sitzt glücklich auf seiner rechten, der andere Frosch auf seiner linken Hand, sie lassen ihre langen grünen Beine baumeln und zu dritt den besten Gesang ihrer Karriere los, la vie en rose, ohne Rücksicht darauf dass das ja eigentlich das ein Chanson von Edith Piaf ist. Sie singen es dem Spatz von Paris einfach vor dem Schnabel weg, und als das Publikum trampelt vor Begeisterung, als Zugabe noch les trois cloches mit der herzzerreißenden Musik von Jean Villard mit den drei schwingenden Glocken, und sie überbieten sich darin wer die am besten schwingen lassen kann, glockenstimmenhell und glockenstimmenmelancholisch, und sie können sich nicht retten vor einer Zugabe und noch einer Zugabe, bis Monsieur Montand, der Chansonnier, heiser ist und die beiden Frösche seinen Part auch noch übernehmen müssen. Und im Publikum sitzen lauter Eidechsen und klopfen Beifall mit ihren Schwänzen, ohne dass auch nur einer abbricht.
„Doch nich die Eidechsen aus unserer Gartenmauer ?“
Doch, die Eidechsen aus unserer Gartenmauer. Und alle ihre Ver-wandten aus den anderen Gartenmauern, alle zusammen sind sie im Huckepack-Verfahren nach Paris gereist, per Anhalter, und zwischen ihnen sitzt eingeklemmt der Kater von Monsieur Chrétien.
„Der dicke Kater von unsrem dicken Nachbarn ?“
Der ist ihnen hinterher geschlichen weil er so gerne Eidechsen ver-zehrt zum Frühstück aber nun kommt er nicht zu dem weswegen er sich her bemüht hat weil er immerzu klatschen muss vor Hochachtung und heulen vor Rührung -
„- bis ihm die Tatzen weh tun.“
Bis ihm die Tatzen weh tun. Und als die Glühwürmchen sich aus dem Garten erheben und ihre ruckeligen Flüge durch die Äste und Ver-strebungen des Baumhauses beginnen, werden auch sie eingebaut in die Geschichte und zu Scheinwerfern im Odéon in Paris, wo sie den dicken Kater von Monsieur Chrétien beleuchten, wenn er von den drei Sängern als Kollege Nummer vier aufs Podium gehoben wird. Jeder hier im Dorf der ihn bei Nacht Arien hat singen hören weiß : er hat einen fa-mosen Heldenbariton, der jede Kätzin erweicht. Und nun sollen es auch die in Paris wissen, auch wenn sie verdammt sind.
„Eine Fledermaus !“
„Drei…vier Fledermäuse !“
Daran, wie eng sie das Baumhaus umflattern, ist bereits zu erkennen dass die nicht nur einer Geschichte lauschen, sondern auch in einer Geschichte vorkommen wollen. Und so beginnt Felix zu erzählen von Fledermäusen, die Ives Montand trafen als der stockheiser war wie dann auch die Mauergrillen -
„Nicht weiter erzählen…Wux muss mal !“
Es wird unterbrochen, heißt das, bis Joachim von seinem Gang zum Lokus zurück ist. Der Lokus ist ein magischer Ort. Urtümlich und im Röhren-Bunde mit der fosse. Einer Wortverwandten des Fossils und all dessen was vergraben, unterirdisch, höhlenhaft und unheimlich ist. Die Ausstülpung eines unsichtbaren Riesenbauchs aus Eisen, der stoisch tief in der Erde liegt und verschluckt was die Gedärme und Blasen der Menschen, die das Haus bewohnen nicht mehr bei sich behalten können. Niemals kommt die Rede auf die fosse, obwohl sie allen zu Diensten ist. Felix stellt sie sich vor wie den Kessel einer vergrabenen Dampflokomotive, mit einem schornsteinartig hoch ragenden, aber gleichfalls vergrabenen Rohr, auf dem im Garten unauffällig ein Gullydeckel liegt. Wenn die fosse, der Dampflokomotivenbauch voll ist, wovon man sich überzeugt indem man den Gully aufschraubt und einen Eisendraht in die Tiefe hinablässt, dann wird der Auspumper geholt.
Die Auspumper bilden eine exklusive Loge auf der Insel. Sie fahren früh am Morgen mit mächtigen Tankwagen vor, neben denen die Häuser wie Hundehütten aussehen, rollen gewaltige Rohre aus, deren Anblick sich niemand zumuten will, und vor dem gewaltigen Gewum-mer ihrer Absaugmotoren verschließen sich alle Fenster und Türen. Die Logenbrüder sind ständig ausgebucht, ihr Handwerk hat goldenen Boden und goldene Zukunft, hundertsiebenunddreißig Minuten täglich gibt sich die statistische Durchschnittsfamilie hier-zulande dem gemeinsamen Vergnügen hin, reichlich Speisen zu sich zu nehmen und mit reichlichen Getränken hinunter zu spülen, sanguinische Naturen mit imperialrepublikanischen Mägen als Zentrum aller irdischen und himmlischen Gewalten, darum hat jede Regierung bei ihnen einen harten Stand.
„Wenn Wux zurück kommt, soll er uns erzählen ob er wieder ein Gespenst in der Fosse gehört hat.“
„Oh ja, und wenn er gemein is zu mir, dann reißt es ihm das Zipfelchen ab.“
„Susanne - !“
„Es gibt kein Gespenst in der Fosse, da will doch keiner drin wohnen.“
„Aber müssen schon.“
„Müssen ?“
„Der Dante hat sich sowas ausgedacht.“
Aber nur weil er so katholisch war und dazu noch voller Rachsucht.
„Rachsucht is igitt.“
Wux kommt zurück.
„Du bist ja ganz blaß.“
“Keine Spur bin ich blass.“
„Richtig grün bist du ja.“
„Susanne - !“
Es hat sich also doch das unterirdische Gespenst wieder bemerkbar gemacht. Wux ist zu verstört um zuzugeben, wie es geknorzt, ge-pfrumpft und geflispert als er Seinige auf das Gespenst ablud, die Nacht ist schwarz genug für jede Ruchlosigkeit und wenn die Eltern auch den Kindern Schweigen gebieten, die Schwalben zwitschern um so lauter aus wer da sein Unwesen treibt. Die Laubfrösche verstummen, das Entsetzen verstopft ihnen die Kehle. Die Glühwürmchen lassen sich auf den Ästen der Pinien nieder in Armweite der Menschen, damit die sie unter ihren Händen bergen wenn das Gespenst aus der fosse heraus nach ihnen greift. Und die Fledermäuse haben sich davon gemacht. Kein Tier besteht mehr darauf, dass es in eine Geschichte hinein erzählt wird, dabei muss Felix doch toute de suite eine Erzählung auf die Beine stel-len, die das Schrecknis zudeckt das Joachim widerfahren ist, indem sie mit eigenem, dosiertem Schrecknis nicht spart. Er weist hinüber zum Wald.
„Hört ihrs ?“.
„Da gibt’s nix zum Hören.“
„Wohl gibt es da was zu hören. Die großen grauen Tiere schnarchen.“
Und die Kinder kichern. Ein Anfangserfolg für Felix.
„Man nimmt sie tagsüber nicht wahr, wenn man Pinienzapfen sammelt oder Beeren oder Trauben von den Rebstöcken, die da verwildern.“
„Wir ham da noch nie was andres zu sehn gekriegt als wie Pinien-nadeln und die liegen dürr und still aufm Boden.“
„Und die großen Grauen liegen drunter und sind noch schlauer.“
„Hohoooooo !“
Felix wird nicht geglaubt.
„Dabei könnten sie noch ganz anders. Sie haben nämlich soooolche Stoßzähne.“
Felix zeigt es mit den Händen, und das Gespenst in der fosse be-kommt eine Konkurrenz.
„Bäh ! Es gibt gar nix großes Graues im Wald !“
„Papa will uns bloß foppen.“
„Eh bien, messiersdames, dann folgen Sie mir bitte in den Wald, damit wir ihnen gemeinsam die Schnauzen kitzeln. Wenn man sie reizt, bre-chen sie hervor und reißen vor Wut die Erde auf mit ihren Stoßzäh-nen.“
Da rücken die beiden doch lieber enger zu Beatrix.
„Und wie sollen die überhaupt heißen deine Märchenviecher ?“
„Les sangliers.“
„Aber so heißen doch schon die Engländer !“
„Les anglaises heißen die Engländer. Nur wenn man bloß noch einen Zahn hat und nuschelt, werden sie zu sangliers und Wildschweinen.“
„Ha ! Die Engländer reißen mit ihren Schnauzen die Erde auf !“
Daraus gehört, unter Prusten, sogleich eine Geschichte gestrickt, die da handelt von Richard Löwenherz, und den Fledermäusen die sich nun auf einmal wieder blicken lassen, von Felli und Wux, den Engländern mit der Erde auf den Schnauzen, von den Mauergrillen mit den Stoß-zähnen und auch dem Gespenst, das in seiner fosse fast vergessen worden wäre. Nun darf es zu ihnen ins Baumhaus herauf steigen und Platz nehmen neben Monsieur Montand, dem Chansonnier und Monsieur Montand, dem Frosch. Und nun, da es in der Abendbrise sitzt, riecht es gar mehr so streng wie man erwarten würde, von rüderen Ausdrücken ganz zu schweigen, sodass Nachbar Chrétiens dicker Kater sich auf seinen Knien einrollt und von diesem heutigen Tage träumt, an dem er in Paris eine Heldenarie nach der anderen gesungen hat. Obwohl sie dort, jeder weiß es, alle verdammt sind.
Wenn die Kinder ins Bett geschafft sind, fühlen sich die Balken in Felix‘ und Beatrix‘ Schlafkammer warm an von der Sonne und von den Geschichten, die erzählt worden sind..
„Hörst du, wie die Mauergrillen uns zum Beischlaf ermutigen ?“
„Aber die plappern doch nur nach, was ich vorgeplappert habe. Dass
du ein schönes Weib bist.“
Nirgendwo ist einschlafen so schon wie hier. Weil die Sterne so klar sind wie niemals über dem Binnenland.

1968
Gotschi Ott zog mit seiner Familie ein wie zu einem Konfirmanden-besuch. Im Sonntagsstaat, hätte man früher gesagt. Jetzt war man lässi-ger, jetzt trugen die Mädchen keine weißen Netzhandschuhe mehr und die Muttis keine Fuchspelze mehr, an Sicherheitsnadeln um die Schul-tern, aber der Gestus des sonntagsfeierlichen Einzugs war noch dersel-be, und in der Tür zum Wohnzimmer blieben sie alle stehen und war-teten darauf eingewiesen zu werden. Felix bedauerte, nicht das ange-messene Sofa zur Verfügung zu haben für so sonntägliche Leute, nur eine karierte Liege und Stahlmöbel. Aber sie hätten ohnehin nicht alle aufs Sofa gepasst, denn Otts hatten vier Kinder, und Felix rechnete nach : hatte nicht auch Gotschi drei Schwestern gehabt ? Hier saßen sie nun, als Repliken über die Zeiten hinweg, drei Mädchen und ein stiller Knabe, Gotschi von vor dreißig Jahren. Dieser stille Knabe war der einzige unter ihnen, der sich neugierig umsah.
„Er sucht den Fernseher“ übersetzte seine Mutter. Auch früher hatte bei den Otts die Mutter immer das erste Wort gehabt.
„Wir haben keinen Fernseher“.
Alle Otts waren verdutzt.
„Aber Sie haben doch Kinder…“
Ja, gesunde Kinder. Viel gesünder ohne Fernseher. Sie haben die See und die Muscheln, die Sandburgen, die Eidechsen, die Knickbilder, und manchmal bieten ihnen, ihr würdet staunen, die Engländer einen Son-derspaß und graben mit ihren Schnauzen den Garten um.
„Ja. In Frankreich. Wir haben schon gehört.“
Die Otts saßen da, als wären sie eigens gekommen, um Felix zu kon-dolieren, dass er und seine Familie ein Bein in Frankreich hatte.
„Ist die Stimmung nicht sehr deutschfeindlich da, in der Bretagne ?“
„In Aquitanien, Gotschi.“
„Ich meine jetzt Frankreich generell.“
Frau Ott hatte viel vernommen von Erbfeindschaft die da drüben immer noch andauerte, das bedrohte auch sie. Und die älteste Tochter, sie lernte Verkäuferin, wusste von so mancher Kundschaft verbürgte Geschichten von Widerstandskämpfern die immer noch Racheakte ver-übten. Weswegen es nicht geraten war, sich dorthin hin zu begeben wo der Beaujolais oder die Austern hergeliefert wurden oder die Gänse-leberpasteten, die die Schwestern Ott verkauften.
Nicht Felix beendete den Disput über den Erbfeind, sondern der stille Knabe, der Gotschi von vor dreißig Jahren.
„Wenn sie keinen Fernseher haben, dann…“
Als wäre der Fernseher das Stichwort, das vorher ausgegeben worden war. Wenn sie keinen Fernseher haben, dann wissen sie nicht was Otts wissen.
„Der Klausi meint“ übernahm die Mutter „die gewisse Sendung da am Dienstag.“
Werder gegen Hannover 96 ?
„Von dieser Eröffnung von dieser Ausstellung, von dem Künstler der…jetzt, Gottfried, jetz sag schon…“
„Der unser Bild gemalt hat“ sagte Gotschi.
Aller Augen richteten sich auf Felix. Soll ich dran erinnern, Gotschi, wie du damals, wie wir alle zusammen damals mit offenem Hosenstall der Frau auf diesem Bild gehuldigt haben ? Felix lächelte, der stille Sohn nahm es als Signal entspannter Laune auf und rief laut ins Zimmer
“Was macht der schwarze Kerl ?“
„Er passt auf !“ riefen, plötzlich kichernd, die drei Schwestern.
Und “er passt auf ! Er passt auf !“ riefen nun auch die Eltern.
Und dann, da capo, der gesamte Chor der Otts :“Der passt auf ! Der passt auf ! Der passt auf ! Der passt…“
Sie konnten sich gar nicht mehr davon trennen, wie in einem endlosen Kehrreim, den sie jeden Abend aufsagten, wenn sie ihre Fernsehsitzung beendet hatten. Ausgelassene Stimmung hing nun im Raum, auch wenn der Fernseher fehlte, sie brauchten keinen Peter Frankenfeld und keine Schlagerparade, und ins Nachglucksen der Schwestern hinein sagte Gotschi, die Bilder dieses bewussten Malers, das wüssten sie nun seit Dienstag aus dem Fernsehen, würden fünfstellig gehandelt auf dem Kunstmarkt. Fünfstellig ! Und, als Felix weiter schwieg, trug Frau Ott bei, ihr Gottfried habe nachgeforscht nach dem Verbleib dieses be-stimmten Bildes, Sie wissen schon, zum Beispiel bei der Witwe Rutt-meier. Der Mutter vom Rudi.
„Die näht übrigens immer noch“.
„Seit nach der Währung allerdings auf der Maschine, und sie äußert sich ausgesprochen zufrieden.“
Aber bei den Ruttmeiers war das Bild auch nicht. Und bei Otts so-wieso nicht. Felix wusste, dass er nun etwas sagen musste, etwas beken-nen oder etwas ableugnen. Aber gerade weil die Ottschen Kinder ihn so unverwandt anstierten als erwarteten sie rote und blaue Luftballons aus seinem Mund wollte nichts aus ihm heraus.
„Schau, Felix“ übernahm nun Gotschi selbst die Verhandlungsfüh-rung,“ es gibt doch überhaupt bloß noch zwei, ich möchte amal so sagen, zwei Beteiligte.“
„Aber auch zwei Anspruchsberechtigte“ führte Frau Ott fort.
Felix und Gotschi. Der Rudi Rittmeier gefallen, ohne Erben. Der Alwin vermisst, verzogen, nach allem wie’s ausschaut Bombenopfer.
„Bleibt der Fipsi Lamprecht“.
Der Fipsi ! Nicht vor den Kindern über das reden müssen bitte, was sich mit dem Fipsi abgespielt hat.
„Mit so einem brauchst echt nimmer rechnen.“
„Aber der hat doch Erben !“
Jetzt war er juristisch in die Schlinge getappt, Felix hatte sich verraten. Und es half ihm nichts, dass er weiterflüchtete:
“Der Alfons Pframminger lebt ja auch noch“.
„Ja schon, der lebt noch. Aber halt wie…“
Schon wieder ein Biografie, die man vor den Kindern nicht ausbreiten durfte. Gotschi wollte die Chose zwischen ihnen beiden ausmachen, mit Frau und Kindern als Geschworenen und Beisitzern.
„Da ist jetz auf amal eine Konjunktur, verstehst, und die gehört doch ausgenutzt…“
„Und Sie können sogar geltend machen“ übernahm die Frau „dass Sie ein Kunstwerk gerettet haben, richtiggehend bewahrt sogar. Vor jeder nur überhaubt denkbaren Vernichtung ! Und das durch die allerhärte-sten Zeiten hindurch.“
„Selbstlos und aufopfernd. Obwohl die Zeiten wahrhaftig für Men-schen noch härter waren als wie für Ölgemälde.“
„Schau Felix, grad jetzt wo wir am Bauen sind, täten uns so an die zwanzig- bis dreißigtausend ganz schön unter die Arme greifen.“
Gotschi war also Bauherr. Freie Fahrt dem Gotschi, hinaus aus der Stadt, wo ihm der Bewegungsraum zubetoniert wurde und die er immer schmerzlicher mit den Automobilen teilen musste, hinaus auf eine eigenen Parzelle, mit eigener Hecke und eigenem Fahrplan. Und es war Felix wieder, als führe er mit Gotschi wie damals durch die vom Schutt freigeräumten Straßen, 600 Volt Gleichstrom unterm Hintern. Er versprach, auf dem Dachboden nach-zusehen.
Am selben Abend noch verstaute Felix die Schöne Gärtnerin im Auto.
Aber nach dieser Tat war er zu matt für weitere. Als habe das Ver-stauen schon alle seine Reserven an Resolutheit aufgebraucht. Wie soll er es nun heimlich auf die Insel bringen ohne dass außer ihm und der Schönen jemand davon erfährt ? Am wenigsten traut Felix sich die Hürde bei den Behörden zu. Irgendein so Oberzollinspektor in Kehl, sonst befasst mit Zigaretten- oder Tierschmuggel aus dem Fernen Osten, bewährter Mann, dreiundzwanzigstes Dienstjahr, würde in Paris um Expertenrat antelefonieren, Kunst ist ihm bisher noch nicht unterge-kommen, nein nicht Rubens, so ein Halbmoderner, so einer der in Paris rumgemalt , ein gewisser Wie- heißt-er-doch-gleich-wieder.
Und derweil würde es ins Auto regnen, Felix würde eine Wartechlange gewinkt werden, hinter ihm würden sie alle erbost hupen, er würde ein Hotelzimmer nehmen müssen, eine Kaution stellen, er würde -
Nächste Variante. Der Nachbar hat angerufen, wird Felix behaupten. Es regnet rein. Es regnet dramatisch rein. Wassereinbruch, hab ich doch immer schon kommen sehen. Nein, Monsieur Heraux der Klempner kann das nicht reparieren. Zu teuer, zu grobschlächtig, der zerstört das halbe Mobiliar. Außerdem kommt erst in vier Wochen. Felix wird auf der Stelle hier im Baumarkt Isoliermaterial kaufen. Nein, nicht erst auf der Insel, die führen das nicht, dort komm Felix erst an wenn Natio-nalfeiertag an und dann sind alle Läden geschlossen –
Nächste Variante. Den Sohn in die Mitwisserschaft einbeziehen. Männerverschwörung. Initiatonsritus. Pfadfinderschwur. Jungmänner-bund. Nein, nicht der von damals, nichts da braune Horde mit Fahrtenmessern auf einer Schotterinsel. Da liegen Welten dazwischen, da liegen die langen Demokratisierungs-Serpentinen der Nachkriegs-gesellschaft dazwischen. Als Urzelle aber und Nukleus der wag-halsigen Tat : zwei Männer, nenne retten ein Kunstwerk. Man nenne sie ruhog Desperados. Das Imago einer schönen Frau !
Und wenn Joachim darin das Porträt einer früheren Geliebten vermutet ? Verschwörerisch grinsend, aber vermuten tuts ers eben doch, der Grünschnabel ? Und wenn dann Eifersucht bei Beatrix aufkommt ? Felix würde die Schlösser verstärken müssen, die dünnen Türen gegen robuste auswechseln lassen, Gitter vor die Fenster montieren, Warn-anlagen, Beatrix würde misstrauisch fragen „Willst du etwa einen Schatz horten ausgerechnet in dieser Hütte ?“
Der Schatz, Schätzchen, ist schon da.
Oder eine Synthese aller dieser Varianten ? Sich einen der bisher Aufgeführten zum Verbündeten machen, und die anderen damit vom Platz stellen ? Jedenfalls nimmt Felix sich vor, das Bild bei jedem Halt heraus zu holen und zu fotografieren vor den Kulissen von Strasbourg, Beaune, Autun, Arles. Orte die ihrer würdig sind.Vor dem Pont du Gard. Im Amphitheater von Orange. Oder jemand bitten, ihn mit der Schönen zu fotografieren. Ein Triumphzug. Wie der, in dem Marie Antoinette sich in gleicher Himmelsrichtung zu ihrem Bräutigam von Wien nach Paris begab, mit einer Festlichkeit an jeder Station. Eine Hochzeitsreise, wenn man so will. Und er will es so. Die Schöne wird dem Licht zurückgegeben, in dem sie gemalt wurde im Hause von Paul Eluard in Paris, in dem Licht das ihr gemäß ist. Und in Saint Martin d‘ Ardéche wird Felix sie an die Gartenmauer lehnen, neben dem Relief das der Meister dort angebracht hat, die Werke werden einander bonjour sagen und die Felsen die auf dem Bild nur Behauptungen des Pinsels sind, werden leibhaftig auf sie herabschauen. Und der Schwarz-gallige wird auf der Mauer lehnen und wird -
Felix verwirft alle dieser Varianten. Aber als er am Sommerhaus an-kommt, haben die sangliers wirklich den Garten zerwühlt. Nieder mit den Engländern.
Das Bild wird im Zwischenboden verstaut, in der Decke direkt über dem offenen Kamin. Die trockenste Stelle des Hauses. Gefeit gegen den fiesen Sicker-Regen, der im Winter ungebeten in die Innereien des Hauses einzudringen versucht wenn es mit sich allein ist. Wenn Felix vor dem Kamin sitzt, kann er den Bezirk den die Schöne dort oben einnimmt, mit den Augen vermessen : von einem Balken zum nächsten in der Quere, und vom Kamin bis zu den zwei Astlöchern in der Länge.
Das Holz der Pinienbretter, die die Ehre haben ihr als Liegestatt zu dienen, erscheint ihm heller als das der anderen, die weiter hinten in die Decke gefügt sind. Wie Beatrix stets zwischen anderen Frauen die hellste ist, ohne dabei die blondeste zu sein. Er streichelt diese Bretter, so oft er hinauf schaut. Felli, mit ihrem losen Mundwerk, sagt dann jetzt hat er wieder seinen Himmelsblick. Und Wux, der Nüchterne : jetzt kuckt er wieder als ob er ein Loch in die Decke sägen will.
Und Beatrix schmiegt sich an ihn, weil sie glaubt, er steuere mit den Augen die Schlafkammer an, die über dem linken Balken beginnt.
Aber auch das Bild, das da oben verwahrt ist, bringt sich mit ein, wenn auch nur hörbar für Felix. Es grummelt wie jemand der auf einer zu harten Matratze liegt, von üblen Träumen gemartert wird, nach einem Schlafpartner sehnsüchtet, betrachtet werden will, neu einge-kleidet, an den Strand geführt werden. Sie, die Schöne unter den Schön-sten, stimmt ein in die Klage aller Bilder die nicht wahrgenommen werden. Weil man sie an Wände verbannt an denen alle blicklos vorbei eilen in Arztpraxen und Wartezimmern und Redaktionskantinen und Anwaltskanzleien und öffentlichen Bibliotheken und Maklerbüros.
Wie Blüten, die nicht bestäubt werden.

1969
Wenn Felix sich fern vom Sommerhaus in seinem deutschen Alltag befindet, suchen ihn nun besorgte Fantasien heim. Dass sich Ratten einschleichen und die Schöne benagen, die ihnen nach edlem Pariser Firnis schmeckt. Dass die Mauergrillen, statt ihr vorzusingen, lümmel-haft in ihr Wohnung beziehen und Höhlen anlegen für ihre Nachkom-menschaft. Dass die Waschmaschine und die Geschirrspülmaschine sie behelligen mit ihrem selbstverliebten Gewäsch, sie für sich beanspru-chen als Neuzugang aus der eleganten Welt, in ein Kränzchen hinein ziehen wollen von Vantiy Fair-Tussis und Bridge-Ladies inmitten von lauter Dorfpomeranzen.
„Sie erscheinen so verstört und edel hier unter all diesem Plebs, mon dieu, wir müssen uns Ihrer annehmen, Sie verschrecktes alleinstehendes junges Ding“.
Und sie werden sie warnen vor den Milben, denen die Bettpolster allzu arglos Unterkunft bieten und deren so schamlose wie überreiche Nachkommenschaft eher früher als später auch sie heimsuchen wird, das alleinstehende jungen Ding, und dem Mauerschwamm.
„Den Mauergrillen macht er ja nichts aus, aber unsereinem von der haute volée, wir haben doch eine ganz anders empfindliche Oberfläche, gell.“
Und den zähflüssigen pointenlosen Anekdoten, die der Gemüsehobel, die Teetassen und der Feuerlöscher immer nochmal und immer wieder bis zum Gehtnichtmehr aufwärmen, den Intrigen der zahlreichen Petroleumlampen, die außer Müßiggang sonst nichts gehabt in ihrem flach-sinnigen Erdenwallen als eben diese.
Und wenn Feuer ausbricht ? Wenn der altersschwache Spirituskani-ster umkippt, sehn Sie ihn sich nur an, er besteht nur noch aus Rost, wenn er auf dem Steinboden aufschlägt, gibt er alles von sich was er in sich hat. Nur noch an der Flasche mit dem Reinigungsbenzin findet er Halt, aber die beiden stecken unter einer Decke, Feuerteufel alle zwei, und die Anzünder am Kamin sind ihre Nichten und leisten Beihilfe.
Beim Großbrand. In einer Nacht, wo die Freiwillige Feuerwehr ihr traditionelles Fußballmatch gegen die Kollegen aus Marennes austrägt. Fern da drüben auf dem Festland.
Aber auch als Gewittersturm könnte das Verhängnis hereinbrechen, der die große Pinie mitsamt dem Baumhaus auf den Dachstuhl wirft, und der ragt dann in den Himmel wie ein Pferdegerippe. Der Atlan-tiksturm ist kein Franzose, er entschuldigt sich nicht, er ist Amerikaner und Wikinger, er greift rüpelhaft dem aufgerissenen Haus in die Haare wie ein Junge einem Institutsmädchen und wühlt darin, bis er das Bild aufgestöbert hat. Und das hängt hilferufend und flatternd an einem Dachsparren, niemand kommt es zu retten, seine Farbschichten split-tern, und die nächste Bö bläst es davon wie einen Kinderdrachen.
Felix muss sofort hin.
Felix muss nicht hin, sagt der nächste Tag. Du musst sofort, sagt die darauf folgende Nacht. Bleibt da, sagt der darauf folgende Tag.
In manchen Nächten ruft er das Telefonhäuschen in der Dorfmitte an, 00335- 46754468 und stellt sich vor, wie es in die Inselnacht hinaus schellt. Nein, die Crémonts werden nicht im Schlaf gestört durch sein Anklingeln, die Chrétiens auch nicht, es müsste schon jemand den Anruf erwartet haben. Und wie, wenn eines Nachts jemand abhebt ? Und wenn es die Schöne selbst ist, die da spricht ? In welcher Sprache wohl ? Im rheinischen Tonfall des Meisters oder im Französisch ihres Milieus ?
„Oui, qui est la?“
Felix wird verdattert sein, so und so. Verlegen um eine erste dumme höfliche Frage. Nach ihrem Befinden, nach den Mauergrillen, oder, schon praktischer und besorgter, ob Einbrecher da waren. Wie ? Einen Laden haben sie eingedrückt, gerade nur mal einen Laden ? Und ge-raucht haben sie ? Einstiegsdiebe, die umständlich einsteigen um dann nur zu rauchen ? Mais madame, das können nur die Jungs von den Bareauds gewesen sein, Alphonse und Damien, sie haben immer mit Susanne und Joachim gespielt. Nun kommen sie in die Pubertät und werden impertinenter. Aber doch nicht so impertinent, dass sie sich auf Papas Toilette zu rauchen trauen.
Und Felix wird im nachhinein noch erröten Er hat die Schöne ma-dame genannt ! Eine Gefährtin, mit der er seit seiner Jugendzeit das Leben teilt, hat er angeredet wie eine Fremde. So ehrfürchtig. So devot geradezu. Und in einer der folgenden Nächte wird er das Telefon-häuschen in der Dorfmitte wieder anrufen, die Nummer kennt er nun schon auswendig, 00335- 46754468.
Um der Schönen das Du anzutragen.
Im Winter aber kommt Antwort von der Insel. Der hilfreiche Alibi-Anruf, den er im Sommer früher gebraucht hätte. Die Nachbarin in der Gasse links ist am Telefon. Quelle surprise, madame ! Noch nie hat sie sich seinetwegen ans Telefon bemüht. Nun aber ist das Verhängnis zu Gast gewesen, wie von Felix fantasiert. Das Verhängnis hat die Gestalt des Sturmes angenommen, wie fantasiert. Und die große Pinie umge-rissen, wie fantasiert. Die den Dachstuhl zertrümmert hat, auch wie fantasiert ?
„Oui monsieur, den Dachstuhl.“
Ihren Dachstuhl, den der Nachbarin. Zur Buße liegt die große Pinie nun zersägt im Garten vor dem wohlbehaltenen Sommerhaus und war-tet aufs Verheiztwerden. Service der Versicherung. Ebenfalls der Nach-barin. Keine Aufregung, monsieur, nicht der Rede wert. Wahrlich gesit-tet, dezent, wahrlich französisch.
Als Felix im Inselhaus ankommt, diesmal allein, ruht seine Freundin noch immer unversehrt dort wo er sie hingebettet hat. Er hat sie erst-mals wieder für sich allein seit ihrer Zweisamkeit im Wohnverschlag des Onkels Kruthein, der kein Onkel war. Damals hat er sie mit einer Taschenlampe anleuchten müssen, um sie zu betrachten, und wildfrem-de Mitbewohner gaben ihr viehischen Chorgestöhne dazu. Jetzt sind es die vertrauten Mauergrillen, die dazu singen, und er kann der Schönen ein Kaminfeuer bieten aus den Scheitern der vom Sturm gefällten Pinie. Er lehnt sie neben den Kamin und kann sich endlich Zeit nehmen zu langer Betrachtung.
Er sieht eine andere in ihr als ehedem.
Als sie ein Paar wurden, war er ein Jüngling. Niemand hätte dieses Wort in den Mund genommen, man hatte Kriegsteilnehmer zu sein in diesem Alter und damit ein Dreiviertelverreckter, der kaum ein paar Brotkanten zum Kauen hatte und nichts darüber hinaus. Damals sah er sie entrückt vor der Ahnung einer Küste stehen, als Verheißung vieler Möglichkeiten, von denen Felix noch nichts ahnen konnte. Sie war der Traum nach weit voraus und nach weit weg.
Jetzt ist Felix weit weg von dem, der er damals war und sie ist immer noch die Ahnung, die etwas Ungefähres verheißt.

Der See leckt sich schon die Wellenlippen, denn die Schöne steht auf den Planken an seinem Ufer. Die Schöne ist bereits nackt und ausge-zogen. Das lässt den See, das lässt auch mich erwartungsvoll auf-schäumen. Seine Gischt wird meine Schöne gleich umfassen. Seine Begier nach meiner Schönen ist so stürmisch, dass er schäumt als wäre er nicht ein See, sondern als wäre er die See, die See schlechthin, das Meer, der Ozean, Thalatta, als wäre er alle sieben Meere auf einmal.
Ihre niedergeschlagenen Augen haben nur einen im Blick. Mit aller Verschämtheit, mit aller Angstlust, mit aller Begehrlichkeit. Diesen anderen, diesen Jemand hinter ihr.


Felix hat den Kerl hinter ihr von dorthin gewünscht wo der Pfeffer wächst. Und nach Pfeffer, Äquator, Kolonien, Papua, Korallenriff und Katamaran sieht er ja auch aus, früher hat Felix ihn mit der Hand abgedeckt, um ihn nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen, zeitweise wollte er ihn mit einem scharfen Messer herausschneiden, um die Schöne für sich allein zu haben. Nun lacht er über seine Eifersucht.
Der Schwarze ist der Kraftnickel in ihrem Dreierkonzert. Mag sein der Medizinmann, Robinsons Freitag, der Voudoupriester, der das griesgrämige graue Gewölk vertreibt, er hat die Hände schon über der Dunstdecke, und die tätowierten Kerben auf Gesicht und Leib sind die Zaubersprüche, mit denen er verlässlich die Sonne des Südens ins Bild holen wird. Aber vielleicht genügen allein seine kräftigen Hände, um das Gewölk zu verscheuchen.
Und dann wird er aus dem Rahmen springen und um das Kaminfeuer tanzen. Mit ihm, Felix. Der nun begreift, dass er der schwarze Kerl ist.
Die Schöne wird sich nicht zu einem Tanz ums Feuer verführen las-sen. Sie ist ein scheues Techtelmechtelchen, eine zu früh Verlobte, das Mädchen aus dem Motettenchor, das man nach Jahre nach der Schulzeit aus Zufall wieder trifft Was hast du denn gemacht seitdem ? und ihre Eltern verlangen immer noch dass sie punkt sieben zu Hause ist.
Die Taube klopft vergebens an ihren Schoß und erinnert sie daran dass sie da drin einen Uterus hat. Warum gibt Felix sie nicht einem Museum, und beendet das Versteckspiel ?

Alphonse geht nicht ohne Damien, und Damien geht nicht ohne Denis. Und wenn Denis dabei ist, will auch Jeannot dabei sein, denn Jeannot alleine weiß nichts mit sich anzufangen. Unterwegs treffen sie Jean-Luc, es ist unmöglich unterwegs nicht Jean-Luc zu treffen und noch unmöglicher ist es Jean-Luc wieder los zu werden. Und das mit nur einem Mofa. Das Mofa gehört aber Lucien, der muss auch mit-genommen werden, denn bei so vielen anderen Mitgenommenen legt er mit Recht Wert darauf, die Kontrolle über sein Fahrgerät zu behalten.
Und die alle stehen nun vor dem Sommerhaus, um Susanne abzuholen. Wenn zu Hause in Teutonien ein solcher Klumpen von Jünglingen vor der Tür steht, dann genügt es dass sie des Vaters ansichtig werden, um sich zu verdrücken. Hier aber wird der Vater begrüßt, mit wohlgesetzten Worten. Sie haben zwar die gleichen Pickel wie die Knaben hinter dem Rhein, aber dafür Manieren. Wenn Susanne ihnen das Gesicht hinstreckt, wird sie nach einer abgezirkelten Choreografie abgeküsst, die Felix trotz aufmerksamer Beobachtung nicht durchschaut. Und wenn Beatrix das Gesicht hinhält, widerfährt ihr das selbe.
Felix wagt es nicht, auch sein Gesicht hin zu halten, seine Backen Damien auszuliefern, Denis Jeannot und Lucien, aber beim nächsten Mal wird er es wagen, und er wird aufgenommen in eine Familie der Choreografen. Choreografen der Rede wie der Bewegungen wie des Respekts. Sie haben keine HJ gehabt hierzulande, woher haben sie dann ihre Disziplinierung ? Warum rüpeln sie nicht, rempeln sie nicht, sagen immerzu pardon, bleiben immerzu hinter einem stehen, um einem nicht den Weg zu vertreten ? Und essen niemals, das ist für Felix das Verwunderlichste, auf der Straße. Aus der Faust, achtlos, um sich hastig mit Futter voll zu mampfen und zu ihrem Tagwerk zu rennen. Die der Güter höchstes ist, wie Felix beigebracht wurde. Auch mit Pickeln und noch ohne Bartwuchs jeder schon ein chevalier, der Felix mit Komplimenten bedenkt, wegen seiner charmanten Tochter, seiner charmanten Frau, seines charmanten Sommerhauses und maison de vacances .
Und dann knattern sie davon. Es ist nur ein schlichtes Moped, aber es wirkt wie ein Berberhengst der zum Hofe Franz des Ersten geritten wird, mit Susanne im Damensattel. Die anderen chevaliers hinterdrein, als höfisch-höf-liche Eskorte. Mit Joachim, den niemand mit dem Mofa abholt werden als Trösterchen Knickbilder gezeichnet.
„Papa, du malst ja auf einmal lauter Meerweibchen !“
„Wir sind doch auch im Meer“.
„Aber das soll doch nich Mama sein …“
„Wer denn sonst.“
„Mit Schwimmhäuten untern Achseln, wie‘n Rochen ! Und der schwarze Kerl da – „
„Das ist ein Triton. Oder der Gott Neptun, wenn du willst.“
„Der schmeißt sie noch extrig ins Wasser.“
„Damit sie endlich schwimmt.“
„Aber ich schwimm doch schon wie ein Delphin“ lacht Beatrix.“Sagt ihr jedenfalls immer.“
„Ich glaub, mit der Zeichnung, da meint Papa gar nich dich.“

Nun wird meine Schöne baden.
Der See leckt sich schon die Wellenlippen, denn die Schöne steht auf den Planken an seinem Ufer.


1970
Im schläfrigen Nachmittagslicht, Felix liegt auf dem Rücken und hält sein Buch über sich gegen den Himmel, da nimmt er in der Ferne, zwi-schen lauter Badebehosten und Bikini- Umschnallten einen einzelnen Anzugmann wahr. Er fällt schon von weitem auf, weil seine Hosen und Ärmel flattern, als seien sie als Signalflaggen an ihn dran gehängt. Welche Botschaft haben sie zu übermitteln, und an wen ? Das Gegen-licht sticht Felix in die Augen, auch Flugsand stäubt dazu, er dreht sich auf den Bauch. Als Felix über den Rand seines Buches blinzelt, geht der über die Toppen Geflaggte so dicht an ihm vorbei, dass seine Hosenbeine Felix fast ins Gesicht flattern, und die Sandwolke, die er aufwirbelt, rieselt nieder auf sein Buch. Der Flatternde zieht weiter, nein er weht weiter, als würde er nicht von seinen Füßen bewegt, sondern von der Brise, die ihm vom Atlantik her in den Rücken bläst. Ein hochgestimmter Mensch, der sein eigenes Segel ist. Ein glückliches Wesen, das sich dem Wind anvertraut. Ein Engländer wohl, wie sie hier selten sind. Engländer wachsen zwischen Segeltuch auf, und wenn sie erwachsen sind, tragen sie Anzüge aus Segelstoff wie dieser. Stilvoll, exquisit, wetterfest. Der Schnitt stammt nicht aus der Coiffure sondern von der Werft.
Ein Lord ? Der Lord ist vorbei, Felix dreht sich wieder auf den Rü-cken, hält das Buch wieder über sich wie einen Sonnenschirm.
„Felix…?“
Der Lord ist zurück gekommen. Beugt sich über ihn. Sein Gesicht ist jetzt ganz nah, und die blonden Haare wehen hinein.
„Du bist doch Felix….“
Nicht fragend. Sondern sicher, dass er der gewisse Felix sei. Der ge-suchte, der gefundene, der vielleicht sogar vermisste Felix.
„Felix…du warst immer schon der Glücklichste von uns.“
Der Lord, der nun kein Lord mehr ist, denn er spricht deutsch, be-gründet nicht warum Felix immer noch der Glücklichste ist. Vielleicht weil er nicht an der dem offenen Atlantik zugewandten Küste liegen muss mit den harten Winden und den harten Kieseln, über die harte Brecher herfallen. Sondern an dieser landzugewandten inneren Küste mit ihrem weiten Sand und ihrer sanften Dünung.
Aus der kehren jetzt Beatrix und die Kinder triefend zurück, erstaunt einen Fremden auf dem gemeinsamen Frotteetuch der Familie sitzen zu sehen. Der Fremde scheint sie nicht zu wahr zu nehmen, seine Augen suchen die gegenüberliegende Küste ab, vielleicht betrachtend, viel-leicht grüblerisch in sich gekehrt. Die Kinder, dadurch noch neu-gieriger, rubbeln sich die Nässe vom Leib. Als sie dem Fremden zu nahe kommen und den mitgebrachten Sand auf ihn streuen, zieht Beatrix sie von ihm fort.
„Stellst du uns nicht vor - ?“
Sie hätte ihren Namen genausogut selber sagen können. Ihrer aller Namen. Oder die Kinder fragen lassen : wer bistn du da, auf unserem Handtuch ? Aber Felix kann keinen Namen apportieren. Wie ein Hund, dem man ein Stöckchen ins Meer wirft, und sei die Dünung auch noch so sanft. Die Kinder ziehen ihre Badesachen ungeniert vor ihm aus, Beatrix wickelt sich zum gleichen Zweck in ein Badetuch. Da, ohne den Blick von der gegenüberliegende Küste zu lassen, wirft der Fremde hin, im Tone eines zerstreuten Souffleurs, aber auch mit leiser Dringlichkeit
“Felix und ich waren zusammen auf dem Gymnasium.“
„Alwin !“
Alwin Krettel..
„Man nennt mich jetzt Bertrand.“
Bertrand, ein Name der erst mit dem zweiten Buchstaben des Alpha-bets beginnt. Nicht mehr mit dem ersten. Sieh an, der Klassenbeste hat seine Ansprüche herabgemindert. Sein weicher Akzent kündigte bereits an, ehe er es selber aussprechen muss, dass er sich schon lange in Frankreich aufhält.
„In Montparnasse, um genau zu sein.“
Die Kinder besetzen das große Frotteetuch, auf dem Alwin Krettel, der nun Bertrand hieß, nicht beiseite rückt, um ihnen Platz zu machen.
„Die Franzosen von Stand“ lächelt Beatrix, “machen eher Urlaub auf der Nachbarinsel.“
Der Ile de Ré. Wo die Grundstückspreise so hoch liegen, dass Beatrix nicht landen konnte.
„In den ersten Jahren ja“, er bezieht sich selbst stillschweigend in die Franzosen von Stand mit ein, „aber nun erkunde ich auch die weitere Umgebung“.
Er ist, erklärt er und der Wind fährt in seinen Segeltuch-Anzug, er ist ein Schweifender geworden. Seitdem er l‘Allemagne verlassen hat. Mit seinem Akzent der Ile de France.
„Ich entdecke….“
Er lässt nicht wissen was er entdeckt. Wonach er sucht. Ob er überhaupt sucht, oder ob er nur findet. Wie ein Umherstromer eben findet, Trouvaillen, Strandgut, oder einen abhanden gekommenen Schulkameraden. Auch als Strandgut. Der Wind pladdert ihm in den Anzug, die Revers blähen sich wie kleine Persenning, die Haare wehen ihm blond übers Gesicht und lassen nicht erkennen ob er lächelt oder ernst blickt. Alwin, der nun Bertrand heißt, späht nach La Rochelle hinüber. Das Meer liegt aquarellig da wie ein Bild von Raoul Dufy. Felix ist kurz davor, das in Worte zu fassen, um die Stille zu über-brücken, die sein Schulfreund gelassen hat, nach seinen ersten kryp-tischen Sätzen. Aber er unterlässt es. Kunst wird dem Klassenbesten so wenig bedeuten wie damals, Aquarell schon gar nicht, Raoul Dufy muss ihm ferner sein als der Südpol. Er war einer von denen, die bei Fipsi Lamprecht arbeiten ließen. Alwin Krettels Stärken lagen in den Natur-wissenschaften, lauter Einsen im Abitur, der Weg zu einer Professur an einer Technischen Universität war vorgezeichnet. Wenn nicht ins Bank-wesen, denn in Mathematik zeigte er Leistungen, die mit einer Eins gar nicht mehr erfassbar waren, und war der Papa nicht so etwas wie Syndikus bei einer Sparkasse ?
Beatrix und die Kinder setzen an, aus dem Fremden alles heraus-zufragen was der so kunstreich offen lässt. Der Fremde ist eine Heraus-forderung in seiner Einsilbigkeit, und ein Geschenk dazu, denn der so-undsovielte Badenachmittag dieser Ferien drohte in Langeweile zu zerlaufen wie eine Sanddüne um die sich der Wind nicht mehr kümmert.
Aber Felix springt hoch und verkündet so heftig den Aufbruch, dass Beatrix vor Überraschung nichts zu entgegnen weiß. Der Protest der Kinder geht in dem lärmigen Gewirr unter, das Felix mit Sonnenschirm, Badetüchern, Tauchgeräten inszeniert. Der Fremde, nunmehr Alwin Krettel, bleibt betrachtend im Sand sitzen, als herrsche um ihn her tiefste Ruhe, und späht zur Festlandsküste hinüber.
Zwei Tage später erscheint er am Sommerhaus. Er geht noch immer wie Alwin, der Mitschüler, er weht immer noch daher wie der Alwin von damals, auch wenn er jetzt Bertrand ist. Den Kopf schief weil er seit eh und je so viele Formeln darin herumträgt. Die blonden Haare fludern wirr wenn auch wohl geföhnt, seine Haltung ist noch immer knäbisch wie damals, statt einer Hitlerjungen-Uniform trägt er nun einen Segeltuchanzug, Tuch für draußen, wie die HJ-Kluft. Allwet-terfest, praktisch, ein Umherstreifer eben. Der sich, als Beatrix ihn ins Haus genötigt hat, in der niedrigen Stube umsieht wie ein Nachhausge-kommener. Er legt sogar das Segeltuchjackett ab, denn im Kamin brennt ein Feuerchen.
„Felix …Felix“ lächelt er und zieht einen Sessel an den Kamin,“du bist immer noch der Glücklichste von uns.“
Und jetzt begründet er es auch. Weil Felix sooooo ein Ferienhaus hat. Nun kann Felix, der Glückliche, ihn nicht mehr abhängen. Und ist darüber gar nicht glücklich. Beatrix kehrt die Hausfrau heraus, die Kinder werden den Fremden von vor zwei Tagen nun ausschöpfen wie einen Sandhaufen, und Felix weiß auf einmal nicht mehr, warum er sich alldem widersetzt.
„So was von authentisch ist das alles hier…“
Mit dem Authentischen meint Alwin, der nun Bertrand ist, die Feldsteine aus denen das Haus geschichtet wurde, das behauene Kaminsims, das geschmiedete Gerät um die Feuerstelle herum, die denkmalartige Anrichte, die Zimmerbalken, die Bodenfliesen, die Petroleumlampen, und am Ende auch die Bewohner.
Anders als vor zwei Tagen am Strand zeigt er sich nun von redselig-ster Seite, lässt keinen Gegenstand unerwähnt und ungerühmt. Ohne hinzusehen, als kennte er den ganzen Hausstand schon seit langem wie seinen eigenen. Noch bevor Beatrix stolz auf die neue Spüle auf-merksam machen kann, der Handwerker hat sie erst letzte Woche ein-gebaut, entdeckt Bertrand die Knickbilder. Sie sind nicht schwer zu entdecken, sie sind überall angepinnt, Es muss der Bertrand in ihm sein, der Franzose mit der weichen Montparnasse-Färbung, der sie wahrnimmt, denn Alwin der Mathematiker hätte keine Augen dafür gehabt. Alwin hatte überhaupt keine Augen. Aber Bertrand ist fasziniert und betrachtet sie so eingehend, wie er sonst wohl Differential-rechnungen studiert. Die Kinder drängeln sich eng um ihn und deuten wie eifrige Fremdenführer auf das was sie beigetragen haben.
„Ah, je l’estime ! Je l’estime….“
Diese Mischung aus Kalkül und Zufall, rühmt er, die in diesen Zeich-nungen zum Ausdruck kommt. Aus Kindlichkeit und Formbewusst-
heit ! Die Kinder sind hingerissen. Sogleich wollen sie mit Alwin Bertrand, dem Lobetopf, noch mehr Knickbilder zeichnen.
„Mais non, je despire… ich kann das nicht…“
Klar, dass ein Mathematikmumpfi das nicht kann. Aber Felli und Wux bezirzen ihn. Er lässt sich am Tisch nieder, nicht ohne mit beiden Hän-den über die Platte zu streichen. Ah , Pappelholz ! Auch verarbeitet trägt es noch diesen spezifischen Duft in sich als stünde es draußen in der Natur. Wie authentisch wiederum, auch das Pappelholz. Und wie es den Duft der Natur ins Haus trägt. Die Kinder entweihen die edle Maserung, indem sie klappernde Filzstifte drauf werfen. In Plastikhülsen.
Papier wird gefaltet, und Bertrand darf die ersten Striche tun, während die Kinder sich den Anschein geben, als ob sie nicht hinsähen. Aufs penibelste aber vermerken sie wann er fertig ist und knicken das Blatt für die nächste Schicht. Nun sind sie dran, erst Susanne, dann Joachim, nach dem ferienüblichen Regelsystem. Dann Beatrix, und danach, nach eben diesem ferienüblichen Regelsystem, wird Felix an der Reihe sein. Und während Bertrand den Kindern unter halb geschlossenen Lidern zusieht, die Wimpern sind noch immer so blond wie damals, wie sie mit tief gesenkten Köpfen vor sich hin malen, lächelt er versonnen in sich hinein :
“Knickbilder waren ja auch ein zentrales Ausdrucksmittel der Surrea-listen. Es geht auf eine Idee von ihnen zurück.“
Woher weißt du Mathematikgeier und Einser-Hengst etwas von den Surrealisten ! Niemand, keins der Kinder und auch Beatrix nicht, stellen die Frage, was denn diese Surrealisten überhaupt für Leutchen seien. Bertrand lächelt weiter, an seinem Schulfreund vorbei, und streichelt die Tischplatte. Seine Fingerkuppen scheinen die raue Maserung immer mehr zu genießen, und Beatrix‘ Blick folgt den Fingern Alwins die den Tisch streicheln. So einfühlsam, dass sie bemerkt, in diese Finger ge-höre ein Weinglas mit hohem Stiel. Während Felix nun bemüht, ausgestellt unbeholfen, auch als Linkshänder den Erwartungen zu entsprechen, stellt Beatrix ein Glas vor Bertrand hin. Mit hohem Stiel. Und lächelt, die offene Flasche in der Hand :
“Ich hoffe, Sie müssen heute nicht mehr Auto fahren ?“
„Ah non, non, gewiss nicht, merci….“
Er wohnt also in der Nähe.
„A vôtre santé !“
Eine Haarsträhne fällt ihm ins Gesicht, er prostet zu. Weniger dem Schulfreund, als vielmehr Beatrix. Aber auch das unbestimmt, denn sein Blick ist schon wieder auf Entferntes gerichtet. Während die Erwachsenen trinken, entfalten Susanne und Joachim das fertige Knick-bild.
Der See leckt sich schon die Wellenlippen, denn die Schöne steht auf den Planken an seinem Ufer. Sie ist bereits nackt und ausgezogen. Das lässt ihn, das lässt auch mich erwartungsvoll aufschäumen. Seine Gischt wird meine Schöne gleich umfassen. Seine Begier nach meiner Schönen ist so stürmisch, dass er schäumt als wäre er nicht ein See, sondern als wäre er die See, die See schlechthin, das Meer, der Ozean, Thalatta, als wäre er alle sieben Meere auf einmal.
Nein ! Das ist doch alles gar nicht zu sehen, das darf nicht zu sehen sein. Und es ist auch nicht zu sehen, Felix schau’s dir doch an : du hast das gewohnte Konfusions-Gewirr vor dir wie immer auf Knick-bildern, Angefangenes und Angedeutetes, Freches und Unsinniges. Hilfloses und Verschmitztes. Und die linkischen Strichlein da-zwischen, die da nur herumirren, die sind von Alwin. Die müssen von Alwin sein. Verstolperte Ich-trau-mich- nicht-Linien, wie sie jemand auf der Eisbahn hinterlässt, der zum ersten Mal Schlittschuhe an den Füßen hat. Alwin sollte sich immer noch von Fipsi Lamprecht helfen lassen.
„Eine Maus, die Fahrrad fährt.“
„Eine Schnecke mit einer Lokomotive als Häuschen.“
Meine Schöne wendet alldem den Rücken zu, sie ist abgewandt in vielen Hinsichten. Wem aber ist sie zugewandt ? Auch mir nicht, ihrem Betrachter, der sie als einziger von vorne sehen darf. Sie betört mich trotzdem, sie betört alle, mich ebenso wie den schäumenden Ozean in seiner viel zu kleinen Wanne. Sie betört mich, weil sie gesenkten Blickes an mir vorbei schaut, als wäre ich, ihr Betrachter, gar nicht vorhanden. Ihre niedergeschlagenen Augen haben nur einen im Blick. Mit aller Verschämtheit, mit aller Angstlust, mit aller Begehrlichkeit.
Dann wird ausgemalt, wie immer. Felix macht sich ein Vergnü-gen daraus, die kargen Linien, die Alwin aufs Papier gestottert hat, mit besonders fülligen Farben zu überschwemmen. Beatrix nimmt Alwin das Versprechen ab, schon morgen wieder zu kommen. Zur nächsten Knickbild-Session.
Dieser andere, dieser Jemand hinter ihr. Der doch gar kein Jemand ist, wie ich ein Jemand bin, sondern ein Nullmand. Einer der sich erst bildet oder der schon damit beschäftigt ist zu vergehen.

„Den Ausschlag gab das arge Grinsen des Diktators…“
Und schon versickert Alwins Stimme wieder. Im Ekel vor dem Ungeheuer Schicklgruber, der von seinem Volk als oberster Künstler verehrt wurde und sich nun in der Ausstellung Entartete Kunst dabei fotografieren ließ, wie er an den Werken anderer Künstler achtlos vorbei zieht. Nicht einmal mit einem verächtlichen Feixen, einer hohn-vollen Schnute, sondern dem ungeschlachten Grienen eines Dorf-trottels, der sich in ein avantgardistisches Ballett verstolpert hat. Oder in eine Sauna. Oder eine Ostermesse der koptischen Kirche, und sie für eine Skatrunde hält. Nicht einmal angewidert, nicht einmal höhnisch. Nur aufgeschmissen blöd. Ein Bierkutscher dem der Hausmeister den Notausgang zeigen muss. Der Führer fühlt sich ratlos angesichts solcher seelischer Verwesung und krankhafter Phantasien sollten die Millionen unter dem Foto zu lesen kriegen, die Blök- Herde die ihm hörig war, ebenso aufgeschmissen blöd und bier-kutscherig wie er selbst
„Dieses Grinsen vergesse ich nicht. Und verschmerze ich nicht. In dem Augenblick, wo er an dem Bild vorbeigeht, das mir in der Seele brennt seit meiner Jugend.“
Welchem Bild, will Felix‘ Familie fragen, aber einen Bertrand unterbricht man nicht.
„Vorbeigeht, als wärs die Inspektion einer x-beliebigen Betriebs-feuerwehr.“
Er schüttelt sich das Blondhaar aus dem Gesicht.
„Das hat mich zur Kunst getrieben. Unausweichlich.“
Und hat als Kunsthistoriker in Frankreich reüssiert. Einem Land voller Kunst, das les boches leer geraubt hatten. Mit seinem weichen Akzent der ile France spricht les boches aus, als wärs eine wildfremde Tierart
„Kunstraub ist das schäbigste von allen Schurkenstücken, weil Kunstwerke so vollkommen wehrlos sind.“
Felix kommt es vor als würde das Bild über ihnen gegen die Bretter pochen.
„So verletzlich. So erhaben. So nah ans Numinose grenzend. Und unfähig ihre Schmerzen herauszuschreien wie es doch jedem bébé gege-ben ist.“
Bébé steht französisch für Baby, die Franzosen schmiegen das bri-tische Fremdwort ein in ihre harmonische Sprache, wie sie auch Krettel einschmiegen zum schmiegsamen Bertrand. Und ihm damit eine neue zivilisatorische Haut übergezogen haben damit er kein boche werden musste
„Ah, Orte an denen Kunstwerke gefangen gehalten werden, das sind überaus malheureuse Orte …“
Beatrix und die Kinder lauschen gebannt und sind nicht unhöflich genug zu fragen wovon er eigentlich redet. Dass er dem berühmten Maler alle Wege geebnet hat als der aus dem Exil zurück kam, das verstehen sie dann wieder. Zurück in eine verwandelte Welt, in der der Faschismus alles abgetötet hatte. Vor allem die Sinne.
„Ich war es, der dem Meister wieder den Fuß auf den alten Kontinent gesetzt hat…“
Felix schaut auf den Schulfreund. Der sitzt abgeklärt da. Schaut vorbei an ihm, Beatrix und den Kindern, immer schon hat er vorbei geschaut, an den Mitschülern, die ihn gelangweilt haben, am Mathematiklehrer, der ihn gelangweilt hat. Hinaus durchs Fenster des Gymnasiums auf die gegenüberliegenden Fassaden. Damals hat Felix immer gedacht, Alwin zähle die Fensterverstrebungen und nehme sie mit den Dachrinnen in die Quadratwurzel. Les sangliers, die Engländer, sollten aus dem Wald stürzen und diesen Bertrand auf die Hauer nehmen wie ein hilfloses bébé.
Aber es ist Felix, der hilflos ist. Er möchte auf und davon. In den folgenden Tagen lässt er seine Familie nicht an den Strand. Die Schöne, Alwin, ist verbrannt schon beim allerersten Bombenangriff ! Die anderen HJ-Rabauken haben sie abgeholt, kaum dass du fort warst ! Die Alliierten haben sie beschlagnahmt mit aufmontiertem Maschinen-gewehr !
„Und selbst wenn ich das Bild hätte, dann doch nicht hier in diesem Sommerhaus.“
Jetzt redet Felix die Wand an. Der Jugendfreund sitzt gar nicht davor, aber er tat doch so, als säße er. Und Felix sei im Verhör.
„Wo sollte ich es denn…in diesen feuchten Mauern…das wäre doch unverantwortlich..du weißt doch selber als Museumsmann…Du weißt doch besser als ich…du weißt….ach, nichts weißt du.“
Nur die Mauergrillen hören zu. Aber sie antworten nicht. Sie lau-schen beklommen. Überwältigt von seiner Schuld. Statt dass sie ihm zu Hilfe kommen, als Liebesdienst und Gegenleistung für langjährige kostenlose Logis, und das Bild zermahlen, zermampfen, kleinschreffeln, verschwinden lassen, ehe dieser schreckliche Bertrand es ans Licht zerrt. Es zum Brennpunkt einer perfide inszenierten Auffindungsszene macht. Schmeckt den Mauergrillen etwa Ölfarbe nicht, und feines abgelagertes Leinengewebe ? Wovon ernähren diese Biester sich eigentlich ? Nicht einmal das weiß Felix.
„Den HJ-Jungen in sich selber besiegen…“ hat Alwin Krettel halblaut fallen lassen, als er das letzte Mal aus dem Sommerhaus wehte. Wel-chen Reim soll sich Felix darauf nun wieder machen ? Dem Eid ab-schwören den sie seinerzeit alle auf den Führer geleistet haben ? Oder den Wichs-Wettkampf von damals fortsetzen ?
Aber nie kommt Krettel Felix bei einem seiner Besuche, die immer häufiger werden, mit der unverblümt ehrlichen Aufforderung Gib das Bild heraus !

Der See leckt sich schon die Wellenlippen, denn meine Schöne steht auf den Planken an seinem Ufer. Sie wird in ihm baden, und ihn verlassen, das hält er für gewiss. Seine Begier nach meiner Schönen ist so stürmisch, dass er aufschäumt als wäre er das Meer.
Die Felswände um ihn her hindern den Beschauer an der Flucht, die Schöne hat keinen Blick für ihn, ihre Aufmerksamkeit gehört dem der sich von hinten an sie heranmacht. Ihre Verschämtheit, ihre Angslust, ihre Begehrlichkeit.
Dieser andere wird sie ergreifen und mit sich zerren. Der Besucher wird allein sein mit dem Meer.


“Ich war geschäftlich unterwegs“ lacht Beatrix nun immer öfter, „das weißt du doch“, wenn sie zurückkehrt und die Kinder am Strand sich selbst überlassen hatte. Beim Abendessen weiß sie dann zu rühmen, wie geschmeidig dein Freund Bertrand sie, Beatrix, auch in Kreisen einzu-führen weiß, die dem Kunstbetrieb an sich fern stehen.
Voilà, er wildert außerhalb seines Reviers. Auf dem Festland, sogar auf der Ile de Ré.
„Kassiert er Provisionen ?“
„Aber wo denkst du hin !“
So einer kassiert überall Provisionen. Höchstwahrscheinlich sogar für Maler, die längst tot sind, Henri Rousseau und Monet für Abbildungen in der Damenzeitschrift Elle decoration von denen Beatrix ganze Türme von Jahrgängen aufgeschichtet hat. Träume von einem besser einge-richteten Haus als diesem. Felix hat auf diesem Haus aus Feldsteinen bestanden, in dem es rieselt und wo in den Fugen die Mauergrillen sitzen. Beatrix hegte Träume von einem Anwesen auf der Ile de Ré. Oder gleich an der côte d’azur.
Vielleicht rückt sie diesen Traumgesichten ja nun näher.
“Ich bin dann heute wieder“- Kuss, flüchtig - „geschäftlich unter-wegs“
Und Felix obliegt es, derweil Spül- und Waschmaschine zu füttern und auszuräumen. Sie werden zu tuscheln haben wenn er ihnen den Rücken zuwendet, er kennt diese geschwätzigen Biester. Und die Gläser, die er zurück in den Geschirrschrank stellt, werden die Fama weiter tragen zu den Tassen und Kissen und Petroleumlampen und endlih den Mauergrillen, die Famavon dem ach so weltläufigen Monsieur Bertrand, der hier in der Region jeden Grundstücksbesitzer zu kennen scheint.
“Ich bin dann wieder“- Kuss, noch flüchtiger - „du weißt ja, geschäftlich….“
Mit ihm unterwegs. Bei ihren Fahrten schwärmt Bertrand ihr von der Geburt der Venus von Botticelli vor, aus dem in der Gegenwart ein gewisses anderes Bild entsprungen sei wie die Venus den Wellen.
„Die Schaumgeborene des zwanzigsten Jahrhunderts, so hat er sich ausgedrückt“.
Beatrix, die Schwimmerin, nimmt es selbstverständlich als hommage an sich selbst.
„Hast du eine Ahnung, welches andere Bild er da gemeint haben könnte ?“

Die Kinder ertappen Felix, wie er dabei ist, die Türme abzutragen, die Beatrix mit ihren Frauenzeitschriften aufgeschichtet hat. Oder doch ein wenig zu kappen, denn der Turm von Babel hatte immerhin den weiten offenen Himmel über sich, um in ihn hinauf zu wachsen, Elle decoration und ihre glanzpapierenen Genossinnen steht nur der Luftraum bis zu den Deckenbalken zu Gebote, den sie mit den Petroleumlampen, Werkzeugkisten, Völkerbällen teilen müssen. Aber sie scheren sich nicht um die Nachbarn, sie wuchern babylonisch. Beatrix zeigt ihr Geduldsgesicht, Susanne empört sich, aber Joachim ist bereit beim Abbau mit anzupacken.
„Wenn ich so endlich Platz kriege für mein Surfbrett“.
Zur dechetterie, dem Müllplatz, wollen alle mitkommen. Denn dort geht es immer lustig zu, wenn die Franzosen unter theatralischen Arien ihren Hausrat in den Containern versenken.
„Seht doch nur“ wimmelt Felix ab, “es gibt gleich Regen !“
So wird die Müllreise auf den morgigen Tag verschoben. Die Zeit-schriften, die er bereits großflächig im Auto ausgebreitet hatte, trägt er nachts im Dunkeln wieder zu den Türmen zurück, unter ihnen lag die Schöne. Er hatte sie den Containern anvertrauen wollen.

1971
Krettel hat alles an Frankreich verinnerlicht und zu seiner zweiten Natur gemacht. Sein Anzug hat das transparente Ocker von Sisley, das Blau seiner Lavallière ist just das Blau das Manet solchen Accessoires gab, die eigentlich heutzutage längst aus der Mode sind. Seine Sprache hat die gutgelaunte Temperiertheit eines Andantes bei Ravel. Pastellig alles, diskret, gedeckt, indirekt.
Krettel hat ein besonderes Auge auf die Knickbilder. Wenn der Mei-ster, der die Schöne gemalt hat, im Kurswert fallen sollte, wird er die von ihm selbst entdeckte und namhaft gemachte Schule von Aquitanien ins Angebot nehmen. Picasso hat er schon im Stall, auch die Deu-tungshoheit über ihn, wie über den Meister der Schönen Gärtnerin sowieso.Aufgestockt mit ein paar Jungtalenten vom Montparnasse, die von dem Goldstaub abkriegen der in diesem glanzvollen Milieu herum schneit. Indem er sie interpretiert und damit ihren Marktwert festzurrt. Und er nimmt Erkundungsreisen in abgelegene Kunstprovinzen auf sich, wie diese.
„Deinetwegen !“ lacht Beatrix. „Warum wäre er denn sonst hier“.
Krettel sieht der Familie beim Zeichnen der Knickbilder zu. Wie er schon Picasso zugesehen hat, Picabia, Chagall, namentlich Matisse, aber auch Miró und solchen die das Zuschauen gar nicht geschätzt haben wie de Chirico, und anderen, die aufgeblüht sind, wenn ein aufmerksam mitwirkender Beobachter hinter ihnen an der Staffelei stand. Ein Notenumblätterer gewissermaßen wie Pianisten sie benöti-gen, oder auch einer, der gern und lachend die Farbkleckse abfing die der Meister ins Atelier spritzte, dieweil der temperamentvoll an seinen Leinwänden zugange war, die mal auf dem Boden lagen und mal an einem Strick kreisten. Wie beim Meister, der Schöne Gärtnerin.
„Ah, er war selbst schön, auch noch im fortgeschrittenen Alter, nur ein schöner Maler kann so schöne Werke erschaffen. Halbnackt liebte er zu arbeiten, sein muskulöser Oberkörper war selbst ein Kunstwerk, und er wusste es.“
Wie alles zu Kunst wurde, was ihm nahe kam. Mag sein, und hier lächelt Alwin vage, und dafür lieben ihn Beatrix und die Kinder noch mehr, sogar ein wenig auch er, Alwin Bertrand.
Wenn Bertrand schon bei der Highsnobiety auf der Ile de Ré aus und ein geht, warum nicht auch beim Polizeipräfekten befreundet.Er nennt den Präfekten mon chèr Ives, er hat ihn womöglich beraten beim Ankauf des Wandteppichs von Jean Lurcat aus der Manufaktur von Aubusson, der in der Präfektur im großen Sitzungszimmer hängt. Und bei dem echten Picasso sowieso, den der Präfekt unter Wert ergattert hat, von der Staffelei weg. In Frankreich zirkeln die tonangebenden Herrschaften zwar alle in geschlossenen Zirkeln, in Inzucht von ENA-Absolvent zu ENA-Absolvent. Lauter Enarchen, brutzelnd in Inzucht. Aber wenn ein Deutscher unter sie tritt, leuchtet auf einmal ein Mercedesstern auf seiner Stirn.
Und beim Golfspiel mokieren sie sich über den armen Felix in seinem ruinösen Chalet.
“Wer hat Abschlag?“
„Gewiss du, Yves.“
„Nein du doch, du hast die Ehre, Bertrand.“
„Nach dir…“
„Hole in one ! Superb mal wieder, doch doch, mon cher. Übrigens, dein Jugendfreund, wie heißt er noch – „
„Du meinst diesen Felix…“
„Exactement. Felicien ! Lange wird er nicht mehr glücklich sein. Seine Kate ist so gut wie umstellt.“
„Ich danke dir“
„De rien. Ist das mein Ball ?“
Und Felix wird von drei Einsatzwagen umzingelt sein. Besetzt mit Leuten in Uniformen, wie Felix sie noch nie gesehen hat. Eine Spezialeinheit, Sie redet mit niemand, sie stellt keine Fragen. Sie zeigt nur gelangweilt aber mit schwarz behandschuhten Fingern die Richtung in die er abtransportiert wird.
So wie damals. Damals ? Damals in Deutschland sind sie nicht ge-kommen, die Bombenangriffe haben ihre Fahndungsmaschinerie durch-einander geschüttelt. Aber jetzt ist Frieden, übersichtlicher Frieden, geruhsamer Frieden, die Behörden haben Muße, nach einem Kunstwerk von Millionenwert in aller Ruhe zu fahnden.
DEUTSCHER HEHLER VERUNTREUT BERÜHMTES GEMÄL-DE werden die Nachbarn im Lokalblatt zu lesen kriegen WERT SECHS MILLIONEN FRANCS. FRAU UND KINDER WAREN AH-NUNGSLOS.
Er wird in Auslieferungshaft überstellt werden.
FAMILIENTRAGÖDIE : KINDER MÜSSEN IHREN VATER HIN-TER GEFÄNGNISGITTERN SEHEN. „PAPA; WARUM HAST DU UNS DAS ANGETAN ?“
In einem feuchten Prison der Kriegsmarine in der düsteren Hafenstadt. Seit der Revolution hat niemand mehr dort eingesessen außer zwei betrunkenen malaysischen Matrosen, die nachts randalieren und auf den Hof pinkeln, bis einer zu ihm, Felix, in die Zelle verlegt wird von wo er nun nächtens mit dem Landsmann von Gitterfenster zu Gitterfenster jault. Auf malayisch. Ein Amtshilfe-Ersuchen wird auf den Weg gebracht werden, ein Auslieferungsverfahren, die Juristen vom deutschen Konsulat werden sich nicht blicken lassen Der Aufseher wird ihn dafür jeden Morgen verspotten, Felix wird verwildern, ungewa-schen stinken, schlaflos mit malaiischen Läusen kämpfen, im Morgen-grauen eines sehr fernen Tages über die Rheinbrücke bei Kehl einem anderen Delinquenten entgegengeschickt werden der ihn unrasiert angrinst so wie er selber unrasiert ist, mit einem Fluch an dem Aus-tauschling vorbeigehen und drüben auf der nebligen anderen Uferseite erwarten ihn schon deutsche Polizisten mit deutschen Handschellen.
Während Alwin still da sitzt und es genießt Bertrand zu sein. Immerzu sitzt er still da, immerzu durchflutet von fernen Gedanken, und immerzu will er nur in der dunklen Stube sitzen, während im Garten die Sonne scheint und die Bäume angenehm mediterrane Schatten werfen. Dabei lässt er die Augen umherschweifen über all die Dinge, unentwegt, die er sich doch nun allmählich eingeprägt haben muss, so authentisch sie auch immer sein mögen. Dabei schweigt er vor sich hin, entrückt lächelnd, und genießt es dass sogar der Wind ihm hörig ist und ihm hierher in den windstillen Dämmer folgt, einzig um ihm die Haare blond vors Gesicht zu wehen.
„Das magische Dunkel, in dem man Dinge erst so richtig erkennt.“
Die Mauergrillen schrillen und stimmen Alwin zu.
Felix‘ Mauergrillen ! Felix wird dies treulose Insekten verfolgen bis in die letzte Ritze, wenn der ungebetene Gast erst aus dem Haus ist.
„ Wie auf den alten Niederländern.“
Dunkel zu Dunkel. Obskur zu Obskur. Arkanum zu Arkanum. Wes-sen Idee war es eigentlich damals, Alwin, mit der Kameradschaft 93 los zu marschieren, um die entarteten Bilder zu zerstören ?.
„Je nun, wir waren zu sechst damals, wenn ich mich recht entsinne, in der Kameradschaft 93...“
Aber wieder stellt er die Frage nicht.
Felix setzt sich zu Alwin und beginnt seine Erzählung mit dem Schlüssel, der in der Mauer auf jeden wartet, der ins Haus will. Und er führt seine Erzählung für Bertrand damit fort, dass er eines Abend, zurückkehrend, in eben dem Sessel, in dem Bertrand nun sitzt, einen Unbekannten antraf, dessen Kommen er schon lange erwartet hatte. Und der den Stein ausfindig gemacht hatte, unter dem der Schlüssel lag. Er hätte auch die Tür auch eintreten können. Kraftvoll mit der Schulter gegen sie zu drücken hätte schon genügt, aber der Besucher hatte keine Gesetzwidrigkeiten nötig. Das Gesetz war auf seiner Seite, er war der rechtmäßige Besitzer des Bildes.
Alwin, der nun Bertrand ist, schaut mit einem Mal nicht mehr beiseite, sondern seinem alten Kameraden geradewegs in die Augen.
Der rechtmäßige Besitzer musste schon seit Stunden ausgeharrt haben. Ein alter Herr. So respektgebietend alt, dass Felix nicht wagte ihn zu fragen wie er denn bitte hier herein gekommen sei. Formal, de jure ein Hausfriedensbruch. Aber Felix nahm das Wort nicht in den Mund. Auch die SA-Leute hatten damals bei seinem Besucher Hausfriedensbruch begangen. Gewiss, zunächst hatten sie manierlich geklingelt. Und den alten Herrn, der damals noch ein sehr junger Herr war, gefragt ob er derjenige sei dessen Namen auf dem Türschild stehe. Hatten dann pedantisch in einer langen Liste herum gesucht. Der alte Herr, der damals ein junger Herr war, wollte schon die Tür wieder schließen, aber –
„Der andere SA-Mann“ verlängert Alwin, als hätte er die Geschichte schon einmal gehört „hat schon den Stiefel in der Tür gehabt.“
Während der erste SA-Mann ausgesucht höflich fragte, ob der Herr, bei dem sie hoffentlich nicht versehentlich geklingelt hätten, sich mit ie schreibe oder einfachem e.
„Tugend der Kannibalen“ sagt Alwin mit trauriger Ironie.
„Der Besuchte brauchte nicht drauf zu antworten. Denn der andere SA-Mann lachte : Klar isses der mit ie und schob ihn beiseite, geradezu sanft. Und schon waren sie in der Wohnung, dazu noch drei oder vier andere, hängten ihre Jacken über die Stühle und fingen an zu zertrümmern. Am Flügel, einem Boesendorfer übrigens von 1902, arbeiteten sie sich zu dritt ab. Als die Saiten sprangen, hörte er noch einmal all die Schumanns und Mendelssohns, die seine Mutter darauf gespielt hatte. Als diabolischer Nachklang und totschlägerische Kako-phonie. Er hat sich die Ohren zu gehalten, hier in diesem Sessel, in dem du jetzt sitzt, und konnte minutenlang nicht weitersprechen.“
„Wenn es dich zu sehr bedrängt“ sagt Alwin, „musst auch du nicht weitersprechen.“
Aber Felix ließ sich das nicht durchgehen.
„Dann haben sie ihm die Sitzmöbel aufgeschlitzt. Dann das Furnier von den altholländischen Möbeln gefetzt mit ihren Messern. Dann haben sie sich die Ölgemälde vorgenommen. Einen Liebermann, Herbstnachmittag im Tiergarten. Zwei Landschaften von Otto Moder-sohn. Das Porträt der Großeltern, Begründer der Privatbank Salomon Hirsch, gemalt von Anton von Werner. Und dann – „
Felix lässt eine Pause, die Alwin nützt, um beide Hände vors Gesicht zu legen.
„Dann -“
Jetzt, noch näher, spricht Felix zu den Händen.
„- haben sie eins von der Wand geholt, das mein Besucher eben erst erworben hatte. Ehe der Künstler mit knapper Not ins Exil entkommen ist. Erworben nicht mit dem Kredit-Ansinnen etwa Sie müssen ja nun ohnehin außer Landes da können Sie mir ein paar Stellen vor dem Komma nachlassen – nein ! Mit der maecenatischen Verneigung Ich darf mir erlauben die Summe aufzurunden denn das Ausland wird Ihnen teuer zu stehen kommen..“
Alwin nimmt die Hände nicht vom Gesicht.
„Und dieses Bild haben sie nun vor ihn hingestellt – „
„Die Schöne Gärtnerin“ murmelt Alwin, und drückt die Hände noch enger ans Gesicht als wollte er sich den Anblick ersparen.
„- es roch quasi noch nach feuchter Farbe, Nach Atelier, nach der Aura des Malers, und zwei SA-Kerle haben es festgehalten und der dritte macht Anstalten dass er drauf einsticht.“
Alwins Hände zucken.
„Da springt mein Besucher auf, stellt sich vor das Bild und fängt den Stich ab. Weg da Saujud, oder – schreit einer, schreien alle, mein Besucher drängt sich vor sein Bild, er nimmt das angedrohte oder in Kauf, und die Messer fahren ihm ins Gesicht, in die Brust, in die Arme.“
Alwin atmet schwer, faltet die Hände zusammen, legt den Kopf darauf. Beide schweigen lange.
„Da konnte ich nicht mehr anders. Ich habe das Bild hervor geholt, ich habe ihm sein Eigentum zurück erstattet.“
Alwin lässt keine Regung erkennen.
„Ich habs einfach vor ihn hingestellt. Wie die SA-Leute damals. Der alte Herr hatte es seit damals nicht mehr gesehen. Die vernarbten Schnitte in seinem Gesicht und die Kerben in der Haut des dunklen Kerls einander gegenüber. Du erinnerst dich doch, der Maori oder Indianer, wer immer er ist.“
„Schemenhaft“ flüstert Alwin hinter seinen Händen.
„Der alte Herr wollte mir sogar die Auslagen ersetzen, die ich gehabt haben könnte.“
„Ein unbeschreibbarer Moment“.
Ein unbeschreibbarer Moment.
„Mir, ausgerechnet mir, einem ehemaligen Hitlerjungen !“
Alwin nimmt die Hände vom Gesicht und sieht lange zum Fenster hinaus. Einem kleinen ovalen Fenster in den Garten, man nennt es Ochsenauge, und als sähe er dort den Besitzer in der Sonne sitzen.
„Es ist absolut gesichert und dokumentarisch belegt : das Bild war zu keinem Zeitpunkt in Privatbesitz“ sagt er dann, unbewegt.
„Ein städtisches Museum hat es beim Meister von der Staffelei weg gekauft “.
Felix kommt es vor, als würde jedes einzelne Glas im Geschirr-schrank über ihn lachen. Die Gläser stoßen aneinander an, sie klirren von einem zum anderen weiter, von Regal zu Regal hast du es auch gehört hast du es auch gehört unser Felix ist ein Lügendackel hast du es auch –
Hat auch die Schöne es vernommen, in ihrem Bretterversteck direkt über dem Kopf von Alwin ?
Wenn sie es vernommen hat, wird auch sie lachen über Felix.

1972
„Dein Freund Creèl – „ schnattert Susanne.
„Ich habe keinen Freund, der so heißt“.
„Aber Paps ! Ich denke du bist mit Bertrand zur Schule gegangen.“
„Da hieß er Krettel.“
„Nur so einer wie du heißt immer und ewig Hierl“ gibbelt Susanne und dann schnattert weiter, was sie schnattern wollte, dass dieser Creèl, der sich so schmiegsam französisch angepasst hat, Mama lancieren wird.
„Lancieren ?“
So dass sie doucement von der Immobilienbranche in die Kunst-branche hinübergleitet.“
Richtig gehört, gleitet ! Denn Bertrand Creèl beherrscht aus dem ff das harmonische Gleiten.
„Sanft wie Softeis und diskret wie n’ Zimmerkellner im Ritz.“
Und du, Paps, hört Felix in den Pausen zwischen ihren backfischigen Erzählungen, was bietest du ihr ? Er hört es, ohne dass sie es sagt. Aber Creèl, der bietet ihr. Seine Beziehungen reichen weißderhimmel be-stimmt bis ins Ritz und den Gästen die dort absteigen. Wenn nicht noch höher hinauf. Creèl kann Wunschträume erlauschen, er kann Traum-fantasien entziffern, er kann sie sogar riechen, er kann sie lesen.
„Ist ja auch nicht schwer drauf zu kommen, oder, wenn hier massenhaft ganze Jahrgänge von Elle maison rumliegen und Elle decoration dass da eine unerfüllte Frau, ich sags nochmal, eine uner-füllte Frau von raffinierten Enterieurs träumt. Und ihre Ferienzeit verhocken muss in so ´ner dunklen Burg aus Feldsteinen.“

Nun wird meine Schöne in der Menge baden.
Tout Paris leckt sich schon die Neugierlippen, alle betrachten sie und sie weiß dass sie betrachtenswert ist… jetzt wird sie abgelichtet für Paris match… ihr fraulicher Charme wird sie trotz ihrer dreiundvierzig Jahre auf die Titelseite bringen, ihr Kleid ist eine Melodie in Satin, sogar Meister Raoul Dufy hat sich her bemüht zur Eröffnung ihrer Galerie am linken Seine-Ufer, Picasso hat es sich nicht nehmen lassen anwesend zu sein, auch Picabia, Vieira d Silva, Wilfredo Lam, auch Jean Marais, wenn schon nicht Cocteau selig, aber Marais trägt dessen Geist und dessen Fluidum stets mit sich… Jacques Derrida Seite an Seite mit dem Besitzer des berühmten Künstlerhauses in St.Martin d’Ardèche, in dem der Meister manchen schöpferischen Sommer verbracht hat… aufgeräumt sieht man den Besitzer des Hauses nun im Gespräch mit den leitenden Herren des Ministeriums, monsieur Creèl hat sie zusammen gebracht, sie besprechen entspannt die Summen, die die Kultur-Administration in die Renovierung der Immobilie einbringen wird.


Beatrix ist eine Newcomerin, niemand soll erfahren dass sie bisher in der Immobilienbranche gearbeitet hat, aber das gestattet ihr wiede-rum auch ein gerüttelt Maß an naiver Unbefangenheit.

Ich will nicht, dass meine Schöne enttäuscht wird, nicht durch ihr künftiges Badewasser, nicht durch das griesgrämige Gewölk hinter ihr. Meine Schöne indes ficht es nicht an, sie wendet alldem den Rücken zu, sie ist abgewandt in vielen Hinsichten.
Sie verwechselt Jean Dubuffet mit Bernard Buffet, Willem de Kooning mit Marcel Duchamp, Picabia mit Picasso, der zwar schon einige Jahre nicht mehr unter den Lebenden ist, aber wer wäre nicht gern Picasso ? Und Picabia ist geschmeichelt. Sie erkennt Francis Bacon nicht und Ives Tinguely erst auf den zweiten Blick. Der sucht die Schuld bei sich, versucht alles daran setzen, um eine so attraktive Blondine auf sich aufmerksam zu machen. Denn Beatrix ist nun blond, sie hat sich für die Farbe des Nordens entschieden und zu ihrer Signalfarbe gemacht, ein gewisses Fluidum des Wikingerischen wird in ihrer Galerie wiederleuchten, das die Kleinwüchsigen und Dunkel-haarigen irritiert und fasziniert, und nicht nur die Maler.
„Aber warum eigentlich nicht Immobilienhandel, Realiengeschäft – es spricht für die Künste dass sie einen vom Niederen zum Höheren führt.“
„Monsieur Cocteau sagt das auch, er ist mit Jean Marais gekommen, und sehen Sie nur, der nickt zustimmend.“
„Das Fernsehen…mein Gott, jetzt wird es mir erst bewusst, damals als das Bild entstand war das Fernsehen noch gar nicht zur Stelle ! Das hätte sofort Jean Cocteau angezogen…“
„Denn der war damals schon zur Stelle, immer ist der zur Stelle…“
„Er hat schon Arno Breeker bewundert, nun wird er die Bilder be-wundern die Madame Beatrix präsentiert…“
Und auch Felix, der sonst unscheinbare Ehemann, darf ein bisschen Heros sein. Er hat das Bild bewahrt, La belle Jardinière. Er hat Göring abgeschüttelt, den fürchterlichsten aller Kunstfreunde, die Banausen von der Gestapo, die Meute der hechelnden Konkurrenten, ich weiß nicht ob Ihnen der Name Adolphe Ziegler etwas sagt…lassen Sie uns nicht allzu sehr ins Detail gehen, es bringt Blicke in menschliche Abgründe mit sich. Aber eben Abgründe, die vergangen sind ! Aus denen Monsieur Felix, da drüben steht er, das Kunstwerk der Epoche für uns gerettet hat. La belle jardinière. Wie meinen ? Phoenix, sehr treffend, Phoenix aus der Asche ist nicht zu hoch gegriffen als Me-tapher…et voilà ! jetzt sieht man sogar den Meister höchst persönlich auftreten, er küsst Madame Beatrice die Hand… nein die Wange, er flüstert ihr etwas Galantes zu…Madame lächelt ebenfalls…es kann nur um ihre Ähnlichkeit gehen mit dem Gemälde, seinem Gemälde, es ist ein einzigartiges Erlebnis auch für ihn. Er stand noch in seinen Jugend-jahren als er es schuf, er war noch auf dem Wege, er war noch ein Suchender, aber unter seinen meisterlichen Händen hat ein Spitzenwerk reifster Vollendung zur Form gefunden…sehn Sie nur, er ist selbst ergriffen, er ist verstört, für ihn bedeutet dies eine intimste Wiederbegegnung mit sich selbst. Und das vor uns allen ! Uns allen als Zeugen seiner innersten Empfindungswelt ! Einem Forum das ihm allzu groß scheint… Ihnen gewiss doch auch, oder ?…aber sehen Sie, er versagt es sich, uns Tränen der Rührung zuzumuten…er geht stattdessen auf monsieur Felix zu… er schließt ihn in die Arme, er stattet ihm seinen Dank ab für die Errettung seines Werkes mit einer großen Geste, die für uns alle die wir dies erleben dürfen unvergesslich bleiben wird -


Immer wenn Felix jetzt seine Familie an den Strand geschickt hat, wird das Bild aus dem Zwischenboden erlöst. Er will es nicht Kopieren nennen, was er sich vorgenommen hat, er nennt es vor sich selbst Zweitschrift und lehnt einen neuen Keilrahmen dicht an den alten, von ihm selbst zusammengefügten, damit die Umrisse des Originals durch-scheinen.
„Ich begreife dich erst, indem ich deinen Linien nachspüre…pardon, Ihren Linien.“
Wenn er ihnen mit dem Stift folgt, steht er so dicht an der Silhouette der Schönen, dass er ihren Atem in seinem Gesicht zu spüren meint. Sie ist nur einen halben Kopf kleiner als er, ihr hochgereckter rechter Arm vor seinem Gesicht, das weiße Innenfleisch vor seinen Lippen. Er riecht ihren Achselduft.
„Wir sind schon einmal intim gewesen…verzeih.“
Wenn die Familie zurückkehrt, er hört von weitem ihr Lachen, wird die eine der beiden Schöne wieder verstaut.
„Papa malt !“
„Ganz schön viel Traute“ lobt der Sohn.
„Ich bin stolz auf dich“ lobt Beatrix und küsst ihn.
Die Tochter schweigt und stellt sich vor die Staffelei wie vor einen Spiegel.
„Hej“, protestiert der Sohn, „das gilt aber nich. Der Papa malt doch nich dich !“
Sondern Mama, beharrt Wux. Kaum setzt Felix den großen Zeh ins Reich der Kunst, löst er schon Eifersüchte aus. Er zieht sich darauf zurück, dass er erst preisgeben wird was er da malt, wenn er damit fertig ist.

Sie setzt sich vor meinen Augen zusammen. Sie flattert auf mich herunter wie eine Taube die sich, auf Erden angekommen, in einen Fächer verwandelt. Sie wendet sich mir zu wie ein Fächer der sich für mich in eine Taube verwandelt. Sie raschelt mir ins Gehör wie Japan-papier das sich in eine Geisha verwandelt in eine Puderdose in eine Hutschachtel in eine Anziehpuppe in eine Ausziehpuppe in eine Ver-wandlungspuppe mit einem viel zu großen Vorrat an Kleidern die alle davonflattern wenn ich nach ihnen fasse und sie beschreiben und nachmalen will.
Sie entzieht sich mir wenn ich versuche sie mit dem Stift einzuholen und wenn ich den Pinsel nach ihr ausstrecke kichert sie und ist verschwunden.
„Bleib, wenn ich dich malen soll.“
Sie schweigt.
„Verzeihen Sie, wenn ich Sie geduzt habe. Aber sie müssen still halten, wenn ich Ihr Porträt malen soll. So wird es, höre ich, in allen Maler-Ateliers gehalten.“
Da kichert sie wieder. Er ist doch kein Maler, bedeutet das, er ist ein Anfänger und Amateur.
Beschämt, mit roten Ohren, malt er weiter.


Beatrix und Susanne lassen sich auf ihre Weise von dem Bild anregen, das Felix begonnen hat. Sie gefallen sich als Cleopatra, als Twiggy, als Nofretete, als strahlendes Goldchen vom Strand. Die eine bemalt der anderen das Gesicht und Felix muss, von seiner Staffelei herüber, begutachten, ob es ihnen gelungen ist. Als der schwarze Kerl unter seinem Pinsel Gestalt annimmt, posieren sie neben ihm. Sie decken dabei die Schöne ab, die weibliche Konkurrenz, wie Felix vor Zeiten den schwarzen Kerl mit vorgehaltener Hand vor sich selbst versteckt hat.
Es werden keine Knickbilder mehr gezeichnet in dieser Zeit.
Als das Bild fertig ist, legt Felix es auf die Schräge des Kamins. Man sieht es erst auf den zweiten Blick, und doch ist es groß inszeniert, denn es schaut hinauf zu der Holzdecke in der, zwischen zwei Balken, die eigentliche wahre Schöne versteckt ist, die sich nun durch Felix‘ Selbst-gemaltes vertreten lässt. Eine zickiges Arrangement, gesteht Felix sich selbst ein, aber er gestattet sich nach der Mühe des Abmalens diese kin-dische Priesterlichkeit. Und ahnt nur verschwommen, warum.
Er weiß es einzurichten, dass er nicht zugegen ist, wenn Krettel seinen nächsten Besuch abstattet, der nun schon kein Besuch mehr ist, weil Krettel zur Kameraderie des Mitbewohners übergegangen ist. Hinü-bergeglitten à la Creèl.
Als Felix sich wieder ins Sommerhaus wagt, liegt sein Gemaltes, sein Erstlingswerk, noch immer auf der Schräge des Kamins. Aber die Frauen sind nicht mehr da. Joachim werkelt an Luciens Mofa, das nun seins geworden ist, weil Lucien neuerdings einen Führerschein hat und einen deux cheveaux fahren darf, in den alle seine Freunde hinein passen. Nein, in den sie eben nicht hineinpassen, weil ihre Zahl unüber-sehbar zugenommen hat, seitdem Lucien das Auto hat. Und der Beifah-rersitz allein Susanne vorbehalten bleibt.
„Und was hat Alwin gesagt ?“
Die Kupplung ist verkrustet. Lucien hat das Mofa nie gepflegt, es ist viel Wartung fällig, und Felix muss sich gedulden.
„Was er gesagt hat - !“
„Bertrand konnt sich nicht satt sehen.“
Auch der Sattel steht nicht so wie er soll, Lucien hat die Schrauben verrosten lassen, und Felix muss sich wieder gedulden.
„Am Bild ?“
„An was denn fürm Bild ?“
„An meinem Bild. An dem Bild, das ich gemalt – „
Felix muss die Ölkanne halten. Dann den Schraubenschlüssel, den Wux aus dem Mund nimmt, um nun endlich antworten zu können .
„Nö, an Mama und Felli .“
„Waren die denn wieder geschminkt ?“
„Kannste dir doch vorstelln.“
An den hinteren Felgen stimmt auch was nicht. Dieser Lucien ! Und während Joachim schweigend schraubt, versucht Felix sich Beatrix als Cleopatra vorzustellen oder als Elizabeth Taylor, die Cleopatra gespielt hat, im Film. Und Susanne als Pipi Langstrumpf. Welche als welche geschminkt war, wird er von seinem Sohn, dem Motorradmechaniker, nicht mehr erfahren.
„Aber das Bild ?“
„Welches Bild ?“
Felix muss das Mofa festhalten, es würde umstürzen wenn er nicht zugriffe, Joachim will das Vorderrad ausbauen.
„Bertrand hat das Bild ausgemessen, und – „
Dieser Lucien hat offenbar die Kugellager nie geölt. Und dieser Bertrand hat nicht einen Augenblick lang in dem, was Felix gemalt hat, das andere Bild erkannt das ihre Jugend bestimmt hat.
„Er hat gesagt das wär verboten.“
Die Kugellager sind versintert wie Kalkkiesel am Strand.
„Was wär verboten ?“
„Dass die Kopie genauso groß is wie das Original.“
Jetzt ist Felix auch noch zum Fälscher geworden. Als er Wux zum Monteur fährt, um Ersatzteile kaufen, wird der ein wenig mitteilsamer.
„Und einen schönen Gruß soll ich dir noch ausrichten, der Meister hätt selber auch das Bild nochmal gemalt. Nur bloß halt -“
Neue Felgenbremsen wird Joachim auch brauchen, einen Sattel so-wieso und einen Satz Sprayfarben, damit das Vehikel wieder proper aussieht, und Papa wird alles bezahlen. Und als er bezahlt hat, bekommt er zum Dank nachgereicht :
„- bloß, das zweite Bild is halt viel kleiner.“
Als hätte sogar der Meister sich vor den Bestimmungen gefürchtet.

Du bist eine Zweitschrift, meine Schöne, ein Homunculus aus zweiter Hand, eine lachhafte Doublette. Du bist so falsch und aufgeschminkt wie die Cleopatra auf dem Antlitz meiner Gattin, die doch Schminke und Verstellung gar nicht brauchte um vor mir und vor sich selbst zu bestehen. Beide seid ihr mir und euch selber abhanden gekommen in diesem Land der Visagisten, in dem die Puderquaste mehr gilt als die Seele, die unter dem Puder abhanden kommt.

Kampfflugzeuge rasen über das Sommerhaus, als sollten die Insassen davon taub werden und die Dachziegel aus ihren Verankerungen hüp-fen.
„Noch nie haben sie Mirages hier fliegen lassen in der Feriensaison !“
„Immer schon“ grient Joachim, „haben die Mirages fliegen lassen. In den Ferien sowieso. Die hier regen sich da nicht drüber auf.“
Eine militaristische Nation. Darum sind sie auch stolz auf ihre Atommeiler und die eleganten kleinen Erschrecke-Bomben, die dabei elegant nebenbei abfallen.
„Aber du kriegst ja nie was mit, Paps.“
Wenn die Mauergrillen es dir nicht zirpen. Und die Eidechsen es dir nicht ringeln, deine rois lézards. Und deine Frösche es dir nicht quaken, dieses ganze Ensemble aus der urdeutschesten Romantik, das du hier eingeschleppt hast wie einen Koffer voller abgetragener Kleider. Wie du auh selber ein Koffer voller abgetragener Kleider bist, ein Trödel-stück auf dem brocant, der einzigen Art von Läden, die du wahr-nimmst. Statt den fabelhaften Stores mit den neuesten Segeljollen und Motorbooten und Hochseejachten, wie andere Väter.
Was die Kinder dieser anderen Väter unternehmungslustig gemacht hat, zu Brandungskerlen erzogen, die sich was zutrauen. Und auf die ENA streben. Rallyes fahren. Sich zur Luftwaffe melden, damit sie über Ferieninseln sausen können und damit den Mädchen auf ihren Strand-tüchern feuchte Bikinihöschen bescheren.
Das alles braucht Joachim, der frühere Wux, gar nicht vorzubringen, um es in Felix‘ Ohr wiederhallen zu lassen, der immer noch sein Bild betrachtet, das auf der Schräge des Kamins liegen geblieben ist. Und das Joachim, darin doch noch das Kind Wux, für ein Idealporträt seiner Mutter hält, seitdem sein Vater es zu malen begonnen hat. Und als Felix nun Beatrix, die schon wieder und immer noch geschäftlich unterwegs ist, auf eine Reise wohin auch immer, aber von ihm weg, als Felix seinem Sohn Beatrix beschreibt, die Beatrix von früher, da bemerkt er, dass er mit seinem Gemälde tatsächlich sie gemeint hat, das Porträt seiner Frau. Und nicht ein Stück Speck in einer Mausefalle, die über Alwin zuschnappen sollte. Er beschreibt, wie hell sie war, wie zu-packend, dieses vital Zupackende der Girls von der US-Ostküste. Linie Highschool-Hockey-Mannschaft / Ansporn / Herausforderung für Felix. Gleichziehen gleichziehen, Felix, gleich ziehen !!!!
Er bemerkt nicht, dass er damit die Mutter der Brandungskerle und ENA-Absolventen und Flugkapitäne beschreibt, die aus ihr hätte werden können, mit einem anderen Sparringspartner als Felix. Und als er es bemerkt, zeigt er Joachim wie Indizienbeweise die Accesoires, die er als Hilfsmittel für eine solche Erziehung angeschafft hat, Antriebshilfen zum Rege-Werden, Ermunterungsgeräte, Sport-Uten-silien, Sehnenstrecker, Beachball-Ausrüstungen, Tennisschläger, Boxhandschuhe, Taucheranzüge und Bälle und mit denen nun das Sommerhaus vollgestapelt füllen von der Erdgeschossstube bis unters Dach. Als Schliemannschen Schichten, an denen künftige Archäologen die Jahresringe einer Familie ablesen können.
Joachim hört höflich zu. Er ist ein höflicher Franzose geworden, das immerhin, in seinen Ferienjahren. Aus der untersten Schliemannschen Schicht holt er ein Korkboot hervor, das nie das Meer gesehen hat.
„Wie hat bloß gleich das Kaff geheißen, wo du uns damals unbedingt so’n Pipifax hast kaufen müssen ?“
„Ihr habts verlangt ! Ihr habts sogar erpresst.“
„Wie das Kaff geheißen hat !“
„Saint Martin d’Ardèche.“
„Den Namen hab ich alle naslang gehört, letzthin …“
„Von Mama ?“
Draußen wird gehupt. Auch Jeannot hat nun ein Auto, genau genommen ist es das von seinem Bruder, Jeannot ist noch zu jung für einen Führerschein. Aber für eine tour du discothèque braucht er nicht unbedingt einen Führerschein, wenn die Gendarmeriestation am an-deren Ende der Insel ist und der Chef dort sein Onkel.
Joachim ist nun einer aus der Blase des Jeannot, der nie etwas ohne Damien unternimmt. Er ist nun Joaquin, und wenn Joaquin dabei ist, will auch Denis dabei sein und Jean-Luc und Pierre und Yannick.
Aber anders als diese alle nennt Joaquin seinen Alten nicht papan, er nennt ihn Felicien.

Die Mirages geben Felix noch weit ins Binnenland das Geleit, als er durch das Poitou und das Limousin mit dem Auto auf St. Martin d’Ardèche zu fährt. Mit viel zu hoher Geschwindigkeit, einer deutschen Herren-Rasigkeit, die aber von den höflichen Anderen nicht behupt wird.
Diesmal hängt kein Schwarzgalliger über der Brüstung, wie denn auch. Der, dem dieses Anwesen gehört, hat keinen Grund schwarz-gallig zu sein. Es ist frisch herausgeputzt, die anderen Häuser in der Gasse sind runzlige Gemäuer dagegen, und die Sonne der Midi tut das Ihrige, um die Reize des prominenten Hauses noch reizvoller in Szene zu setzen. Das Relief, das der Meister in Mannshöhe an die Gar-tenmauer zementiert hat, ist nun verglast und dem ordinären Zugriff der Vorübergehenden entzogen.
Felix nimmt sich vor, die Ungetreue zu überraschen, zu ertappen, dra-matisch zu stellen. Es gelüstet ihn nach etwas wehtuend In-Flag-ranti-haftem. Gerade dem Hahnrei, nur dem cocu steht ein solches salzsäure- bitteres Vergnügen zu, darum verbietet sich ein wohlerzogenes Klopfen an der klingellosen Haustür, das dann auch noch ein wohlerzogenes Wartenmüssen nach sich zöge und ein noch entwürdigenders Gefrage pardon, wäre wohl Madame Beatrix Hierl zufällig zu sprechen ?
Das Fenster, das er sich damals probeweise geöffnet hat, steht wieder offen, als ob es ihn erwarte wie ein Spießgeselle und fügt sich in seine böse Inszenierung. Herein mit dir, copain ! Felix schwingt sich über die Brüstung und findet die Zimmer, durch die der Schwarzgallige sie seinerzeit geführt hat, nun wohl aufgeräumt und neu möbliert. Mit an-spruchsvollem Geschmack, wie Beatrix ihn sich aneignet hat, als sie in Elle maison und Elle decoration all die Prominentensuiten jahrgangs-weise studierte. So wohnt Catherine Deneuve, Seite 8 bis 14, so der berühmte Literat, Seite 34 bis 37, und so der Präsident des Regionalrats, Seite 56ff, und man beachte die extravaganten Divans aus Turin in ich-rem nuanciert abgestimmten Kontrast zu den archaischen Beistell-tischchenen aus marokkanischem Terrakotta.
Nun also wohnt Beatrix hier, in einem Interieur, wie es ihr zukommt, und die leeren Firniskannen und die Staffelei des Meisters stehen konservatorisch versorgt in Vitrinen wie die Reliquien der Heiligen. Nur das Fresko, das der Meister eigenhändig an die Wand gemalt hat, das das Rarissimum sein könnte dieser Schausammlung, ist ver-schwunden. An der frisch verputzten Wand hängt ein Spiegel, in dem Felix sich selbst anzuschauen gezwungen ist : Momentaufahme mit Selbstauslöser eines Eindringlings, und dahinter sieht er im Garten einen Liegestuhl. Die aufgerichtete Lehne zeigt ihm den Rücken, und auf dem Fußteil liegen zwei Frauenbeine. Das eine ist angewinkelt, denn es werden die Zehennägel lackiert.
Felix weiß, als er sich anschleicht, noch nicht den ersten Satz den er jetzt sagen wird, und der die Schlacht eröffnet. Er wird nach Kräften hämisch sein. Wäre er doch so beredt wie der Herr dieses Hauses, dann würde er diesen ersten Satz schon auf den Lippen bereit liegen haben noch ehe Beatrix ihn wahrnimmt. Und zu überrumpelt sein um zu ant-worten, und er würde deshalb einen zweiten, noch bösartigeren Satz ab-feuern können.
Aber es ist Susanne, die sich da die Fußnägel lackiert. Und der erste Satz gehört ihr.
„Merde ! Ausgerechnet wegen dir hab ich gekleckert.“
„Und wo ist Mama ?“
„Papan, du nervst mich echt !“
Schon seit einiger Zeit benutzt sie die französische Anrede. Sie klingt Felix demütigend ähnlich wie das uraltdeutsche Papachen.
„Jetzt hab ich schon wieder meinen kleinen Zeh erwischt. Schon wieder wegen dir !“
Sie unterbricht ihre Malarbeit nicht. Und ihr Vater ist zu betreten, um sich auf die Kante des Liegestuhls zu setzen. Es wird ihm sauer, seine noch im Entstehen begriffenen Sätze von Beatrix auf Susanne umzu-zuschmieden und unterlässt es schließlich ganz.
„Wo ist das Fresko, das der Meister eigenhändig an die Wand gemalt hat ?“
„Herausgestemmt und verkauft.“
„Das ist als ob man Pompeji ausplündert und verscherbelt.“
„Mäh bäh, du alter Pathos-Mops ! Das Haus hat ja schließlich von irgend was bezahlt werden müssen, oder.“
„Und muss es als Museum herhalten, oder –„
Oder als Liebesnest, hatte er sagen wollen. Aber das wäre ein Pfeil gewesen der auf Beatrix zielte. An dem Pfeil auf Susanne muss er erst noch schnitzen.
„Er hat das Haus für uns gekauft.“
„Heißt das -“
„Du stehst mir in der Sonne.“
Wenigstens lässt er sich nicht so sehr gehen, dass er sich zu seiner Tochter auf die Liegestuhlkante setzt, als wärs ihre Kinderbettstatt. Su-sanne malt weiter.
„Mir kommts vor als ob du null Ahnung hast was einem Sonne bedeutet wenn man im Sommer immer nur eingesperrt war so nem finstren Schafstall von Ferienhaus.“
Aus diesem Schafstall befreit, ist sie nun rundum gebräunt.
„Felli…“
Sie malt als hätte sie nichts gehört. In diesem einen Wort Felli ver-dichtet sich für ihn Susannes Kindheit, seine nun hilflose Zärtlichkeit, die stumm geworden ist, ihr gemeinsames Sommerglück in einer fernen Vergangenheit, von der er gar nicht wusste dass sie vergangen ist.
„Immer und ewig deine Infantilitäten !“
Und malt. Wie eine gelangweilte Sekretärin, die beim Kreuzworträt-sellösen nebenher mit einer Behörde telefoniert, zählt sie die Anklage-punkte gegen ihn auf.
„Immer und ewig diese Erzählchen von deinen Mauergrillen. Was kann ich damit anfangen, häh, fürs Leben ? Immer und ewig deine quasselnden Eidechsen, wie im Kinderfernsehen. Immer und ewig deine Knickbilder. Knickbilder, Knickbilder ! Auch wenns ausnahmsweise mal nicht geregnet hat, oh Mann oh Mann, wir haben Kritzekritzel machen müssen noch und nöchrig, weil der Herr Papa ausm Vorschul-alter einfach nich hat rauswachsen wollen.“
Sie betrachtet, wie ihr die Bemalung der Nägel am rechten Fuß gelungen ist und ruckelt dabei mit den Zehen, was ein lustiges Ballett ergibt. Aber ihr Mundwerk lässt nichts Lustiges heraus.
„Allmählich könntste dich schon mal fragen, warum dich die eigene Frau im Stich lässt.“
Die Tönung des Nagellacks harmoniert wohlabgestimmt mit der Bräu-ne ihrer Beine, und diese wiederum mit der dezenten Tongebung des Interieurs. Bertrand, der Liebhaber des Allerfeinsten, wird sich daran delektieren wie stimmig sich die Tochter des Jugendfreundes in das Creèlsche Gesamtkunstwerk einfügt. Ehe die Nägel des linken Fußes lackiert werden, verschränkt Susanne die Arme hinter dem Nacken und findet nun zu einem gänzlich anderen Ton.
„Er is sowas von sehnig…“
Mit geschlossenen Lidern und lächelnd. Sie spricht von dem Kerl hinter der Schönen, und der ist nun nicht mehr der unbekannte Maori. Er hört auf den Namen Bertrand und wird mit einer Kunstbetrachtung gewürdigt, obwohl er abwesend ist.
„Sehnig wie der Meister…“
Susanne hat ein Frauengesicht. Sie ist Jahre älter als noch vor drei Wochen.
„Aber den kenn ich ja nur von Fotos. Dagegen Bertrand…“
Felix wundert sich über sich selbst, wie abgeschaltet er stehen bleibt während sein Felli, sein ihm abhanden gekommenes Felli seinen Ju-gendfreund anpreist, seine Sorglichkeit, seine muskulöse Grazie, und dass er es bei weitem mit dem berühmt Athletischen des Meisters aufnehmen kann, wenn er nackt in diesem Garten umher tollt. Ob er sich dabei auch mit Orangenlaub und Mangofrüchten und Ananas dekoriert wie der auf dem Bild oder ob er seinen angejahrten Phallus kunstlos baumeln lässt vor seiner minderjährigen Konkubine ? Und ob sie von ihm auch Fotos macht, damit er eingeht ins Familienalbum der Kunstgeschichte ?
„Und erst im Kajak, auf der Ardèche, wow ! Dabei ist er dein Jahr-gang“.
„Ich bin sogar noch ein halbes Jahr jünger als er.“
Felix, du redest dich in den Sperrmüll mit deiner eingepökelten Zunge. Du solltest schleunigst abgehen. Aber sogar dazu bist du zu tollpatschig, und es ist Susanne die die Audienz beendet, weil drinnen das Telefon klingelt. Sie zieht sich ins Hausdunkle zurück und die Türläden hinter sich zu.
Bon courage hat sie vorher noch gesagt, und ihm einen flüchtigen Anstandskuss aufs Jochbein verabreicht. Er ist entlassen.
„Sag dem Herrn da am Telefon“ ruft er ihr durch die Jalousie hinterher „er kann sich das Bild abholen. Das Original !“
Weil Felix aufgibt.
„Sag ihm, dass ich dir das Codewort mitgebe : Was macht der schwarze Kerl !“
Keine Antwort. Sie wird, während sie telefoniert, an ihren Fußnägeln weitermalen.
Was macht der schwarze Kerl ? Er passt auf sie auf.
Und weil es nichts mehr aufzupassen gibt, weil jetzt der andere aufpasst auf sein flügge gewordenes Kind, macht Felix sich auf die Rückfahrt wie auf einen Rückzug. Beim erstenmal, als er mit seinen Kindern diese Route durch die Ardèche fuhr, lag die Gummiflotte hinten im Kofferraum und alles war Verheißung und kindliche Unter-nehmungslust, Zuversicht und Begierde nach Muschelsammeln und und Gischtbaden und Quallenfangen und das Errichten babylonischer Türme aus Dünensand.
Aber bei den Dünen angelangt, wurden die Schiffchen von der Ardèche verworfen und im Sommerhaus eingelagert, respektlos weg-gestopft und haben die erste Schliemannsche Schicht gebildet, die seither von vielen anderen überlagert worden ist. Felix wird sie wieder hervorkramen, wenn er im Sommerhaus ist, er muss sie freilegen als Archäologe der Nostalgie und die Spielsachen von damals zu ihrem Recht verhelfen, sich bei ihnen entschuldigen dass mit ihnen niemals gespielt worden ist.
Aber Felix ! Als ob die Kindheit deiner Kinder in der Gummiflotte eingeschlossen wäre wie der Geist in der Flasche, und dir zuliebe wieder mit ffffffft ! herausführe, damit du schwarmbolziger Zausel in deiner nicht endenden Infantilität waten kannst. Das ist Animismus, das ist Totemismus, du hast es doch gehört von deiner Tochterfrau. Und noch schlimmer, das ist Rührseligkeit.
Die Gummitiere würden Felix angrinsen und verspotten, weil er als Lehrmeister gescheitert ist, der seine Kinder zur Fantasie und zum Fabulieren erziehen wollte. Der Düsterling hinter der Schönen hat den Sieg davongetragen.
Felix hasst sich, weil er die ganzen Jahre auf der Flucht gewesen ist. Aber wovor ist er eigentlich geflohen, und wozu ? Wegen einer Passion, die nicht erwidert wurde. Von dieser Zicke mit ihrer jünfgerlichen Bleichheit, sie käme nicht einmal darauf sich die Zehennägel zu lackieren damit ein paar Tupfer Dramatik in sie fahren. Und ist sie nicht schadhaft gewesen von Anfang an, mit diesen Blessuren an Stirn, Backen, Kinn ? Herpes oder Ausschlag ? Oder vom Schönheitschirur-gen noch nicht mit Epidermis zutapezierte Versatzstücke aus dem Metall-Baukasten, weil sie in Wahrheit ganz und gar aus zusammen-geschraubten Fertigteilen besteht, eine Maschinenpuppe ?
Schon vor vierzig Jahren war die Badende von Karl Truppe das begehrenswertere Weib. In der war schon lange vorher das Männer-magazin vorausgeträumt, wie es die GIs dann mitbrachten für pubertierende Hitlerjungen, als ruhmvollste ihrer Befreiungstaten und sie allenthalben großzügig herumliegen ließen, damit die etwas zu besabbern hatten und unter dem Stragula zu verstecken vor den prüden Keifen von der NS-Frauenschaft.
Was war es denn an der Schönen, das es ihm angetan hatte ? Es war die dumpfdumme Treue eines leblosen Objekts, das bei ihm ausgeharrt hat, während das Unterseeboot und das Buch von Karl May ihm Adieu gesagt haben. Und diese Treue meinte er erwidern zu müssen, eine Tugend, die ihm selber nie jemand beigebracht hat und die ihm nun sogar Susanne und Felli schuldig bleiben. Für die, wie für ihren Creèl-Krettel, die Schöne nur ein finanzieller Posten ist.
Er wird das Bild vernichten.
Als er wieder im Sommerhaus anlangt, ist man ihm zuvorgekom-men. Das Original ist mit Mofa-Lack übersprayt. Felix hatte, als er seine Kopie fertig gemalt hatte, die Vorlage, denn jetzt war die Jugendgefährtin nur noch eine Vorlage, nachlässig zwischen zwei Schliemannsche Schichten geschlampt. Joachim muss sie versehentlich freigelegt haben, als er seinen Damiens und Jeannots und Jean-Lucs die Korkschiffe und Gummitiere von der Ardèche zeigen wollte : seht euch das an, damit wollte mein papan uns auf den Atlantik los lassen !
Zwischen leeren Sprayflaschen liegen leere Bierdosen. Als ob les sangliers hier gehaust hätten . Oder boches. Jeannot säuft nicht ohne Denis. Und wenn Denis säuft, will auch Damien saufen, und Jean-Luc wollen Pierre und Yannick beweisen dass sie Männer sind, dabei sind sie nichts weiter als die Lümmel in den Mirages, die schon wieder übers Haus donnern und mit ihren Bordwaffen gegen die Schöne Gärtnerin feuern.
„Denen hätte die Hitlerjugend gut getan !“
„Aber papan, wie redest du denn daher.“
Felix liebt das Bild eben doch. Er hat es erst kennengelernt und er-fasst, indem er eine Zweitschrift von ihm gemacht hat. Er ist in das Bild hinein gekrochen und das Bild in ihn.
„Was regst du dich denn bloß so auf,“ Joachim bemüht sich im-merhin, die Bier- und Sprayflaschen aufzusammeln, „du hast doch jetzt eine erstklassige Kopie.“
Auf chemisch zuverlässiger Leinwand, mit feinsten Kunstharzfarben aufgetragen und mit gilbungsarmem alterungsbeständigem Schlussfirnis versiegelt. Dabei weit saftiger in der Kolorierung als die Vorlage. Die ein paar Farbspritzer gut vertragen konnte, voilà, und so haben die Kumpane halt, was ist denn schon dabei, drauf los gesprayt.
„Ich hab sie grade noch abhalten können, dass sie ein Messerwerfen veranstalten auf – „
Er sagt nicht Möse. Er sagt region vaginale. Dabei braucht er den Begriff noch gar nicht in seinem Alter. Joaquin ist distinguiert. Er hat Schliff gekriegt bei den Franzosen.
Die Kopie ist die Siegerin nun und räkelt sich auf der Schräge des Kamins wie eine Königin die Hof hält. Felix steigt über die Kinder-spielsachen und Kinderboote, die Joachim aus den Schliemannschen Schichten gezerrt hat und verurteilt ihn zu einem letzten Knickbild.
Mirages donnern über sie hinweg. Das muss ein Manöver sein. Sie üben irgendeine Landung. So, wie die donnern, kommt der Angreifer nicht weit, wenn er von See her vordringt. Seinerzeit, als wir, die boches, vordrangen, hatten sie uns nichts entgegen zu setzen, weil sie uns nichts entgegen setzen wollten. Sie sind in die Knie gegangen vor dem Monsieur Schicklgruber. Dem mit dem argen Lächeln.
„In den Blockhouses sind doch längst überall Diskotheken drin…“
Und heute loben die Jeannots und Damiens die rücksichtsvollen Hitlertruppen der Besatzungszeit, loben BMW und Mercedes mehr als ihre Renaults, wo in der Fabrik ohnehin immerzu gestreikt wird, ver-achten die Engländer, schalten nie den Fernseher aus, Paris und der Louvre sind für sie so weit weg wie Hawaii, Neukaledonien ist ihnen näher denn es gehört zum Kolonialimperium, und für die in den Ministerien haben sie nur Verachtung übrig, Korruptlinge die alle, die von Juden und Moslems geschmiert werden, und wenn der Nachbar klagt, les sangliers hätten nachts schon wieder seinen Rasen zerstört, klingt es als ob er von les anglaises spräche, den Engländern , denen er solchen Vandalismus ebenso in Schuhe schöbe, oder an den Huf. Denn die Schweine sind die einzigen Wildtiere, die der Freigabe des Jagdrechts listig trotzen, das die Grande Nation seit der Revolution berechtigt, ihre Rehe, Hirsche und Feldhasen abzuschießen, so dass für die männische Vergnügung der Jägerei nur noch die Kaninchen übrig geblieben sind.
Felix hat Wildschweine aufs Papier gezeichnet, nichts als Wild-schweine, ein ganze Operetten-Ballett von sangliers. Joachim lacht und malt sie alle blau aus. Draußen wird gehupt. Vielleicht wagen sich die Bengel diesmal an eine Spritztour nach Paris, Joaquin der Deutsche hat ihnen versichert dass Paris gar nicht so weit weg ist wie die Insel-bewohner glauben, jedenfalls nicht viel weiter als Moskau oder Peking. Er hat eine schöne Maman dort, die wird sie aufnehmen.
„Beatrix ist in Paris ?“
Sie hat doch da eine Galerie aufgemacht. Eine mit dem Spezialpro-gramm Knickbilder.
„Wieso, Mann, weißt du denn das auch schon wieder nich ?“
Weil seine Mauergrillen es ihm nicht gewispert haben.
Wie Felix aus den Augenwinkeln beobachtet, packt Joachim für seine Tour fast nichts ein, überschlagweise für anderthalb Tage. Will er Felix beruhigen, hinters Licht führen oder erwartet ihn in Paris ein voller Kleider- und Kühlschrank im neu gegründeten Hausstand von maman ?

Meine Schöne ist mir wie ein Fächer erschienen, der sich vor meinen Augen zusammensetzt. Wie ein Fächer knippknapp aus Japanpapier knippknapp wie ein Fächer aus Lampenschirmpapier knippknapp wie Fächer aus Geschenkpapier knippknapp wie ein Fächer aus Scheck-papier knippknapp wie eine Anziehpuppe wie eine Ausziehpuppe wie eine Verwandlungspuppe. Jetzt weiß ich warum weil sie die Faltspiele unseres Ferienglücks als Handelsware feilbietet auf dem vanity fair.
Besonders gut verkaufen sich die Exemplare, auf denen Alwin seine Strichelchen hinterlassen hat und ins Schaufenster hat sie seine Expertise gehängt SCHULE VON AQUITANIEN als Vollendung des Surrealismus dort wo der organisch folgerichtig in die art nouvelle des primtifs übergeht. Cocteau ist bereits enthusiasmiert, alle Witterer und Vorausschmecker mit ihm, Derrida bringt Madame Beatrix ins Fern-sehen, der Bildband bei Flammarion steht vor der dritten Auflage -


„Du kriegst schon wieder Oberwasser, Alter.“
Der vergleicht sich mit Joachim, als er so alt war wie dieser jetzt. Er hat kurze Hosen getragen, keine Jeans, mit einem Fahrtenmesser am Gurt und ist in Marschformation zum Kreuzzug aufgebrochen, um entartete Bilder zu zerstören, wie der Goebbels es nicht nur ihm, sondern dem ganzen deutschen Volk angeschafft hatte.
Hat er das nun alles gebüßt ?
Alles noch nicht, denn „ehrlich, ich hab das das finste Loch noch nie verknusen können“ sagt Joachim zum eiligen Abschied.
Und meint das Ferienhaus seiner Kindheit.

An der Westküste der Insel ist der Strand kurz, die Dünen ragen schroff auf und fordern bei Sturm die Wut der Brecher heraus. Oft ist Felix unfreiwillig Zuschauer gewesen, wenn die Strandwache einen Surfer bergen musste, der sich zu viel zugemutet hatte. Felix, mäßiger Schwimmer, passt einen Sturm ab, der sogar die Surfer aus dem Wasser treibt und versucht sich noch mehr zuzumuten indem er weit hinaus zappelt, damit die Brecher ihn gegen die Kiesbänke schmeißen, den dummen Schädel voran.
Aber die Brecher wollen ihn nicht, auch nicht beim soundsovielten Versuch. Er kriecht schlotternd auf den Sand, verstaucht, verrenkt, geprellt aber malheuresement lebendig, eisiger Wind treibt ihn wieder an Land wie ein Pedell, der das Schultor abschließen will, und es ist nicht einmal ein Strandwächter zur Stelle um ihn auszulachen.
Danach liegt er im Fieber. Und verbietet sich, unter den Schliemann-schen Schichten nach Medikamenten zu wühlen. Dann wühlt er doch, als er bemerkt dass das Fieber ihm nicht beim letzten Abgang behilflich sein will, nach Barbituraten, die das Erlösungungswerk vollenden, wenn man sie mit reichlich Absinth hinunterspült, und kein Rattengift zu finden ist. Aber Absinth gibt es nur noch auf den Bildern aus Picassos blauer Periode, und Ratten sind, wie auch seine Kinder nie im Som-merhaus heimisch geworden.
Es bleibt ihm der Dachbalken. Der erste Strick ist mürbe und zerfasert ihm in den Fingern, er war einmal Springseil bei Felli, schon wieder ein Erinnerungsstück aus den Schliemannschen Schichten. Von denen will er sich nicht helfen lassen, nicht bei dieser Verrichtung. Aber mit seinem Fieberkopf sieht er sich außerstande, den Werkzeugladen aufzusuchen und sich nach einem zuverlässigen Strang zu erkundigen, für welchen Zweck brauchen Sie es denn, Monsieur ? und muss noch den Hals freimachen, damit der Verkäufer ihm das Maßband um den Nacken legen kann.
Ein Rest Elektrokabel muss genug sein für einen, den nicht einmal die Brandung haben wollte. Nach dem Vollzug, hofft Felix, werden dann seine Freunde die Spinnen herbei eilen und ihn einhüllen, unsichtbar machen, verschwinden lassen, mit Mumienschleiern umgeben, ange-feuert von den Mauergrillen. Als er sich einen Stuhl zurechtgerückt hat, einen zuverlässigen, dessen Sitzgeflecht nicht durchbricht und versagt wie so vieles in diesem Hause, das er auf dem brocant zusammen-gekauft hat und er den Stuhl, nach mehrfacher Probe, endgültig besteigt, bedächtig das Kabel um seinen Hals schlingt und dann um den Balken, nein sicherheitshalber in der anderen Reihenfolge, da wird unten die Tür aufgestoßen.
„Saustall ! Da is ja gar kein Lichtschalter !“
Das kann nicht Krettel sein, das ist nicht sein Stil. Aber es sind Deut-sche, deutsche Stimmen, deutsche Flüche.
„Mach doch wenigstens einer ein Feuerzeug an.“
Das ist Gotschi Otts Familie, und sein Sohn ist der Anführer. Der vife Kleine, der gleich bemerkt hat, dass Felix keinen Fernseher hat. Nun ist er erwachsen, aber so erwachsen doch wieder nicht, dass er nicht von draußen dirigiert würde.
„Hast du das Bild ?“
Das ist Alois Pframminger, der im Auto sitzt wie in einem Gefechts-stand. Im selben Gemüse-Dreirad wie 1937.
„Das Feuerzeug ist ausgegangen.“
„Arschgeigen ihr !“
Der Alois kann nicht aus seinem Gemüsegefechtsstand heraus, weil er seine Füße in Russland gelassen hat, und Felix hört ihn den Rosenkranz beten gegrüßt seist du Maria voller Gnaden der Herr ist mit dir und die himmlischen Instanzen um Beute bitten und gebenedeit sei die Frucht deines Leibes Jesus denn die himmlischen Instanzen haben ihm noch immer Beute beschafft Juda verrecke und her zu mir alles was mir gehört
Felix will sich von denen nicht so antreffen lassen, auf dem Stuhl, das Kabel um den Hals, beim letzten Schnaufer seines Lebens. Eine Elends-posse, die er ihnen nicht gönnt. Ob sie ihn vom Stuhl herunter holen oder den Stuhl unter ihm wegstoßen, um ihn baumeln zu sehen ? Sie würden ihn baumeln sehen wollen, und zu Hause herum trompeten in ihrem Nachtjackenviertel in dem sie noch immer hausen aufgehängt hat er sich beim Erbfeind so hats ja kommen müssen mit dem.
Felix steigt vom Stuhl, ohne sich durch ein Scharren zu verraten, schon wieder eine Elendsposse, er rollt seine Kopie der Schönen zusammen und verkriecht sich mit ihr im Zwischenboden. In dem Hohlraum, in dem die wirkliche Schöne ihr Asyl hatte. Und schon poltern sie die Treppe herauf, schon sind sie über ihm. Ihre Tritte dröh-nen ihm ins Ohr, sie müssen Stiefel anhaben, deutsche Militärstiefel, Knobelbecher. Die Bretter die ihn noch von ihnen trennen, werden gleich brechen unter ihrem Gewicht. Felix klammert sich an die Kopie, hält sie sich vors Gesicht, schütze mich mein Bild.
Die die drunten geblieben sind erkennen nicht dass das Original vor ihnen an den Geschirrschrank gepinnt ist. Gotschi Otts vifer Sohn schreit nach draußen :
„Da hängt bloß so was Buntes rum.“
„Was isn drauf ?“
„No, schaut aus wie so ein Geschmier mecht sein ausm Disco-Keller.“
Die Stimme von Gerda, Fipsis Frau, die sich dem Raubzug angeschlossen hat.
„Das ist nicht das Bild das was er vor uns versteckt und was uns geheert.“
Und nun, da sie nicht gefunden haben, was sie suchten, die Millio-nenbeute, werfen sie voller Rachezorn alles den Fenstern, was ihnen unter die Finger kommt. Der Gemüsetransporter, der nach Raubgut giert, ist schon überladen und als immer noch Bettdecken, Luft-matratzen, Elle maisons darauf geworfen werden, zieht Alois Pfram-minger ein Exemplar des Stürmers aus der Tasche und hält ein Feuer-zeug dran. Flamme empor ! Felix wird verbrennen, im Rauch ersticken, aber warum soll er nicht den Feuertod sterben, es ist eine Variante auf die er gar nicht gekommen bei der Durchmusterung seiner Auslö-schungs-Optionen, das Verbrennen war damals, auf der Schotterinsel im Fluss doch auch ihrer Schönen zugedacht.
Rauch steigt ihm in die Nase, ins Gehirn, der Rauch löscht die Gedan-ken aus, und Felix ist nur noch ein Feuer, eine Lohe, Flamme empor !

Am Morgen hat ihn auch noch das Fieber im Stich gelassen, und er liegt hilflos an einem quälerischen Ort. Warum so gekrümmt zwischen Balken ? Was soll das für eine klägliche Bettstatt sein, im Zwischen-boden, und wie ist er da nur hinein geraten ? Was soll das für ein Laken sein, nur aus Spinnweben um sein Gesicht und seinen Nacken ? Und wer hat sich den makabren Spaß erlaubt, ihm ein dreckiges Elektrokabel um den Hals zu wickeln ? Und, wenn er‘s schon so weit getrieben hat mit den Todes- und Abmurks-Vorkehrungen, warum hat dieser Jemand das Kabel nicht auch gehörig zugezogen, damit Felix nicht so elend erwachen muss wie eben jetzt ?
Was für eine Posse schon wieder, schimpft Felix mit sich, während er sich aus dem Zwischenboden heraus arbeitet. Er muss doch am Leben bleiben gerade jetzt, er erwartet doch einen Gast, einen besonderen Gast aus früher Jugendzeit, und es wäre mehr als ungehörig, ihm als Erhängter gegenüber treten.

Zugegeben, es ist beschwerlich zum Sommerhaus zu gelangen. Wer noch nicht da gewesen ist, dem muss der Weg umständlich beschrie-ben werden. Der Weg zu ihm ist bereits eine Einstimmung auf das was einen erwartet. Lass dir Zeit, Krettel. Der Wind wird dir in die luftige Garderobe pusten, dich streicheln geradezu. Geh gemächlich den Weg durch die Ginsterdickichte, an den Austernteichen entlang, die je nach Ebbe oder Flut voll sind oder leer und in denen Reiher stehen. Sie fassen den Neuling ins Auge ohne dass der es bemerkt. Wenn er ihnen missfällt, fliegen sie davon. Du wirst ihnen gefallen, du bist ja einer von ihnen, schlank, unbestimmbar, vom Wind hergetra-gen und vom Wind davon geweht.
Und dann das Geheimnis wo der Schlüssel liegt. Nämlich in der Mau-er liegt er. Zweihundertvierzig Steine von der Hauswand aus gezählt und sechsundzwanzig Steinreihen von oben, von der Mauerkrone die überwuchert ist von Trompetenblumen seitdem wir hier Heimstatt haben. Die Trompetenblumen sind mit den Kindern gewachsen, Krettel, sie haben die Kinder aufwachsen sehen. Du wirst Eidechsen aufscheuchen, sie sind die ältesten Bewohner hier noch vor meiner Familie, die du zerstört hast, und auch sie beobachten dich. Auch sie sind Vertraute, amphibische Schlängler wie du, elegant und wendig, nicht zu fassen und doch allerwege anzutreffen.
Du wirst den Schlüssel nicht brauchen. Ich habe die Tür für dich angelehnt gelassen, Tag und Nacht, wann immer du kommen magst.
A votre service tous les jours, monsieur Bertrand.
Beim Eintreten wird das Haus hellhörig. Denn das Haus ist ein Orga-nismus, der sich aus vielen kleinen Suborganismen zusammensetzt wie eine Staatsqualle draußen im Meer. Wer ist es, lauschen alle diese Orga-nismen, der da zu uns herein will ? Kommt er zu mir, gerade zu mir ? Endlich jemand zu mir ? Ist es endlich der, der schon so lange hätte kommen sollen ?
Du hast dich noch immer anlocken lassen von meinem Speck, wie eine Maus. Jetzt bist du meine gehorsame und hörige Maus. Such such Speckchen, Krettel, ich halte dir Weibsbeute hin, gemalte oder flei-scherne. Erinnerst du dich an deine Aussprüche über unsere Fahr-tenmesser, die alle dem Führer gehört haben ? Wie auch wir alle dem Führer gehört haben. Alle waren wir sein Messer. Und er schaute auf uns mit seinen großen blauen Augen, den Augen des obersten Künst-lers, auf unser Messer, ob wir es auch scharf genug geschliffen hatten zum Einsatz. Denn eigentlich ist das Messer, du erinnerst dich, sym-bolisch gesehen ein Schwert. Ein Schwert, das schon ein Siegfried geschwungen hat und Alarich und Hermann der Cherusker. Ge-schmiedet aus dem deutschem Edelstahl, wo draus doch auch die deutsche Jugend insgesamt geschmiedet sein sollte.

Nun wird meine Schöne baden.
Denn ich will nicht, dass meine Schöne enttäuscht wird, nicht durch ihr künftiges Badewasser, nicht durch das griesgrämige Gewölk hinter ihr, nicht durch die Planken unter ihren Füßen, die einen heimtückischen Rostnagel hochrecken. Oder ist es ein Damenschuh, gar ihr Schuh ? Oder ein Flaschenhals ? Der Hals einer Flasche, in dem eine Flaschenpost wartet. Auf wen ? Auf sie ? Auf mich ?

Meine Schöne indes ficht das alles nicht an, sie wendet alldem den Rücken zu, sie ist abgewandt in vielen Hinsichten. Wem aber ist sie zugewandt ? Auch mir nicht, ihrem Betrachter, der sie als einziger von vorne sehen darf. Sie betört mich trotzdem, sie betört alle, mich ebenso wie den schäumenden Ozean in seiner viel zu kleinen Wanne. Sie betört mich, weil sie gesenkten Blickes an mir vorbei schaut, als wäre ich, ihr Betrachter, gar nicht vorhanden. Ihre niedergeschla-genen Augen haben nur einen im Blick. Mit aller Verschämtheit, mit aller Angstlust, mit aller Begehrlichkeit.
Diesen anderen, diesen Jemand hinter ihr. Der doch gar kein Jemand ist, wie ich ein Jemand bin, sondern ein Nullmand. Einer der sich erst bildet oder der schon damit beschäftigt ist zu vergehen.

Ich falte dich in handliche Segmente. In deinem Segeltuch, in das so bereitwillig der Wind gefahren ist und dich dahin und davon getragen hat. Ich habe nicht geahnt, wie sperrig du dich anstellen würdest wenn ich dir gut zurede, dich bitte durch diese, nennen wirs Pforte zu be-quemen die ich dir bestimmt habe. Zum erstenmal zeigst du dich wider-spenstig in deinem Leben. Aber ich werde dir beikommen, ich werde dich gefügig machen, ich werde dich falten. Mein Knickbild ! Es gibt genug Werkzeug in diesem Sommerhaus, du weißt, die Schliemann-schen Schichten, Spannsägen. Fuchsschwänze. Raspeln. Alle rostig, das musst du hinnehmen, aber dafür alle ohne Elektromotor, geräuschlos, abgesehen von dem edlen Geräusch ehrlicher Arbeit die ich mit ihnen verrichte.

Wenn Felix die Falze glatt streicht, ist er nicht überrascht. Wie sollte er auch. Knickbilder allein zu zeichnen, Felix will es erst beim sound-sovielten Versuch wahr haben, ist ein tristes Spiel. Seine Bleistiftstriche kriechen miesepetrig über die leeren Bögen, über nun schon viel zu viele Bögen. Er setzt, zum Trotz, immer noch einmal an. Aber wenn er sich selber zu hintergehen versucht, das Blatt knufft und sich weis macht, er wisse nicht was sich hinter dem Knick befindet, schauen ihn auch dort nur die Zeichnungen derer an, die ihn verlassen haben.
Unterhaltsamer für einen Einsamen ist es schon, mit dem Papier, auf dem keine Knickbilder entstehen wollen, ein Feuerchen im Kamin zu entzünden und ihm eine paar unnütz gewordene Siebensachen zu übergeben. Einen Führerschein, Notizbücher, Visitenkarten, Metro-Fahrscheine, viele Fotografien vieler abgelegter Frauen. Und eine Brieftasche, die erst in den Flammen erkennen lässt dass sie aus edlem Leder gefertigt ist und entsprechend würdevoll prasselnd verbrennt. Wohlbeleibte Ketzer mögen ähnlich prasselnd hinüber gegangen sein in die von ihnen ersehnte Welt. Wo denn nur gleich hat er das zugehörige Wort autodafé zum ersten Mal gehört, und wann ?
Die Asche versorgt Felix aufs penibelste, verstreut sie im Wald, ein Schaufelchen hier, das nächste Schaufelchen erst zehn Schritte weiter, mögen les sangliers sich daran ergötzen und wahrhaft englisch dabei schmatzen. Die Feuerstelle des Kamins wird sorgfältig gereinigt, kein Krümel bleibt in den Mauerritzen zurück. Niemand wird von nun an seinem pedantischen Reinlichkeitsstreben mehr ein dreistes Chaos ent-gegen stemmen. Er ist endlich sein eigener Herr, mit endlich eigenen Ordnungsregeln, die nur er selbst noch brechen kann..
Bei seinem ersten Versuch, die Gerümpelgebäude im Sommerhaus nach seiner Facon zu sortieren, kann sich der Tuschkasten der Kinder nicht lange vor ihm verstecken. Er ist in eine der oberen Schliemann-schen Schichten eingeklemmt, die noch ohne große Mühe auszuweiden sind. Felix gönnt sich eine Pause in seiner Aufräumschlacht. Er klappt das Blechgehäuse vor sich auf dem Tisch auf, und schon sitzen die Kinder wieder um ihn herum. Sie allein haben bisher den Tuschkasten gebraucht, die Farben sind allein von ihren Pinseln aufs weiße Misch-blech gepatzt wie Spuren früherer Mahlzeiten.
Das grüne Gekleckse dort mag von Joachim stammen und die Melan-ge aus gelb und rot von Susanne, sie hat sich wieder einmal nicht ent-scheiden können zwischen Orange und rötlichem Ocker. Er sieht sie vor sich, mit fünf, mit neun, wie ihr die Mähne ins Gesicht fällt, über ihre Malarbeit gebeugt hinter diesem Vorhang aus Haaren und Tatendrang, hinter einem Paravent auf dem groß schabloniert steht Wehe ihr stöhrt mich die nexten fünf Tahge !
Weg mit ungesunden Visionen. Felix muss den Farbkasten für sich selbst erobern, Schüsselchen um Schüsselchen. Er muss sich die Pinsel untertan machen, sie fügen sich nur widerwillig in seine ungeschickten Finger, er versucht sich zu erinnern wie entspannt sie in Susannes geübten Kinderfingern gelegen haben, er verbietet sich mein Felli zu denken, wenn es ihm endlich gelingt mit dem Pinsel, in dem noch Reste von Susannes Pigmenten hängen, die Wasserfarben dorthin zu trans-portieren, wo sie hingehören. Aber wo gehören sie hin ? Seine Modelle sind die paar Gegenstände, die sich zufällig auf dem Tisch herumtreiben. Sie räkeln sich vor ihm, wie eitle Erwachsene im Atelier des Fotografen als er sie abkonterfeit. Ein leeres Marmeladeglas fängt fabelhaft das Licht ein, aber der Herr Amateurmaler weiß es nicht wiederzugeben ! Eine ausgedrückte Zahnpasta-Tube hält sich keines-wegs für eine Hutzelgreisin, sondern für eine Charakterschönheit. Der Aluminiumlöffel macht auf sich aufmerksam, will kein Plebejer sein sondern ein schrundenreicher Herr mit Vergangenheit. Der Kartoffel-schäler möchte gewürdigt werden und die Kaffeekanne empfiehlt sich als lohnendes Sujet.
Zuerst werden die Persönlichkeiten zur Portätsitzung gebeten, die es sich am längsten in Felix‘ Hausstand erdient haben. Die Familie des Familienlosen, die sich in von jeher schon pensionierten Kaffee-maschinen personifizierte, verrenteten Ofenschirmen, Briefbeschwerern a.D. und Stickrahmen im Ruhestand. Und nun, da Felix glücklich so zahlreiche Tanten, Großmütter und Urgroßväter um sich geschart hat, Zeugen seines Lebenslaufes im Sommerhaus, erweist er ihnen die ver-diente Ehre und arrangiert sie zu Stillleben.
Die er sorgfältig abmalt. Die Zunge andächtig in der linken Backe wie früher die Kinder. Wehe ihr stöhrt mich die nexten fünf Tage. Und es gelingt. Farben und Pinsel gehorchen ihm. Er hätte die Hilfe von Fip-si Lamprecht nicht gebraucht. Das Lob, das ihm damals als Malenlasser entgangen ist, heimst er nun als Selbermaler ein von den porträtierten Gegenständen.
Auch das Haarnetz des Vaters wird in die Stillleben eingefügt. Die Gefährten in der einsamen Kammer bei Onkel Kruthein, der gar kein Onkel war, aber der Salzstreuer war ein richtiger Salzstreuer und verdient noch heute ein Konterfei, obwohl er sich schon lange verab-schiedet hat. Verabschiedet ? Er hat sich nicht verabschiedet, er wurde verschleppt.
Denn Gegenstände sind treu.
Sie sind die Treue selbst. Treuer noch als Hunde, aber was weiß Felix von Hunden, die er doch auch nicht hatte. Er weiß von dem Karl May-Buch seiner Kindheit, den zu engen Pullovern und vom Unterseeboot, das ihm geraubt wurde. Aber irgendwo, da ist er sich sicher, mag es noch auf ihn warten und ihn mitnehmen zu einer verschworenen Tauch-fahrt.
Schließlich, wenn es die Bewohner des Sommerhauses zweimal gibt, einmal in der Realität und zum andern auf Aquarellpapier, wagt er sich hinaus in die Landschaft. Zunächst an simple Motive wie Ginster-stauden. Darüber Wolken. In Acryl. Davor Wassergräben. Darin Reiher. Mit Farbstiften. Ab und an ein Esel, oder ein Pärchen. Nun schon mit Wachsmalkreiden.
Er ist dankbar, dass auf dieser Insel vor ihm noch kein Manet oder Monet gemalt hat. Niemand hat hier je gemalt außer Joachim und Susanne. Ihre Knickbilder waren der Urbeginn der Malerei, das Altamira und Lascaux dieses Eilands. Und Felix wird die Gnade zuteil, alles was sich da anschauen lässt, anzuschauen als wär es das allererste Mal und es mit seinem Pinsel zu beschreiben.
Wie die Hintern der Charolrinder. Die sich von den teutonischen Rindern dadurch unterscheiden, dass sie runde Arschbacken haben wie Säuglinge, weißlich rosa und der Stier steht mitten unter ihnen, ebenso weißlich rosa, und friedlich wie ein Schaf, und ihrer aller weißlich rosanen Rundungen wecken augenblicklich den Appetit auf ein saftiges Steak. Beouf á la mode .
Felix malt sie sogar in Öl, und sie sind geduldige Modellsteher und genießen das Interesse eines artiste. Nun traut er sich sogar an les Blockhouses, die Bunker des Atlantikwalles, die die boches in die Dünen geklotzt haben um den Angriff der Angelsachsen abzuwenden. Monumente des Krieges, wie er selbst ein Monument des Krieges ist. Aber das verrät er den Zuschauern nicht, die immer öfter um ihn herumstehen. Sie bewundern schon wieder das Deutsche. Den deut-schen Beton, der seit Jahrzehnten dem Verfall trotzt, und nun bewun-dern sie den deutschen artiste, der den deutschen Beton malt. Auch sie wollten sich der Invasion der Angelsachsen erwehren durch die Jahrhunderte, sie rühmen die unerschütterbare Solidität dieser zemen-tenen Monstren, formschön wie ein BMW und haltbar wie ein Merce-des, und als bestünde Felix, der sie abmalt, selber aus Stahlbeton.
Und keiner der freundlichen Franzosen sagt boche. Nie sagt einer boche. Die Massengräber des grande guerre von 1914 liegen weit weg, weiter noch als Paris.

Felix malt die glückliche bukolische Welt die er sehen will. Schmei-chelnde Abpinselung wird geschätzt hierzulande, und Schmeichel-haftes ohnehin. Ein Augenland, wie sein Herkunftsland ein Grum-melland ist, in dem die Augen von Jugend an verkümmern. Felix stellt die Dinge so dar wie sie sich dargestellt sehen wollen. Er wird ein Schmeichler in Öl und Pastell, er schmeichelt den Pfirsichen auf seinen Stillleben und lässt in seinen Landschaften die Landmaschinen weg. Er verschafft sich Erholung von der Jahrzehnte währenden Beunruhigung durch die Schöne Gärtnerin.
Und den schwarzen Kerl hinter ihr.
Er darf seine Bilder im Flur des Bürgermeisteramtes aufhängen, dort wo es zur Gemeindekasse geht, im Büro des Herrn Notars, im Mehrzweckraum des Heimatmuseums.
„Picasso !“
Hier dreht man die Augen verzweifelt zur Decke
„Matisse ! Max Ernst ! Marcel Duchamp - ah ah, tant terrible !“
„Mais au contraire…“
Hier werden die Augen wohlgefällig auf eine nature morte gerichtet, das in goldbronziertem Stuckrahmen bei der Gattin des Lyzeums-direktors über der Kommode Platz gefunden hat.
„…notre monsieur Felix – formidable !“
Die Gattin des Lyzeumsdirektors wird seine erste Schülerin. Dann folgt dieser selbst, er braucht Feuchte, er bewirtschaftet allzu trockene Fächer, Erdkunde und Latein. Dann die gemeinsame Schwägerin, dann deren Cousin, ein pensionierter Offsetdrucker, der immer schon in die Künste jenseits der Druckerschwärze hat hineinwagen wollen. Und die Frau von Monsieur Chretien, der alljährlich geholt wurde, um die fosse leer zu pumpen. Aber die ist nun abgelöst worden durch die soeben verlegte Ringkanalisation. Monsieur Chretien hat ein Vermögen ge-macht, er hat zwei, drei Vermögen gemacht mit seinem nunmehr histo-risch gewordenen Gewerbe, nun leistet er sich einen Kunstkurs, und non olet sagt dazu auch der Lyzeumsdirektor.
So belebt sich der Garten wieder, der seit dem Wegbleiben von Beatrix und der Kinder verödet blieb und in dem auch Alwin Krettel so behaglich gesessen hat. Nun sitzt der Malkurs dort, eine fröhliche Mitt-wochsgesellschaft, und lässt es sich wohl sein bevor Felix jeweils der Runde die neuen Aufgaben stellt. Sie stehen immer bereits auf dem Tisch, die Schatten der Feigenbäume fallen darüber wie auf einem Gemälde von Renoir und fordern mit ihren Lichterspielen die Adepten von Renoir und Felix heraus.
Mal ist es, je nach Jahreszeit, eine Schwertlilie oder eine Ananas, eine Petroleumlampe aus der reich bestückten Sammlung von Felix, ein Tonkrug oder ein Stiefelknecht, dem zur allgemeinen Erheiterung ein paar Birnen und eine Nudelrolle beigesellt werden ; so wird der alte Hagestolz zum Helden eines Vaudeville-Schwankes zwischen objets fortuits und man freut sich, die spaßige Szenerie in die Malblöcke zu übertragen und morgen den Verwandten und Nachbarn zu zeigen. Und man sitzt dabei malend und schnatternd auf der mit Klinkersteinen überwölbten fosse.
Ihr bemooster gusseiserner Deckel schaut zu den Malenden herauf, noch erkennen ihre sich erst allmählich künstlerisch schärfenden Augen nicht, dass auch er sich ums Porträtiertwerden bewirbt. Aber nach dem vierten oder fünften Gläschen witzelt der Lyzeumsdirektor in einer philosophischen Regung, was es doch für ein eigenes Gefühl sei hier zu sitzen und zu schmausen und der Kunst zu frönen und dort, so nah unter einem, sei verwahrt was davon übrig bleibt. Oh oh, schalten sich die Damen ein, auch dies seien Kunstwerke, jawohl Kunstwerke, an denen die die zuständigen Einrichtungen unseres Leibes lange hingearbeitet hätten. Monsieur Chretien, der frühere Fossier, wird rot, seine Kunden, - und alle hier sind seine Kunden - prosten ihm zu und es ist recht an der Zeit, dass seine Gattin unter allgemeinem Hallo eine Flasche liqueur de cerise zwischen die Malblöcke, Pinsel und Paletten stellt.
Es ist nichts als die Wahrheit, spinnt man den Faden fort, nun vom Kirschlikör beflügelt, unter unseren Füßen ruhen die Ergebnisse der haute cuisine, köstliche Fleischgerichte von vor fünf, sieben Jahren, in Ehren zu sprechen und schwimmend im Burgunder, und nicht zu vergessen die creme brulée. Wenn man da drin mit schwämme, wie lange möchte es dann wohl dauern, bis jeder Erdenrest von einem getilgt ist ?
„Sie meinen radikal alles zersetzt, auch die Knochen ?“
„Gerade die Knochen. Wir warten auf Ihre Antwort, Monsieur, Sie sind der Experte hier in der Runde.“
Aber Monsieur Chrétien malt gerade, die Zunge zwischen den Zäh-nen, und bietet einen possierlichen Anblick dabei. Einige Gläschen wie-ter zeigt er sein fertiges Werk.
„Mais non…c’est trop macabre !“ quieksen die Damen.
Nicht doch ! Nicht doch makaber, belehrt der Lyzeumsdirektor, die Darstellung von Totenköpfen war ein beliebtes Motiv der Renais-sance. Schädel pflegten damals in einer Bildgattung, die trompe l’oeuil ge-nannt wurde, zwischen Büchern und Musik-Instrumenten zu lagern. Dies gemahnte die Käufer solcher Stillleben an ihre eigene Endlichkeit.
Eine Tugend, die heute abhanden gekommen ist.
Eine Tugend, die man wieder aufleben lassen sollte, befinden die Damen die eben noch gequiekst haben und verlangen nach Modellen für die nächste Sitzung. Zerflederte alte Bücher, s’il vous plaît, und einen Totenschädel !
„Ich schlage vor“ scherzt Monsieur Eugène, der Offsetdrucker, „jeder von uns malt jetzt seinen schlimmsten Feind, und wie der aussieht, wenn er ein Jahr in der Fosse gelegen hat.“
Aber M. Eugène hat ja schon einen sitzen.

Vor der Tür steht Gendarmerie. Beim ersten Mal war es nur ein einzelner Uniformierter, Felix konnte ihm keine Antwort auf seine Fragen geben, und nun sind es schon zwei. Er lässt sie pochen und rufen. Sie entfernen sich nicht. Nach geraumer Zeit pochen und rufen sie beim Nachbarn. Sie fragen ihn nach ihm, Felix. Dann fragen sie nach einem gewissen…wie heißt er noch ? Monsieur Creél. Bertrand Creél.
Aber der Nachbar kennt keinen Monsieur Creél. Er hat nie einen Besucher hier gesehen, er hat immer nur den Monsieur in der Ferien-zeit gesehen, zuweilen auch im Winter. Und dann, natürlich, die Familie. Und Madame, eine attraktive Person übrigens, und die Kinder. Die aber nun auch schon geraume Zeit nicht mehr. Wie das ? Ach messieurs, das Leben, das Leben ! Wie das so spielt, gut Wetter, schlecht Wetter, und dann die Tragödie, wer das Auto kriegt…die Her-ren Gendarmen werden doch auch verheiratet sein. Und man bedenke : dies ist ein Feriendomizil ! Man ist da, man ist nicht da, wie bei den Zugvögeln.
Die Gendarmen sind beim Privaten gelandet. Um was sie sich alles bekümmern sollen, hört Felix sie klagen, drei Einbrüche in einer Nacht, Holzdiebstahl, auf dem Campingplatz ein Wohnwagen von Vandalen verwüstet, drei Burschen aus der Nachbarschaft. Dabei sind sie eh schon unterbesetzt auf der Wache, aber diese Verdammten in Paris….
Und erst dieser Fall da mit der Tochter von Madame - der Name bleibt bitte unter uns - steht einem doch alles viel näher, alle kennen die Familie Der-Name-bleibt-unter-uns, und nun soll man nach einem Wildfremden fahnden, auf Anweisung aus Paris wo sie alle verdammt sind. Wir schon wieder auftauchen, der Fremde, auch die Tochter von Monsieur Sie-wissen-schon ist doch wieder aufgetaucht vorletzte Woche, dann wieder abgetaucht grade vorgestern.
Es wird gelacht und ein Aperitif getrunken.
Felix wird sich einstweilen auf die große Pinie verziehen. Aber wie soll er hinauf gelangen ? Er hat sie wenig gehegt in der letzten Zeit. In den letzten Jahren. Er muss sich mit der Gartenschere einen Weg frei schneiden.
Beim Nachbarn wird herzlicher gelacht. Er und die Gendarmen scheinen sich auf einen längeren Plausch eingelassen zu haben. Es ist Abend. Mag sein, dass sie den Dienstschluss schon hinter sich haben und nun die Einsätze des Tages betrachtend durchgehen, oder humoristisch. Eine gutgelaunte Belagerung. Werden sie, wenn sie ihr tête a tête beendet haben. noch einmal nach ihm schauen, forschen, fahnden ? Diesmal, mit etlichen Pernods im Bauch, auch energischer ?
Soll er eine Leiter holen, um auf die Pinie zu gelangen und der Belagerung zu entkommen ? Oder tuts ein Gartenstuhl ? Er holt den Stuhl, klappt ihn auf, steigt darauf, die Baumschere in der Rechten. Aber der Baum verspottet ihn. Die Zweige, soeben noch hoch oben, aber in Griffnähe, schwanken nun, da er ein gutes Stück näher gerückt ist, unerreichbar höher. Sie schwanken, obwohl sie sich eben noch still verhalten haben, hochmütig in einem aufkommenden Wind.
Hier unten, bei Felix, rührt sich kein Lüftchen.
Er ist sogar schweißnass. Die Zweige wippen schnippisch und amü-sieren sich über sein Geschwitze. Falter lassen sich in aller Ruhe auf ihnen nieder, als wollten sie sich einen günstigen Platz zum Zuschauen sichern, Nadeln regnen auf ihn herunter, die auf seinem Schweiß festkleben. Das kann er nicht zulassen. Er holt einen Tisch, stellt den Gartenstuhl drauf. Klettert über diese waghalsige Konstruktion, bei der ihm die Wanderzirkusse seiner Kindheit einfallen, höher und erreicht immer noch nicht auch nur die untersten Äste. Der Baum macht sich über ihn lustig.
Und im Nachbarhaus lachen die Gendarmen.
Er versucht nun sein Glück, indem er sich mit allen Vieren an den Baum wirft wie seine Freunde die Laubfrösche und in ihrer Technik höher zu robben versucht, Gartenschere und Säge in den Händen. Aber wie kann er klettern wie ein Laubfrosch mit diesen Gerätschaften, er steckt sie sich in den Gürtel und es gelingt ihm, sich nach oben zu hangeln.
Insekten greifen ihn an, kaum dass er den ersten Ring der bergenden Zweige erreicht hat. Schmetterlinge klemmen sich ihm in die Augen. Harte abgestorbene dürre Ästchen werden stichsüchtig, wie die Ärm-chen eines Krebses greifen sie nach ihm. Nutzlos haben sie hier he-rum gehangen, untätig, die Natur hätte sie gar nicht wahrgenommen, wenn Felix nicht unversehens bei ihnen erschienen wäre. Nun haben sie zu tun, sie zerkratzen ihm die Haut und reißen ihm Wunden.
Da überfällt ihn die Stimme eines Gendarmen.
Sehr gefährlich, was er da veranstalte, siebenundachtzig Prozent aller schweren Unfälle kämen auf diese Weise zustande, er, der Gen-darm als Funktionsträger der öffentlichen Ordnung fühle sich zu er-höhter Wachsamkeit aufgerufen. Wobei er nicht spreche von Unfällen im Straßenverkehr, ruft er herauf, bei Tempo 14o oder höher, und nicht angeschnallt dabei, solches verursache bei weitem nicht so heimtü-ckische Knochenbrüche, statistisch gesehen, wie das was Felix eben am Einleiten sei.
Die Gartenschere, eingeklemmt in seinen Gürtel, muss der Gendarm beeindruckt haben, sie will nicht mehr mit von der Partie sein und saust dem Erdboden entgegen. Beide Gendarmen schreien auf, als seien sie getroffen, in den Boden gerammt, in zwei Teile zerschnitten. Ein unver-antwortliches Abenteuer, ruft nun auch der Nachbar, auf das der Mon-sieur sich da einlasse ! Sogar unbeteiligte Menschen wie ihn, den Nachbarn, bringe Felix in Gefahr. Wo er, der Nachbar doch, recht-zeitig informiert, seine Sicherheitsleiter zur Verfügung gestellt hätte. Und er malt deren Vorzüge aus, sekundiert von den beiden Gen-darmen. Die Stufen abrutsch¬fest gummigerillt, und im Nu sei sie Felix unter die Füße geschoben. Würde dies verweigert, werde der Monsieur das Abendessen nicht mehr erleben.
Was Abendessen ! bäumt es sich in Felix auf, er muss sich in seine Fluchtburg zurück ziehen, das Retiré in seiner Pinie, er muss sich end-lich einen Weg bahnen dorthin, was ist er den Herren Re¬chenschaft schuldig, was geht es sie an dass seine Beine riskant in der Luft angeln, dass seine Gartenschere ins Leere gerast ist,.
Nur der Fuchsschwanz ist ihm verblieben, sie wird zur Waffe der Wut und der Verzweiflung. Was er absägt, fällt mit einem albern er-staunten huiiiisch in die Tiefe, zwischen die drei Herren, die noch immer dort unten stehen. Die aber nun einsehen, wie entbehrlich sie geworden sind. Sie entfernen sich, ohne weitere Anmerkungen zu Sicherheitsidealen und Nachbarschaftshilfen. Lauter noch als Felix‘ ingrimmiges Sägen ist sein Schnaufen, er sieht durch die Zweige dass der Nachbar sich eine orangene Schürze umgebunden hat, er bereitet das Abendessen zu von dem er geweissagt hat dass Felix es nicht mehr erleben werde, und Felix sägt.
Er muss sich Distanz ersägen zu der aufdringlichen Fürsorglichkeit der drei Herren. Der Stuhl unter ihm ist weggesunken, Felix klammert sich an den Stamm, er ist der Pinie ausgeliefert. Er klimmt höher, eine andere Wahl hat er nicht mehr, er muss weiterklettern und weitersägen im würgend dicht wuchernden Gezweig.
Was er absägt, fällt nicht mehr in die Tiefe, kein befreiendes Pfluppppppp zeigt ihm mehr an, dass es im Garten gelandet ist. Das Abgesägte verfängt sich im Geäst, bleibt zwischen Himmel und Erde in der Düsternis hängen wie er selbst.
Dort weit unten genießt der Nachbar mit den Gendarmen das Abendessen, auch wenn seine orangene Schürze nicht mehr herauf-leuchtet. Nur im Sägen liegt noch Heil. Felix wird wieder auf Helligkeit treffen, wenn er denn fleißig ist. Nadeln rieseln ihm in den Kragen wie Nägel. Nadeln spießen ihm die Augendeckel. Und der Nachbar schmaust ! Das steigert seinen Ingrimm, ein Ast donnert zu Boden. Zerschmettert den Tisch, den er sich dort unten als Basislager bereit-gestellt hat. Nun ist da unten nichts mehr, worauf er rechnen kann. Er muss, um der Dunkelheit zu entrinnen, den Baum von seinem Wipfel her zersägen, damit es wieder hell wird. Das Harz klebt ihm die Finger aneinander. Er kann die Säge nicht mehr umfassen, und auch sie saust in die Tiefe.
Unter ihm in den Garten ziehen les sangliers ein. Mit ihren Schnauzen rennen sie Tisch und Gartenstühle über den Haufen. Weil sich ihre Köpfe in den eisernen Verstrebungen verfangen, wird ihnen kriegerisch zumute. Sie lassen ihre Wut am Garten aus, werfen die Erde auf, als hätten sie vor, darin Schützengräben zu ziehen. Sie sind harte Kämpen, sie sind vom Geblüt des Richard coeur de lion. Das Baumhaus wird Felix aufnehmen, auch wenn es zugewuchert und er schon lange nicht mehr dort oben gewesen ist. Er darf keine Schramme fürchten, wenn er ins Dickicht der Piniennadeln kriecht, um es ausfindig zu machen.
Und er macht es ausfindig. Wenn er sich zerkratzt und voller Spinn-weben und Käferlarven auf die erste Plattform hoch zieht, erwartet ihn Gotschi Ott und klagt den Erlös bei Sotheby’s und Christie’s ein.
Gotschis Kinder haben Kinder gezeugt und an Gotschis Haus ihr eigenes angebaut. Wenn Gotschi zurück kommt, werden auch die Kinder wieder Kinder gezeugt haben und ihrerseits an Gotschis Enkel-haus angebaut haben. Gotschi traut sich nicht auf die Baustelle ohne Scheck über Zins und Zinseszinsen.
Setz dich zur Ruhe, Gotschi, hier im Baumhaus sei dein allerletztes Tram-Depot. Du bist eingekesselt, keine Straßenbahn kann mehr aus-fahren, wütig ackern die Wildschweine da unter dir. Erdaufwerfer und Ausbaggerer von Geblüt.
Und Gotschi Ott küsst Felix die Hände, setzt sich rittlings auf einen Ast, um Pinienzapfen hinunter zu werfen auf die Krieger des Richard Löwenherz.
Auf der nächsten Plattform brüllt Alfons Pframminger ihm entgegen : „Jetzt kommst du erst zum Appell, du Hundling !“
Er wird Felix erschießen lassen. Und die Standarte der Kameradschaft 93 hat Felix auch versaubeutelt.
„Dem Feind ausgeliefert, du Hundling !“
Ihre Standarte mit dem nackerten Weibsbild drauf. Wo man doch eine Standarte braucht, wenn man in den Krieg zieht. Und in den Krieg wird gezogen, an diesem Abend noch, weil man unsere Besten rächen muss die der Erbfeind kalt gemacht hat.
„Nimm Haltung an, Hundling, wenn dein Kameradschaftsführer mit dir spricht !“
Und er holt mit dem Fuß aus, um Felix ins Gesicht zu treten. Aber die Fuß gehorchen ihm nicht. Erst der eine nicht und dann der andere auch nicht.
Deine Füße sind festgewachsen, Alfons, das weißt du doch. Weil du ein Gemüserich bist, weil alle in deiner Sippe Gemüseriche sind denen alles worauf sie stehen zu Gartenrede wird und denen die Zehen in Wurzeln auslaufen und übers Jahr kann man euch ernten. Abschneiden und zu Gemüseeintopf verkochen.
Auf der nächsten Plattform ist es ganz und gar dunkel. Messer fahren Felix an den Adamsapfel.
„Parole ?“
„Was macht der schwarze Kerl.“
Das Messer zieht sich zurück. Felix wird umschlungen und abge-küsst.
„Mein Felix kehrt endlich heim zu seinem Willlllem.“
Fipsi Lamprechts Messer ist dem Odin geweiht, nicht wie das Fahr-tenmesser bei der Hitlerjugend damals nur dem Baldur von Schirach. Mit seiner Schneide erwehrt er sich alles Weiblichen, und wenn er es in die Pinie rammt, quillt Harz heraus, das wiederum dem Odin geweiht ist. Sie werden das Odinharz gemeinsam trinken.
„Und den Bund der Jugend erneuern, mein Felix ! Mein Leben…“
Flüchtend hört Felix, wie Fipsi mit dem Odinmesser einen Fehlstich tut und in seine Hand rammt. Sein wohliges Stöhnen ist noch auf der
nächsten Plattform zu hören, wo der Vater über seine Gerichtsakten gebeugt sitzt, nun über die Vorderseiten, und sie überzieht mit seinen Strichmännchen und Strichfrauen und von Wort zu Wort Spinnweb-linien zieht.
„Ich muss Revision erreichen. Ich muss bei allen Urteilen Revision erreichen…“
„Schau, Vater, wie die Eidechsen herum wuseln zwischen den Akten. Sie betrachten deine Zeichnungen mit Wohlwollen.“
Der Vater ist gerührt, weil der Sohn die Hand in seinen Nacken gelegt hat.
„Ich hatte Angst davor, Vater zu sein. Nicht nur dein Vater, Vater überhaupt.“
„Aber du hast mir doch eine Familie mitgegeben in Gestalt eines Salzstreuers und eines Unterseeboots…“
„Hast du das Unterseeboot noch ?“
„Ja“ lügt der Sohn.
„Dann lass uns morgen damit in See stechen.“
„Sobald es hell wird, gehen wir hinaus.“
Felix sieht Tränen an des Vaters Nase herunter laufen.
„Du darfst die Urteile nicht nass werden lassen, Vater. Du willst doch noch so viele Freisprüche durchsetzen bis morgen.“
Weitersteigend, findet er Rudi Ruttmeier, der an seinen Feldpost-briefen schreibt. Immer noch an die Eine und Einzige, mit der er jemals intim geworden ist. Er hat auf vielen Notenblättern aufgeschrieben, was er ihr vorsingen wird.
„Sie braucht Gesang ! Wenn sie Gesang hört, wird sie endlich. Es hat mich so traurig gemacht in Russland, dass sie nie gelacht hat…“
Er beginnt zu singen, was er sich aufgeschrieben hat , aber damit weckt er die Laubfrösche. Monsieur Montand und Monsieur Duval, die ihn übertönen.
Entsetzt wirft sich Rudi an Felix.
„Was ist das…das ist ein Gesang für die Hölle !“
Aber Rudi, dein F hat einen Schmelz, bei dem die beiden da nicht mithalten können. Und dein Ostinato haben sie sowieso nicht.
„Bring der Schönen die Noten, Felix. Damit sie sich aussuchen kann, was sie hören will…“
Und Felix kann weiter klettern.
„Ich muss mich eilen. Ich werde erwartet“.
Es wird hell um ihn. Das Gestrüpp der Pinienzweige hier oben ist ge-lichtet. Hat Felix es selbst abgesägt oder hat der Sturm es abgefressen ? Er klettert auf Aststümpfen, die aus dem Stamm ragen wie Trittlinge einer Wendeltreppe, hinauf zur obersten Plattform.
„Ich habe dich erwartet.“
„Du riechst gar nicht so nach Kloake wie ich befürchtet habe.“
„Der Seewind trägt es fort.“
Für Alwin weht immer ein Seewind. Felix setzt sich neben ihn.
„Ich hab mich von dem Bild befreien müssen.“
Die Schwalben haben den Abend lang Mücken gejagt, jede für sich allein.
„Da hast du gut daran getan.“
Jetzt, wo die Dämmerung zunimmt, sind die Schwalben satt und tun sich zusammen zu gemeinschaftlichen Mutflügen. Sie sausen eng ne-beneinander an den Schornsteinen vorbei und lassen dabei ihre Angst-lust kreischend heraus.
Die beiden sehen ihnen zu.
„Man hat deinen Wagen unterhalb des Viadukts im Schlick ge-funden.“
Die Dächer sehen aus wie die Rücken von Kühen. Das Dorf erscheint wie eine Herde, die zum Abend ihre Ställe aufsucht.
„In der Zeitung hat gestanden, man geht von Selbstmord aus.“
Wenn die Schwalben ihre Flüge beendet haben, stellen sich die Fleder-mäuse ein.
„Man wird mich bestimmt nicht finden ?“
Die Fledermäuse rütteln ohne einen Laut durch die Dämmerung, jede für sich. Aber in engeren Kreisen als die Schwalben, als versuchten sie nicht nur ihre Futtertiere zu erhaschen, sondern auch das, was die beiden Menschen zu bereden haben.
„Das verspreche ich dir.“
Alwins Kleidung ist quer gefaltet, wie eine Ziehharmonika, die nach unten hängt.
„Du siehst aus wie ein Faltplan.“
„Ich meine mehr wie ein Knickbild.“
Alwin hat Papier bei sich, auch Stifte. Es ist noch hell genug hier oben, um eine Zeichnung zu beginnen.
„Du wolltest es mir doch endlich beibringen…“

1987
Die Kopie der Schönen Gärtnerin, die Felix angefertigt hatte, landete auf dem brocant. Der Autor hat sie mehrfach dort gesehen, mit einem Rahmen umgeben, den man nur als aufgedonnert bezeichnen konnte und der alle Aufmerksamkeit auf sich zog, als ob das Bild für sich allein nicht genug hermachte. Der Anbieter, ein Monsieur Leclerc* aus Royan, rue Gambetta 44 hatte den Rahmen, ursprünglich mit Holzimitat beklebt, sorgfältig von der Folie befreit und eigenhändig mit Gold-bronze bestrichen, wie er immer wieder voller Stolz erklärte.
Bei meinem letzten Besuch war das Bild verkauft.
„Ein Erfolg für Sie, Monsieur, und Ihre Malkünste.“
Der so Gelobte straffte sich. Er strahlte, als hätte er sich selbst mit Goldbronze bestrichen. Aber an wen, an welchen Typ von Kunden er das Objekt veräußert hatte, damit wollte Monsieur Leclerc nicht he-rausrücken. Er musste letztlich aber einräumen, nicht eigentlich das Bild selbst sei dem Kunden den Preis wert gewesen.
Nicht La belle jardiniere sondern der falsche Goldrahmen.
„Ein gewisser Doktor Creèl aus Paris hatte da, wie ich höre, eine Expertise in Arbeit …“
Doktor Creèl ! Monsieur Leclerc kannte ihn, unermüdlich auf Er-kundungsfahrt der, nach den ganz ausgefallenen Stücken,
„Bedauerlicherweise hat er sich schon lange nicht mehr blicken lassen.“
Ich konnte Monsieur Leclerc berichten, dass eben dieser Leclerc eine gewisse Expertise in Arbeit hatte.
„Und der Doktor ist die allererste Kapazität auf diesem Gebiet, wie Sie wissen.“
„International gesehen sogar ! Alors, was für eine Expertise ?“
„Dass das Bild, das Sie verkauft haben, von des Meisters eigener Hand stammte.“
„Und um wie viel hat…um wie viel hätte das den Preis erhöht ?“
Weil gerade zwei Kunden zugleich auf ihn einzureden begannen, schrieb ich ihm den Marktwert, auf einen Zettel. Er setzte seine Brille auf, las, schaute sich wie ertappt um und zerknüllte ihn.
„Das Bild ist sowieso schuldig geblieben, was der Titel versprochen hat. Sie wissen ja wie das Publikum ist…“
Monsieur Leclerc vollführte eine wedelnde Geste mit der Rechten.
„Die Leute hängen sich dann doch lieber Landschaften über die Chaiselongue, auf denen man auch erkennt, was gemeint ist. Und mit ein paar Schafen im Vordergrund. Außerdem, Sie sagen ja selbst : er hat er sich schon verdammt lange nicht mehr blicken lassen.“

Nur die Eidechsen wissen nun noch, wo die Schöne Gärtnerin selbst geblieben ist. Die Mauergrillen dürfen es nicht erfahren, sie würden es in die Welt hinaus posaunen. Dabei können sie gar nicht posaunen, aber ihre Flügel erzeugen einen zierlich penetranten Gesang der jeden erfreut der in unserem Hause zu Gast ist. Die Mauergrillen sind geschwätzige Tiere, niemand hört auf sie. Sie nehmen sich zu viel vor und verlieren rasch den Faden. Aber ihr Gesang ist ein Labsal und alle Welt hört ihn gern. Die Spinnen weben eifriger, wenn die Heimchen singen. Es gelingen ihnen dann kunstvollere Gebilde. Maskenvorhänge und gnädige Verschleierungen. Die Spinnen sind die weisesten unter den Tieren, die das Sommerhaus bewohnen.
Es ist beschwerlich zu ihm zu gelangen. Aber wer einmal dort war, der wird ihn auf sich nehmen. Der Weg ist bereits eine Einstimmung auf das was einen erwartet, durch die Ginsterdickichte, an den Aus-ternteichen entlang, die je nach Ebbe oder Flut voll sind oder leer und in denen Reiher stehen. Sie fassen den Neuling ins Auge ohne dass der es bemerkt.
Wenn er ihnen missfällt, fliegen sie davon.




Der Autor hat die Namen geändert, um dem Betroffenen leidige Nachforschungen zu ersparen.
Max Ernsts Gemälde
Die Schöne Gärtnerin ehemals Kunstmuseum Düsseldorf, entstanden 1923 im Hause von Paul Eluard in Paris ( 196 x 114 ) wurde 1937 in der Schandausstellung „Entartete Kunst“ im ehemaligen Pumpenhaus am Münchner Hof-garten gezeigt und ist seither verschollen. Auf einem zeitgenössischen Pressefoto sind Joseph Goebbels, Adolf Ziegler, der Präsident der Reichskunstkammer, und der lächelnde Adolf Hitler zu sehen, die an Werken von Kirchner und Freundlich achtlos vorbei gehen.

Und eben auch an der Schönen Gärtnerin, die hier das letzte Mal zu sehen war.





Obgleich 1695 geboren,
ist er noch immer kregel unterwegs,
sonst hätte ich ihn nicht ( vorne rechts ) zeichnen
können vor der von ihm errichteten Amalienburg
im Nymphenburger Park :
Francois Cuvilliés, Gnom und Architekt

DER GNOM IM RIESEN
Wie seit der Zeit der Kurfürsten, ist der Gnom für
die Lustbarkeiten bei Hofe zuständig.Die Hofgesellschaft
trägt Cuvilliés' Freund Gregor durchs Königreich.
Gregor ist ein Riese. In seiner unermesslichen Livree
finden hunderte Höflinge Platz. Sponsoren, Rüstungsleute
und ihre ausländischen Kunden. Sich in Gregors Taschen
fläzend, wetten sie auf den Kriegsverlauf in all den Ländern ,
in die das Königreich Waffen liefert. Gesteuert vom GROSSEN
KONSORTIUM, das die Regierungsgeschäft übernommen
hat und den Regenten bestimmt. Die Risiken, dass die
exportierten Waffen das Königreich selbst bedrohen sind
enorm, ein riesiger Bunker ist deshalb unter dem Geheimcode
PROJEKT THASSILO in Bau, Cuvilliés ist auch da der
Architekt, und zudem regen sich hier und da Putschgelüste.
Bedrohen sie ernsthaft die royale Ordnung des
GROSSEN KONSORTIUMS oder sind sie wiederum
Inszenierungen Cuvilliés', der damit nach überlanger Dienstzeit
seinen Abgang vorbereitet ?

( weiterlesen >>> links unten )
>>>
Melchior Schedler
DER GNOM IM RIESEN
Roman

1.Kapitel
worin der Leser allein ist mit einem Wesen von beträchtlichen Ausmaßen, welches, obgleich von Geburt an stumm, ihm zuliebe das Wort ergreift um die Eigenheiten seines Landes darzulegen, in dem unsere Erzählung spielt.


Ich liebe es, mein Gesicht in die Wälder zu tauchen, wenn es schweiß-nass ist und erhitzt von meinen Wanderungen. Ich liebe es, meine Stirn streicheln zu lassen vom Außenflaum der Wälder, den Blättern und Zweigen. Ich liebe es zu spüren, wie mein saures Schwitzwasser tiefer und tiefer an den Bäumen hinab tropft. Zu spüren wie die Äste meine Stirn empfangen und abfangen wie freundliche Weidenkörbe, die nur darauf gewartet haben, meinen Kopf federnd auf ihnen ruhen zu lassen, indes mein Schweiß an ihnen hinab rinnt über ihre Rinden, die ich mit den Lippen liebkose, und mein Gesicht an ihnen abwärts rutscht und sich von ihnen ritzen lässt wie von verspielten Panterkatzen. Ich füge den Stämmen zärtliche Bisse zu und lege mein heißes Gesicht ihnen endlich zu den Wurzelfüßen lege.
Und schlafe schließlich dort ein. Die Kronen der Bäume lassen sich von meinem Schlaf-Atem zausen, einer feuchtwarmen Brise. Und die Leute in dem Land sagen zueinander : hört ihr , das ist der Föhn.
Ich sehe, wie ihr Land zuwächst. Wenn ich nachts über das Land hin stapfe, sieht es keiner so wie ich. Immer mehr Gevierte aus Licht unter mir, funkelnde Quadrate. Schimmernde Bänder fressen das Dunkel auf.
„Steig auf mich !“ balzt der neue Möbelmarkt zu mir herauf, „ich hab einen breiten Buckel !“
“Deine Füße finden reichlich auf mir Platz“ rühmt sich das frisch erbaute Hallenbad.
“Und auf mir darfst du sogar auf und nieder schwingen“ trumpft das neu erbaute Klärwerk auf.
Alle die Betonmassigen und Verrechteckten dienen sich meinen Füßen als Stützen an, auf denen das Land zu durchqueren mir leicht werden soll. Ich federe auf und nieder, versetze das Bauwerk unter mir in Schwingung und erspüre durch meine Muskeln meiner Beine, ob es stark genug sein wird, meinen Absprung auszuhalten. Ich lasse das Auf- und Nieder-Federn fortschwingen durch die Unermesslichkeit meines Körpers hindurch, bis mir das Bauwerk unter mir antwortet, indem es schwingt wie ich : jetzt ! Jetzt ist es an der Zeit ! Spring !
Und ich springe.

Ich gleite hinüber, die Arme unermesslich weit ausgebreitet und mei-nen Flug damit verlangsamend. Ich gleite dahin, die Beine unermess-lich weit voneinander spreizend, ich rudere mich mit den Füßen zurück, damit ich nicht da drüben aufschlage wie eine Steinlawine und ich mein Ziel in den Erdboden ramme. Aber kein Dachziegel verschiebt sich, kein Knirschen ist aus dem Mauerwerk zu vernehmen. Kein Luftwirbel bringt, wenn ich springe, die ihrer Wege blasenden Winde ins Krumme, so sehr habe ich mich darin¬ geübt, durch sorgsames Händeschaufeln im Sprung die Luftströme wieder zu ordnen. Wie einer, der durch eine Sanddüne geht und seine Fußspuren hinter sich fortstreicht. Ich habe mir Fertigkeit errungen darin, die Zehen umsichtig zu spreizen, wenn mir mitten im Sprung unverhofft eine Gebäudegruppe entgegen kommt : zwar scharren dann meine Fußspitzen leicht über die Firste und bringen die Fernseh-Antennen ins Pendeln, aber die in den Häusern wohnen, sagen nur zueinander : horch, da kommt auf einmal ein Wind auf. Und einer oder zwei machen sich die Mühe, aus dem Fenster zu spähen ob da nicht ihre zum Trocknen aufgehängte Wäsche flattert oder der Hund gejault, der vor der Haustür vergessen wurde. Ich indes bin schon weiter gesprungen von Dach zu Dach, und die aus den Fenstern Spähenden. nehmen nichts wahr als die gleichmütigen Völkerschaften der Sterne.
Zu ihnen aufblickend, trotte ich meiner Wege und lese die Weg-weisungen des Polarsterns, des Großen Bären und des Skorpions während einige Turmhöhen unter mir meine Füße ihren Weg erkunden und nach Steinernem tasten, das stark genug ist, mich zu tragen. Eine Arbeit, bei der sie meinen Gesichtssinn nicht benötigen. So bleiben meine Augen bei den Sternen in der aufgegebenen Hoffnung, unmittelbar unter dem Großen Bären oder dem Skorpion oder dem Schützen an-zukommen. Am Ende meiner Wanderungen aber leuchten sie nach wie vor in ekliptischer Unerreichbarkeit und haben sich selber , während ich mich über das Land bewegte, nicht am Firmament be¬wegt. So gering ist der Raum, der mir zum Umherwandern zugemessen wurde. So klein ist mein Land.
Ein flaches Land. Kaum, dass meine Füße seine geringen Uneben¬heiten und Waldgebirge wahrnehmen. Allein gegen Süden hin rollt es sich auf wie Teig, behäbig aufs Kuchenblech geplattet. Nur am Rand der Springform quillt er hoch lässt sich von der Backhitze zu pathetischen Aufgipfelungen ver¬leiten. Mein Land riskiert an der äußersten Grenze seines geografischen Backblechs ein Gebirge, an das ich mich mit Vorliebe bäuchlings lege, ihm mein volles Gewicht an-vertrauend, das Kinn auf einen Grat gestützt, die Hände im Geröll eines Kars vergraben, und so schnüffle ich in den Wind, der aus dem Süden herüber springt. Ich mische mich ein bisschen ein in die Meteorologie, indem ich das eine oder andere Wolkenschiff mit dem Zeigefinger aufhalte und in eine ihm fremde Wolkenfamilie versetze, die eben ostwärts strebt. Oder ich stopfe eine Horde dickbäuchiger Kumuluswolken ( die es sich hoch oben faul sein ließ ) in ein Tal und auf dem Gipfelsaum streiche ich sie glatt wie Rahm in einer Tasse und lege meine Hand als Deckel drüber, bis sie sich ausgeregnet und ver¬flüchtigt hat.
Oder es gefällt mir, einem Flugzeug ein wenig entgegen zu bla¬sen, es in der Luft stehen zu lassen mit sich vergebens abrac¬kernden, aufjau-lenden Motoren. Oder es gefällt mir, es mit einer ganzen Gewitterfront aufzunehmen, die einem freundlichen Südwind in die Parade fahren will. Ich treibe sie mit aller meiner Lungenkraft zurück jenseits der Landes-grenzen, und es hilft ihr nichts, dass sie sich dort ingrimmig auftürmt zu einem schwarz-violetten Gebirge. Mein Blasebalg ist allemal stärker als ihr physikali¬sches Bauchgrimmen, und sie muss wohl oder übel einen entmutigenden Umweg antreten durch die ausländischen Tiefebenen im Norden, wo der Küstenwind sie zersägt zu lauter kleinen, unansehn-lichen Schwaden die aussehen wie aus dem Striegelkamm gezupfte Hundewolle.
Habe ich mich so fröhlich leer geblasen, lasse ich mich tief in die Falten des Gebirges sinken, genieße das Zwacken seiner Felskanten an meinem Bauch, erlaube es den Latschenkie¬fern, mich in den Achsel-höhlen zu kraulen, gönne meinen Zehen ein Bad in einem Bergbach und schiebe meine Nase so weit südwärts, wie der Felsendamm es nur irgend zulässt. Und bin so nun gleichsam die Nase des ganzen Landes, sauge stellvertretend für seine Bewohner ein, was der Süden da über das Gebirge dünsten lässt : das vorlaute Gestinke der Turiner und Mailänder Automobile, aber darin eingewickelt auch den Duft schwarzer Espressi, venezianischer Parfüm-Mädchen, toskanischen Thymians, heißen Oliven-öls aus Bologna. Zwar beleidigt mir die Chemie von Mestre und Ravenna die Schleimhäute, aber ich niese so kräftig, dass in den Hochtälern die Felsblöcke erschrecken und ins Torkeln geraten, und danach sind meine Geruchsnerven umso empfindsamer für die schmalsten Rüchlein, die durch die Täler heraufstromern, befreit von ihren Gegenständen, denen sie als Aromen leibeigen waren : die Erinnerungen an Calamari-Mahlzeiten, zerkautem Knoblauch zu salzigem Käse, längst verdaut, längst vergessen von ihren Fressern und Aufstoßern ( die nun schon wie-der über neuem Tin¬tenfisch und neuem Knoblauch sitzen, neuen salzigen Käse hinterher schiebend ) werden empfangen von meinen gierigen Na-senlöchern, werden von meinen Gaumensäften durch meine gourman-disen Inne¬reien geflößt und endlich von dem Tor, das meinem Maul ent-gegengesetzt liegt, dem Himmel nordwärts wiedergegeben: pffff…
Und anderntags melden dann die Wetterstationen : plötzliches Auf-kommen von Windböen unbestimmbarer Herkunft, gestern am Gebirgsrand.
Aber auch feinere Rüchlein nimmt meine Nase wahr , wenn ich in meinen Mußestunden am Gebirge liege : das der Schuppen von Eidechsen , die sich bei Paestum auf heißen Steinen geräkelt haben, und die Sonne feilte von ihrer Schuppen aufgeheizten Goldstaub los, der zwei Nächte später als Wohlgeruch meine lauernde Nase erreicht. Und auch eine Erinnerung an den Eselsmist kommt darin an, der in Kala-brien in den glühheißen Straßenstaub fiel, selber verglühte und mir nun alle in ihm eingeschlossenen Aromen von Schafgarbe, Huflat¬tich und Wiesenestragon preisgibt. Und wenn ich das alles abgeschmeckt und verkostet habe, bleiben auf meiner Zunge immer Irrläufer aus noch weiter entfernten Weltgegenden zurück - Duftbotschaften von Weih-rauchufern und Moschus-Stränden bei den fernsten Antipoden.
So schnuppere ich, wenn ich bäuchlings am Gebirge liege. Aber übersteigen darf ich es nicht. So bleibt mir nur, die Sterne abzusuchen nach Wiederspiegelungen des Südens. Aber auch in Castor und Pollux und im Haar der Berenice lese ich nur, dass sie auf noch fernere Wegzeichen verweisen. Jenseits der Meridiane und des Äquators : auf den Kentaur, den Walfisch, die corona austria und das Kreuz des Südens.
Und ich spüre dann an dem Reißen und Ruckeln in meinen Zehen : das ganze Land unter mir und hinter mir giert danach, unter diese fernen Sterne versetzt zu werden. Es will den ihm zugewiesenen Platz auf der nördlichen Erdhälfte verlassen und im Meer vor Anker gehen. In den tyrrhenischen Gewässern etwa, und dort eine Insel bilden. Oder noch waghalsiger im Golf von Martabur, in der Nachbarschaft des Archipels von Palau. Und ich läge dort in der Dünung, die Zehen in die Korallenriffe gespreizt.
Ich ertränke solche Anwandlungen in einem kühlen Stausee meines Landes. Während ich mich in ihm suhle, saufe ich gerade so viel von ihm aus, wie meine Körperfülle verdrängt. So bleiben die Ufer un-behelligt, und ich bekomme meine Abkühlung dennoch. Schließlich tauche ich ganz in ihn ein und lasse nur noch meine Nase als Walfisch-rücken aus dem Wasser ragen, und zu meinem Pläsier legt ein Ruderer an dem an, was er im Mondlicht für eine Insel hält. Sorgsam berge ich ihn, der emsig seine Ruderblätter weiterhin durch die Luft kreisen lässt samt seinem Boot in der hohlen Hand und setze ihn aufs Trockene, wo er nun verstört mit seinem Paddel die Wiese traktiert.
Der innigste Genuss meiner Zerstreuungsstunden aber ist es, eine Doppelreihe weißer, zuckender Flecken durch die Nacht herankommen zu sehen. Von weitem nimmt sich diese Prozession aus wie ein wuselnder Wanderzug von Glühwürmchen. Ich liebe es, die Bahn des Wanderzugs hinterlistig zu verlängern, indem ich ihm einen Fuss als Hindernis auf-stelle, ihn zwischen meinen Beinen hindurch wallen lasse,dann meinen anderen Fuß sachte als erneutes Hindernis ins Spiel bringe und mich erfreue daran, dass das Herz meines verewigten toten Herrn mir noch einmal nah ist. Aus meiner Höhe freilich kann ich es nicht sehen. Aber ich weiß es unter dem Baldachin an der Spitze der Prozession, von Ker-zenträgern zur Linken und zu Rechten geleitet, eingeschlossen in eine silberne Urne. Von einem Priester getragen wie eine Monstranz. Genau so, wie ich meinen Herrn, den gegenwärtigen Regenten, übers Land trage.


2.Kapitel
in welchem das Land unserer Erzählung mit den Augen landfremder Reisender betrachtet wird


Sie ducken sich, wenn sie sich in das Land hinein begeben. Unwillkürlich ducken sie sich. Natürlich bemerkt es keiner. Jedenfalls an sich selber. Und dennoch ducken sie sich. Machen sich für einen Moment kleiner, und bleiben auch danach innerlich wie äußerlich geduckt, gestaucht, gedotzt, so lange sie durch das Land fahren.
„Dabei ist der Hund doch einwandfrei vetrinärmäßig abgenommen, ist er doch, oder ?“
„Kuck doch lieber nochmal nach in den Papieren.“
Und dabei ducken sie sich.
„Herzzerreißend, stell euch mal vor ! Wenn wir den Hund jetzt hier noch auf die Schnelle aussetzen müssten vor der Grenze.“
Ducken sich wie solche, die unter einem zu niedrigen Türsturz durch gehen müssen.
„Herzzerreißend. Stellt auch mal vor, noch eh die Ferien überhaupt so richtig angefangen sind.“
Keiner merkt es an sich selber.
„Und hat sich wer erkundigt wie das is mit den Bierkästen im Koffer-raum, sinn die jetz legal Transitware oder was sind die“.
Und dazu noch eines Nackenhiebs gewärtig.
„Irgendwie, ehrlich, is doch ein flaues Gefühl dabei, so wie früher in der DDR.“
„Nu mach mal halblang, haste hier irgendwo einen Wachturm gesehn oder sowas wie Stacheldraht ?“
Damit werden sie stumm, Fremdlinge nun, keiner bemerkt es an sich selber. Geduckt geben die Fremdlinge in dem fremdartigen Land, sich der der stummen Arbeit des Vorankommens hin. Den Blick stier auf das gerichtet, was weiße Linien auf der Fahrbahn ihnen zumessen.
Stoßstange an Stoßstange, Kühler an Heck. So umschifft man die Haupt-stadt, deren Namen sie nicht voreinander auszusprechen wagen. Und man wälzt sich, Heck an Kühler, hinein in den großen betonierten Bogen, der als riesiger Mastdarm zum südlichen Ausfluss des Landes führt. Auf der berüchtigten Windung den berüchtigten Berg hinan, an die einundvierzig Kilometer hinter der Hauptstadt und sechsundvierzig Kilometer vor der Grenze des fremden Landes, auf einem dreifachen Band, kommt man gemeinschaftlich zum Stillstand. Fremdling zwischen fremden Auspuffen, Ausländer hinter Ausländer : Kühlladern aus dem Münsterland, Wohn-wagen aus dem Badischen, Magdeburgischen, Emsländischen, Sattel-schleppern aus Hamburg und Vorpommern. Und den Hundertschaften feriengieriger Sippen aus der nördlichen Republik, die hier, zum ersten Mal in dem fremden Land, zum Verharren gezwungen sind.
Zu einer einzigen metallenen Masse geschmolzen unter der Sonne des Ferienmonats, verbleit zu einem einzigen Reptilienrücken, der sich von Horizont zu Horizont würmt, und dessen abertausend Schuppen in abertausend Karosserie-Farben glänzen, in fiebrigen Regenbogenfarben flir-ren wie ein endloses Rinnsal aus verschüttetem Öl unter einem dschun-gelgiftigen Dunst-Schirm aus Gas und sonnenzittriger Hitze.
„Meine Fresse ! Vier Stunden Stau, und bloß anderthalb Kilometer ge-schafft dabei !“
Aber diese vier oder acht oder sechzehn Stunden - Zeitspannen der heiligen Prüfung, in der Vollkaskoversicherte zu Heroen geschmiedet werden. An diesem Berg im augustlichen Stillstand eingeschmolzen gewe-sen zu sein, verleiht den hier Stillgestandenen, Stilgesessenen, Stillge-sottenen den Strahlenkranz der Märtyrerschaft. Lässt einen Durch-schnitt-ling und Einwohner Bielefelds, Uelzens oder Osterholz-Scharmbecks zum Kreuzritter gerinnen, der nach geglückter Heimkehr Nachbar- und Kollegenschaft in Bielefeld, Osterholz-Scharmbeck, ja sogar Ülzens die Winter-Abende zu durchgluten imstande sein wird mit seinen Schlacht-berichten vom Kilometerstein 103 auf dem Irschenberg.
„Und jetzt geht gar nichts mehr, schaut euch das an !“
„Drei Stunden kleben wir jetz schon hier, und – „
„Drei ? Gute vierdreiviertel !“
„Fünf Stunden, und nichts geht mehr.“
„Total nix is da mehr am Gehen. Die werden mir das nicht glauben in der Firma.“
„Ich stell den Motor ab für heute. Weil, der Sprit-Verschleiß is einfach nich mehr zum verantworten.“
„Bei dem totalen Gehtnichmher wo wir am Drinstecken sind.“
Die Fahrbahndecke glutet. Alle Türen stehen offen. Die Insassen hebeln sich aus den schweißnassen Sitzen, vermischen sich auf Fahrbahn und Grünstreifen mit anderen Schweißnassen aus vielen Stämmen und Ein-kommensklassen zu einer tropfenden Gemeinschaft der Dulder und Harrer. Sie hocken in den offenen Türen, die Beine hochgezogen, das Kinn darauf gestützt. Noch immer ist die Fahrbahndecke zu heiß, um ihr die Sohlen anzuvertrauen. Tiere rufen herüber aus den Wiesen, aus den präriegrasigen Untiefen links und rechts der Fahrbahn, auf der nicht mehr gefahren werden kann. Weiter hinten und und doch bange machend nah Fichtenwald, der die Fremden wie unter heruntergezogenen Augenbrauen finster zu mustern scheint.
„Ulkig dass die die hier sich derart, ich möchte mal so sagen, dass die sich hier dermaßen entfremdet haben von uns.“
„Das kommt, weil die uns immer schon fremd gewesen sind. Also wesensmäßig. So musste das mal sehen.“
Unter brennenden Lidern hervor sieht man den Kindern zu, wie sie auf einem Bein über den heißen Straßenbelag hüpfen. Dahinter steht dunkel der Fichtenforst. Viel fremder und dunkler als irgendein Fichtenforst im Hann-overschen.
„Fremd kannste aber auch echt laut sagen.“
Sagt es aber verhalten, flüstert es geradezu. Ist man doch nicht gewiss, welche fremden Ohren dem Transitreisenden im Gebüsch des Mittel-streifens auflauern.
„Weil welches Volk in unserm Kulturkreis, ich bitte dich, bringt es fertig und entscheidet sich heutzutage noch für die Monarchie. Freiwillig !“
Ein fremder Mond macht sich breit, in einem Hof aus Sommer-Dunst und Benzin-Nebeln.
„Und das mitte satte Mehrheit von sage und schreibe achtzig Prozent.“
„Siebenundachtzig Komma fünf“ weiß jemand ganz genau.
Aus den Wiesen dringen feuchte Schwaden bis zu den Kühlerhauben der Fremdlinge vor und gischten auf zu neuem Dampf.
„Das funktioniert doch nur, wenn ein Volk von vornherein, ich möchte mal so sagen : krass andersartig is.“
Gesichter und nackte Oberkörper werden bei dieser Erkenntnis wohlig klamm. Die Fremdlinge setzen genießerisch ihre entblößten Häute dem Nachtnebel aus.
„Bloß, bei uns, da lassen sie so‘ne Abstimmung gar nicht erst zu„ gibt einer zu bedenken, der sich gerade lustvoll den Tau im Nacken verreibt. Und ein anderer, der sich den Tau unterm Kinn verstreicht wie Rasier-wasser.
„Dem kleinen Mann sein Stimmzettel, der is doch bloß Statistik für die da oben.“
Und ein dritter, der mit dem Zeigefinger nassdunkle Ornamente aus eigener Schwitze und fremdem Tau auf sein Unterhemd malt :
„Da isses doch gleich ehrlicher, der kleine Mann tritt voll ab aus dem politischen Raum. Und legt das Staatsruder wieder zurück in die Hände vonne, ich möchte mal so sagen, vonne dazu Berufenen und echt Aus-erwählten.“
Man wringt die feuchte Leibwäsche aus. Lässt das Herausgewrungene auf die Fahrbahn pladdern, wo es sogleich verdampft. Grummelt sich in einen schweißfeuchten, fahrigen Schlummer. Der immer wieder abreißt, wenn einer schwerleibig vornüber kippt und damit Gehupe auslöst oder ein anderer auf seinem Leib auf seinem Unterhemd eine Mücke erlegt oder sie alle zusammen gemeinschaftlich ihre Wagen ein paar Dezimeter voran-ruckeln. Benommen von der jähen Stille, die sich jeweils danach wieder einstellt, nach Reifenquietschen und Geächze über die Mühsal des Wa-genschiebens, nehmen ihre Ohren mit einem Mal Geräusche wahr, die ihre dösenden, abgasgetränkten Gehirne nicht mehr bezweifeln können.
War da nicht eben ein Gewisper hinten in der Wiese ?
Oder ein Jaulen ? Oder ein Gelächter ? Welche Wesen schnattern da ? Be-lustigen sich da auf der Fremdlinge Kosten ? Welche Schierlinge wippen da feindselig, vom Nachtwind geohrfeigt, und rücken verschwörerisch die Kronen zusammen wie Greifkrallen ? Und hat sich da nicht eben ein Hahnenfuß zu den Fremden umgedreht und gegrinst über sie, mit gelben Blecke-Zähnen ? Hat sich nicht der Hahnenfuß mit der Distel verabredet auf drei fallen wir über sie her, du träufelst ihnen dein Gift auf die Zunge, und ich durchbohr sie ? Und hat nicht das Rispengras geraunt und wenn sie gestochen und betäubt sind, lasse ich ihnen meine Pollen in den Rachen wehen, und sie werden sich daran in den Irrsinn husten ?
Höhnte da nicht der Beifuß ich weiß einen Zauberspruch, der verwandelt sie in klumpfüßige Wachteln, und sie müssen zwischen uns hindurch trippeln in Dreiewigkeitamen ? Und hat da nicht die Wegwarte gezischelt ich erst ! ich weiß einen Zauberspruch, der verwandelt sie augenblicks in Schwebfliegen, denen die Füßchen in die backröhrenwarme Autobahn einschmelzen, und über ihre wehrlosen Körperchen rollen rollen rollen in Dreiewigkeitamen die Fernlaster ? Und senkten nicht die Stimmen da drüben in der Wiese sich nun eben, damit die Opfer die schrecklichen Verabredungen gegen sie nicht mehr hören können ?
Die Hälse reckend, von denen sie den Schweiß mit den Fingern fort schlenzen, spähen die Fremden an den Rain der Autobahn. Der Gräserwald wird sich im nächsten Augenblick teilen, eine Attacke nie gesehener Ar-meen wird aus ihm hervorbrechen, und die Fremdlinge werden wehrlos ausgeliefert sein. Aus Löwenzahlbüscheln surrt das dunkle Unbekannte heran, schwebt sacht-tückisch , kriecht schmatzig, wuselt auf tausend bösen Kurzbeinchen oder auf sechs langen, schwankenden, nimmt unterwegs die Hitze der Autobahn auf in den Höllenleib aus Chitin, den Panzerleib, über den das kohlendioxydkranke Mondlicht geistert mit Käfer-Hellebarden, mit Zwacke-Zangen, mit giftigen Rüsselchen, mit Sägen, die die Schleim-häute zerfleischen, mit Panzern, an denen die Fingernägel der Opfer zerbrechen.
Aber es ist nur das Heupferdchen, locusta viridissima, auch im West-fälischen wohl vertraut, das da auf die Fahrbahn hüpft. Und der Krieger, der da hinten noch eben bösartige Zackenwaffen über seinem Helm schwang, ist niemand anders als forficula auricularia, der Gemeine Ohrwurm, der unter dem linken Vorderrad wegtaucht.
Aber sind es wirklich die selben Wusler und Käferchen, die ihnen eben noch unschuldig über die Zehen eilten ? Schleppen sie nicht doch Speere ? Tragen sie nun, da sie sich dem jenseitigen Rand der Autobahn nähern, nicht doch Marterzangen und Mördersägen bei sich ? Haben sie nicht Helle-barden und Langschwerter geschultert, um in der späteren Nacht den endgültigen Schlag zu führen ?
Die letzten Wachhabenden in der stillstehenden Armada aus Blechkästen starren durch die Windschutzscheiben, klebrig vom Tau, durch den sich kopulierende und verendende Insekten schleppen, starren auf etwas Unbegreifliches, das sich da aus dem Brachfeld erhebt : eine Erscheinung, ein Wesen, unbestimmbar wie ein Gebirge aus Miriaden Drachenkäfern , dem die Scharen von Nachtvögeln erschrocken ausweichen.
Und ist dieses Wesen überhaupt ein Wesen ? Sind es nicht viele Wesen, unzählige Wesen ? Unzählige Libellenflügel, Drachenflügel, Drachenlei-ber, verklumpt zu einem schwebenden Turm? Auf den Drachenleibern, Drachenflügeln, Drachenschuppen zittert das Mondlicht. Aber nein : das Wesen bringt sein eigenes Licht mit, es leuchtet aus der Mitte heraus. Und vor dieser Mitte zeichnet sich etwas ab wie die Silhouette von Schultern, von Köpfen, von Menschen. Menschen, so hoch oben ! Und trotzdem werden sie dort oben in dieser Höhe von keinem Segelflugzeug gehalten, keinem Kran, keinem Ballon.
Die Fremden wollen dem Anblick durch ihre mückenbeklebten Wind-schutzscheiben hindurch nicht mehr trauen. Sie beugen sich seitwärts hinaus, zaghaft, ohne den Schutz ihres Wagendaches über sich zu ver-lassen, denn dieses turmhohe Wesen ist nun schon bedrohlich nah, fast über ihnen –
„Echt Tatsache, das sinn Menschen da droben“.
Viele Menschen sogar, eine ganze Versammlung. Sie sitzen da in einer streng geregelten Anordnung, in Girlanden und Bögen um einen Mittel-punkt herum. Und in diesem Mittelpunkt Gold, Regenbogenleuchten, ein ganz besonderes Licht.
„Da drin sitzt ja einer. Mittendrinne ! „
Er thront, eingefasst von der Ehrerbietung derer die ihn umgeben wie eine Heiligenfigur auf einem Hochaltar. Und von Rauchpfannen, Kandelabern, schwappenden Federgebilden und Drapierungen, die sich weit oben in der Dunkelheit verlieren. So weit oben, dass die Fremden nun den Kopf tief ins Genick legen müssen, um dieses Mirakel aus Gold und Funkellichtern erfassen. Mit einem Mal ist es verdunkelt, und die Unterseite ihnen zuge-kehrt.
Und die Fremden ziehen die Köpfe ein, ducken sich so tief, wie sie sich nicht einmal an der Grenze geduckt haben. Kauern sich zusammen, vergraben sich in ihren Sitzpolstern. Über ihnen, in Turmhöhe über den Wagendächern, ragen zehn Finger waagrecht in die Luft. Jeder der Finger unermesslich, und noch unermesslicher das Handfleisch, aus dem sie herauswachsen. Die Fremden beißen sich in ihre eigenen, ihre Winzlings-finger vor Schaudern, lutschen ihr eigenes Schwitzwasser bei geschlossenen Augen. Schmecken nicht einmal mehr das saure Fett auf ihrer Zunge, nehmen nicht wahr, wie zwei unermessliche Füße über sie hinweg gleiten, über ihre Autos, über die sechs Bänder der Autobahn.
Erst ein sachter Aufprall, wie von einer Katze die auf ein Kissen gesprungen ist, bringt sie dazu, den Blick wieder hochzunehmen von den schweißfeuchten Armaturenbrettern. Und sehen da : der Turm hat sich entfernt, seine Lichter wippen nun schon über dem jenseitigen Rand der Autobahn. Unermessliche Schabracken mit Goldborten daran, so breit wie wie eins ihrer Fahrzeuge pendeln im Rhythmus der Bewegung. Unermessliche Seidenbahnen bauschen sich, ein Wald von Quasten, jede gewaltig wie ein Wasserturm, wiegen sich hin und her, Glocken mit unhörbarem Geläut, das die Fremdlinge noch bestaunen, wenn es in vielen Kilometern Entfernung bereits wieder in die Nacht eingetaucht ist.
Zurück bleibt ein befremdliches Odeur, eine Brise von Orient und Moschus und Weihrauch-Ufern, aber darin eingeschlossen doch auch wieder der so vertraute Geruch von obergärigem Bier.
In dieser Nacht findet keiner der Fremden mehr Schlaf.

3. Kapitel
in welchem berichtet wird wie ein absonderliches Beförderungswesen einen Dienstgang tut


„Die Autobahn !“
Es hört sich an wie „Da gibt’s a Hetz !“.
Die Hofgesellschaft, maulig und dösig während der ersten Stunde der Reise, ist mit einem Mal hellwach und lugt mir erwartungsvoll aus allen Knopflöchern.
„Die Autobahn, und ein Riesenstau drauf !“
Und nun spricht es doch irgendwer aus :
„Da gibt’s a Hetz !“
Sie klammern sich genießerisch in den Knopflöchern fest, in Erwartung eben dieser Hetz. Je näher ich der Autobahn trabe, mit nun umso gleich-mäßigerem Schritt, als würde ich die Erwartung nicht spüren, die sich allenthalben in meiner Livree aufheizt, die nun übergeht vom Gicksen ins Stöhnen.
Ich genieße das. Und tue mit besonderer Sorgfalt so, als zögerte ich vor dem Hindernis, das da vor uns im Dunkeln erscheint, als nähme ich einen zauderlichen Anlauf und dann noch einen, träte wieder zurück, vermäße den Abstand ein weiteres Mal. Während es mir vielstimmig am Leib quietscht, während der Hofstaat sich ergeht in Fantastereien über die Fremdlinge, die da drunten auf der Autobahn in eine Gefahr geraten, von der sie nicht das geringste ahnen.
Rettungslos, kichert man, werden die Automobilisten zerquetscht werden von meinen niederrammsenden Füßen. Und der Hofstaat wird hilflos Zeuge sein, wie sich Fleisch mit Blech und Blut mit Karosserie ineinander presst, weit weg vom ersehnten Urlaubsplatz in Rimini. Und man balgt sich, lampenfiebrig, um die besten Plätze auf meinem Zwei-spitz, an den Rändern meiner Armstulpen, ein paar Verwegene erklettern meine Epauletten, die Hofdamen werden in Position gebracht, und alle zusammen feuern mich an und scheuen damit die Nachtvögel auf, die sich auf mir niedergelassen haben.
Ich federe auf und nieder, spüre an meiner Haut, wie die Angstlust des Hofstaats zu Dampf wird, der mir durch den Stoff auf die Haut nässt. Ich spüre wie die Höflinge die Hofdamen zum Kreischen bringen, und ich genieße es. Und springe, mitten hinein in ihr Gegacker. Ich springe so sanft, dass sie mein Abheben gar nicht bemerken, springe hinweg über die sechs Bänder der Autobahn und die Blechschächtelchen darauf. Gleite hinüber, die Arme weit ausgebreitet und meinen Flug dadurch verlangsamend, ich gleite, die Beine unermesslich weit voneinander spreizend, mich mit den Füßen zurückrudernd, damit ich nicht zu schnell ankomme, lande auf dem jenseitigen äußersten Streifen der Autobahn, und federe wieder auf und nieder wie bereits schon einmal vor dem Absprung.
Sie applaudieren mir, denn erst jetzt beim Aufsetzen hat der Hof-staat begriffen, dass er mit mir in den Lüften war, während die Nacht- vögel sich schon während dieses Fluges wieder vertrauensvoll auf mir niedergelassen haben. Man klatscht in allen meinen Taschen, in der Weste, im Hosenbund, selbst die in meine Fangschnüre Geklammerten jauchzen zu mir herauf und lassen sich dabei verwegen in den Schnüren schaukeln, als seien selbst gesprungen. Voll darauf vertrauend, dass ich trittsicher bin wie ein Steinbock, und dennoch bringen sie mir bei jedem Sprung aufs Neue Ovationen dar. Und ich, nicht achtend der Herab-lassung, die sie damit noch mehr zum Ausdruck bringen als ihre Angst, würdige ihre zwergischen Bravissimi, indem ich so gleichmütig weiter-stapfe wie zuvor. Der eine oder andere will gar den Sprung wiederholt haben, vor dem ihm so bange war und sich vor den Hofdamen groß tun, reißt an meinen Knöpfen wie an einem Klingelzug, und frohlockt inner-lich weil ich seinem Ansinnen nicht nachgebe.
Von der sanften Dünung meines Schrittmaßes eingelullt leiern die Manieren aus. Frühkindliche Kabbel-Lust bricht auf. Es wird gekreischt, es wird in Weichteile gekniffen, die eine Meute verfolgt die andere Meute, die einen Rauhbeine verbarrikadieren sich hinter einem silbernen Knopf, die anderen hinter einem aus Schildpatt, ein einsamer Rüpel kriecht mir ins Achselhaar, Verfolgende und Obsiegende hangeln sich an meinem Hemd hinunter oder die Hosenträger hinan. Kabale rechts im Innen-futter, Kabele links im Saum, eine dritte Partei separiert sich in den Ab-nähern meiner Kniehosen, ergibt sich dem Suff und aast mit Bier, bis es braun durch die Seide meiner Livree tropft.
Ich verschaffe mir Ruhe, indem ich die Reisenden an mich und meine Masse gemahne.
Ein sparsames Halswenden von mir, und ein Ränke köchelnder Zirkel stiebt auseinander, der sich unter meiner Kragenbinde heiß gekichert hat an dem, was er einem anderen Ränke-Zirkel antun wollte. Der in meiner rechten Kniekehle nistet und das nämliche treibt. Um auch diesen zu sprengen, genügt ein sanftes Schütteln meiner Wade, just so behutsam, dass es keinen der Gäste jenes Hotels aus dem Schlaf holt, über das ich eben steige.
Allein meine Hände halte ich stets still und in der Waagrechten von mir gestreckt. Denn auf ihnen ist der Platz des Regenten, eingerahmt von seinen Würdenträgern. Der innerste Schrein der Monarchie. Meine wie-chen Handballen schmeicheln seinem durchlauchtigen Allerwer-testen. Bei Regen, Schnee oder Hagel beschirme ich ihn mit der anderen Hand,
auch gegen den Tau. Denn auch zur Nachtzeit thront er in der Helle, hoch über seinem Land, den Blicken des Volkes ausgesetzt als Leucht-feuer. Erst spät in der Nacht, wenn er niemand mehr unterwegs weiß, zieht er sich zurück, in sein Schlafgemach hinter meiner Gürteschließe, von meinen Fingernägeln verwahrsam dorthin bugsiert.
Der Hofstaat schlummert nun an mir, ich trage ein Nachtge-wand aus Schläfern, gehe weiter die mir bestimmte Bahn, beäugt nur noch von den Sternen und den Nachtschwärmern. Käuzchen streifen meine Backen, Fleder¬mäuse erforschen meine Nasenlöcher. Über mir im Scheitel Wega, Deneb und Atair, das Sommerdreieck im Sternbild der Leier, des Schwans und des Adlers. Unter ihnen führt mein Weg in den Süden diesmal, zwischen Steinbock und Schütze, und das rech-te Horn des Steinbocks in der geraden Verlängerung meines linken Ellenbogens. Die Sehne des Schützenbogens ist mir zugewandt, aber sein Pfeil fliegt von mir fort.
Gelächter umspült meine Knie wie eine leichte Bugwelle, erwar-tungsvoll. Eine fröhliche Clique zu ebener Erde begrüßt mit einem "Aaaah !", dass ich ihretwegen stehengeblieben bin. Und schon erklettern die, die am dankbarsten „Aaaah“ gerufen haben, meine Schuhe, und klammern sich - unter Gekreisch, das ihre kleine Angst und ihre große Beklommenheit übertönen soll - an den Schuhschnallen fest. Der Kühnste der Gesellschaft stellt sich in die Kuhle über dem Spann und pfeift mir als Gastgeschenk eine Melodie auf seiner Flöte. Bierkisten und Essenskörbe werden herauf gereicht, sogar an Tischtücher ist gedacht worden. Die sie nun auslegen und das Geschirr darauf stellen, und zuletzt hebt man, vom Tirilieren des Flötenspielers begrüßt, ein geschmücktes Mädchen herauf. Ich hatte gleich erraten, dass sich da eine Hochzeitsgesellschaft einlogiert hat. Es gilt im Land als gutes Omen, wenn ein Paar vor der Trauung eine Weile auf meinen Füßen gereist ist, gesunde Kinder und einträchtige Ehejahre sind ihm gesichert.
Manchmal muss ich drei und mehr Gesellschaften tragen, mit¬unter auch richtet sich auf dem anderen Fuß eine Musikkapelle ein und noch eine zweite, die gegen die erste anspielt, spitzer Dixie gegen das landesübliche fette Blech. Ich verhin¬dere nichts von alledem, kein Tänz-chen, kein Wettrutschen auf meinen Schuhen hinunter bis zu den Zehen. Ich bin bestrebt, noch sorglicher als sonst Fuß vor Fuß zu setzen und freue mich dass meine Fussgäste gibbeln wie Kinder. Der Geruch ihrer Grillsteaks beißt mir in die Nase, ich fächle ihn mit den Händen fort, puste ihn fort. Sänftliglich, so dass ich keinen Sturmwind entstehen lasse, der den Regenten inkommodiert, aber auch die Lustbarkeiten seines Volkes sollen sollen seine Nachtruhe nicht stören.
Wenn die Sterne verblassen, ist die fröhliche Gesellschaft da unten müde gesungen, müde getanzt, verstolpert sich, die Flöte verstummt endgültig nach einigen ausschweifenden Triolen. Längst kümmert man sich nicht mehr um die welche mir von den Füßen rollen und davonkugeln und noch weniger kümmert man sich um die, welche noch lange Zeit hinter den Schuhschnallen eingeklemmt hängen bleiben ehe ich sie, diese vorsichtig spreizend, weich auf Äcker und Wiesen plum-psen lasse.
Wo sie morgen erwachen werden und sich zusammenreimen, wie sie hierher zwischen Raps und Mais geraten sind.
Wenn sich nun die Sonne hinter dem Rand des Gebirges bereit macht, mein Land einen weiteren Tag lang zu verwöhnen ( ich nehme ihre Vorkehrungen hierzu früher als irgendwer sonst ) sind die Hoch-zeitsgäste samt und sonders weggetrudelt, verrollt, davongekugelt und meine Füße wieder leer, liegen die Trunke¬nen irgendwo und weit verstreut auf den Feldern. Und der Bräutigam wird Mühe haben, seine Braut wiederzufinden.
Nun sind es schon Tagvögel, die um mich schwirren unter dem verblichenen rechten Horn des Stein¬bocks und der Bogensehne des Sternbildes Schütze. Es wird nach Künstdünger riechen an dem Ort, den ich betrete. Nach den kleinen Abgasen kleinkleinlicher Industrien, die der Bürgermeister vor einer Woche hat herunter drosseln lassen, im Erwar¬tungseifer zu Ehren des Regenten. Und die Bürgerschaft wird wiederum eine Art Landebahn errichtet haben für mich den Un-ermesslichen, wie es noch bei allen Gemeinden Usus war in die ich meine Füße setzt. Für die zwei Ovale vorbereitet sein werden, um-standen von Buchsbäumen. Und so reichlich bemessen, wie der Fama nach meine Füße bemessen sind. Und noch weit reichlicher, denn über die Umfänglichkeit meiner Sohlen gehen verwegene Gerüchte um im Königreich. Die, bei denen ich sie noch nicht niedergesetzt habe, lassen sie anschwellen aus Angst und die ich bereits aufgesucht habe, lassen sie anschwellen aus Protz. Und jeder der Buchsbäume, die da für mich als Landemarken aufgereiht sind, wird einzeln umwindelt sein mit weiß-blauen Seidenbändern, von der Grenze ihrer Gemeinde an in einer akkuraten Reihe von der Gemeindegrenze an und mich anflehen : tritt hierhin, Unermesslicher, und stampf nicht dorthin auf dem Betzmeier sein Rapsfeld, auf dem Steigenberger seine Minigolfanlage, auf die Vorgärten, auf die Tankstelle, auf Dächer, Bürgersteige, Hunde und Ruhebänke …
Und ich, der Unermessliche, werde mich ein weiteres Mal bestre-ben, meine Füße, die zu schweben vermögen wenn ichs ihnen befehle, Zeh vor Ferse und Ferse vor Zeh auf ihre kleinkleckerliche Landebahn einzufädeln, und ihnen damit das Vergnügen zu gewähren sich für die Ersten zu halten, die mich heruntergebändigt haben vom Gebirge zum Bettvorleger. Wie ichs meinem Herrn dem Regenten schuldig bin, der über dem Volk sitzt als Präceptor und Spiegelmeister in allen Dingen.
Das Ziel kommt in Sicht.
Ich wecke den Hofstaat, indem ich mich schüttle wie ein Bär nach dem Regenschauer. In meinen Taschen und Innenbeuteln beginnt es zu rumoren. Man krabbelt auf Posten, aus den Säumen heraus hangelt man sich mir auf die Schultern, aus den Brusttaschen auf die Ärmelaufschläge, aus dem Futter auf die Säume, aus den Schulterkissen auf die Achselaufschläge. Und zuletzt, aus seinem Beutel heraus, der hinter meine Gürtelschließe geschnallt ist, begibt der Regent sich in Position. Ich presse die Oberarme an mich, auf dass er wohlbehalten seinen Rutschepfad über meine Unterarme vollbringe, die breiten Bauernfüße in die brokatenen Falten meiner Livrée gespreizt, von da auf die waagrecht ausgetreckten Hände, und von da auf die Handballen. Er kraucht über das weiche Leder meiner weißen Hand-schuhe mählich weiter und weiter nach vorn bis zu meinen Finger-spitzen. Und nimmt dort endlich seinen Platz ein auf den dicht anein-andergepressten kleinen Fingern meiner himmmelwärts geöffneten Hände.
Schon beim Einüben der Königshymne haben die vereinigten Blaskapellen des Trachtenvereins und der Schützengilden eingebimst gekriegt : seids euch bewusst das was wo wir da bimsen, das müssts ihr auch noch dann blasen, wenn ein Riese vor euch steht. Und sogar wenn er über euch steht, Manndern, über euch ! dann müssts ihr noch blasen. Makellos vom Blatt ! In seinem Schatten, hart an seinen Fußknöcheln, dann müssts ihr immer noch blasen ! Unterstehts euch und schmeißts und kommts aus dem Takt ! Blasts, Manndern, blasts drauflos, als ob derjenige welcher, der Riese, überhaubz einfach gar nicht ein vorhandener wär !
Sondern eine Wolke. Und groß wie eine Wolke ist er ja.
Und auch die Ehrenformationen haben es eingebimst gekriegt, die nicht einmal Noten vor der Nase haben würden zum ablenkenden Hi-neinstarren: wenn der Riese da ist, stehts so mannhaft da, Manndern, haben sie gesagt gekriegt, als ob als obs ihr ganz alleinig dastehen tätet auf der ganzen weiten Festwiese ! Derjenige welche, der Berg-fels, der Felsenmensch, das monarchische Monstrum, Stolz unseres Königtums und Bedrückung zugleich.
Und gar erst die Fahnenjungfern haben es eingebimst gekriegt, denen mit der Mannhaftigkeit nicht beizukommen war, und auch die Kinder, die dem Regentenpaar die Blumen überreichen sollen. Es hat lange durchheulte Abende gegeben voller Drohungen, aber auch Lo-ckungen, und überhaupt hat sich in der ganzen Marktgemeinde das Ge¬spräch wochenlang gar nicht gedreht um den Regenten, der der Einwohnerschaft die Ehre antun wird - sondern stetlich und immer-durch bloß um denjenigen welchen, den Unermesslichen, dem doch allein die Aufgabe übertragen ist, die Hauptperson auf die Festwiese zu lupfen.
Den Regenten.
Wird selbiger Riese so hünenhaft sein beispielsweise wie der Turm der Marktkirche Sankt Nikolaus ? Schon, bloß viel höher. Oder so mächtig ausschreitend und dabei gusseisern wie die Leitungsmasten, die den Strom vom Walchenseekraftwerk her übers Land expedieren ? Schon, bloß dass er nicht bloß ein Eisenträger ist mit Luft zwischen den Streben, sondern aus Fleisch und Muskeln. Oder wird er sein wie die Felsvorsprünge am Gebirge da drüben ?
Schon, bloß dass er dazu auch noch voran spaziert.
Wenn der Untermessliche nun aber über den fernen Hügeln im Nor-den auftaucht, als kleines Männ-lein noch im Dunst, und die wartend Aufgestellten sich ausrechnen, dass er doch erst gute zehn, fünfzehn Kilometer entfernt ist, und dennoch schon so schulterhoch wie einer, der hier mitten unter ihnen steht – wie er da nun auftaucht, werden die Blechbläser so stumm wie ihre Trompeten. Ihre Nasen schieben sich in die Noten die sie so eifrig durchforschen als wären sie die Partitur einer fünfsätzigen Sinfonie. Und die Schützen verge-wissern sich eiligst ob ihre Büchsenschlösser zünftig geölt sind. Und die Ehrenjungfern müssen ihre Köpfe wegdrehen vom Anblick des herantappenden Riesen und ihre Schürzenbänder hinternwärts be-gutachten ob die auch monarchisch schickliche Schleifen bilden. Und derweil ist der Unermessliche unversehens über die Masten der Stark-stromleitung hinweg gestiegen, und hat kaum die Füße gehoben dabei.
Geist O Geist der Monarchie verlass uns nicht, erspar uns dass wir zu Mus gestampft werden unter den Fusssohlen deines titanischen Königsträgers, sieh zu dass die Erde nicht erbebt unter ihm und sein Gewicht Spalten aufreißt in denen wir elendiglich versinken und dann zerquetscht werden weil er sie wieder zudrückt mit eben seinem Gewicht. Gib, dass er unsere ihm errichtete Landebahn annimmt, wo wir Betonblöcke drunter versteckt haben, damit er nicht versinkt in unsere Heimaterde und Fahnentuch darüber gebreitet auf dass unser Kleinmut ihn nicht verbittert und er uns dafür Undenkliches antut. Wo doch sein Schatten schon über uns ist, er selber aber erst am Ortseingang, und der Schatten breitet sich aus über die Notenblätter der Blechbläser, die so hoch vor ihre Gesichter recken wie es nur irgend geht, hoch bis unter die Hutkrempen, nur um nicht zu dem aufzuschauen, der sie nun in Dunkelheit taucht.
Weit hinten beginnt ein Kind zu plärren und macht erst bewusst, dass alle anderen schweigen, eben darum wird es von all diesen anderen niedergezischt, aber auch dieses Zischen verdrückt sich ins Innere, in die hunderte Schlünde, wie ein Giftpropf in die Hälse.
Nur der Bürgermeister muss ganz allein da vorn stehen an der Front kraft Amtes, nicht einmal ein Notenblatt ist ihm vergönnt um sich die Augen zu bedecken, und nur zwei Buchsbäume links und rechts stehen ihm bei, aber decken ihm nicht einmal die Hüfte ab. Wieviel in meiner Gemeinde, mag er denken, wohl in genässten Hosen und Rücken hinter mir stehen, und grinst dabei ein zerriges Grinsen. Dann ist auf einmal überhaupt kein Gedanke mehr in seinem Schädel, die Füße des Riesen kommen auf ihn zu, tapp tapp, unerbittlich, o mach dass ich standhaft bleibe, Geist der Monarchie.
Das Kind schreit nun mit voller Kraft in die Stille hinein, erwürg doch einer das Bams, erwürg es doch, o Geist der Monarchie, erwürg erwürg -
Da setzt das Blasorchester ein mit der Königshymne.
Gesegnet wer mit aller Lungenkraft in Posaune und Tuba blasen darf und das Gesicht absenken, denn der Riese ist nun riesig über ihnen. Und, Wunder ! er nimmt die Schrittart an, die die Musik ihm vorgibt, ihm vorbläst. Er setzt seine Füße im Rhythmus der Hymne, brav Zehen vor Ferse, ein Bärenballett zwischen der Allee der Buchs-bäume. Bei Über deinen weiten Auen ruhe deine Segenshand verlang-samt er den Schritt. Und bei den Viervierteln – der Dirigent merkt es als erster – von er behüte deine Fluren / schirme deiner Stä-dte Bau verlagert er sein Gewicht auf die vorderen Fussballen. Und bei der Coda Und erhalte dir die Farben / deines Himmels weiß und blau sind seine Gehwerkzeuge an-zusehen wie die eines Besuchers der würdigt dass die Hausfrau gerade frisch gebohnert hat.
Ein Vergleich, der den Unermesslichen ein wenig eingemeindet in den eigenen Haus¬stand der Besuchten, und ihre vorige Bangigkeit befreit sich in Gegluckse, schon will man erlöst in die Hände klatschen, als der Riese fast unmerklich zum Stillstand gekommen ist, akkurat eingepasst in die für seine Füße bestimmten Ovale aus Buchsbäumen. Und so dicht vor dem Blasorchester, dass die Spucke aus den Instrumenten ihm auf die Sohlenkante tropft.
Aber der Applaus erstirbt, die Hände derer die befreit drauflos klatschen wollen sinken nieder, denn nun beugt sich der Koloss vornüber, streckt seine ausgebreiteten Hände weit von sich und den Versammelten entgegen. Auf den gewaltigen Fingern sitzt versammelt der Hofstaat wie auf einer riesigen muschelförmigen Bühne über den Besuchten. Der Re-gent auf dem rechten Zeigefinger und die Regentin auf dem linken. Der Regent lacht übers ganze Gesicht, leutselig nennt man solches, ein gutartiger Däumling, dem ein gutartiger Koloss zu Diensten ist, ein unausdenkbares Muskelwerk, Abertonnen Fleisch und Sehnen, und darin Kräfte wie man sie sich besser nicht ausmalt, bewahre o Geist der Monarchie ! Die behandschuhten Riesenhände senken sich auf das rote Bodentuch, die Fingerspitzen voran, sodass der Regent anstrengungslos und mit nonchalanter Beiläufigkeit wie von einem Pony herabgleiten kann, dem rotgesichtig schwitzenden Bürgermeister passgenau vor den Bauch.
Der nun wiederum stolz ist, der Erste in der Gemeinde sein zu dürfen, und dazu ein Angestaunter, ein Held, hat er doch auf vorgeschobenem Posten ausgeharrt in unbepisst gebliebenen Hosenbeinen, umstrahlt von der Würde seines Amtes, das ihn nun befugt die Hand des Regenten mit der seinen zu ergreifen, von grünem Trachtenanzug zu grünem Trachten-anzug.
Der Riese ist vergessen fürs erste in seiner bedrohlichen Riesen-haftigkeit, sein Kolossales mindert sich, denn er ist in die Knie gegangen, den Blick gesenkt, und Besuchte und Besucher sind dankbar für seinen weit ausgreifenden Schatten, den er unter der Julisonne wirft. Ihm von den Armen, ihm aus den Taschen wimmeln Hofdamen und Wür-denträger, Betresste und Uniformierte, Schnatternde und Lachende und Lächelnde, lächelnd wie die Landesmutter, die ihre Zähne breit zwischen ihren Ohrgehängen glitzern lässt. Die Wangen des Bürgermeisters wer-den noch röter, Schweißregen perlt ihm von der Stirn, denn der Busen der Landesmutter ist in der Tat so hoch und freigiebig aufgeschnürt, wie man es sich landesweit erzählt. Es steift sich nichts Hoheitliches um sie auf, und ihre Frisur ist lang nicht so geziert aufgetürmt wie in den bunten Postillen, die die Frauensleute in den letzten Tagen bei ihren Friseusen zu Rate gezogen haben, um sich just die nämlichen Frisuren auf die Köpfe praktizieren zu lassen, welche die Landesmutter, unsere Traudl, nun eben selber doch gar nicht trägt.
Unsere Traudl ! Wer wird sich lange mit hohe Frau Gertrud aufhalten bei so inniger Verwandtschaft mit jederfrau und jedermann. Ein pum-meliger Apfel vom selben Baum ist sie wie alle hier, das erbliche König-tum ist vergangen, Gegenwart und Zukunft gehören der Großen Familie der Einträchtigen. Mithin ist die Tochter des Regentenpaars, apfelbäckig wie die Mutter, schlicht und gradeheraus unser Reserl, auch wenn alle Landeskinder wissen dass sie auf Kerstin getauft ist. Ein Name noch aus den alten Zeiten des Parlamentarismus, wo alles Nordliche dienerisch vom Süden übernommen worden ist. Aber just dies, die Retusche von der Kerstin zum Reserl wiederum lässt sie noch mehr zur Unsrigen werden, zum Reserl mit dem Beserl des Kinderreimes, denn auch hier auf dem Festplatz steht manche Heidrun, manche Anja oder Kerstin, steht man-cher Patrick, Kevin oder Sven breitbeinig im Trachtengewand wie die Monarchenfamilie, und trägt uralte Gewachsenheit zur Schau.
Eben darum ist uns unser Reserl so herzenswarm das schlechthinnige Reserl, ein alpenländischer Apfel, ein oberländer Apfelgesicht, und scheint uns nicht entfernt so korpulent wie sie auf den Hochglanzseiten beim Frisör es, das Reserl abbilden. Wo sie uns allen zu Zier und Ehre hochnoble Figur macht neben den alten Dynastinnen aus England, Nor-wegen, Spanien, Monaco.
Und zur Korpulenz neigen wir doch allesamt hierzulande, das ist Ahnenerbe und Brauchtum hierzulande und unser Reserl beglaubigt uns auch in diesem Sinne und stiftet mit ihren Pfunden Eintracht und Einverständnis. Alle die Bauchspeck vor sich her tragen, tragen ihn würdevoller weil das Reserl ihn uns allen voranträgt, den gekrönten Damen Englands, Spaniens, und auch Monacos zum Trotz.
Wenn Reserls Taille nur zwei Handbreit schmaler wäre, wäre auch die Monarchie zwei Handbreit weniger tief verankert in den Gemütern.
Der Bürgermeister, Trachtenanzugträger wie der Regent und Landes-vater unter vielen Trachtenanzugträgern, sticht unter all diesen hervor, weil er eine goldene Amtskette tragen darf überm Trachtenjanker, seiner Bürgermeisterbürde zulieb. Den Regenten aber schmückt keine Kette, kein Stern ziert ihn, kein Ordensband schmückt ihn, nichts zeichnet ihn aus vor den anderen Trachtenanzugträgern, schon gar nicht seine Phy-siognomie, über die sich nichts Festlegenderes sagen lässt als dass er eine randlose Brille trägt über sacht entzündeten Augen und dazu einen linken Seitenscheitel, der eine gerade Linie zieht zu seiner Gattin hin, wenn er neben dieser seiner Traudl steht. Und er steht unentwegt neben seiner Traudl, derweil diese Wangen tätschelt, Enkelkinder und Diplome und Umsätze und Milchquoten belobigt. Am liebsten steht er gar hinter seiner Traudl, erkennt der Bürgermeister mit geschultem Auge für gemein-wirksame Repräsentanz. Wie hinter einer Gartenhecke steht er da und ist es zufrieden, dass sich an seiner Traudl und seinem Reserl die Brandung des Volkes bricht und nicht an ihm selber, dem Regenten, mit seinen sacht entzündeten Augen.
Das Land ist ein Land der Männer von alters her. Bei Festivitäten wie dieser aber treten die Mannsbilder zurück hinter die herausgeputzteren Weiberleut zurück, worin das barocke Erbe manifest wird und der Glaube an die Mutter Maria. Im unscheinbaren Loden stehen die Männer in der zweiten Reihe, pflanzenweltlich bescheiden grün wie die Wiesen und Wälder, wie die Teichfrösche und wie das Reis, welches man ( gleichviel ob als Jäger oder als Wildschütz ) auf das frisch erlegte Wild legt und damit den Säften Ehre erweist, die in Pflanzen und Bäumen strömen, in jedwedem Getier wie auch in einem selber.
Wie auch in unserem Ernstl, der verklärt, wenn auch aus sacht entzündeten Augen seiner Traudl und Resl zuschaut beim Repräsentieren. Vor so einem Ernstl braucht man sich nicht unterwürfig erzeigen bloß weil der ein Regent ist, das Rückgrat fühlt nicht den Drang und Zwang, sich zu beugen vor ihm. Unser Ernstl verleitet nicht zu Kniefall, Hof-knicks und Huldigung, die denjenigen herabwürdigt der sie darbringt. Wenn man unsern Ernstl anschaut und ihm die Hand dabei drückt statt dass man sie küsst, dann schaut man sich selber ins Aug. Ist er doch, ehe er zum Regenten erwählt wurde einer gewesen wie wir alle es sind.
Aus kleinen Verhältnissen, bei der Krankenkasse im selben Tarif eingestuft wie wir, in der selben Bausparkasse wie wir, nicht von einer Dienerschaft auf ein Potschamperl aus Nymphenburger Porzellan ge-hoben, sondern von einer resoluten Mama draufgesetzt auf den Thron der in unsrer aller Lebensfrühling aufgerichtet ist, den Nachttopf aus Plastik. Die selbe achtklassige Volksschule durchgestanden wie wir mit Ach und ohne weiteren Krach, samt Handwerkerlehre wie wir und die Berufs-schule geschwänzt wie wir und sich vom zweiten Lehrgeld ein Moped gekauft. Aber nicht mit diesem hat unser Ernstl Totalschaden gefahren, sondern mit dem heimlich ausgeborgten BMW des älteren Schwagers. Wie wir. Ist vom Vater dafür grün und blau geschlagen worden wie wir, hat über die Großkopferten und ihre Steuern hergezogen, die sie über uns verhängen. Wie wir, und wenn wir ihn nun ehrwürden, ehrwürden wir uns selbst in ihm, im Guten wie im Halbguten, ja auch im Halbseidenen und Hinterfotzigen. Gerade in diesem, denn dieses ist uns allen im Tiefsten gemeinsam. So gewisslich wie wir hat auch unser Ernstl vor seinen Zeiten als Regent in die Küchenspüle gebieselt, weil die Schwester grad wieder das Bad besetzt gehalten hat und bei der Beichte hat er mit Sünden geprunkt, deren praktische Ausführung ihm ( anders als dem Beichtvater ) gänzlich unbekannt waren.
Wie wir.
Nur dass wir über kein solches Reittier verfügen wie unser Ernstl mit seinem Riesen. O Größe der Monarchie, wie trefflich inkarnierst du dich in diesem Koloss ! Was ist man doch für ein Hornvieh gewesen, dass man sich derart bange hat machen lassen bei seinem Näher- und immer Näherkommen. Ist der Riese doch das eigene Überbild, Standbild, Sinn-bild, ist er doch der Koloss in uns selbst. Der Entwurf, den wir immer schon von uns selbst gemacht haben.
Dort hinten kniet er, der Riese. Ja wahrhaftig, er kniet, der Koloss ist in die Knie gegangen, ein Bein vorausgestellt. Niemand in der Gemeinde hegt nunmehr noch Furcht vor ihm, wiewohl das angewinkelte Knie den höchsten Giebel der Gemeinde weit überragt, der kurzen Anwesenheit in der Marktgemeinde ungeachtet ist der Riese zu einer vertrauten Erhebung geworden, die sich wie von eh und jeh ins Ortsbild einfügt. Die Kinder, die sich drüben beim Empfang des Regenten gelangweilt haben, sind hierher gelaufen um ihn zu begaffen wie sie auch ein soeben aufgerich-tetes Zirkuszelt begaffen würden.
Und sie kriegen allerhand zum Begaffen geboten. Wie aus den weit gedehnten Taschen seiner unermesslichen Pluderhosen Bierfässer und Weinfässer hervor gewuchtet werden kriegen sie geboten. Wie sie über seine Waden, riesige fleischige Felsen, mit Seidenstrümpfen umspannt, hinabgerollt werden kriegen sie geboten. Bald sorgsam balancierend, bald von Lakai zu Lakai in lockerer Reihe geschlenzt. Wie manches Fass sich selbständig macht, kriegen sie geboten, und fast einen der Hunde er-schlägt, die sich ebenso reichlich zum Gaffen eingestellt haben wie die Kinder. Und wie die Lakaien silberne Behältnisse über die Waden des Riesen herunter hangeln, aus denen Dampf dringt. Wurstdampf, der die lauernden Hunde verzückt. Und wie die eine oder andere silberne Riesenwurstterrine umkippt, und sich weiße Wurstketten meterweise ringeln über die weißen Seidenstrümpfe des Riesen, das alles kriegen die Kinder geboten.
Und auch, wie das aus dem Riesen herausgerollte, heraus geschmis-sene, abgeseilte Sauf- und Fressgut auf der Festwiese ausgebreitet und vor den Stauneaugen der mitrennenden Kinder arrangiert wird, überragt vom Königsbaldachin. Und wenn der Unermessliche dann endlich leer geräumt ist, gelöscht ( wie man in der Seemannssprache dafür sagt) wie ein Überseefrachter trollt er sich beiseite. Jetzt ist er kein Koloss mehr, jetzt tritt er seine wohlverdiente Freizeit an. Und sucht sich einen Platz, der sich zur Siesta eignen mag für einen Hofangestellten seines Kalibers.
Aber such sich einer ein schlummeriges Plätzchen, wenn er unüber-sehbar ist. Die Kinder hetzen hinter ihm her, wenn er sich seitlich und still davonmachen will, auch hinterm Gewerbegebiet, zwischen Baumarkt und Autoreparaturwerkstatt keine Liegestatt findet, die geräumig genug für ihn wäre : auch das kriegen die Kinder noch geboten. Und sie hetzen ihm weiter hinterher, bis er, nun schon fast fliehend, endlich in eine Fichtenschonung einsteigt. Die Schösslinge brechen unter ihm, es knattert schrill, es stachelt und knattert unwirsch, wenn er sich eine Liegestatt zu-rechtstampft mit seinen unermesslichen Füßen. Er ist nun rechtschaffen gähnerisch, er hat die wuselnde Last der Höflinge hierher gehuckepackt, die es sich an seinem Körper wohlig geruhsam haben sein lassen, nun ist seine eigene Geruhsamkeit an der Reihe. Langsam und sorgsam sortiert er seinen mächtigen Korpus auf den Erdboden nieder, schiebt sich seine unermesslichen Pranken seitlich unters Gesicht, damit ihn die gesplit-terten Äste der Fichtenschonung nicht aus dem Schlaf pieksen.
Auch das kriegen die Kinder, hinterher gehetzt, noch geboten. Ein hingefläzter Gigant flößt ihnen nun ganz und gar keinen Schrecken mehr ein. So einer ist grade noch ein Ziel für Fichtenzapfen, die sie auf seine geschlossenen Augenlider werfen um zu prüfen ob er wirklich schläft oder ihnen den Schlaf nur vorspielt, um sie dann jäh zu er-schrecken. Schon zupfen die Vordersten an seiner Livree : auf die Beine, hopp hopp hopp, spiel Fangen mit uns !
Da wurmt sich hinter einer Knopfleiste in der Livree des Riesen etwas heraus, was zuerst aussieht wie ein winziges zusammengeknülltes Ta-schentuch. Erst als es etliche Knopfleisten tiefer fällt, faltet es sich aus-einander, lässt nun Verknotungen an den Seiten erkennen, die Knoten stülpen sich zu Ärmchen aus, zu Beinchen, der Tuchschrumpel nimmt immer menschlichere Gestalt an, je dichter er an die Kindern heran kommt, ohne dass er dabei an Größe gewänne, es bleibt beim Zwer-gischen und irgendwie Verknüllten.
Ein zwergischer Greis entknüllt sich aus dem Schrumpel, ein Zwerg in einer blauseidenen, üppig mit Spitze überwucherten Hoftracht. Der Zierdegen, der ihm an der Seite baumelt, bereitet den Kindern noch Hallo. Als der Zwergengreis aber seinen dreieckigen Hut vor ihnen zieht und darunter statt des erwartbaren kahlen Schädels eine puderrosane Perücke zum Vorschein kommt mit langem Zopf der nach hinten ragt wie ein Storchenschwanz, stieben sie davon.

4.Kapitel
worin endlich der eigentliche Held dieser Erzählung dem Leser vor die Augen tritt


„Und das ist unser roter Horsti“
Der Horst wird nicht so genannt, weil er jetzt errötet. Aber dass er errötet, ist den Festgästen ein zusätzliches Gaudium, weil der Horsti ehe-dem tatsächlich ein Roter war und nun beschämt ist, weil er und die Seinigen dennoch Regent und Regentin ihre Aufwartung machen dürfen und gar ihrerseits noch eine zusätzliche Ehrung zu gewärtigen haben.
„Und das ist unser roter Jackl“.
Der nun wiederum errötet nicht, als der Bürgermeister ihn dem Re-gentenpaar vorstellt. Der Jackl ist vielmehr beschämt dass er kein Scham-rot zustande bringt und wird deshalb rot. Und dem dem roten Wiggerl, der nach ihm vorgestellt wird, schießt ein geradezu feuriger Widerschein seiner früheren politischen Couleur ins Gesicht schießt.
„Gebts unserm Regenten de Hand“ lacht der Bürgermeister „damit er net meint, ihr habts allerweil noch a Bombn da drin.“
Hier gilt keine Courtoisie, wie auch der Hof nicht wirklich ein Court und eine Hofhaltung ist mit daraus erwachsender Höflichkeit. Hier wird das Raue gepflegt, das Männische und Kehlige, der Holzfällertonfall, wie er vor hundert und mehr Jahren in den Rindenhütten des Landes ge-sprochen wurde, ist zur Hofsprache erhoben.
„Dabei hat sich doch nie ein Roter eine richtige Bombn in die Pratzn nehmen getraut sondern bloß sein fades Grundgesetz. Und jetz sag uns amal, Horsti, was verheerender is.“
Man überbietet sich wiederum in Gelächter-Crescendi, Posaunenstö-ßen aus dem Tiefkehligen, und der rote Horsti wird aufs Neue rot. Er und seine weiland Genossen sind unversehens, wenn schon nicht als Schmuckfiguren, so doch als Spott-Karyatiden des Regentenbesuchs aus-ersehen, und zugleich als InEmpfangnehmer einer Ehrung besonderer Art, und ihr gebührliches Lampenfieber leuchtet in ihren Bauern-gesichtern wie Grablichter hinter rotem Zelluloid. Ein Rot, wie es, hier freilich vom Spiritus humilis der Bierhefe entzündet, auch auf den ande-ren Gesichtern glüht, in artigem farblichem Kontrast zum weißen Schaum auf den Mündern.
„Absolution, Absolution ! Schwoabn ma’s abi, de roten Sündn und de schwarzn aa glei mit dazua !“
Es ist Monsignore Zirngibl, der damit dem Weißbiergenuss zu früh-vormittäglicher Stunde die geistlichen Weihen verleiht.
„Mögen sie gnädig ruhen gemeinsam im Klosterbier ! Zum Wohlsein !“
Das Regentenpaar hat Zirngibls Ohr, weil er als ihr Beichtvater amtiert, und Zirngibl wiederum hat das Ohr des ganzen Volkes, weil er in seiner allwöchentlichen Fernsehshow Der heilige G‘wissenswurm den kleinen Sündern draußen im Lande Erleichterung von ihren Missetaten verschafft
mit eben den Worten die er auch hier gebraucht.
„Absolution, Absolution. Schwoabn ma’s abi, de roten Sündn und de schwarzn aa glei mit dazua.“
Und die ihm wiederum die Klosterbrauerei nahegelegt legt, die seine Sendung sponsort.
Absolution erteilt Zirngibl, wenn ihm die Zuschauer ihre Schandtaten an die Mattscheibe hauchen, während er sie aus dieser heraus forschend anschaut unter gerunzelten Brauenbüscheln hervor und mit wässrig-blauem Blick, der sich jedem, auch den Protestanten, ins tiefste Innere senkt. Sie alle – meine sündigen Spratzelwürmer nennt er sie, liebevoll die Wortpeitsche schwingend – müssen ihre Stirnen dabei an die Bild-schirme pressen, bis diese klebrig sind von Schwitzfett, je nach dem Grad ihrer Sündhaftigkeit wie ihrer Bußfertigkeit, und wehe denen, deren Scheibe nicht derart speckig geworden ist während der Übertragung, dass der Monsignore nur noch als schmieriges Schemen zu erkennen ist.
Hier auf dem Festplatz gibt er sich wohlwollend aufgeräumt, kein hinderlicher Fernsehkasten umgibt ihn, jedermann und jederfrau liefert er seine Leiblichkeit aus und in die Grabschhände. Seine ferkelfarbigen Fin-gerchen hängen für Kinderküsse bereit, der Weißbierschaum auf seinen Lippen segelt wie Geschwader winziger Putten auf alle hernieder, denen er geistlichen Zuspruch zuteil werden lässt. Wie dem weiland roten Horsti, dem roten Wiggerl und dem roten Horsti. Er reckt sein Weißbierglas hoch wie einen Quast zum Weihwasserspritzen, umfasst alle drei mit beiden Armen als meine Kindlein ! meine endlich heim-geholten Kindlein !, rühmt sie dem Volk als Vorbildbuben, die da wan-delten in der Finsternis, ver- und missleitet von Karl Marx und vom Aktionsprogramm der Gewerkschaften.
„Aber nun schauet auf sie in Demut ! Da lass ich kein Hochmutsgegrins net durchgehn !“
Auch nicht hinterm Bierschaum, denn Gott und die Mutter Maria sehen alles, haben der Horsti, der Jackl und der Wiggerl sich doch im selbst-überwinderischen Kampf mannhafter bewährt bei der Lossagung von der Berliner Republik als so gar manches Mitglied der Allumfassenden Par-tei, das wo ja eh eine überwälti¬gende Mehrheit hinter sich gehabt hat im Bewusstsein : Wahlen geraten letztendlich zum lästiglasterhaften Formel-kram, zur Spottgeburt aus Wankelmut, Niedersinn und Marktschreierei. Und deswegen sind abgeschafft worden im Namen des Volkes, durch welches ja stets Gott höchstselbst redet.
„ Schwoabn ma’s abi !“
Schwemmen wir‘s hinunter.
„Absolution, Absolution !“ prostet das Volk, heute darf es die Sün-denaustreibung des Monsignore live genießen, kein Bildschirm trennt voneinander, was zueinander gehört, Vergeber und Sündlinge, Gottes-boten und Plebs, Untertanen und Himmelsschlüsselbewahrer.
„Schwoabn ma’s owi, de rotn Sündn und de schwarzen glei mit dazua!“
„Absolution ! Absolution !“ruft das Volk als Responsorium, Bierschaum um die Mäuler.
Nur Horsti, Jackl und Beni trauen sich nicht anzustoßen, schon gar nicht auf sich selbst. Ihr junger Ruhm verknotet sich zum Knödel in ihren Schluckorganen und lässt kein Weißbier durch. Ihre Gott-hab-sie-selig sozialdemo¬kratische Partei, eine randständige immer schon, hat zum gu-ten Ende ( zu ihrem guten Ende ) ihre Selbstauflösung beschlossen mit respektaber Mehrheit, die manchen alten Genossen wehmütig gestimmt hat, und ihre Mitglieder sind stillbeflissen hinüber gewandert in die Segensreiche und nunmehr einzige Partei. In der die jahrzehntelang Ver-trotzten sich nun zurückläutern dürfen in den Stand der Reinheit.
„Eingeschwenkt in den Mutterbrodem, de Huandsbuam !“ lacht der Monsignore, weiße Schaumwölkchen auf den Lippen, in die ordo sacra divina, ins Gottesganze, wo der Dekalog gilt als einzigste Verfassung,
„Jawohl ins Gottesganze !“ orgelt der Monsignore nun in einem Ton, der nicht mehr der des wohnstubenflaumigen Fernsehpfarrers ist, dem Flachbildschirm entstiegen, sondern füllige Kanzelfanfare nach Art des Abraham a Santa Clara. Und dieses Gottesganze, Kindlein ! steht im unablässigen Kampf mit dem Zersetzenden, das die Grenzufer der Mon-archie umspült. Und Horsti und die Seinen, wie recht haben sie getan, sich nicht fortspülen zu lassen, der Libertiner-Gier zu entsagen und dafür die landesübliche Selbstbescheidung zu wählen samt dem landesüblichen Bierdurst. Dem Schaumgewölk aus dem Weizengebrauten des Staats- wie Gottesdienertums.
Und wieder wird angestoßen, und der rote Horsti wird wieder rot, der rote Jackl wird rot und auch der rote Horsti.
So gedeutet ( wie der Monsignore es tut ) sind sie nun doch fruchtbrin-gend Rote gewesen seinerzeit, weil sich durch sie sich wieder einmal eingelöst hat das Wort des Evangelisten Lukas im 15. Kapitel, siebter Vers, wonach die Freude im Himmel ein weitaus unbandigere ist über einen Sünder der wo Buße tut als wie über neunundneunzig von Haus aus eh schon Gerechte. Haben diese roten Neu-Monarchisten doch mit be-wirkt, dass die Gewerkschaften, eh von Mitgliederschwund ausgezehrt, in geziemender Stille verschieden sind.
„Schwoabn ma’s owi !“
Um der Vereinigten Arbeitskammer der Monarchie Platz zu machen, in der Patron und Arbeitsmann einträchtig Schulter bei Schulter stehen, ein Harmoniebund, aufgereiht wie das immerwährende Gesamtfoto einer Eisstockmannschaft. Und was den Sportsmännern der Eisstock ist, ist bei der Vereinigten Arbeitskammer die heimische Industrie, der Stolz eines jeden Landeskindes, Neidstock des umliegenden Auslandes, und auch der rote Horsti, der rote Jackl und der rote Beni dürfen ihre Hände, ehedem rohe Arbeiterfäuste, anlegen ohne dass ihnen etwas nachgetragen wird beim Kampf um das Bruttonationalprodukt.
„Wohlsein allerseits ! Aufn Josef Maria !“
Immer wenn die Schwaden des Weizengebrauten die Gehirne durch-wärmen, ein gewisser Grad der allgemeinen Beseligung eingetreten ist, wird der Josef Maria gegenwärtig. Noch gegenwärtiger als er es ohnehin schon ständig ist im Jedermannsgemüt, denn wo zwei oder drei Landeskinder versammelt sind, ist er, obwohl als Person schon längst ins Jenseits entrückt, mitten unter ihnen. Wodurch er die Wiedereinführung der erneuerten, uralten Monarchie nicht mehr hat erleben dürfen, aber vorgelebt hat er sie allemal, auch schon zu seinen politischen Zeiten, und der Regent ist sich bewusst, dass er nur den Widerschein und Schatten des Franz Xaver Schmautz vorstellt, und dass er aus diesem Schatten bis zum Ende seiner Amtszeit nicht herausgelangen wird, was ihn mit tiefer Demut erfüllt. Einer Amtsdemut, die ihm den Kopf zwischen die Schul-tern drückt, wodurch er so halslos erscheint wie schon der verewigte Franz Xaver Schmautz.
Die Sonne brennt auf die schweren Filzhüte. Der Brauch verlangt es, dass sie nur in der Kirche abgenommen werden dürfen, das Gedampfe des Weizengebrauten darunter heizt das Wohlbefinden auf, einen Urwaldfrohsinn, im angenehmsten Gewimmel des Erdkreises zu he-rumstehen zu dürfen, mit Silbergehängen am Mieder und mit Uhrketten vorm Bauch, seidenen Fransentüchern, Gequaste und Geklunker, inmitten einer Festlichkeit ohne Ende und ohne Anfang, das keinen anderen Anlass braucht als eben dass man herumsteht in glücklichmachender Ge-sellschaft von seinesgleichen und sich selber dabei ausstellt, zur Schau stellt, der allseitigen Bewunderung ausliefert.
Und wie von selbst dunstet sich der Bierdunst in Töne um, schäumt in einen tiefbrummenden Viervierteltakt hinab, brodelt ins Marschartige, bis es sich zum Präsentiermarsch formt, welche Blechmusik denn auch an-ders, hat diese doch stets das Erscheinen des Franz Xaver Schmautz an-gekündigt. Der Weißbierschaum wippt im Takt, nicht nur auf den Ober-lippen, sondern auch an den Nasen und auf den Schnurrbärten, auch an manchen Nasenscheidewänden hängt schaumige Stalagniten, und in den Bäuchen schwappt das genossene Bier im Viervierteltakt mit.
Der Monsignore hat sich zu Pfarrhauswitzen vorgearbeitet, die er sich in seiner Sendung verkneifen muss. Bierschäumig auch sie, jeder erwartet sie von ihm, jeder lechzt nach ihnen, sie sind die bierschäumige Gegengabe für alles, was ihm seine Spratzelwürmer in den Bildschirm gehaucht haben, und unversehens hat sich ein Festzug gebildet. Immer wenn ein paar Landeskinder im Sonntagsstaat und Tracht auf den Beinen sind, bildet sich alsbald ein Festzug, die Anlässe wechseln oder ver-schwinden, die Fahnen und Trageschilder bleiben, das Volksganze als tragender Strom und am Rande nur noch Touristen und die Höflinge, die heute hier zu Gast sind. Schützen, Schützen, Schützen, fragen sich die Höflinge, es gibt mehr Schützen hier als Einwohner. Und die alle marschieren nun, lassen ihre Rohre in den Himmel ragen und stechen, als gelte es dem dort ansässigen Herrgott den Vollzug einer Mobilmachung anzuzeigen. Die Männer als Marschblock voran, schweren Schrittes in kann-tigen Sechserreihen, Mauern aus Wehrhaftigkeit und hohen Hüten.
Dahinter der Frauenblock, auch hier fast jede mit Weißbierschaum auf den Lippen, aber anders als den Männern gewähren ihnen ihre ausladenden Dekolletées ein Mindestmaß an Kühlung, während sich, der üppigen Rock-gehänge, wegen die Erhitztheit im Unteren staut. Derart zweigeteilt, be-feuert noch von den Pfarrhauswitzen des Monsignore, wird über den Rie-sen gegackert, der den Hofstaat hergetragen hat. Herrenlos mag der nun irgendwo Siesta halten, schwitzend hingelagert, längst nicht mehr so hoch alles in in allem, ihr verstehts scho, wie bei seiner Ankunft, und sein Hosentürl, so er denn eins hat, kommod in Reichweite.
Und das dahinter, Schwestern, was meint ihr was das für einen Umfang hat ? Ob alle unsere Hände ausreichen, dass wirs umfassen ? Ob die Hofleut wohl gewohnt sind dass sich um das nämliche herumhangeln, währenddem er dahinschreitet ? Ob die Damen und Herren Höflinge es vielleicht besteigen wie eine Loge oder einen Korb, der unter einem Freiluftballon hängt ? Oder ob sein Gemächt extrig verwahrt ist in einem Beutel oder Futteral, weggeschlossen und bewacht von einem eigenen, vereidigten Kustos mit besonderer Schlüsselgewalt ?
Die Unterhitze unter den üppigen Trachtenröcken dampft herauf durch ihre Leiber, das Weißbier wird Oberherr in ihren Köpfen. Hat doch die eine oder andere von ihnen vernommen, wie der Monsignore Zirngibl so was dahergekichert hat von überelefantischen Mysterien bei dem Riesen, und ist tiefrot angelaufen dabei ? Und Geistliche, das weiß man, sind Experten im Phallischen, weil in ihren Beichtstühlen von nichts anderem die Rede ist, wenn man einmal absieht von den weiblichen Gegen-stücken. Wäre der Koloss also nicht eine Inspektion wert, Schwestern, einen kleinen Abstecher vom Fest ?
Während die Mannerleut nun zum Schützenplatz einbiegen, bleiben ein paar ihrer Gefolgsfrauen in der Kurve stehen, als wollten sie sich die Strümpfe hochziehen und gleich wieder aufschließen. Der Frauenblock, nun gelichtet, gerät in Irritation, reihenweise wird untereinander ge-schnattert, und als die Unternehmungslustigsten sich vom Festzug ab-wenden und sich seitab davon machen, schließt sich eine neugierige Herde ihnen an, die Röcke gerafft, und der Staub umhüllt ihr Gekicher, wenn sie immer schneller dahinrennen.
Schwoabn ma’s owi, die Rücksichten. Welche ist zuerst da !
Der, den sie suchen, liegt im Unterholz. Und als hätte er, geschlosse-nen Auges, ihr Kommen dennoch erwartet, schnauft er ungnädig tief durch. Die Baumkronen biegen sich von diesem Schnaufen, als wollte eine Windbö aufkommen. Er dreht sich zur Seite, wie jemand der einen unguten Traum hatte, reißt dabei Moospolster auf, Erlendickicht splittert, Wühlmäuse werden aus dem Erdboden gedrückt, Vögel flüchten warn-schreiend aus den Baumkronen. Die eben noch so draufgängerische Wie-berschar weicht zurück. Keine will nun mehr die erste sein, nicht einmal mehr zweite, und ein paar weiter hinten verdrücken sich.
Aus der Ferne ist das Geknalle zu hören, das die Schützen auf ihrem Schießplatz zu Ehren des Landesvaters orchestrieren. Männerarbeit. Aber hier im Unterholz, hier wird Frauenarbeit verrichtet ! Kaum ist der Riese wieder in ruhiges Atmen verfallen, wagen sich zwei, drei Verwegene in die Falten seiner unermesslichen Kniehosen, die vor ihnen aufragen wie Steilwände aus Nagelfluh. Ihre Trachtenschuhe flutschen an der glatten Seide ab, aber wenn die Schuhe ausgezogen sind, haften die feuchten Sohlen vertraut an dem Stoff, der zweimal gewärmt ist, von der Sonne außen und vom Körper des Riesen innen. Hier sich an eine Naht klammernd, dort die Zehen in eine Goldborte spreizend, kommen die Frauen so zügig voran, dass die, die vorhin verzagt umgekehrt sind, es den Kletterinnen gleichtun wollen, und die ausgestreckten Beine des Kolosses werden nun von allen Seiten her in Angriff genommen. Erst gibbelnd und schnaufend, aber umso höher desto kicheriger, endlich unter immer kurzatmigerem Geschnatter. Wenn die Frauen die Anhöhe der Schienbeine erreicht haben, spüren sie unter ihren Sohlen das gewaltige Fleisch des Riesen beben und rollen, Schwindel befällt sie, sie suchen aneinander Halt, obwohl der Riese sich nicht rührt, umklammern gegen-seitig ihre Miederschößchen und Schürzenbänder. Keiner ist mehr nach Gibbeln und Schnattern, sie wähnen sich auf einem Pferderücken der von Horizont zu Horizont reicht, und nirgendwo ein Sattel oder ein Geschirrriemen als Halt.
Als eine von ihnen strauchelt, reißt sie auch die anderen nieder. Und nun, alle viere von sich gestreckt, um nicht abzurutschen, eine Hand an den Füßen oder den Zöpfen der anderen, die Ohren dicht an der Livree, vernehmen sie wie das Blut des Riesen unter ihnen pocht, stampft, rauscht wie unterirdische Gießbäche, die durch eine Klamm stürzen. Sie bleiben liegen, sie haben vergessen warum sie sich hier herauf gewagt haben, sie haben Meeresdünung im Ohr, zu einem Ritt auf einem Wal ist ihre fürwitzige Klettertour ausgeartet, ausgeliefert einem Wal in Seiden-hosen, und die Seide ist so glatt, dass sie sich darin spiegeln mit ihren angstverzerrten Gesichtern.
Die unten geblieben sind, haben nicht begriffen, warum die kühnen Gipfelstürmerinnen zu Boden gingen, pfeifen ihnen auf den Fingern Missbilligung hinauf und halten sich für ihre Feigheit schadlos indem sie hinauf rufen :
“Werds jetz bald amal was mitm Hosentürlaufreißen ?“
Die Kletterinnen reißts hoch. Wenn der Riese von dem Krakeel erwacht, ist um sie geschehen. Wenn das Blut, das sie eben noch haben rauschen hören, in Zornwallung gerät, werden sie zerquetscht wie Ka-kerlaken. Flüchtend, unter Hohngelächter und Schmährufen der Un-tengebliebenen, lassen sie sich in die nächstbesten Hosenfalten gleiten, um auf der glatten Seide nach unten zu rutschen wie in Eiskanälen.. Als eine Falte sich unter der Last der vielen, die sich an ihr festhalten, zu einem halben Tunnel aufrollt, prallt eine von denen, die darin nun im Finstern abwärts schliddern, auf ein Hindernis, das unter dem Stoff ver-borgen ist. Als drei, vier andere auf die Vorderste aufprallen, schieben sie den verhüllten Gegenstand mit ihrem vervielfachten Gewicht voran und mit sich abwärts. Zusammen mit ihm plumpsen sie auf den Wiesenboden, empfangen vom Spottjubel derer, die dort auf sie gewartet haben. Der Gegenstand, den sie mitgebracht haben, bleibt unter ihren weiten Röcken vorerst verborgen, bis eine von den Untengebliebenen kreischend auf ihn weist.
Ein steinalter Winzling wühlt sich aus dem Gewirr der Unterröcke heraus.

Francois Félicien Philippe Donatien de Cuvilliés der Ältere,
der im Jahre 1695 in Soignies in der Wallonie oder
anders : in Zellnik im Hennegau im französischsprachigen Teil des heutigen Belgien zur Welt gekommen und nicht herangewachsen
ist, denn er blieb ein Zwerg.
1705 trat er als Page in die Dienste
des bairischen Kurfürsten Max II. Emanuel, wurde
Fähnrich in dessen Armee, und, als sich ein talent artistique
bei ihm zeigte, zum Studium der Architektur in das Paris Ludwigs XV. geschickt, 1738 endlich zum
PREMIER ARCHITECTE DE SON ALTESSE DE SERENISSIME ELECTORALE DE BAVIÈRE
ernannt, als welcher er den Titel GENTILHOMME DE BOUCHE führen durfte, womit es ihm oblag als directeur über
alle churfürstlichen Gebäu sowie Festivitäten des
kurfürstlichen Hofes Sorge zu tragen, wie Feuerwerke, Tanzfeste, Barkenfahrten auf den kurfürstlichen Kanälen, Teichen und Seen und viele weitere sogenannte andere
Festinen und Lustbarkeiten.
Schon vor den Bomben
des Zweiten Weltkriegs beseitigte der
gewandelte Zeitgeschmack viele Werke des Francois de Cuvilliés.
Von Leo von Klenze, königlich bairischem Hofbaumeister
und Bauunternehmer wird erzählt, er habe
zwei Generationen später die noch erhaltenen Pläne und Zeichnungen des Francois de C. im Moor versenken lassen,
nahe einer Ortschaft mit dem Namen Dachau.
Von Francois Félicien Philippe Donatien de Cuvilliés,
dem nachmals geadelten Hofzwerg, Fähnrich, gentilhomme, premier architecte und directeur über alle Gebäu und Lustbarkeiten der Kurfürsten ist kein Porträt überliefert.
Es sei denn dasjenige, das
er von sich selbst errichtet hat, als er für
seine hochmögenden Herren kostbare Umrahmungen schuf,
die noch heute
mit Entzücken betrachtet werden.


Das ist ja eine saubere Eroberung, ereifern sich die Untengebliebenen, ein kolossales Gemächt ist verheißen worden, und ein verzutzeltes Etwas von einem Schrumpfling wird geliefert !

Dem Schrumpfling wird der Zierdegen aus der Scheide gezogen, keine sticht damit zu, aber alle wollen sie ihn durch die Luft sausen lassen. Je nach Temperament erzeugt er mal bienensummende, mal grell fiepende Tonfolgen. Es wird damit in den Frisuren gekratzt, andere kratzen sich den Rücken damit, schließlich bohrt sich der Degen mit einem un-wirschen Miauen in einen Haselnussstamm. Der Dreispitz wird dem Zwerg vom Kopf gewischt und wandert von der einen zur anderen, aber auf keinen Frauenkopf will er passen, er sitzt ridikül obenauf wie ein Clownshäubchen, ein Sahnebaiser, ein Papierschiffchen, je nach Umfang der Frisur, bis er auf der Faust einer Energischen landet, die ihn zum Gaudium aller rotieren lässt wie ein wahnsinnig gewordenes Ketten-Karussell.

Obwohl ich schon seit Urgedenken in diesem Lande bin – könnte ich mich nur besinnen, wie lange schon – ist mir noch immer bange vor den Bewohnern dieses Landes. Vor ihren schweren Schritten, vor den Pran-ken, die an ihren Bauernschultern hängen. Mir ist bange, dass unter ihrem Zugriff meine Gelenke splittern, dass sie mein kärgliches Fleisch zerquetschen, dass sie einander verfehlen wenn sie mich im Spiel von einem zum anderen werfen.
Mir ist in allem bange vor ihnen, obgleich ich in der langen Zeit meines Hierseins gelernt habe dass ihnen jede Hinterhältigkeit fremd ist, dass ihnen ihre Strebungen offen in ihren roten Gesichtern stehen, ihre Verspieltheit wie ihr Zorn.
Mir ist selbst dann vor ihnen bange, wenn sie reglos stille stehen. Denn sie stehen nicht auf zwei Beinen, sie stehen da wie Wesen, die vier Beine haben. Wie Wesen die in der Quere mehr messen als in der Höhe und deren Gewicht so erheblich ist, dass sie davon zur Hälfte in den Boden gedrückt werden. Weswegen sie sich nur unter Mühen fortbe-wegen, während ihre Sprache aus noch tieferen Tiefen zu kommen scheint, nicht nur aus dem Bauch, sondern aus dem Erdreich selbst.

Sie lassen den Zwerg springen nach seinem Dreispitz, sein Jabot wird befingert, Finger fahren in das feine Spitzenwerk. Die eine oder andere wünscht es sich in ihren Ausschnitt und zerrt es maßnehmend dorthin, den Zwerg als Anhängsel gleich mit. Zur Höhe ihrer Augen erhoben, sind nun seine tausend Falten zu erkennen, und wenn er von weitem noch ein Kindergesicht zu haben schien, ist dies nun als ein Gemälde entlarvt, mit dicker, überpuderter Schminke auf eine warzige Hautrinde gepappt, und es bleibt ein widriges Vergnügen, dem Alten das Rouge der Bäckchen zu busseln, die Schönheitspflästerchen und die ausgedörrten Lippen, über-deckt von einem schmantigen Zinnoberrot, das an jeder Küsserin haften bleibt.

Es ist wie von alters her meine, des gentilhomme de bouche, Pro-fession, diesen Vierschrötlingen Lustbarkeiten zu bieten. Sie, ihrer wie-derkäuerischen Natur ungeachtet, zu anmutigen Girlanden zu verknüp-fen. Auch wenn ich weiß, von alters her, sie sind dafür die falschesten Mitspieler. Meine Ornamententwürfe und Choreografien werden an ihrer Vierschrötigkeit zuschanden. Sie eignen sich allein dazu, Fahnenstangen hochzustemmen und in Blechröhren zu blasen und in quadratischen Marschblöcken Filzhüte und Donnerbüchsen spazieren zu tragen.

Das Amt des Possenzwergs bringt nichts ein außer Püffen, Gekitzeltwerden und Rohheit. Aber auch Freudengejauchze und Torten-stücke, die geschleudert werden und die der Gnom auffangen soll.
„Mit dem Mund soll ers kätschen, mit seinem Maul !“
Die kleineren Kinder dürfen an den Silberknöpfen seiner Livree drehen und lutschen, wenn sie sie abgedreht haben, dürfen sie sie mit nach Hause nehmen, das hilft gegen Masern und Mumps. Die größeren dürfen auf ihm reiten und er grunzt dazu wie ein Trüffelschwein. Und die Halbstar-ken dürfen ihn von einem zum anderen werfen wie einen Ball. Ist er ihnen entronnen, bindet er den Honoratioren von Gemeinde- und Pfarr-kirchenrat und Vereinigten Kreissparkassen stiekum die Schnürsenkel zusammen. Stibitzt den Damen vom Wohltätigkeitsverein die Weißwurst vom Teller, versenkt sie im Bierkrug des Bürgermeisters, wird dafür von den Damen hochgelupft mit beiden Händen wie ein Dachshund bis auf die Höhe ihrer Kussmündchen.
“Ist das ein Racker, oh oh oh ist das aber ein Racker !“
Wofür er, um sich erkenntlich zu zeigen, strampelt mit allen vieren wie ein Dachshund und keckert wie eine Elster. Und auch vor dem Wettrennen mit eben den Dachshunden, den echten, darf er sich nicht drücken, wenn deren Herrchen honorige Honoratioren sind, darauf besteht schon der Haushofmeister.
Der Kuss eines Zwerges, weiß der Aberglaube, hilft gegen allerlei Gebresten, Der Monsignore, als Speerspitze der Rechtgläubigkeit, zwin-kert dazu sein vielsagendstes Bauerngrinsen und vermeidet es, solches Geraune moraltheologisch ins Unkatholische zu verweisen. Und wenn bei einer Niederkunft ein Hofzwerg dabei ist, raunt es weiter, und der Blick des Neugeborenen fällt auf ihn als erstes Erdenwesen, wächst das kleine Wurm binnen kurzem zu einer Statur heran die die anderen Landeskinder überragt. Und wenn der Hofzwerg einer Schwangeren an den Brust-warzen gesaugt hat, ist ein starker Wurf zu erwarten. Nicht zu reden von den Heilungskräften, wenn dem Kranken ein Zwerg, notabene mit Perücke und Zierdegen, ins Bett gelegt wird. Der Haushofmeister, die Diskretion in Person, vermittelt und sorgt dafür, dass der Genesene nicht nur weiterhin gesund, sondern auch spendierfreudig bleibt.

Ich kann ihnen noch einmal entkommen, noch immer bin ich ihnen irgendwie entkommen. Sie halten mein Wegrennen für die Einladung zu einem Verfolgungsspiel, in dem ich freilich von vornherein den kürzeren zöge, denn jedes Kind holt mich ein. Aber es ist kein Spiel, es ist meine Angst, die mich wegrennen lässt. Die selbe Angst wie damals als ich als Fähnrich der Truppe voran marschieren musste, um die Gegner zu verwirren, indem ich sie zum Lachen brachte : „Was für eine Missgeburt wirft der Kurfürst uns da vor !“
Und übersahen die Schützenkette hinter mir. Eben das war das Kalkül meines Kurfürsten. Mein Kurfürst war ein großer Kriegsmann, er hatte Belgrad den Türken abgenommen für den Kaiser, obwohl ihn Belgrad nichts anging. Kein Kriegsgetümmel, in das Max Emanuel sich nicht stürzte, und als er sein Land verlassen musste weil er sich schon wieder in ein Kriegsgetümmel zuviel gestürzt hatte, diesmal gegen den Kaiser, erspähte er mich während seines Exils auf einem Hühnerhof, wo ich geruhsam zwischen Kindern saß und mit ihnen einen Kapaun rupfte, denn der seines Landes vertriebene Gast wollte kurfürstlich verköstigt werden auch in der selbst verschuldeten Verbannung, denn sein Gastgeber war kein Geringerer als der vierzehnte Ludwig, roi de France, König der Könige.
Max Emanuel hob mich mit seinen Kriegerfäusten heraus aus dem Ge-wimmel von Kindern und Geflügel, die Flaumfedern hingen mir im Gesicht und ihm nun auch. „Was haben wir denn da für einen schnurrigen Sperling !“ schrie er, und machte mich zu seinem Spiel-Gnom, obwohl die Zeit der Zwerge längst vorbei war an den Höfen, die auf sich hielten, dem des vierzehnten Ludwig zumal. Aber mein Kurfürst war zweihundert Jahre zu spät zur Welt gekommen, er wollte der letzte Ritter sein, der letzte gotische Reisige, der den feindlichen Linien als erster entgegen ritt im blauen Kriegsmannsschmuck, auch wenn da drüben keine Chevaliers in Rüstung zu erwarten waren, sondern die Haubitzen der feindlichen Artillerie.
Er stülpte mir sein Degengehänge über und lachte, und das Geflügel fiel mit ein, Max Emanuel lachte und bleckte sein savoyardisches Gebiss. Er ließ mich reiten auf seinem ausgestreckten Arm und lachte, lachte, lachte, und als ich mir in die Hosen pisste und der Gießbach meines Leibes rann über seinen blauen Ärmel, lachte er noch mehr als wärs ein Spritzerchen Champagner. Die Kinder hüpften krakeelend mit, das Hüh-nervolk stob krakeelend davon, und Max Emanuel schrie :“Vor diesem Maskottchen werden meine Gegner genau so davon rennen wie die Hennen da !“
Und nun, vor Angst, übergab sich nun auch mein Darm.
Nun war ich das bunte Putztierchen des großen Kindes Max Emanuel, bunter noch als er selber, sein Klunkerchen, sein cachenez, sein joujou, sein Spielball, der durch die Gefechte hüpfte, unverwundbar, wie Max Emanuel selber unverwundbar sein wollte. Die Geschosse trafen mich nie, ich war ihnen wohl ein zu kümmerliches Ziel. Ich war der kugel-sichere Gnom, unverwundbar sogar durch den Chronos, als mein Herr in die Grube gefahren war, hinunter zu den tausenden, denen er einen vorzeitigen Tod bereitet hatte.
Ich blieb das Putztierchen, das Klunkerchen, das cachenez, das joujou, der Spielball, der über die ausgebreiteten Wunderteppiche der parties de plaisir hüpfen musste, die ich vorher selber auszubreiten hatte. Ich als premier architecte immer als erster, im Vortrab wie zu Kriegszeiten, um den schwerfälligen Landeskindern ein beschwingtes Beispiel zu geben. Sie vergessen zu machen, dass sie mit vier Beinen zur Welt gekommen waren, und der gentilhomme de bouche hatte ihnen Kurse in Grazie zu geben und sie glauben zu machen, sie hätten nur deren zwei.
Die Bauleute, meine Bauleute, schubsten mich dafür in ihren Kalkmörtel-Bottiche und zogen mich an den Fassaden hoch, die ich gerade zu errichten hatte, damit die Poliere scheinheilig fragen konnten wo der Mösjöh premier architecte de son altesse denn bloß geblieben sei, während ich im Bottich vor der dritten Etage schwankte, verätzt vom Mörtelkalk. In Ängsten, immer in Ängsten, die sich nie verloren, immer nur wuchsen, immer entsetzt über ihre kehligen Ausrufe wie da verreck do glei, wo man bei uns nur helas ! sagt, immer auf der Flucht vor dem barbarischen Frohsinn der Landesbewohner, der gutmütig ist, aber mordlustig zugleich.


Auf dem Schützenplatz müssen der rote Jackl, der rote Horsti und der rote Beni ihre Köpfe durch Schützenscheiben stecken, die mit Spott-bildern ihrer selbst bemalt sind. Wenn auf sie geschossen wird, von aus-erwählten Schützenbrüdern, Erzfeinden von ehedem, es setzt Anfeuerungsrufe für die Schützen wie für ihre Ziele : nur wer sich selber nicht schießen traut, der misstraut der Schießkunst ! Das Feighaferl das seinen Kopf zurück zieht verdient dreimal erschossen zu werden ! Und damit noch als Mausetoter zurück gestuft in den Status des Landesfeinds. Aber keiner zieht den Kopf zurück, keiner rettet sich, es wird nicht mit echten Kugeln geschossen gnadenhalber, sondern mit Farbkugeln, und die Gesichter der drei roten Lauser überkleistern sich weiß und blau, sie tragen die Landesfarben nun in ihren ehemals roten Gesichtern, und haben damit ihre endgültige Aufnahme in die Volksgemeinschaft bestan-den und nur das Farbgeschmier auf ihren Gesichtern lässt ihre Freu-dentränen nicht mehr erkennen.
Freudentränen auch beim Monsignore.
„Gell, was so ein Röhrchenpusten alles ausrichtet - widerständlerische Saubuam verwandelt es in fromme Untertanen ! Das Wichtigste auf der Welt wird mit Hilfe von Röhren vollbracht, zeugen, schießen und schei-ßen. Aber der Gewehrlauf ist das edelste Instrument dabei und vereint alle Tugenden von de andern in sich“.
Ein allgemeines gegenseitiges Umarmen schwemmt über den Festplatz, frisch eingeschenktes Weißbier schwemmt in die Mägen, und allein der rote Horsti kann nur unter Schmerzen seine Tränen in die Hochstimmung einbringen. Es ist ihm ein Auge ausgeschossen worden. Wer mag wissen, ob als verspätete Rache eines früheren Kontrahenten oder eines früheren Genossen. Horsti, der seitdem er in eine Stanzmaschine geriet, im Roll-stuhl gefahren werden muss, fußlahm wie seine selige Partei, eben erst hellsichtig geworden, nun auch noch ein Halbblinder.
Aber die Monarchie hält Linderung bereit : wie immer wird, wenn die Hofgesellschaft wieder zur Residenz aufbricht, wird auch ein Kontingent Veteranen verschifft. Der vom Regenten beehrte Marktflecken ist keine Ansiedlung der heldischen Ruheständler, sondern ein Reservat der Ge-brechlichen, der Rollatorenhumpler und Eingegipsten. Pflegestätte an Pflegestätte zieht sich über die weiten Hügelketten, Reha-Anstalten und Altenkliniken und die Einwohner, die sich heute dem Regenten ( und damit sich selbst ) zu Ehren als wehrhafte Gebirgler eingekleidet haben, sind in ihrem Arbeitsalltag Sanitätspersonen, Chiropraktiker, Orthopädie-mechaniker und Bettpfannenschlepperinnen.
Dem blessierten Horsti wird besoffene Gratulation zuteil weil er mit in die Herzkammer der Monarchie darf, frisch gezapftes Weißbier schäumt, mags die Bettpfannen auch zum Überfließen bringen, und der der Monsignore heiligt es mit seinem „Schwoabn ma’s obi !“
Eine Uralte tritt dazwischen.
Verbittet sich weitere Besäufnisse. Es wird auf sie gehört, denn jedermann achtet sie als eine der mannhaften Witwen, die diese Gemeinde zum Altersruhesitz gewählt haben. Ihre Gatten sind längst in und nach fernen Kriegen zu Staub zerfallen, die Witwen aber halten sich immer noch so rüstig wie die Uralte. mittels Moorbädern und karger Körnerkost, marschbereit in leichten Stiefeln, feldgrau und mit grünen Biesen die Kniehosen, verwegen das grüne Hütl, raumgreifend die Schritte.
„Männer ! Reißt euch am Riemen !“
Den Befehlston hat sie gelernt von ihrem Dahingeschiedenen, der in vielen Stäben diente.
„Könnt ihr noch eure Griffe oder seid ihr allesamt zu Saufsäcken de-generiert ?“
In den langen Friedensperioden, den allzu langen Friedensperioden, die ihnen allein was eingebracht hätten ? Hüftleiden und Alterssklerose, womit sie sich zu Rollator und Rollstuhl verurteilt haben, unfähig zu Geländeübungen, Gepäckmärschen und Biwaks wie in besseren Zeiten.
„Es weiß ja schon niemand mal mehr, was das Kommando Richt euch beinhaltet.“
Und ob sie das noch wissen ! Fröhlich bilden die Greise vor der Uralten eine Reihe, lassen ihre Fahrgeräte unternehmungslustig wippen im Marschtakt.
„Die Augen rechts“ ruft die Uralte, sie gestattet sich nun selbst ein Lachen, aber nur über die Willfährigkeit der Angetretenen und Ange-rollten.
„Ohne Tritt -“ nehmen ihr die Greise das Wort aus dem Mund. Sehnsüchtig, wie Kinder die das Christkind herbeiwünschen.
Die Alte spürt den Christkindlwunsch. „Marsch !“ruft sie und löst quiekige Munterkeit damit aus.
„Ohne Tritt marsch !“
Wohin wird sich finden, nur fort aus dieser weißbierdurchtränkten Ver-derbnis. Und die Greise greifen in die Speichen, ohne Tritt roll, schalten ihre Motoren auf volle Fahrt, werfen sich auf die Gestelle ihrer Geh-hilfen, und die, die allein von schlichten Gummistöcken aufrecht gehalten werden, bündeln alle ihre Kräfte und zeigen den Motorisierten, dass sie noch immer Drauflos-Brüder sind, auf die die Truppe rechnen kann.
Der alte Zack ist noch drin grinsen alle unter Geächz und Geschnauf und die künstlichen Hüften, sonst ungebührlich geschont, sind nun zu hartem Dienst gefordert wie seinerzeit die Kolben in den Kübelwagen. Immer noch sitzt der alte Zack in den alten Knochen, auch wenn es längst nicht mehr die eigenen Knochen sind sondern nachgeschraubtes Ersatzmaterial. Der alte Barras-Hengst will wieder ans Licht und dem Pensionär beweisen, dass er sich als junger Spund nicht vergebens hat triezen lassen.
„Hurraxdax greifma an !“
Und noch an dem Schwung, mit dem sie ihre Kunstglieder werfen, lässt sich ermessen was für stählerne Naturen sie damals gewesen sind, anno Wehrmacht, als sämtliche Krankheiten noch einen weiten Bogen um sie gemacht haben. Der kleine Handwerksgeselle und der kleine Handels-kommis, Kamerad / wir marschieren im Westen / mit den Bomberge-schwadern vereint und fallen auch unsre Besten / wir schlagen zu Boden den Feind. Mit dem Karabiner, der Braut des Landsers, der wohlgeölten K 98, hat man sich Achtung verschafft, jeder Schuss ein Russ, und ausgehändigt bekommen von den Iwans was einem zustand, Borscht, Wodka, Frauen. Das Wichtigste auf der Welt wird mit Hilfe von Röhren vollbracht, aber der Gewehrlauf ist das edelste Instrument dabei und vereint die Tugenden der anderen in sich. In den Ostwind hebt die Fahnen / denn im Ostwind stehn sie gut / dann befehlen sie zum Aufbruch / und den Ruf hört unser Blut.
Die Räder der Rollstühle schnurren ihnen freundlich unter den dürren Hintern, damals warens ungeschlachte Panzerketten. Das Ungeschlachte ist weiterentwickelt worden ins Angenehme, dezent funktionstüchtig, deu-tsche Wertarbeit eben, damit tuckert sichs angenehm den Waldweg entlang, der eigens angelegt worden ist für sie, die rollenden Patienten-greise. Den Patientengreisen verwandelt sich der Wald in das Gelände damals bei Smolensk, in dem sie angegriffen haben mit schwerem MG, ein junges Volk steht auf zum Sturm bereit / Reißt die Fahnen höher, Kameraden! / Wir fühlen nahen unsre Zeit / die Zeit der jungen Soldaten.
Und vorneweg die Uralte.
Sie braucht keine Gehhilfe, ihre feldgrauen Bundhosen umschließen sie wie die Haut einer Halbwüchsigen, sie ist männischer als alle Männer hinter ihr, die sich faule Jahrzehnte lang ins Zivilistische verdrückt haben, und ihre Schritte sind lang wie eine Maschinenpistole. Frau ist sie nicht einmal im Bett mit ihrem Generaloberst gewesen, in kalter Attacke hat er sich auf sie geworfen, ihr vier Söhne aus dem Uterus gerissen, und die gingen alle den Weg der ihnen vorbestimmt war. Sich getreu dem Fahneneid totschießen zu lassen.Seitdem verachtet die Uralte jeden der nicht gefallen ist.
Weil ihre Söhne für die Katz gefallen sind. Zuchtlosigkeit bricht von allen Flanken her in die Welt der Uralten. Die Fremdrassigen, die Semiten, die Levantiner fluten über alle Grenzen. Die ihr Gatte Generaloberst, der Schwächling, nicht Manns genug um sie tief ins Feindesland hinein zu verschieben. Vor uns marschieren mit sturmzersausten Fahnen / die toten Helden der jungen Nation,/und über uns die Helden ahnen :/ Deutschland, Vaterland, wir kommen schon.

Der Zwerg liegt auf dem Moos, Walderdbeeren unter den runzligen Ärmchen, ein herziger Anblick.
Die Frauen fahren mit ihren dicken rosigen Fingern seine weißen Bauchfalten entlang. Sein Körper ist eine Landkarte der Vergangenheit, in die die Zeitläufte scham- und ruchlos ihre Schrift eingekerbt haben. Gibbelig knöpfen sie ihm die seidenen culottes fort. Sie müssen zerren, die seidenen Hosen haften eng an der Urgreisenhaut. Zum Vorschein kommt ein Silberhorn, fein ziseliert. Das hat mir der Hof-goldschmied eigenhändig gehämmert, damit mein Priape salvieret sey vor den Zu-dringlichkeiten der Hofdamen. Und nicht nur der Hofdamen, auch der Zo-fen und Küchentrampel. Es hat als segensreich gegolten für den Unterleib, von einem Zwerg geritten zu werden.
Aus dem Unterholz brechen die rollenden Greise, Hilli noch immer weit voran. Was ist die Lage ? Die Lage ist klar : ein fremdrassiger Gnom in unzüchtiger Situation auf den Knien unserer Krankenschwestern ! Ein gentilhomme soll der sein, da lach ich dreimal dreckig, gentilhomme, das ist doch französisch. Und französisch, das ist Erbfeind, das ist verruchtes Parfüm, das ist Perversion, und Perversion, das ist Tripper, bei Verdun hat man sowas schlammgetaucht und Mores gelehrt. Über ihre Gräber vor-wärts ! Der perverse Gnom muss als Zielscheibe herhalten, dann wird auf ihn zielgeschossen, und diesmal mit Schrot ! Sturmangriff der Greise auf einen Greis. Es ist eindeutig, nach Gefechtslage, wer die Oberhand gewinnen wird.
Da fährt eine andere Hand wie eine gewaltige Wolke in das Gehölz. Ein Schatten legt sich über alle, Angreifer wie Verteidigerinnen, ein Ungetüm schiebt sich unter den Gnom und trägt ihn fort. Erst als es turmhoch über ihnen und schon entfernt ist, erkennen sie das Ungetüm als den kleinen, weiß behandschuhten Finger des Riesen.

+5. Kapitel
worin der Leser in zahlreicher Gesellschaft in das noch zahlreichere Gewimmel der Hofhaltung hineingeleitet wird

Der rote Horsti hat einen Pfleger mit auf die Reise bekommen, ehren-halber. Der Horsti hat lange schon auf der Liste der Kandidaten für eine Durchschüttelungs- und Umbesinnungstour in die Residenz gestanden, einen Belobigungs-Aufenthalt für einen Reuigen. Und die Reise, die der ehemals rote Horsti nun antreten darf, ist darum eine Ehrenreise.
Sie wird der voraussichtlich letzte Akt in seinem Leben sein, und den darf der Horsti als Heimgeholter genießen. Zum Reue- und Bewegungs-helfer ist ihm der Gerstl Hansi bestimmt worden. Ein Hiesiger, einer von den vielen Pflegern in dieser Gemeinde, in der Päppelung zum schier einzigen Er-werbszweig geworden ist durch die vielen Betuchten, die hier ihr Greisenalter verbringen wollen unter der gesunden Sonne der Voralpen und der noch gesunderen einer gesunden Obrigkeit.
Der Gerstl Hansi ist ein Vorzeige-Exemplar von einem Altenpfleger, gut im Fleisch und rötbäckig, langmütig und noch langsamer als sein Pflegefall, dabei gerade kaum ein Drittel so alt wie der Horsti. Der Gerstl Hansi ist so spätgeboren dass er nichts mehr weiß von den Wirrnissen des Politischen, von Abstimmungen, Wahlkämpfen oder gar von Op-positionsparteien. So einer ist Hingabe vom Scheitel bis zum wohl-trainierten Bergsteigerzeh. Ganz anders als das junge Volk in den Jugend-zeiten des Horsti, das sich widersetzlich zeigte und hier und da sogar rebellisch. So werden beide, Pfleger und Gepflegter, in einem Aufwisch belohnt. Der Hansi für sein mustergültiges Bettpfannenschieben in einer gewerbsmäßig bettpfannenschiebenden Gemeinde und der Horsti für seine Bußfertigkeit.
Mit noch röteren Backen als sonst und in eigens frisch geplättetem weißen Amts-Overall darf der Gerstl Hansi darum nun den halbblinden Horsti samt seinem Rollstuhl an Bord der Staatskarosse bugsieren, und diese Staatskarosse ist nicht ein banaler Krankenwagen, sondern der Riese. Was wird er zuhause alles zu erzählen haben, weiß der Hansi schon als er den Horsti an Bord schafft, wie soll mans auch anders nennen. Den Riesen betritt man wie ein uraltes Segelschiff, das vor Jahrhunderten untergangen und nun wieder aufgetaucht ist. Ein fliegender Holländer, in dessen üppiger Gewandung die Flure ( wenn mans denn Flure nennen soll ) einen nicht rechtwinklig geradeaus führen, sondern aus Stoff sind und einen auf und nieder führen – nein doch, keineswegs führen, sondern nötigen, richtiger noch zwingen ( so legt der Hansi es für sich fest, und so wird er‘s zu Hause berichten ) und unter den Füßen schwanken wie Hängebrücken oder ein ausgeleiertes Trampolin. Sich hier voran bewegen heißt immerzu Sackhüpfen. Wo in einem fest aufgeführten Gemäuer Treppen beim Aufwärtssteigen behilflich sind, gilt es hier in senkrechte Nähte einzusteigen und sein Glück als Kletterer versuchen, und darin ist der Gerstl Hansi geübt. Dabei sind die Höhen-unterschiede gewaltig, weil der Riese gewaltig ist und damit auch seine Garderobe. Wer in ihr stracks nach oben oder unten strebt, muss sich an die Fäden halten, die den Stoff verbinden, und die haben den Umfang von Ankertrossen. Es ist den Höflingen Ehrensache, sich voreinander als versierte Kraxler zu beweisen, und wer sich noch nicht genug zutraut, gibt sich als als jemand, der den anderen den Vortritt lässt in der Kraxelei. Um sogleich belehrt zu werden dass courtoisie an diesem Hof nicht zählt, solange man im Habit des Riesen unterwegs ist und damit in auf einer besonderen Tour, zu der nur Privilgierte Zugang haben. Ein Vortrittlasser ist somit ein Dalk, ein Reingeschmeckter, ein Grünling der auch die anderen Gesetze nicht begreifen wird, die hier in Taschen, Beuteln und Abnähern herrschen. Der Körper des Riesen ist kein dahinstapfendes Palais, sondern eine schlingernde Barkasse des Ungeheuerlichen, wie der Riese ungeheuerlich ist, in einer Brandung, die von den Schritten des Riesen erbebt und wer sich hier herein traut, hat in einer verschworenen Gemeinschaft von halb Seekranken mitzuschlingern und mitzubeben.
Der Gerstl Hansi findet sich, weil ihm solche Erkenntnisse nicht kommen, trotzdem zurecht. Für einen, der von kleinauf noch jeden Sonntag in den Bergen verbracht hat, wird der Riese schon bei dieser Erstbesteigung zum Hausberg. Auch findet der Hansi die Nähte breit genug, um den Rollstuhl um die Leistengegend des Riesen herum zu manövrieren, denn für den Horsti ist eine Ehrentasche am Steiß reserviert. Wenn der Gerstl Hansi den Horsti dort versorgt hat, stromert er umher und spürt die Schritte, die der Riese tut, als Dünung, die sich durch seinen unermesslichen Korpus fortsetzt und alle, die er trägt in einem zuverlässigen Rhythmus wiegt, der ein stapfiges Grundvertrauen über seine Passagiere stülpt.
Nächtlicher Regen schlägt gegen den Stoff der riesigen Livree. Als ein Gewitter aufkommt und der Riese seinen weiten Pelerinenmantel um sich schlägt, wird es drinnen noch dämpfiger. Feuchtigkeit dunstet durch das Unterzeug des Riesen, vervielfacht durch die Ausdünstungen der Mitreisenden, ihre höfischen Parfüms aber ziehen den kürzeren gegen den stechend talgigen Tierdampf des Giganten. Auch wenn es kalt gegen die unermessliche Hoftracht klatscht, hier drinnen sind die Reisenden wohlig umsponnen von der Leibeswärme des Riesen, und seine Schweiß-drüsen arbeiten zuverlässig hinter den Stoffschichten wie schmauchende Öfen hinter ledernen Tapeten.
Die Herumwusler und Wichtigtuer, die der Gerstl Hansi für Höflinge gehalten hat, erkennt er er nach und nach als gewöhnliche Landeskinder wie er eins ist. Ihre Verdienste haben sie hierher gebracht, stets selbstbenannten Verdienste. und ihre aufwändigen Hoftrachten vor denen der Hansi anfangs innerlich strammgestanden hat, sind nicht Amtsroben, sondern Geschenke an sich selbst. Stiftungen der Stifter, mit denen mittels Goldtressen, Fangschnüren und Kokarden die eigenen Meriten gefeiert werden, Großtaten beim Ausbau des Segelflughafens, der Anschaffung von Spritzenwagen für die freiwillige Feuerwehr, Begönnerung des Heimatmuseums, Betreiben einer gut besuchten Schön-heitsfarm oder 25jährige Dienstjubiläen als Hagelversicherer, 30jährige als Bestatter, 45jährige als Großbäcker oder Molkereimaschinenvertreter. In sündteure Roben, die, im Gedränge des Hofwesens mit anderen sündteuren Roben verschmelzend, vorab für die Fotografen der Heimatpresse geschneidert worden sind und deren goldene Quasten zu Hause in Kötzting und Uffenheim wie goldene Glocken zum Ruhme ihres Trägers läuten.
Manch einer reist auch mit, weil er seinen Kumpanen vom Zucht- oder vom Wasserzweckverband zwei bis drei Außentaschen im Wams des Riesen ergattert hat mit einem diskreten Sümmchen à conto eines Unterbeamten des Hofmarschallamtes, Verwendungszweck Ferien-aufenthalt seiner Kinder. So eingemietet ins Wams des Riesen, dürfen die Kumpane nun de première qualité am Leib des Riesen der Haupt- und Residenzstadt entgegen schaukeln, hoch erhöht über ihre Landsleute, Stoffwand an Stoffwand mit Diplomaten aus Schwarzafrika und Indonesien, verschwiegenen Herren aus der Rüstungsbranche, die sich in einem Abnäher mit ihresgleichen separieren, Feldgeistlichen beider Konfessionen mit freier Logis im Namen ihres Herrn der über den Wolken thront, einem Generalstäbler der kanadischen Luftlandetruppen auf verschwiegener Mission und einem ebenso wortkargen Ingenieur aus Fernost, Spezialgebiet fernlenkbare Waffensysteme, dessen Rat in der Residenzstadt Gehör finden wird.
Aus einem Täschchen auf der linken Brustseite vertreibt man den Gerstl Hansi mit Fäusten, hier werden gerade Bestechungsgelder ausge-handelt, um ein genehmigtes Stickstoffwerk in eine andere Dorfgemeinde umziehen zu lassen, in dem es nicht genehmigt ist. Der Stoff ist hellhörig, zwischen den Gewebefasern schlüpfen vielerlei Geheimnisse hindurch, wie kleine Fische durch die Maschen eines Netzes, und wer sie auf der anderen Seite aufschnappt, wispert sie sogleich weiter durchs höh-lendunkle Gewirr der Säume, Knopflöcher und Unterfutter. Der Gerstl Hansi lernt, dass denen die sich vom Riesen tragen lassen Ohrenpitzerei und Weitertratschen zur Leidenschaft wird. Zu einem kleinkindhaften Halligalli, während sie wie in einer unermesslichen Kinderschaukel über der Landschaft schweben.
Ein Reißverschluss ratscht vor dem Hansi hoch, sein ausgestrecktes Bein bleibt darin hängen. Eine Falle. Dem Fallensteller, selber im Dunkeln, soll der Hansi als Lösegeld hersagen, was er auf seiner Tour in den vorigen Abnähern und Falten erlauscht hat. Dem Hansi schwant, dass die Gebräuche hier in den Hüllen des Riesen insgesamt fallenstellerische sind, wegelagerisch wie beim Spiel unter Räuberkindern : verrat verrat oder wir fesseln dich von früh bis spat und er versucht sich freizukaufen indem er ein paar Kopulationen ausmalt. Aber er handelt sich Hohnge-lächter dafür ein, hoho ! Bumsereien zählen nicht, Bumsereien passieren in jedem Abnäher immerzu, und der Reißverschluss wird fester zuge-zogen, das Bein schmerzt, die eisernen Zähne beißen in Hansis Waden. Bisher hat er Reißverschlüsse nur als bescheidene Helfer an Rucksäcken und Nagelfeilentäschchen wahrgenommen, hier am Riesen sind sogar sie riesenhaft und haben Mäuler wie Krokodile. Namen her, Namen! kichert der andere schleckrig und zieht die Sägezähne fester. Hansi schreit, und noch im Schrei kommt ihm doch ein Name : der Monsignore ! Damit lockt er andere Aushorcher herbei, der Monsignore zieht immer, die Sünden die er absaugt will man in anderer Währung zurückkriegen und liebsten von ihm selbst. Mit der Nina von der Kreissparkasse ? beraten sie, mit der blonden Krankenschwester ? Oder der Tatjana, schon wieder der Tatjana ? Tatjana scheint sie zu erhitzen, auch ungeritten vom Mon-signore, sie vergessen darüber sogar den Reißverschluss, und Hansi kann seinen schmerzenden Fuß befreien und davonrutschen, fällt aber sogleich in ein schlampig vernähtes Stopfloch, durch das er in völliger Finsternis durch Seidengefüttertes viele Etagen tiefer gleitet, verfängt sich in lose hängenden Zwirnsfäden, dicker als seine Schenkel, landet bei etlichen Höflingen, die einen Fernseher in den Stoff gehängt haben und sich an dem delektieren, was es da zu sehen gibt.
„Blitzakkurat !“
„Eine Flugbahn zum Abküssen !“
Übertragung von einem Kriegsschauplatz.
„Mein Projektil!“
Die Herren prosten sich selber zu.
„Spiel hier bloß nicht den großen Max, das ist klar mein Projektil g’we-
sen !“
Der Gerstl Hansi kann sich keinen Reim darauf machen, was da be-redet wird, hangelt sich an einer waagrechten Naht weiter und schnappt das Wort Selbstreinigung auf.
„So recht erste Sahne sind die Kandidaten alle nicht für eine stilvolle Selbstreinigung.“
„Das Menschenmaterial wird immer zweitklassiger.Man fragt sich wa-rum das eigentlich durchgezogen werden muss wenn die Fallhöhe so flach bleibt“.
„Dabei schärf ich dem Krenleitner immer ein…“
Wieder kann der Hansi sich keinen Reim machen und klettert zur Ab-wechslung nach oben, in das Vlies eines Zwischenfutters hinein.Einige Herren führen dort Dispute, von filzigen Polstern umschlossen, die zu einer Art Wetten zu führen scheinen.
„Ich halt dagegen.“
„Ich zieh mit.“
„Ich passe. Ich habs brühwarm vom Oberkommando, dass sie vor dem Monsunregen nicht losschlagen.“
„Wenn Guerillas erst über die Berge sind, bin ich wieder einen Tau-sender los.“
Es muss um sehr viel Geld gehen.
„Ich sag doch, ich halt dagegen.“
Mit den Kürzeln und den Tarnsprachen der Eingeweihten kommt Hansi einstweilen noch nicht zurecht, obwohl er nun schon drauf und dran ist, ein ein gelehriger Lehrling im Spannern zu werden. Sich fort-hangelnd, gelangt er zu anderen, bunteren und belauschenswerteren Mi-lieus und Klatschgrüppchen, die behäbig in Säumen und Innenfutterfalten lümmeln und ihre Affärchen und Sächelchen bei Suff und Kartenspiel bereden in der platten Sprache, die auch ein Gerstl Hans versteht, weil er selber ein von den Platten ist.
Noch nie hat der Gerstl Hansi so viel Geschnatter vernommen, sprudelndes Plappern und gestelztes Bramabarbarsieren, denn die Alten die er gepflegt hat, haben es immer nur bei einsilbigem Raunzen belassen. Nun lernt er Sprachfarben unterscheiden und Lügenmelodien, das Umkippen vom Gezierten ins Ordinäre und die urplötzliche Rückkehr vom Zotigen in das höfische Idiom, sobald ein dritter zuhört. Und das Einfärben durch einen fremden Dialekt, der chic ist. Wie er es um die Regentin herum hören kann, wo die Niederbayern reden, als wären sie in Schönbrunn nach dem Munde von Adeligen, deren Titel bei ihnen zu Hause schon längst nicht mehr anerkannt werden, die hier aber die Regentin Traudl und ihre Tochter Reserl noch ins Monarchische einschulen, und wie man sich mit größtmöglicher Grandezza gehen lässt. Schau bloß Mama, wia de Erzherzogin de Tassn anglangt, und der Tonfall und die Anstregungslosigkeit der Erzherzogin wird zum Tonfall und zur Anstrengungslosigkeit von Traudl und Reserl. Obwohl die sich doch erst nach hunderten von Generationen des Müßigganges einstellen wollen.
Je weiter abwärts der Gerstl Hansi gelangt, in die Becken- und Bauchregion des Riesen, je weiter er fortklettert von der Brustgegend des Riesen, in der der Regent mit seiner Entourage schaukelt, um so durchschaubarer werden ihm die Regeln dieser durchgeschaukelten Clique. Auch wenn er im dämpfigen Halbdunkel dahinkraxelt, unter kleinen bunten Funzelbirnchen, sich immer wieder unvernäht he-rabhängende Stofflappen über seine Augen stülpen, verhedderte Stopffäden ihn am Weiterkriechen hindern oder er in tiefdunklen Stepp-nähten mit Reisenden zusammenstößt, die ihre Notdurft verrichten. Und wenn zwei die Lust auf einen saftigen Koitus überkommt, wird der augenblicks in der Nebenfalte verübt. Zum Greifen nah hinter den Stoffwänden, das Gegrunze fällt den davor Quasselnden ins Wort, und die Quasselnden fallen den Grunzenden in die Tat, schubsen ihr Geschaukel aufmunternd kräftig an wie eine wohlgefüllte Hängematte mit Öha ! und Werds bald !, klapsen auf die rammelnden Rundungen und wünschen gute Verrichtung. Man wird später ihnen und den anderen Gästen ansehen welche Ehre ihnen zuteil geworden ist : feuchtknaut-schige Garderobe, durchwandert von Flöhen und Milben wie es sie draußen in der hygienebeflissenen Moderne nirgendwo mehr gibt, Pilz-und Amöbenkulturen, wie sie nur hier gedeihen, und darüber als edelste Mitgift der rassige Körpergeruch des Riesen, der sich nach auch noch so vielen Waschungen nicht verliert. Und wer wollte schon fortwaschen, dass er mit der Hofhaltung des Regenten reisen durfte ! Wieder zurückgekehrt in die Krankenhausverwaltung, den Zeichen- oder Schulsaal, das Labor oder auch nur an den Kantinentisch, wird dem Übelriechenden noch Monate danach Respekt gezollt werden, im Stra-ßengedränge werden sich Gassen um ihn bilden, und wenn er sich in eine Warteschlange einreiht, werden die vor ihm Stehenden ihm pietätvoll den Weg freigeben.
Wenn der Gerstl Hansi weit nach Mitternacht zu seinem schutz-befohlenen Horsti zurückgerutscht kommt, findet er diesen nicht im Schlafe vor, sondern im Zustand seligster Enthemmtheit. Die Alten in der Vete-ranentasche haben sich freigemacht, die weißen Greisenhäute phos-phoriszieren im Halbdunkel, es ist stickig vom Schweiß des Riesen wie von ihrem eigenen. Vor den jubiläumshalber Mitgekommenen und Mit-genommenen, alles alte Knacker auf Rädern wie er selbst, hat der rote Horsti, obwohl genauso weißhäutig wie die anderen, sich anfangs rechtfertigen müssen, weil er einst ein Sozi gewesen ist. Er ist wort-wörtlich in die Enge getrieben worden in dieser ohnehin schon quetschigen Ehrenloge, die Räder der Rollstühle sind sackig in den Stoff gesunken, da gabs kein Zurückweichen, auch kein Vorankommen und Entweichen mehr wie in einem gewöhnlichen Morast, und mit Morast sind die Veteranen innig vertraut, alle waren sie beflissene Waffenträger, der Horsti sei ein Vaterlandsverräter gewesen. haben sie anfangs ge-schrien, und sie, die wahren Deutschen haben den Kopf hinhalten müs-sen, wenn der der Iwan gefeuert hat mit seinen Stalinorgeln. Der Russ kennt kein Erbarmen und metzelt drauflos, nur der rote Horsti grinst sich eins in der Etappe, und sie haben sich in Hitze gekräht, das Gratis-Bier sickerte die alten Kehlen hinunter und drückte alte Gesänge daraus herauf.
„Wir stehen hier auf dieser Felsenhöh
Im Kampf mit Wetter, Eis ja Eis und Schnee“.
Und sie fuchtelten mit dürren käsigen Armen, schnallten ihre Prothesen ab, einerseits zum drohenden Fuchteln, andernteils um vorzuweisen was sie alles hingegeben haben für Volk und Vaterland und was ihnen folglich inkasso alles zusteht und was sie nie gekriegt haben infolge jüdischen Beschisses.
„Wir halten Wacht fürs deutsche Vaterland
Und schützen’s vor des Feindes Hand.“
Der Gerstl Hansi weiß nicht einzuordnen warum sein Horsti in Bedrängnis geraten ist unter den anderen Tatterern, ihm sind sie alle gleich, der Hansi ist ein Kind der Monarchie, dankbare Endsumme eines beruhigten Zeitalters. Sein jugendlicher Erfahrungsschatz setzt sich zusammen aus Gebrechlichen, die er aus und ins Bett gehoben hat und ihnen den Hintern gewischt. Aber zu erfragen was die Gebrechlichen in ihren fernen Zeiten für Erlebnisschätze eingefahren haben, gehörte nicht zu seinen Dienstpflichten. Jetzt da sie für ihre Verdienste gewürdigt und auf Riesenhöhe in die Residenz getragen werden bricht es aus ihnen heraus. Wie sie, der Betzmeier Alisi und der Betzmeier Beni und der Pittrich Schorschi und der Betzmeier Luki, seinerzeit Herren und Herr-scher waren. über Dorf, Hühner, Schweine, Weiber. Vor allem Weiber. Dank ihrem Karabiner 98, der an ihren jungen Schultern gehangen hat als Hoheitszeichen.
„Wo rauh der Bergwind weht
Ein kleines Blümlein steht
Das kleine Edel- Edel- Edelweiß…“
Und was haben sie für einen Zack hineingebracht in das Geschmeiß, eine Zivilisation überhaubz erst amal ! Ein Rucken mit dem 98er Kara-biner, und der Iwan hat gekuscht und getanzt, im Dreher, im Krakowiak, heidiwitzka, immer die Mündung am Hintern ! Auch die Uralten, dawai dawai ! Und die Alten von heute belachen es noch heute, sie schlagen im Takt mit ihren Prothesen.
„Das kleine Edel- Edel- Edelweiß…“
Das Griepenschmalz, das man damals in die Heimat geschickt hat, war ein Goldklumpen. Wie beim Märchenhans im Glück, und erst der Honig und der Speck aus der Ukraine ! Das Olivenöl und der Likör aus Griechenland und die Seife aus Frankreich ! Linderung des Elends, das der Jud über die Unsrigen in der Heimat gebracht hat.
„Das kleine Edel- Edel- Edelweiß…“
Die Erinnerung an das Griepenschmalz und die Pelze erleuchtet das dunkle Gelass wie eine Geisterbahn auf dem Oktoberfest. Eine aufge-kratzte Geisterbahn, in der es nach den heimischen Viehställen riecht, nur dass dieser Geruch aus dem Riesen herauswölkt, und auch das Griepen-schmalz, der Honig und die Seife duften von fernher mit. Das Mus-kelwerk des Riesen pocht unter dem Stoff mit, seine Schritte rumpeln unter ihnen wie damals die Motoren der Panzer. Und sie schlummern weg, in verqueren Lagen, der eine über den anderen gestülpt. Verkantet zwischen Riesenfleisch und Livreestoff, und die Prothesen, die sie fortgeschleudert haben, hängen hoch oben in den Nähten.
„Das kleine Edel- Eeeeeedeeeeeel- Edelweeeeeeeiiiiiiiiiiß…“
Den Gerstl Hansi verlangts nach frischer Luft in diesem Alt-männer-brodem, er hängt seinen Kopf durch ein Knopfloch hinaus in die Nacht. Eine Doppelreihe weißer, zuckender Flecken wandert da draußen durchs Dunkel. Von weitem nimmt sie sich aus wie ein wuselnder Wanderzug von Glühwürmchen. An der Spitze ein Baldachin, flankiert von Fackel-trägern, und darunter, in eine Urne aus Silber eingeschlossen, das Herz des vorigen Regenten. Der jetzige Regent schwankt ein paar Ta-schen-Etagen höher, im gleichen Takt der Schritte. Auch er schaut auf den Zug hinunter. Auch sein Herz wird einmal so durch die Nacht ge-tragen werden.
Es lebe die Monarchie, und Friede allen ihren Untertanen. Auch dem Gerstl Hansi, aus dem heute fast schon ein Hans geworden ist.

Ich verziehe mich in Gregors linkes Ohr. Hier ist es moosweich, denn allerhand Pflanzen haben sich da angesiedelt. Flechten, Hauswurz, Hahnenfuß und Täublinge. In den Nischen der Ohrmuschel über mir nis-ten Dohlen und Schwalben. Ein Igel krabbelt über meine Kniehosen, Heuschrecken haben sich in den Spitzen meines Jabots verfangen, durch die sich Tausendfüßler und Blindschleichen flink hindurch winden wie durch die Gitterwerke meiner Stuck-Ornamente. Tiere, die Gregor mit sich gerissen hat, als er in der Fichtenschonung lag, samt Erdbrocken, Farnen, Wurzelwerk und sperrigem Schierling. Fledermäuse geistern umher, ihr Guano versintert Gregors Ohrläppchen.
Ehedem galt all das als Umrahmung und Dekor für Beischläfe. Heures du berger, Schäferstündchen, wie man hierzulande sagte. Man erwarb sich Respekt, wenn einem après Gras und Erde an der Kleidung haftete. Heute habe ich einige Mittdreißigerinnen zurückgelassen, ohne ihnen aux ordres gewesen zu sein. Früher galt es als très chic, mit dem Hofzwerg zu kopulieren. Heute bringe ich‘s nicht mehr über mich, und nicht nur der Potenz wegen.
Was für eine monströse Damenwelt ! Sie riecht nach nichts mehr. Schon gar nicht nach sich selbst. Allerwelts-Aromen wolken aus ihnen heraus, aus allen Öffnungen, und verätzen mir das Riechorgan. In mei-nen großen Zeiten konnte ich jede Dame, die nach mir begehrte, auch im Dunkeln schon von weitem an ihrem bouquet erkennen : das war die Tochter der Herzogin von Lerac, und das ihre Kommerzofe, und das die Herzogin selbst.
Vierunddreißig Jahre vor der Großen Revolution, in der ihnen die Köpfchen abgesäbelt wurden. D’accord, es war nicht gerade viel in die-sen Köpfen, aber ihre Augen, solange sie offen waren, hatten sich im-merhin an meinen Kunstwerken erfreut.
Ein Käuzchen beginnt mich zu behacken. Die Jagd am Erdboden ist ihm zu beschwerlich, und ich überschreite nicht wesentlich die Maße eines Hasen. Es wird gelärmt, schnatternde Kerle helfen ihren schnatternden Gespielinnen, sich an den Haarzotteln Gregors herab zu hangeln. Ande-re schnatternde Kerle breiten Flaschen und Decken und Joints aus. Sie haben kostspielig irgendwelche Chargen bestochen, die diesen für jeder-mann gesperrten Platz hüten sollen. Wenn sie mich entdecken, bin ich schon so gut wie in ihren Händen als willkommenes Party-Spielzeug.
„Da schau her, der Mössjöh Gnom hat uns schon erwartet, das gibt a Hetz !“
Und schlenzen mich als Ball weit hinaus in die Nacht.
Und wer fängt mich auf ? Eiliger noch als die Fledermäuse mache ich mich davon und fliehe unter Gregors Zunge. Ihre molluskenweiche Un-terseite liebkost mich, deckt mich zu wie der Bauch eines mir wohl-gesonnenen Rochens. Hierher wagt sich keiner vom Hofstaat, und die Gastreisenden wissen nichts von diesem Unterschlupf.
“Du hast mir heute das Leben gerettet.“
Gregor des Stummen Gedanken sickern hierher herunter und werden in diesem schleimigen Pfuhl mitunter zu murmeligen Tönen. Wie ich mir einbilde. In stillen Nächten jedenfalls, wenn alles andere schweigt. Ich muss lange hinhören, ob da sein Blut pocht, seine Lunge rappelt oder ob er zu mir spricht. Oder doch sprechen will. Oder ob ich es selber bin, dessen aufgeregter Herzschlag in seiner Rachenhöhle widerhallt.
„Zum wievielten Mal, was meinst du ?“
Aber Antworten kommen von ihm nie. Er ist bei seinen Sternen, wie immer in der Nacht. Mars steht nah bei der Waage. Jupiter im Schützen. Über der Alpenkette leuchtet als hellstes Sternbild der Skorpion und setzt ein Zeichen des Fernwehs, denn es ragt nur zur Hälfte in den Nord-himmel herein.
Gregor stapft dahin. Er hält nach Nordosten, auf die Jungfrau zu.

Die Residenzstadt liegt im Frühlicht.
Zuerst haben Wildgänse den Dahinstapfenden begleitet und von ihrem Nachtlager berichtet, dann Starenschwärme. Nun umkreisen ihn Krähen-schwärme als wollten sie ihn willkommen heißen und lassen ab von ihm, als er die grämlich grauen Reihen der Vorstädte übersteigt. Womit er Taubengeschwader weckt, die aber nur ein konfuses Geflatter bis zur Höhe seiner Kniebundhosen schaffen. Sie lassen sich dort in den Falten nieder, ihre gewohnten Plätze. Seine Strümpfe sind davon gezeichnet.
Er holt die Reisenden mit zwei, drei knappen Kniebeugen aus dem Schlaf. Sie fahren in die Kleider, als Gregor in der Schlossanlage der früheren Könige steht, ein Fuß in diesem, den anderen in einem anderen Hof, die Beine über den Dächern gespreizt. Der Monsignore findet nicht den weißen Kragen seine Soutane, die Regentin nicht ihr Korsett. Und Gerstl zuerst nicht den Rollstuhl und dann keinen der mit anpackt um den Rollstuhl und den Ehrengast darin ins Freie zu expedieren. Und wenn er, seinen Alten geschultert, endlich ans Tageslicht gelangt, sieht er diesmal des Riesen unermessliche Schuhe nicht von ehrfürchtigen Spalieren aus Buchsbäumen umgeben, sondern umknäult von Touristen, Filmern und Knipsern, denen der Schweiß von den Stirnen in die Okulare rinnt. Sänf-tenträger eilen her und hin. Die Sänften sind stets vorhangverschleiert, aber sind sie auch besetzt ?
Im Handumdrehen ist auch der Gerstl Hansi ein Versatzstück des touri-stischen Tobens. Er wird gedrängt, mit Horsti im Huckepack vor einem Schnallenschuh des Riesen zu posieren. Er wird ihm befohlen seinen Al-ten, der nicht weiß wie ihm geschieht auf den Sohlenrand des Riesen zu setzen und dabei noch japanische Kinder in die Kamera zu halten. Hartschiere, gravitätisch altväterlich uniformiert, stehen in malerischen Gruppen wie blaugoldene Hydranten, bringen aber keine Ordnung ins Gewühl, fällen ihre Hellebarden nach Gutdünken, verlegen hier einem Kurier den Weg, schaffen da einer Gruppe in Burnussen Raum, schieben dort ein paar dreiste Blitzlichtknatterer fort, um sich vor anderen Dreisten umso williger, auf ihre Hellebarden gestützt, zu einem Gruppenbild zu arrangieren für eine Tonbildschau in Oklahoma oder Shanghai, und schließlich trennen die Waffenträger sogar Gerstl von seinem Veteran.
Der Hansi wird fortgespült, weiter hinein in die Residenz von einer hereinwehenden Kette von Polonaisetänzern, links und rechts haken sich die Wildfremden bei ihm unter, Gerstl muss mittanzen durch Fluchten von Antichambres und sich verzweigende Flure. Die Kette zerreißt, vereinigt sich dafür mit einer zweiten, die über Wendeltreppen herunter geeilt kommt, eine dritte gesellt sich hinzu. Die Gelasse, durch die sie tanzen werden enger und enger, die Tanzenden schrecken Leute auf, die durch ovale Fensterchen in irgendein unerreichbares Drinnen spähen. Oder ihren Kindern bauschige Festkleider überstreifen und andere, die an kanellierten Säulen ihr Wasser abschlagen, oder Ansprachen und Huldi-gungsgedichte memorieren.
Bis sich in ihrem Rücken etwas schwer Bronzenes schließt, knarrend unter der Last und Würde der Jahrhunderte, und mit einem tiefen Schmatzen. Nun schnaufen alle, Hereingeeilte wie Hereingeschneite, in Dämmer und jäher Stille. Überhitzt, hustend, überrumpelt. Das Gelärme der Autos und Touristen draußen ist abgeschnitten wie nach einem Hörsturz. Kaum dass jemand zu scharren wagt auf dem majestätischen Marmorboden. Alle lauschen auf das Scharren, das die Schuhsohlen trotzdem verursachen. Alle finden es unziemlich, versuchen es zu unter-drücken und geraten in Bewegungsstarre davon.
In diese finsterliche staubige Stille hinein sickert nun eine Stimme, selber staubig. Sie wendet sich an niemand, sie singt vor sich hin, unter-bricht sich und kichert über ihr eigenes Gesinge. Einige der Gäste sum-men mit und ihre Augen, die sich eben an das Dunkel gewöhnt hatten, nehmen nun auf, dass es sich um sie her aufzuhellen beginnt, je mehr gesummt, geträllert und gekichert wird. Und dass nun Schatten über ihre Gesichter gleiten und dabei einen leichten Lufthauch erzeugen, dass die Schatten wiederkehren, als ob deren Verursacher irgendwo über ihnen Kreise beschrieben, aber was ist das für ein irgendwo über ihnen ? Es ist der freie Himmel, ohne Zweifel, aber ein freier Himmel der von einem Glasdach unterfangen wird, über das viele Schlinggewächse wuchern, in denen sich die Schatten verlieren. Die Schatten nicht von gemeinen Staren, Sperlingen oder Tauben. Sondern von silbergrauen Kranichen, die sich hoch über den Schlinggewächsen auf einer Balustrade nieder-gelassen haben und es zu genießen scheinen, dass sie sich, mitsamt dem azurnen Himmel über ihnen, in der Tiefe in einem Teich spiegeln, dessen Wasser aus den Mäulern glubschäugiger Tritonen hüpft. Die Augen der Gäste erheben sich vom Spiegelbild nach oben : das Azur ist wirklich da, so topazen wie ein seidener Baldachin.
Aber die Kraniche haben sich schon wieder davongemacht, sind weitergezogen trotz des hinderlichen Glasdachs, vielleicht haben sie sich auch nur verirrt in den Labyrinthen der Residenz. Hinter den schmalen Säulchen der Balustrade ist der Riese zu sehen. Träge zurückgelehnt sitzt er da, ohne Obligo und außer Diensten. Gerade ein wenig höher als seine Halskrause ragt er hervor, lässt genüsslich das Sonnenlicht sein Gesicht bestreichen, das Schattennetz der Glasdachverstrebungen teilt es auf in verschiedene Provinzen. Er schaut nicht auf die Pfaue nieder, die sich auf seinen Schulterstücken ergehen und ihm die Wangen behacken, auch nicht auf die feierlich steifen Meerkatzen, die seine Gesichtsfalten erklimmen, um ( in seine Nasenflügel gekrallt ) pedantisch langsam, und mit den enttäuschungsgrauen Gesichtern altgedienter Hofbeamter Apfel-sinen zu zerteilen, sich zwischen die Zähne zu schieben und dabei die Besucher vorwurfsvoll zu fixieren, bis diese ( auch der Gerstl Hansi ) merken wie lästig sie sind und sich davon machen. Die Schalen der Apfelsinen werden ihnen hinterher geworfen, wie unerwünschte Voy-eure es verdienen.
Hufschlag kommt den mit Orangenschalen Traktierten entgegen, aus der Tiefe eines mit Säulen gesäumten Laubengangs trabt ein Schimmel heran, aufgeschirrt und mit silberbeschlagenem Sattel, mit silberdurch-wirktem Zaumzeug. Zwischen seinen aufgestellten Lauschern schwankt ein Federbusch, eine Flamme aus Flaum. Hat der Schimmel seinen Reiter abgeworfen und erwählt sich nun einen anderen unter den Umstehenden ? Bald bleibt er vor diesem, bald vor jenem Besucher stehen, als lade er zum Aufsteigen ein und macht unwirsch schnaubend kehrt, wenn man ängstlich vor ihm zurückweicht. Zwei schwarze Ponys kommen getrabt wie launige Contres zu dem Schimmel, lassen sich füttern mit den Oran-genschalen, die die Meerkatzen geworfen haben, aber ihre Rücken sind bereits besetzt. Das vordere Pony trägt ein dickliches Kindmädchen mit Doppelkinn und Strohhut. Schlafend ist es auf das Pony gesunken, und nur dass sich sein Reifrock in den Damensattel verhakt hat, bewahrt es vor dem Abstürzen. Anders das nachfolgende Pony, es wird ob seiner noch kurzbeinigeren Kurz-beinigkeit belacht und weil es im Sattel einen Gnom trägt, dessen Kurzbeinchen nicht einmal zur Hälfte des Pony-Bauches herab reichen und links und rechts nach außen stechen wie die Gliedmaßen eines Hampelmannes. Die beiden Kleinwüchsigen stimu-lieren das Publikum sogleich zu Übergriffen, das Pony wird an den Ohren gezogen, dem Zwerg werden Orangenschalen in den Mund geschoben, man ruckelt am Knauf seines Degens, er wird unter den Armen gekitzelt, bis er seinen Neckern den Gefallen tut und mit rollenden Augen aus dem Sattel rutscht. Aber er plumpst keineswegs zu Boden, er fällt weich in ausgebreitete Arme. Die Ponys wie der Schimmel, als hätten sie auf ein Stichwort gewartet, klackern galoppierend über die Bodenplatten davon, durch eine entsetzte Schneise. Der Zwerg hat die Verwirrung genutzt, um sich an den Leibern der ihn Umstehenden hinab gleiten zu lassen.
Erst als die weitergehen wollen und stolpern, bemerken sie, dass er ihnen die Schuhbänder zusammengebunden hat bevor er entschlüpft ist.
Wenn nun ein Einhorn hervor träte, aus dem Dunkel unergründlicher Alkoven, längst ausgestorbene Kräuter kauend, es würde den Gerstl Hansi kaum noch in Erstaunen versetzen. Hat sich nicht dort oben mitten im Zierrat der Supraporte schon eins geregt ? Aber was da aus den ver-goldeten Akanthusranken herausrollt, sind nicht Einhörner sondern Ge-parden mit ebenso goldenen Halsbändern, aus dem Schlaf geweckt vom Fleischgeruch der vielen Besucherleiber. Noch gähnen die Raubkatzen, aber gleich werden sie sich herabstürzen. Die Besucher reißen an ihren verknoteten Schuhbändern, um sich aus dem Staub zu machen, aber die Geparden legen sich wieder zurück in die vergoldeten Schmiegen des Stucks, und scheinen ( abgewandten Blickes ) den Kandidaten fürs Ver-speistwerden freien Abzug zu gewähren. Oder sind sie nur so gnädig, weil ihnen der Zwerg die Hälse krault und es ihm danken, indem sie wohlig schnurren ?
Die Besucher, unter ihnen Gerstl, finden sich wieder in einem weite-ren Hof. Den Riesen sehen sie da, abermals. Nun nicht mehr nach hinten gelehnt, sondern vornüber gebeugt wie über eine Brüstung. Vornüber zu ihnen. Aber nicht nach den Besuchern greift er nun, schaufelt er mit seiner Hand, die den ganzen Hof füllt und überschattet, sondern er schwenkt eine Samtschleife mit Daumen und Zeigefinger. In ihr lagern wie in einer Luftschaukel Kinder und Windhunde einträchtig beisam-men, weiße Ziegen auch darunter und Papageien. Er erfeut sich am Ki-cherkreischgackerglucksen, das er mit seinem sanften Wiegen erregt und facht es noch an, indem er mit mehr Brio schwenkt und erntet Geplärr, Jaulen, Glückskreischen, Anfeuerungen. Erschreckte Papageien flattern unter missbilligendem Gezeter davon. Ein Regen von Rosen rieselt aus der Schleife, blühende und verblühte, ihre Blätter schneien auf die Be-sucher, sinken in Gerstls offenen Mund, der wird von Herolden beiseite geschoben, die eine unformierte, schnellschrittige Abordnung eine Trep-pe hinauf eskortieren und in einem Portal verschwinden lassen.
Als die Besucher neugierig hinterher drängen, finden sie das Portal ver-schlossen. Eine Schildkrötenfamilie bewohnt die Schwelle und vor den Torflügeln breitet sich ein Wasserbecken aus, in dem sich schillernde Fische tummeln. Benommen stehen die Neugierigsten des Trupps noch vor diesem Ensemble, da tritt zwischen zwei Säulen des Portals der Zwerg heraus, als Amtsträger legitimiert durch seine Hoftracht mit Dreispitz und Zierdegen und redet auf die ihm zunächst Stehenden im Flüsterton ein. Mit raumgreifenden Gesten, die seinen Seidenumhang blähen. Die sich noch nicht auf die Treppe wagen und die, die schon die fünfte bis achte Stufe erklommen haben ( Gerstl steht immerhin schon auf der zweiten ) drängen nun ebenfalls hinauf, um etwas von dem so verschwörerisch Gewisperten zu erhaschen. Als sie aber oben anlangen, finden sie dort niemand mehr vor. Die von dem Gnom Eingeweihten sind zwischen den Seitensäulen des Portals verschwunden. Die Nachzügler wollen ihnen folgen, aber der Durchlass ist so eng, dass es geraten scheint, sich mit der Schulter voran hindurch zu schieben.
Was einige Zeit in Anspruch nimmt, auch müssen Kandidaten mit zu ausladendem Embonpoint oder zu ausladender Garderobe wohl oder übel aufgeben. Dem Gerstl Hansi gelingt es, sich durch den Spalt zu zwängen indem er mit der Routine des Altenpflegers eine füllige Dame vor sich her schiebt, um den Preis dass sie kreischt Ich sterbe ! Ich sterbe !
In ein Kabinett, das überquillt von Gestalten mit ausschweifenden Hüten, Turbanen, Schleppen, die nie und nimmer durch dieselbe Spalte hier herein gelangt sein können wie die anderen. Die von Gerstl ge-schobene Dame rügt ihn wegen der Kleidungsstücke, die sie beim Durch-pressen eingebüßt hat.
„Grad wenn ich bei Hofe bin, muss mir das widerfahren von einem Lackl wie Ihnen dass ich nicht comme il faut bin !“
Beim Weiterschieben, denn die hinten Scharrenden bugsieren die vor-ne Zögernden vor sich her, drängt man nun in ein rundes Kabinett mit Tapisserien, die den Strom der Strömenden zu vervielfachen scheinen, denn hier treffen die Hereinkommenden auf eine vervielfachte Schar von anderen Hereingeschobenen, bis sie gewahr werden, dass diese anderen gar keinen Platz beanspruchen, denn sie sind nur die Abbilder von Hof-damen und Hofschranzen auf den Wandteppichen. Blasiert starren sie über die Neuankömmlinge hinweg, weil allein sie es sind, die seit Jahr-hunderten das Recht haben, hier zu antichambrieren, und jahrhundertfest darauf rechnen, zeitiger vorgelassen zu werden als die neu Angekom-menen.
Aus dem nächsten Kabinett, das nun sechseckig ist, schwebt Gerstl und seinen Gefährten ein heller Sopran entgegen. In dem Sechseck befindet sich aber niemand außer einem halbnackten Uralten der sich die Füße badet. Seine Brust ist eine einzige Höhlung, der Hals eine Pyramide von Falten und seine Perücke, die ihre gepuderten Locken über seine käsigen Schultern rollt, ist ins Gesicht gerutscht und lässt nur das lange, weiß geschminkte Kinn frei und den rot überschminkten Mund, aus dem eine Knabenstimme dringt, deren silbrige Koloraturen die Weitergeschobenen begleiten hinein in eine grüne Galerie, in ders nicht mehr vorangeht.
Man steht im grünlich Dumpfigen, es riecht nach alten Polstern und Mottenkugeln. Man prustet, man ringt nach Luft, man kratzt sich. Vereinzelt wird gequengelt, aber eine Mehrheit zischt die Quengler zur Ruhe. Der Plafond wird abgehoben wie der Deckel einer Hutschachtel. Der Riese linst mit einem Auge herein auf die Zusammengedrängten wie auf eine Versammlung von Käfern. Über ihm wieder der azurblaue Him-mel, ein frisches Lüftchen weht über die Zusammengedrängten herein. Draußen ergeht sich prächtig der Sommer und sie tun sich hier diese muffige Bedrängnis an. Mit seinem Riesenfinger zählt der Unermessliche die Antichambrischen, aber er ist scheint nicht recht geübt in Arithmetik, er verhaspelt sich bei dreihundertachtundzwanzig und fängt wieder von vorne an. Und wiederum steht und steht man, eingezwängt, schwitzend und gewärtig, dass der Unermessliche sie wie Pralinen verzehrt, alle dreihundertachtundzwanzig auf einmal oder mehr – nein, bei fünfhundert ist er nun schon angelangt mit dem Abzählen, unterbricht sich und lässt ein Kichern los, dass der Fussboden unter ihnen erbebt. Aber sie, die sich angstvoll umklammern, versinken nicht und verspeist wie Pralinen wer-den sie schon gar nicht. Der Plafond wird wieder übergestülpt, Gipsstaub und Gipsbrocken regnen ins plötzliche Dunkel. Die Wucht des Aufpralls lässt eine Doppeltür aufspringen, durch die sie nun alle geweht werden, Gerstl als erster. Ihn empfängt der Gnom, der ihm den Arm reicht und ihn zu einer Quadrille einlädt. Gerstl zaudert, er ist nur schlecht und recht in der Diskothek herum gehüpft, aber der Zwerg ist ganz und gar lä-chelnde Unnachsichtigkeit, er zwingt den Hansi in einen ebenmäßigen Tanzschritt, und damit auch die anderen. Er führt sie an stuckgerahmten Wandspiegeln entlang.
Gerstl sieht sich mit dem Gnom, er sieht sich vervielfacht, den Gnom auf seinen Schultern, viele Gnome auf seinen vielen Schultern, viele Gnome hopsen aus seinen vielen Ohren, und als er nach seinem verviel-fachten Bild greift, drückt er dabei einen Spiegel beiseite, der sich als Klappe erweist und ein finsteres Kämmerchen nimmt ihn auf. An den unverputzten Wänden Sicherungskästen, Signallämpchen, Handtuchhalter, Staubsauger, blinde Handspiegel.
Hier bin ich im Diener-Kabäuschen, weiß Gerstl. Hier bin ich, wo ich und meinesgleichen von Natur und Recht hingehören, hier habe ich zu sitzen auf durchgehocktem Schemel mit schäbigem Plastik-Überzug bis ein rotes, blaues grünes Signal aufflammt und ich in die Kabinette der Herrschaften spurten darf.
Der Herrschaften : er spürt den düstren Ge-schmack dieses Begriffes. Er, der Krankenpfleger der Arsch-Auswischer und Auf-die-Bettpfanne-Setzer, gerade er spürt jetzt den Ludergeruch des Begriffs Herrschaft, der ihm nun schmeckt nach Unter-werfung und Dienergebuckel.
Und wie er da sitzt, und seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen, erkennt er : die Spiegel sind durchsichtig ! Dahinter sieht er den Zwerg seine Quadrille anführen, die Besucher werfen die Beine, kommen ergötzlich zu Fall und andere stolpern drüber. Gerstl genießt es wie Kino. Da schau her, das Dienersein hat auch seine Würze : die der heimlichen Mitwisserschaft !
Das Sichauskennen, wie Geheimtüren funktionieren, drehbare Wand-gemälde, versenkbare Statuen, umkippende Sessel, wo heimtückische Ritzen im scheinbar Glatten , von ihm, den Gerstls mit Ölkännchen und Rostbürste instand gehalten, durch die Intriganten ihre Zettel schieben oder Meuchelmörder ihre Dolche oder Giftschlangen oder aus denen der Puma springt und den Thronfolger zerfleischt.
Gerstl kennt sich auf einmal aus mit herabgleitenden Kronleuchtern, Gerstl weiß auf einmal um alles Heimliche in diesem mächtigen Bau, in den Taschen des Riesen war ihm unbehaglich, alles schwankte, hier ist er auf sicherem Boden. Gerstl hüpft die Quadrille auf der anderen Seite mit, die Nase so dicht an der Spiegelscheibe, dass sie uralten Schmutz davon abstreift und eine zittrige Linie hinterlässt, Gerstl findet sich in einem tiefschwarzen Gelass ohne Spiegel. Die Wände fühlen sich samtig an, der Samt haftet grieselig an seinen Händen, Gerstl findet sich in einem Ka-min.
Und wird dafür schadlos gehalten, indem er auf einmal von überall her Gespräche und Flüstern hören kann. Verabredungen, Hecheleien, Stiche-leien, Gejammer, Denunziationen : Wonnen des Lakeiendaseins ! Der Speichel rinnt ihm aus dem Mund vor Spannerlust.
Unter seinen Füßen wird es hell, er steht auf einem Rost. Weiß behandschuhte Lakaienhände schieben Holzscheite herein. Gilt es ihm ? Er entsinnt sich gehört zu haben, dass ein Hofnarr lebendigen Leibes ver-heizt wurde in dem Ofen, in den er gekrochen war, um in alle Gemächer ringsum hinein zu horchen. Er sieht Flammen an den Scheitern. Jetzt wird er brennen ! Ein anderer Lauscher hat ihn, den Lauscher belauscht, den Spanner bespannt, und bestraft nun sein eigenes Vergehen an dem armen Hansi. Rauch steigt ihm in den Schlund. Wäre er doch wieder nur ein Bettpfannen schleppender Altenpfleger draußen im Unschuldsland …
Weiß behandschuhte Lakaien ziehen ihn aus dem Ruß.
Zwei Lakaien stellen ihn zwischen sich auf. Man applaudiert. Man applaudiert ihm, dem Gerstl Hansi, weil er so drollig schwarz berußt ist. Am lautesten applaudiert der rote Horsti, sein Veteran, wohl versorgt in einem nun rotsamtenen Rollstuhl. Der Gnom sitzt auf seinem Schoß und schiebt dem Horsti Weintrauben in den Mund, die er sich aus Schüsseln greift, gehalten von grinsenden Mohrenknaben unter weißen Turbanen.
Es ist zur Tafel angerichtet.
Speisen wandern heran durch eine Doppelreihe von Hartschieren, die ihre Hellebarden kerzengerade präsentieren, als hätten sie Order, vor jedem Hausschwein- und Wildschweinkopf einzeln zu salutieren, der da erscheint.
Auf den Speisen schwanken weitgespannte Bekrönungen aus Palm-zweigen, Flaumfedern und Papiervögeln auf Drahtstielen. Ein allge-meines Aaaaah ! begleitet gedämpft, aber lüstern die Prozession, die ihren Weg durch die Reihen der niederen, dann der höheren Hofchargen nimmt. Je höher der Rang, desto begehrlicher das Aaaah !
Schließlich erreicht das Defilée der Schüsseln, Platten, Saucièren und Gemüseterrinen die Tische der Ehrengäste, die sich hier mit ihren Meriten um Industrie, Landwirtschaft, Innen- wie Außenhandel einen Platz erdient haben, untermischt mit Schönen von den Staatstheatern, die ihre Koloratursoprankehlen mit Champagner auf den Schmaus einstim-men.
An der Stirnseite des Saales befiehlt ein Händeklatschen des Zere-monienmeisters den Speisenträgern Halt. Die Hartschiere fällen ihre Hellebarden quer vor die Brust, um die Drängler zu bändigen, die sehen wollen was Regent und Regentin nun aufgetischt wird. Der Monsignore Zirngibl waltet seines geistlichen Amtes und segnet es, was ihn nicht daran hindert, es vorher mit den Augen zu verschlingen.


Auch meinem Kurfürst wurde gesegnet, was er verzehrte. Zuvor hatte der oberste Hofmarschall ihm den Sessel unter den allerhöchsten Podex zu schieben, der zweite Hofmarschall hatte das Tischchen , allein für den Kurfürsten und auf einem erhöhten Postament, vor den allerhöchsten Schienbeinen in die rechte Position zu bringen. Alles à l’ordre wie es auch am Hofe Ludwigs XIV. vor sich ging, wo mein Kurfürst es abge-schaut hatte. Hierauf war es am Obermundschenk, ihm eine Schale Rosenwasser zu reichen damit er die Finger darin tauche. Der Be-ckenmeister legte nun eine Serviette, bestickt mit den allerhöchsten Initialen, in die Hände des Brotaufse-hers, dieser wiederum in die Hände des Hofmeisters, dieser in die des Ober-Hofmeisters, und der endlich in die des Kurfürsten. Der benützte sie, um damit zu fächeln, beiläufig, als wollte er sich eigentlich Kühlung verschaffen. Es war indes das Zeichen für den Gro߬beckenmeister, die Deckel von den Schüsseln zu nehmen, eine um die andere, damit der Kurfürst seine Wahlt treffe unter den aufgetragenen Gerichten. Der Hofstaat, der sich vollzählig einzufinden hatte, verfolgte gebannt das Mienenspiel des Kurfürsten, sein Kauen wie sein Kleckern gleichwie das Kirchenvolk das Hochamt verfolgt, das der Priester am Altar zelebriert. Und wie die Eucharistie war auch die Mahlzeit meines Kurfürsten eine Weihehandlung, und beide ein Akt des geläuterten Kannibalismus, und der Hofkaplan hinter ihm betete den Rosenkranz.
Der Kurfürst sättigte sich im Überfluss, sein Appetit war wie seine Mutter italienisch, er ritt Sturmangriffe auf seinen Magen mittels Gesot-tenem und Gebratenem, er warf, während er sein Gebiss in Kapaune grub, seinen Hofstaat mit Blicken nieder, als ritte er zur Attacke. Er stopfte sich die Tauben, die über allen geflattert waren, auf jedermanns Köpfe herabgemistet hatten, alleine in den Mund. Es war an ihm, dem Größten des Landes, die größten Portionen zu verzehren und in seinen allerhöchsten Magen zu kommandieren, was seine Bauern, Gärtner, Jäger und Pastetenbäcker erwirtschaftet hatten. Er war das allerhöchste Maul, os altissimus, wenn er speiste, aß Gott mit, verdaute Gott mit, und dann schiss er im Namen Gottes auf sein Volk.

Der Gnom bindet dem Regenten eine Serviette um, streicht sie glatt. Es wird gepfiffen, anfeuernd : auf geht‘s ! Der Regent nimmt nur ein Häppchen. Dem Regenten, jeder weiß es, ist Schonkost verordnet. Die Regentin nimmt noch weniger, und die Regententochter weist jede Speise von sich. Nun wird nicht mehr nur gepfiffen, sondern auch gejohlt. Man weiß, dass es nun an der Zeit ist, dass der Gnom die Speisen die in des Regenten Küche zubereitet worden sind, ins Publikum wirft.
Geschubse um günstige Fangpositionen, wieder Pfeifen, noch mehr Johlen, die Hartschiere müssen mit ihren Hellebarden gröbere Raufhän-del schlichten, und der Gnom wirft.
Erst das Gebratene und Gesottene, dann die Beilagen, Salate und Soßen. Das Volk schaufelt, wickelt in mitgebrachte Plastiksäckchen, versorgt die größeren Happen in Stanniol und fällt Musiges und Soßiges in Plastik-be-hälter um. In der Kantine, im Freundes- und Familienkreis wird es wieder ausgepackt werden und als Trophäe dargereicht.
„Ihr glaubt nicht, wo ich das her hab !“.

So lange der Kurfürst an der Tafel saß, hatte tiefstes Schweigen zu herrschen. Die Musici, die ihm zur Tafel aufspielten, hatten sein Schna-bulieren zum Hochamt zu verklären. Ich beobachtete beifällig, wie die Musici das Kauen des Allerdurhlauchtigsten in ihren Rhythmus zwangen, ihre Glissandi sein Schmatzen vereinnahmten, ihre Ostinati sein Schlür-fen veredelten. Wie er sein Gemampf unterbrach beim Oboen-Solo und seine Gabel dann umso wollüstiger ins Reh-Filet fuhr beim Tutti.

Beim Mahl des Regenten gibt es keine Tafelmusik und kein Orchester. Aus einem Lautsprecher scheppern volksnahe Märsche, Blas-kapellen bieten Querschnitte aus Oper, Operette, Musical dar und vier-schrötige landeseigene Tänze, versetzt mit Werbe-Einschüben, in denen die Produkte der großherzigen Erzeuger aufgezählt werden aus denen das Regentenmal zubereitet worden ist..
Wenn der Gnom auf der Tafel entlang trabt, drohend und bramar-basierend, identifiziert er jede Nation, noch ehe einer von den Gästen den Mund aufmacht.

Nationen wandeln sich nicht, Kostüme schon. Naturell wandelt sich nicht, nur die Konvention. Etwa die Eigenheit der Briten und Holländer, mich nach Brocken springen zu lassen wie einen Hund ist noch immer die selbe wie zu des Kurfürsten Zeiten. Die Eigenheit der Franzosen, einen komischen Degenkampf mit mir in Szene zu setzen : mein Degenlein gegen ein Obstmesserchen aus dem Gedeck, das ihnen vorgelegt worden ist. Sie wählen das kleinste aus, damit ihre gespielte Angst umso mehr Effekt macht, wenn ich mit meinen Degen pariere. Die Eigenheit der Skandinavier, pikiert über mich hinweg zu schauen und untereinander zu flüstern, wie geschmacklos es doch sei, mich armen Verwachsenen den Hanswurst spielen zu lassen.
Denen tue ich heute wie damals den Tort an, Eierlikör in ihre Schuhe zu schütten. ( Da sie, heute wie zu Zeiten des Kurfürsten, dicke Woll-socken tragen, merken sie es erst auf dem Nachhauseweg ).
Und erst die Eigenheit der Spanier und Italiener, mir vor den Damen zwischen die Schenkel zu fassen und quer über die Tafel zu fragen, welch winzige Crevette da unten festgewachsen sei und ob die Damen nicht lieber ihren Hummer, den der Fragenden in Augenschein nehmen wollten.
Nicht nur die Einwohner meiner Monarchie sind das Grauen.

Es wurden siebzehn Quadratmeter Stoff aus der Livrée des Riesen geklaut. Siebzehn Quadratmeter abgängig wird dezent ins Protokoll ge-schrieben, dazu dreizehn Meter Goldlitze, 867 Knöpfe und 167 Ösen und 32 Reißverschlüssen.
„Das ist nicht mehr als der übliche Schnitt“.
Man protokolliert ohne Verurteilung und Verbitterung. Die mit Ta-schenmessern aus dem Innenfutter herausgesäbelten Quadratmeter sind noch zu ermitteln. Die Sponsoren werden die Schäden ersetzen, schon durchklettern ihre Spezialmannschaften die Garderobe des Riesen und sorgen für Ausbesserung und Aufbesserung. Der Riese ist rundum schad-haft, wer wüsste es nicht, er ist eine wandernde Ruine, ein Terrarium auf zwei Beinen, und trotzdem ein Ausstattungsstück, zu dem das Erlesenste beizusteuern der vaterländischen Wirtschaft sich die Ehre gibt.
Nach der Reise, beim Diner in der Residenz wurde weit herzhafter zugelangt. Auch hier sorgen die gewissen hochmögenden Kreise für Er-satz, einer behält den andern im Auge in puncto Spendabilität.
„Passt auf, dass die nicht Talmit unterjubeln, sondern solide Ware. Hof-haltungswürdig ! Nicht Alpaka, sondern Silber ! Feingehalt nicht unter 0,8.“
Die Residenz mit ihren Hintermannschaften ist ihrer Reprä-senta-tionspflicht allerhand schuldig. Die Hintermannschaften und die, die noch weiter hinter ihnen stehen, genießen dass sie prunken dürfen und ihre bunten Steinchen ins große Mosaik mit einkleben. In der Pracht, die sie entfalten, huldigen sie sich selbst. Die Hofhaltung, und auch der Riese strotzen von Firmen-Logos.
„Weitere Posten auf der Mängelliste, ehe sie geschlossen wird ?“
Dem Monsieur de Cuvilliés ist wieder einmal der Zopf seiner Perücke abgeschnitten worden. Erst hier wird gegrinst. Das Zopfabschneiden beim Gnom gehört zu den erlesensten Abenteuerchen, die das Staatsvolk schleckrig machen. Ein Rotzlöffel-Frevel, nach dem es jeden im Lande juckt obwohl oder weil er strengstens geahndet wird.
„Schluss des Protokolls. Fazit ?“
„Dieser Aufwand jedesmal bei den Auswärtsreisen !“ wird pflicht-schuldigst gemosert. Eigentlich unverantwortlich. Allein in diesem Mo-nat Schrobenhausen, Neu-Ulm, Treuchtlingen, Hassfurt. Schlägt denn das zu Buche, steht denn das dafür ? In der Privatwirtschaft hätte man doch längst…
„Wir sind hier nicht in der Privatwirtschaft !“ wird pflichtschuldigst dagegen gehalten, wir sind das Elitekommando, das die Gallionsfigur der Monarchie zu manövrieren hat.
„Wie der Bucintoro seinerzeit beim Dogen von Venedig.“
Weithin sichtbar, weithin beeindruckend, weithin Glanz verbreitend. Wer da Knausertum an den Tag legt, unterhöhlt die Regentschaft. Aber man bedenke, wird den Entgegenhaltern entgegen gehalten, wir Firmen, die den Staat ausmachen, ja die der Staat recht eigentlich sind, die ihre Spitzen umschichtig an den Hof delegieren und damit der Hof ist was er ist –
„Wir dürfen auch Output erwarten.“
„Output ?“
„Glanz und Gloria in der Bilanz. Rückwirkungen auf unseren Umsatz.“
Nur weil es zum guten Ton gehört für die crême de la crême, sich kostbare Arbeitstage lang vom Riesen über Land tragen zu lassen.
„Wo notabene auch die Konkurrenz ständig mit an Bord ist ! Das stellen Sie mal in Rechnung !“
„Für die Monarchie heißt Opfer bringen und nicht froschherzig beziffern.“
Beziffern ? Die Vereinigte Elektro-Union, mit 24 Planstellen in der Hofhaltung, aber nur drei davon letzthin per Riese unterwegs. Schlottfe-ger Milch AG dagegen mit elf !
„Dabei sind wir es doch, und nicht Schlottfeger, die den Riesen – „
„Halt mal stopp ! Bei den Finanzen für den Riesen sind eindeutig wir mit acht zehnteln vorn.“
„74 Prozent fallen ja allein schon auf uns !“
„Jedenfalls von den Knöcheln aufwärts bis zu den Knien. Das ganze Geläuf. Und dafür werden wir mit einem Platz im Hosenbund abgefun-den statt in einer Brusttasche.“
„Meine Rede. Und unser Unternehmen mit x-beliebigen Fahnen-weihen im Hinterland" knottert ein anderer und schnickst mit den Fingern auf seine Fang¬schnüre ( es sind silberne ) um seine Stellung in der Rang-ordnung zu unterstreichen.
Es sei doch, wendet der Proto¬kollführer ein, für das gesamte kom-mende Halbjahr sei keine einzige Fahnenweihe eingetragen, und schiebt seine Fangschnüre ( bei ihm sind es goldene ) beiseite, um im Hof-Kalen-darium zu blättern. Lediglich kurz nach Ostern sei eine Vormer-kung berücksichigt von seiten der Katholi¬schen Gesellenvereinigung Din-golfing, deren neue Fahne -
"Ja, müssen wir denn jetzt schon bei jedem Schrebergarten¬verein an-tanzen“, echauffiert sich ein anderer Silberbeschnürter und wirft in die Runde, der Glanz des Hofes werde verschlissen durch inflationäres Bussibussi mit Krethi und.Plethi. Und wo denn da die Grenze zu ziehen sei, beschwert sich ein weiterer Silberbeschnürter, zu einem drittklassi-gen Wanderzirkus.
„Wanderzirkus !“ wird gegrummelt, „Wanderzirkus !“
Die Herren, lächelt der Monsignore Zirngibl, verkennten offensichtlich die Pflichten der Hof¬haltung, der anzugehören sie die Ehre hätten.
"Ehre, ich höre immer Ehre ! Er¬kundigen Sie sich lieber, was unsere Firma da reinbuttert!"
Sehr wohl : Ehre, beharrt der Monsignore, und die Schuldigkeit oben-drein, den Glanz der Monarchie hinaus zu tragen in die Provinzen, das Staatsvolk gleichsam zu umarmen mit goldenen Armen, und gleichzeitig der Grandeur Ludwigs des XIV., des Sonnenkönigs. Und nicht mit der Herablassung gegenüber der brei¬ten Masse wie sie in einigen anwesenden Herrschaften niste. Die durch ihre ebenso breite plebiszitäre Zustimmung zur Monarchie das Vorhandensein dieser Hofhaltung schließlich und endlich doch erst ermöglicht habe. Dafür ( und jetzt nennt er die Be-schwerdeführer sogar Kindlein und grinst dazu ) gelte es etwas zutiefst Christliches abzutragen.
„Nämlich eine Dankesschuld".
"Ich hör wohl nicht recht ! Dankesschuld !" speit da der erste Sil-berbeschnür¬te, "wer hält denn dieses ganze Spektakel hier am Leben, wer fühlt sich denn sogar noch gebauchklatscht dass sein Umsatzplus hier umgesetzt wird in Samt-Dekorationen und Zierdegen und Tafelsilber und Lakaiengewimmel noch und noch !“
Aber Zirngibl bleibt beim Grinsen : man möge doch eine einzige Unternehmerpersönlichkeit nennen, eine einzige nur, die gezwungen wer-de, ihr Scherflein beizusteuern ! Er nimmt tatsächlich das Wörtchen Scherflein in den Mund, die Großfinanzer sehen ihre Millionen-Zuwendungen verlästert durch diesen schmierigen Pfaffen, schänderisch herabgemindert zu elenden Kupfermünzen. Immer mehr Beschwer-deführer verfallen beim Schreien in ihr heimatliches Idiom, wenn sie ins Feld führen, dass sie längst schon aus dem seiner Kirche ausgetreten wären. Wenn es in dieser Monarchie denn gestetzlich möglich wäre !
Es wird mittelfränkisch geschrien, oberpfälzisch beschuldigt, augsbur-gisch angeklagt, chiemgauerisch gewehklagt, und höfliche Schicklich-keit oder höfische Distinktion ist eh nie anwesend gewesen. Grob lands-mannschaftlich Lästerworte treffen in landsmannschaftlich wunde Ziele, werden als Wurfbrocken grimmig und immer grimmiger zurück ge-schleudert, und sogar der Monsignore muss zugestehen, selbst der Erz-engel Gabriel wäre nicht imstande nachzuholen, was hier diesem und je-nem an Kinderstube fehle. Wenn das Volk jetzt und hier Mäuschen sein könnte ( es werden die ersten Hof-Uniformen abgelegt ) und mitbekäme, wie der Hofstaat sich aufführt ( hier werden Perücken herunter gerissen und in die Hosentaschen gestopft ) ! Man denke doch einmal ans Ausland ! ( Hier werden Flügeltüren zuschlagen )
Und erst die Norddeutschen ! Aber das hört niemand mehr.
„Baraber…“
Monsignore Zirngibl wird das Murren weiterleiten an das Große Konsortium. Zirngibl, die geflüsterte Glättung der Wellen in Person, ehe sie zu Sturmwogen werden. Zirngibl, das stets geöffnete Ohr der Monarchie, hat auch das Ohr der Mächtigen, die über ihr stehen.

6. Kapitel
in dem wir zur Nachtzeit eine ganz gewöhnliche Existenz durch die Herzkammer der Monarchie begleiten

Kirchseeon. Eglharting. Zorneding.
Da steigen die von der Papierfabrik in die S-Bahn zu, die haben bereits Dienstschluss. Amplinger dagegen ( Baldham, Vaterstetten, Haar ) hat seinen Dienst erst noch vor sich.
Und der beginnt ( Gronsdorf, Trudering ) erst nach dem Feierabend der anderen. Berg am Laim, Leuchtenbergring. Ostbahnhof. Die fahren heim und vor die Glotze. Amplinger muss ausrücken und keine Glotze erwartet ihn. Rosenheimer Platz. Isartor.
Eine verkehrte Arbeit. Ein verkehrtes Leben. Das Umkehrbild zum Leben der anderen.
Marienplatz. Bitte aussteigen in Fahrtrichtung rechts. Er steigt in Fahrtrichtung rechts aus. Er geht die letzten paar hundert Meter zu sei-nem Arbeitsplatz zu Fuß. Schon etwas pendelnd, denn er ist seit vielen Jahren im Austrag. Er sperrt seinen blechernen Spind auf mit der regierungsamtlichen Nummer 1472, jedes Jahr wird die Nummer aufs neue überprüft und aufs neue registriert. Von grau Bekittelten die sich gerieren, als hätten sie selbst blecherne Registriernummern in der Nasen-scheidewand und zur Sicherheit auch noch hinter dem rechten Ohr. Er zieht seine graue Uniform an. AMPLINGER steht innen im Kragen, damit er auch weiß wie er heißt und tritt durch die Eisentür, die nur für ihn bestimmt ist. EINTRITT FÜR BEFUGTE steht darauf. Amplinger gehört zu den Befugten. Es wird den befugten Amplinger niemand mit diesem seinem Namen anreden die ganze Dauer seines Dienstes lang. Denn sein Dienst ist von wortloser Art, zu verrichten in farbloser Montur, die den Befugten Amplinger zu seiner Zufriedenheit unterscheidet von den Schwarzen Sheriffs, die da drüben die U-Bahn bewachen.
Wimmer : alle die sonst im öffentlichen Dienst befugt sind, einen grauen Dienstkittel zu tragen, die sie aus einem blechernen Spind mit einer amtlichen Nummer nehmen, heißen seit Menschengedenken Wim-mer. Wimmers verwalten Regale in tiefen Kellern, Archive, Material-lager, selten führt der Dienstweg sie ans Tageslicht, auch wenn sie dazu befugt sind. Die Wimmers. Die Grottenolme des Fiskus. Sie stehen weit hinten im Alfabet, so viele ihrer auch sind. Amplinger kommt ganz vorne, wenn es zu irgendeiner Art von Appell kommt. Beim Militär. In der Volksschule. Im Dienst. Im Sterberegister. Das erfüllt Amplinger mit einem gewissen Hochgefühl. Seinem einzigen Hochgefühl. Der Kollege, den er eben abgelöst hat, heißt Wimmer.
Jetzt dreht sich das Zifferblatt vom Ende wieder zum Anfang, vom W zum A, und Amplinger ist der Herr dieser Nacht.
Erster Rundgang. Drei Touristen haben im roten Kabinett haben die Schildchen nicht gelesen, die die Schließungszeiten anzeigen. Nun sitzen sie im Dunkeln ohne Speis und Trank und brüllen. Amplinger, der Amtliche, steht ihnen grade dafür dass man sie, die Eingeschlossenen ohne Trinkwasser, Trost und Atemluft gelassen hat. Sie werden sich beschweren, dass es nur so funkt. Und dazu ist ihr Bus längst über alle Berge, dafür steht der Amtliche auch grade. Amplinger. Und was ist das für ein Geschlader aus seiner Thermosflasche, ohne Zucker, wo sie doch drauf gebaut haben dass eine gut sichtbare Vertrauensperson ihnen vorne-weg geht und ein Fähnchen hochhält, hat man ja auch gelöhnt für, und man dackelt treusinnig hinterher. Hinterherdackeln ist das einzigste an Leistung wo ein Tourist zu erbringen hat, dem Fähnchen folgen und dem Fähnchen folgen egal wo hin auch immer.
„Aber dann mittenmang fällt ne Tür ins Schloss und man is allein und am Verhungern und zu Hause ahnen sie nich
mal was von“.
Seitdem Amplinger verwitwet ist, hat er keine Zweisamkeit mehr. Die quengelnden Touristen sind nun seine Zweisamkeit. Amplinger ver-füttert seinen Vorrat an Streichwurstbroten an sie.
„Ham sie nich was Frisches, Salat, oder ne Gurke wenigstens ?“
Und als sie alles weggeschlungen haben : “Nur so ne magere Stulle für drei, denkt die Verwaltung überhaupt nich an uns Gäste ?“
Und wer hat überhaupt dieses unverschämt Chaoslabyrinthige ange-richtet hier in der Residenz ? Her mit dem Verantwortlichen !
„Sie grauer Mensch, Sie haben uns Weg und Steg zu weisen ob hier überhaupt noch ein Fluchttor offen ist für ahnungslose Besucher von außerhalb.“
Amplingers graue Geduld ist schrankenlos, als hätte er einen Eid darauf abgelegt wie auf die Verfassung. Dabei gibt es doch eine Verfassung schon lange nicht mehr.
Ein Alarm schrillt. Einer, den er erst aus einer Samtportiere schälen muss, führt Klage, ihm sei der Gesandtenposten in Dublin versprochen worden und er warte auf seine royale Ausstaffierung. Amplinger, Enthusiast der höfischen Etikette, überlässt dem angehenden Diplomaten den Vorhang, aus dem er ihn gerade befreite, damit er wenigstens beim Neujahrsempfang des päpstlichen Nuntius repräsentabel gekleidet sei. Als Amplinger ihn, noch immer samt Portiere, sanft eine Treppe hinunter rollt, dampfen Bier und Malzwhisky aus dem künftigen Gesandten. Sein Schlund ist bereits in Irland, auch wenn seine Bestallung noch auf sich warten lässt. Amplinger droht er aber schon einmal diplomatische Verwicklungen an, Kanonenboot ! Landung der Marine-Infanterie ! ist der Wachmann doch die einzige offizielle Person von Hofe, die sich hat blicken lassen.
Amplinger setzt sich in sein Wachstübchen, schraubt seine Ther-mosflasche auf. Leer bis auf den Grund, er hat den Inhalt ja weg-samaritert an eine Laufkundschaft, der er kein Trinkgeld wert war. Leer auch seine Brotbüchse, auch dafür kein Trinkgeld. Am Ölsockel der Wände, grau wie er selber, zeichnen sich die braunen Fettmarken der Kollegen ab, die hier ihre Dienstruhe absitzen. Ihr Atem hängt im Raum, wie ihr Zigarettenqualm. Lauter Orienttabake. Das Öffnen von Fenstern ist einem Wachmann ein Graus. Amplinger schlägt die Mitteilungen für die Angehörigen des Wach- und Schließdienstes auf. Die Betriebszeitung. Familiäres Behagen umfängt ihn in seiner Einöde.
„Am 11. Juni lief um 0.32 Uhr in unserer Notrufzentrale ein Alarm ein, der in einem Getränkeabholmarkt in Pasing ausgelöst worden war.“
Er liest, als läse er denen vor, die nicht mehr da sind und verscheucht dabei mit der Hand ihren Orienttabakstinke.
„Die vom Diensthabenden Rödl zum Objekt beorderten Alarmver-folger Bergmeier und Nägler trafen bereits 12 Minuten später dort ein. Beim Ableuchten des Geländes konnte hinter einem Gestrüpp ein Täter gestellt werden. Der zweite konnte dann in den Geschäftsräumen aufge-stöbert werden, wo er versucht hatte sich hinter einem Regal zu ver-stecken.“
Waghalsige Abenteuer, wie Amplinger sie auch für sich herbei-wünscht. Um ebenso belobigt zu werden in der Betriebszeitung. Und diese dann nach Hause tragen nach Kirchseeon. Schau Anna, sie haben mich abgedruckt.
Und Anna wird ihn tadeln, weil er auf dem beigedruckten Foto so dienstgrimmig dreinschaut. Und wird dann doch voller Stolz, von dem sie ihm aber nichts mitteilen wird, die Notiz mit der Nagelschere ausschneiden und in das Oberlicht des Küchenbüfetts stecken. Hinter die Scheibe versteht sich, damit der Küchendampf ihr nichts anhaben kann. Und dann wird sie Krautwickel kochen ihm zu Ehren und sich nächtens beruhigt neben ihn schlafen legen in der sicheren Erwartung dass er jederzeit aus dem Bett springen wird, um für sie hinter Regale und Gestrüppe zu leuchten. Josef Maria Amplinger, der Held von amtswegen, der stets auf Posten ist.
Aber in Kirchseeon wartet keine Anna auf ihn, die das Auf-demPostensein von ihm verlangte. Jedenfalls nicht in der Wohnung, son-dern auf dem Friedhof. Und der Katze seine amtlichen Heldentaten vorle-send zur Kenntnis zu bringen findet er dann doch nicht angebracht. Er würde ihren vorwurfsvoll mokanten Blick nicht ertragen, zumal er diese Heldentaten noch nicht einmal begangen hat. Die Katze würde ihn an-schauen mit Annas Augen.
Amplinger, den Held des Diensttippelns. Den Weltmeister des Auf-der-Hut-Seins. Den unablässig dahinzottelnden Krieger gegen Einstieg-diebstahl, geöffnete Oberlichter, ungelöschte 25-Watt-Lampen, Zugluft und glühende Zigarettenkippen. Den Heiligen Antonius der herrenlosen Schirme und Brillenetuis. Das perpetuum mobile des Augenoffenhaltens.
Amplinger begibt sich auf den zweiten Rundgang.
Am selben Tisch wie stets sitzt einer im Kürass, der seinen Namen vergessen hat, den Rautenhelm auf den Hinterkopf zurückgeschoben, über seinem Schachspiel aus Schädelsplittern. Seine eigene Fahrigkeit reißt ihm die Aufstellung immer wieder nieder, er richtet sie geduldig immer wieder auf. Zuweilen fällt ihm dabei ein eigener entfleischter Fin-ger aufs Brett, oder ein Mittelhandknochen. Er baut ihn ins Spiel ein als Läufer oder Turm. Er spielt stets gegen sich selbst und verliert immer. Verbittert von seinen immerzuigen Niederlagen erwidert er niemals den Gruß Amplingers, der seine Dienstmütze zieht.
„Habe die Ehre, königliche Hoheit…“ Amplinger verschleift den Grußzu einem Hawwedieaääääääääääääääääh.
Hinter einem Pfeiler wird Amplinger von König Ludwig III. erwartet. Graubärtig, kurzsichtig, mit verknautschter Ordensschärpe. Ob die Revo-lution nun vorbei sei will er wissen, ob vor der Residenz noch Rote stünden will er wissen und ob er morgen früh seine Amtszimmer wieder beziehen könne, unbedroht durch Heckenschützen. Amplinger sind derlei Auskünfte streng verboten. Auch die Schließanlage zur Vitrine mit den Kronjuwelen darf er nicht ausschalten, so sehr der letzte Wittelsbacher Monarch ihn auch darum anfleht. Wo der doch nur das Diadem seiner Therese küssen will, ein allerletztes Mal.
„Von ganz oben untersagt, Majestät.“
Wo sie doch Witwer seien alle beide. Und ob Amplinger seinen König nicht mit zwei, drei Pistolen versorgen könne, damit der aus den Fenstern der Residenz das Feuer der Revoluzzer endlich standesgemäß erwidern könne. Aber Amplinger muss, im Weitergehen, dienstlich harthörig blei-ben.
„Strengstes Verbot, Majestät. Von ganz oben.“
Der König ruft ihm eine namhafte Summe hinterher, die sich steigert, je weiter Amplinger sich entfernt.
„In kaiserlicher Währung, inflationssicher ! hört Er ?“
Und auszuhändigen als allererster Zahlungsvorgang, sobald der Mo-narch endlich wieder Herr seiner Privatschatulle ist.
„Strengstes Verbot passiver Bestechung, Majestät ! Von ganz oben.“
Vorbei nun an verschlissenen Kurieren die in Goldrollen verpackte De-peschen für dahingeschiedene Würdenträger von Nirgends nach Nir-gendwo expedieren, vom Nichts ins Nichts, vorbei an einem masturbie-renden Kurfürsten, der durch einen Vorhang eine unverheiratete Prin-zessin aus einer Seitenlinie beobachtet, die sich ihrer Abendtoilette hingibt und so tut, als nehme sie ihn nicht wahr, obgleich der Vorhang schon seit den 1740er Jahren nicht mehr dort hängt.
Diese beiden hat Amplinger besonders in sein Herz geschlossen. Sie behelligen ihn niemals mit Aufträgen. Niemals muss er gegen einen von den Besuchern einsehbaren Geschlechtsverkehr einschreiten ( der nicht mehr vorhandene Vorhang trennt sie zuverlässig ) oder Streithändel zwi-schen ihnen schlichten wie zwischen einem Minister für Militärwesen der um 1840 amtiert hat und dessen Vorvorgänger, dem er bereits ein dutzendmal den gezücktem Degen entrissen hat und seinem Widersacher die ge-schwungene Weinkaraffe mit der in den Boden eingravierten In-ventarnummer Napoleons.
An den Wänden des Wachstübchens kleben die Ansichtspostkarten aus glücklichen Zeiten, Zeiten außerhalb dieses Dienstraumes, geschrie-ben von Reisenden, die alle schon das Zeitliche gesegnet haben. Mit den Schauseiten nach vorne, lauter kleine Fenster durchbrechen in die Ferne den grauen Ölsockel. Zum Gardasee, nach Zandvoort an Zee, zum Neusiedler See, nach Istrien und zum Schlern, und ein ganz Verwegener hat sich gar bis Kenia vorgewagt. Ein Wachmann reist von Natur aus nicht ins Weite. Sein Feld ist der allerengste Umkreis. Eben das Be-wachbare, das Wach-Revier, soweit es auf zwei Beinen zu umrunden und mit zwei Wachmänner-Augen im Auge zu behalten ist. Amplinger kennt alle die fernen Orte nicht, von denen die bunten Postkarten behaupten dass es sie dennoch gibt. Amplingers Traum vom Reisen erfüllte sich stets darin, sonntags mit seiner Anna zwei Kilometer zwischen Kartof-feläckern entlang zu wandern. Die grünen Linien der Aussaat gab ihnen die Richtung vor und sie bemüßigten sich, ihrer Wegweisung zu folgen, immer geradeaus.
Um dann von der Brücke über die Autobahn aus den Automobilen nachzusehen, die in den Urlaub strebten oder aus dem Urlaub zurück kehrten. Und mit Anna deren Woher und Wohin zu erraten. Die auf die Dächer geschnallten Ladungen lieferten ihnen bedeutsame Hinweise, die hinterwärts aufgepackten Fahrräder, sogar das Fahrtempo : ein gemäch-liches legte das benachbarte Salzkammergut nahe, Raser hatten Weit-Ziele im Auge, Sizilien oder den Balkan. Und wenn Amplinger mit Anna ihre zwei Kilometer zurück stapften, wieder geradeaus zwischen Kartof-feläckern, waren sie voller ausgeborgtem Heimkehrglück, als wären sie selbst auf dem Peloponnes gewesen oder an der Côte d’Azur.
„In einem von uns betreuten Mode-Center in Schweinfurt“ weiß das Betriebsblättchen „flüchtete ein Einbrecher vor unserem Wachhund in eine Toilette, welche er hinter sich verriegelte“.
Unserem Wachhund ! Ein Gran Stolz wandelt auch Amplinger an. Er ist Teil einer Gemeinschaft, die bei der Feldschlacht zwischen Recht und Unrecht nicht nur das Sittengesetz, sondern auch die Schäferhunde an ihrer Seite weiß, die Edelleute unter den Vierbeinern.
“Als der Täter aus dem Toilettenfenster ca. 4 Meter in die Tiefe sprang, konnte er von den Kollegen Hastreuther und Lipinski überwältigt wer-den.“
Der Wachmann als Engel mit dem Flammenschwert. Selbst im Renten-alter überwältigt er noch. Beim Zusammenfalten, denn gleich wird er seinen dritten Rundgang aufnehmen, streift Amplingers Blick die letzte Seite.
„Wir nehmen Abschied von unseren Kollegen“ steht dort fettgedruckt. „Herr Johann Hierlinger diente unserem Unternehmen umsichtig und zuverlässig 16 Jahre. Er hinterlässt keine Erben. Herr Hastreiter, Sieg-fried, verwitwet, war neun Jahre in unserem Unternehmen und der gesamten Kollegenschaft ein Vorbild. Seine Gattin und unser Unter-nehmen trauern um Herrn Otto Neugebauer, der am 4.8. in seiner Dienst-stube bei den Metallwerken Botz & Söhne sanft entschlafen….“
Und so fort und so fort, dreiundzwanzig Zeilen lang. Der längste Beitrag im Heft. Für Wachmänner ist kein anderer Hinterausgang bestimmt als der Tod. Das Wachmanndasein ist die letzte Treppenstufe hinunter ins Grab.
Auf seinem dritten Rundgang hört Amplinger aus einem Gemach ein vertrautes Geräusch. Es wird gegen Metall geschlagen. Der erste Kur-fürst, vor einem Kruzifix kniend, geißelt sich wie in jeder Nacht. Oder doch das, was von ihm noch übrig ist und an seinen Gebeinen hängt, zusammengehalten nur noch von seiner schweren Rüstung. Und die eben peinigt der Kurfürst seit dreihundert Jahren. Aber die Schrunden und Kerben auf der Rüstung sind die aus den ersten hundert Jahren Geißelung, als der Kurfürst noch bei Kräften war. Die späteren Streiche fielen so matt nieder wie von einer Wollkordel, bis heute.
„Deus absolvo me“ stöhnt er, „misericordia deus absolvo me“.
Und, als er Amplingers ansichtig wird :“Steh mir bei, Menschenbruder, wenn du barmherzig bist !“
Der Kurfürst will dem Wachmann den Peitschenstiel aufdrängen.
„Züchtige mich weiter, züchtige mich damit Gott mich freispricht endlich und ein Erbarmen hat“.
Aber dem Wachmann ist jegliche Einmischung in herrscherhäusliche Privatbelange strengstens untersagt. laut Dienstordnung, er hat nur eine geruhsame Nacht weiterhin zu wünschen und seinen Rundgang abzuwi-ckeln. Beim Weitergehen überlagert das Geräusch seiner Sohlen auf dem Marmorboden die Hiebe des Flagellanten und sein verlassenes Gerufe „Steh mir bei, Menschenbruder steh mir doch bei, steh mir...“
An Amplinger vorbei rast etwas gegen die Mauer, flink wie ein geworfener Stein, und klatscht so ungestüm und hart gegen den Verputz, dass es vom eigenen Aufprall zurückgeworfen wird und die Mauer bröselt. Amplinger will das Rasende aufhalten, den Rasenden, den Irrsinnigen. Jede Nacht ist Aufhalten Amplingers erster Impuls, aufhalten und bewahren vor dem nächsten Anprall, der unweigerlich folgt, vor dem nächsten Schmerz, vor dem nächsten Schrei.
Und sich den nächsten Schrei des Irrsinnigen ersparen, das nächste Splittern im Schädel König Ottos. Aber es ist ihm untersagt : keine Einmischung ins herrscherhäusliche Private.
Der Irrsinnige umklammert ihn, nun ist es Amplingers Schädel, den der Irrsinnige gegen die Mauer rammen will. Der König ist kräftig, kräftiger noch als sein Bruder Ludwig, der den Professor Gudden im Starnberger See ertränkt hat.
„Ich ramme mit deinem Schädel die Mauern nieder, in denen sie mich gefangen halten !“
Wenn Amplinger nicht los kommt, wenn er seine Kontrolluhr nicht sticht, die gnadenlos elektronische Aufpasserin nicht beruhigt Wachmann 104 auf Rundgang keine besonderen Vorkommnisse dann werden binnen kurzem drei Streifenwagen Polizei in die Residenz stürmen.

Die Szene zwischen Amplinger und König Otto wird von Kontrollkameras erfasst. Weitergeleitet. Gespeichert. Analysiert. Bewertet. Eingeordnet. Die zusammengeschalteten Rechner des Großen Konsor-tiums haben ihren Dienst aufgenommen wie jede Nacht. Freigestellt von den Aufgaben, die ihnen ihre Betriebe tagsüber abverlangen, sind sie nun zu der Einheit verschmolzen, die das Los des Landes bestimmt, seitdem sich jede Staatlichkeit aufgelöst hat und alles Administrative in die Obhut des Großen Konsortiums gelegt worden ist.
Die Rechner prüfen das Wachstum der Branchen an diesem vergan-genen Tag, die Verfehlungen wie das Wohlverhalten jedes Einwohners und ob der Gemeinde Oberelsbach im Kreis Rhön-Grabfeld ein zweites Sprungbrett im Schwimmbad zugestanden werden soll. Auch den Bürgermeister überprüfen sie, der diesen Antrag eingebracht hat, alle Bürgermeister über-prüfen sie, Tankwarte und Geistliche, den Pfleger Gerstl und den ehemals roten Horsti, die Mitglieder der Blaskapelle, die auf der Festwiese ge-spielt hat, von der Tuba bis zum Aushilfsbläser an der Zugposaune, den Trophäensammler, der dem Gnom den Zopf abgeschnitten hat, die Be-sucher der Residenz und die Eltern der Kinder die dort in Hängematten geschaukelt haben.
Und Josef Maria Amplinger, den nächtlichen Hüter dieses Wundermaschinenparks. Die Großrechner sind unbestechlich. Die Groß-rechner sind allverantwortlich und alldurchschauend. Was der vom Kon-zern A nicht im Visier hat, nimmt sich der vom Konzern B vor. Sie be-trachten jede Person im Lande, sie wägen jedes Geschick im Lande und lassen es, so es denn die höheren Interessen erfordern, zum Schicksal werden oder ins Nichts laufen. Jeder Untertan der Monarchie wird von ihnen zu der ihm möglichen Vollendung geführt, jede Biografie ist in ihnen aufgehoben. Aufgehoben im doppelten, im Hegelschen Sinne , und wenn sie entscheiden, dass ein Untertanen nicht mehr nutzbringend ist, wird er noch in dieser Nacht abgeschaltet.

Der Gnom lächelt, wenn er Amplinger das Blut von der Stirn wischt.
„Je vous assure, ich habe nicht bezweckt, dass Ihre Hirnschale platzt.“
König Otto ist so stark wie wahnsinnig, und Amplingers Kopf kein Lederball. Jedesmal wenn Otto ihn gegen die Wand rammen will, be-neidet Amplinger die Schwarzen Sheriffs drüben in der U-Bahnstation. Die haben sich bloß mit Betrunkenen herum zu rangeln.
„Mais considerez, mon chèr, Sie wirken mit in einem erlesenen spectacle“ lächelt der Gnom weiter.
„In einer Darbietung, die ich arrangiert habe. Moi, le premier archi-tecte und directeur über alle Gebäu und Lustbarkeiten ! Darum hat die
Darbietung eine amüsantere Fallhöhe als das Herumgeschubse mit ir-gendwelchem ordinärem Plebs der nur vollgesoffen ist mit ordinärem Bier.“
Amplinger, der Gewissenhafte, bleibt in Meldehaltung. Die Residenz sei ein einziges Tohuwabohu, meldet er. Wie soll ein so Gewissenhafter wie er, Wachmann 104, der sogar sonntags am liebsten schnurgradeaus wandert, da Aufsicht führen !
„Oh lala - Tohuwabohu, quel mot superb ! Eine einzigartige source de la fantasie ist das. Aus dem Tohuwabohu heraus geht, nein : springt un-gezügelt hervor, was erst Form werden soll. Tohuwabohu, das ist die Materie noch bevor ein Anfang gewesen ist. Tohuwabohu, das ist – „
Das Wort gefällt dem Gnom, er wirft es vor Freude glucksend gleichsam in die Höhe, betont es mal vorne, mal hinten, aber immer französisch. Dabei klebt er Amplinger ein Heftpflaster auf die Stirn. Er kommt nicht damit zurecht, zu seiner Zeit verwendete man Leinenstreifen als Wundverband, und Leinenstreifen lassen sich trefflich arrangieren, lassen sich kreuz und um den Blessierten winden und ihn solcherart verzieren, und der Gnom müht sich nun, dem Heftpflaster ein Gleiches abzuzwingen. Längst bedecken die rosa Streifen nicht mehr nur die Wunde an Amplingers Kopf, Ornamente schwingen sich über Amplin-gers Jochbein zu Amplingers Nase und zu Amplingers Ohren.
„Tohuwabohu, mon chèr, das ist das Gebrodel das da war ehe irgend ein Gott da war. Oder sonst irgendein createur, der hinein gegriffen hat in das Gebrodel und der daraus Gebirge geknetet hat und Wasserfälle und Nashörner und alle diese figures de décoration. Le premier artiste eben. Ich meine Gott.“
Und er, das faltige Männlein, ist nun hier der premier artiste, der einen Wachmann mit Heftpflaster verschönert und sich wie ein Kind weidet an dem was er da zustande gebracht hat.
„Tohuwabohu ! Ah, j’aime le caos, ich verehre, ich liebe das Chaós, es ist das Schöpferische an sich.“
Der Gnom schiebt Amplinger vor sich her und lässt ihn in die Spiegel schauen, die nicht für ihn bestimmt sind, die aber der Gnom entworfen hat, und Amplinger sieht seine in Ehrsamkeit gealterte Aufpasser-Physio-gnomie, die Haut rissig wie das oxydierte Silber auf dem Spiegelrahmen. Er sieht einen, den niemand ansehen würde, wenn der sich nicht selber ansieht. Aber auch sich selbst wäre er keinen Blick wert, wenn sein Ge-sicht nicht so kostbar umrahmt wäre von ungehörigen Rankenwerk wie eben jetzt, von alterslosen Putten und Papageien mit Obst in den Schnäbeln, Nereiden, Lorbeerzweigen und Faunsköpfen.
Passepartouts, die dem Wachmann Josef Maria Amplinger nicht zu-stehen, obwohl er hier der sorgliche Hauswart ist. Er will sich abwenden, als ertappe er sich bei einer Untat, aber der Gnom sitzt huckepack in seinem Genick und dreht ihm mit Händen, die erstaunlich kräftig sind, das Gesicht wieder dem Spiegeln zu. Sein eigenes Gesicht verschwindet hinter dem Amplingers, und der Wachmann erscheint es, als säße der Dreispitz des Gnoms auf seinem eigenen Kopf.
„Hèlas ! Hier haben wir den Hirten des heiligen Chaos“.
Es ist eine Ehre, sich in Spiegeln zu erblicken, wird Amplinger belehrt, den der premier architecte entworfen hat. Spiegeln, die verlan-gen, dass man nicht wieder aus ihnen heraus schaue wie ein grauer Huber oder Mayer oder Wimmer, sondern mit einem Antlitz, das ein Kunstwerk ist.
„Bon alors, erkennen Sie sich wieder ?“
Die rosa Linien des Heftpflasters über seinem Gesicht haben den grauen Amplinger unerkennbar gemacht für sich selber. Der Dreispitz des Gnoms reitet grandios auf seinem Kopf. Er nimmt die Arme des Gnoms um seinen Hals wahr als wären sie sein seidener Kragen, und die Beine des Gnoms baumeln von seinen Schultern wie eine Hoftracht, angelegt, um in die Gesellschaft der Hochnoblen aufgenommen zu werden.
„Die Menschen sind nicht schön, mon chèr. Die Menschen waren noch nie schön. Ich kann da mitreden, als unförmiger Strunk unter lauter Pott-hässlichen, die sich für ebemäßig halten. Darum arbeite ich daran, avec chaleur et passion, sie umzubauen.“
Und gluckst weil Amplinger sein Gesicht nun nicht mehr von dem Spiegel wegdreht den er, der Gnom umrahmt hat.
„Du musst das Gewöhnliche in dir austilgen, du bewegst dich doch in meinem Kunstwerk. Du bist so gut wie mein Geschöpf.“
Gedanken, die zu weitausschweifend für den grauen Wachmann. Er hebt den Gnom von seinen Schultern und setzt ihn behutsam auf den Marmorboden wie ein Kaninchen, das sich verlaufen hat. Wie mickerlich der Gnom sich ausnimmt vor dem Hintergrund seiner Architektur, derer er sich so sehr rühmt.
„Aber Architektur ist passé“ räsoniert der Gnom weiter.
„EntschuldigenS scho, aber ich hab gemeint, Sie sind Architekt.“
„Passé, j‘ai dit ! Passé ! Passé ! Nicht nur weil es keine Bauherren mehr gibt die es wert wären dass man ihretwegen einen Stein auf den anderen setzt, sondern weil das gestaltete Schöne sich nun vollendet in fließenden Bauten. Und zwar durch mich ! Dans la fluctuation, verstehst du, fluc-tuation ist das Wirkmächtige“.
La fluctuation.
Aus dem Chaos schießt sie als Urkraft hervor, und ihm, dem Gnom, ist es vor Zeiten gelungen sie in seinen Rocaillen aufzufangen und zu ver-edeln und im Reich seines Zierwerks anzusiedeln, auf dass sie dort Knospen treibe.
Aber der Wachmann weiß nicht, was Rocaillen sind.
„Schau her, schau meine Ornamente an ! Man soll sie als eine Partitur lesen, ich befehle es. Als Partitur zu einer pièce, die erst noch aufgeführt werden muss. Aufgeführt eben durch den, der sie liest.“
Der Wachmann in Amplinger möchte entfliehen und seinen Rundgang fortsetzen.
„Du als emsiger gardien musst immer nur aufpassen, dass kein Schoko-ladenpapier in meine Rocaillen geworfen wird. Aber meine Order ist : du sollst in meinem Kunstwerk aufgehen !“
Der Kurfürst der gegeißelt werden wollte, mochte noch eben hingehen. Aber ein Zwerg, der von Amplinger verlangt, er solle ein Ornament wer-den und gar ein Kunstwerk kommt für den Wachmann gleich nach dem König Otto, der ihm den Schädel gegen die Wand rennen will.
Amplinger rettet sich in den vierten Rundgang dieser Nacht.
“Ah, ich mache dich plus grande !“
Aber da hat Amplinger schon eine Sicherheitstür hinter sich zufallen lassen.
„Ich mache Großes aus dir. Alle Rollen stehen dir offen in diesem spectacle flamboyante !“
Der Gnom verfällt beim Fort- und Fort-Fantasieren immer mehr ins Französische. Ein altertümliches Französisch, versetzt mit flandrischen Wendungen darin, die längst ausgestorben sind. Das Ohr an die Stahltür gedrückt, hört Amplinger die Angebote, die der Gnom ihm macht.
Verlockend wären sie schon…
„Ich kleide dich ganz in Rot, ich kleide dich ganz in Blau, ich kleide dich in Samt. Du bekommst eine Schleppe, du wirst versilbert, tu seras doré…“

So hat der Gnom sein Kunstwerk schon beschrieben, als sein flä-misches Französisch noch nicht altertümlich war und von allen ver-standen wurde, die ihn umringten : reine ungebrochene Energie, das Elixier des Lebens tost in ihnen. Pflanzen, die noch gar nicht wissen, wer sie dereinst sein werden, umranken bereits Tiere, von denen nicht einmal Gott weiß, dass er den Garten Eden mit ihnen besiedeln wird.
Und dieser gesamte Kosmos ist erst dadurch ins Sichtbare geraten, dass der Gnom ihn auf Entwurfpapier gestrichelt hat. In den selben Ausmaßen, in denen dieser Kosmos sich nun über Wände, Türen und Decken hin zieht.
Man denke ! Es war athlétisme pur für ihn, den Winzling, diese wand-füllenden Artefakte mit Rötelstift auf Papier zu zeichnen. Kein Ver-gleich mit Jehova, diesem anderen Schöpfer da, zu Beginn der Genesis, der war ja mannshoch ausgewachsen und das Schöpfungswerk bloß ein Lehmknuddel in seiner Pranke.
Die kleinste Palmette des Gnoms dagegen war größer als er, der Schöpfergnom. Und der nahm sich daneben aus wie ein Äffchen, das einen Tropenbaum erklettert und von Faunen, Papageien und Meer-katzen bedrängt wird. Aber der Gnom ließ sich nicht einschüchtern. Alle diese Wesen entsprangen aus seinem Zeichenstift und verdankten ihm ihr Dasein. Der Gnom war der Jehova dieses Gartens Eden aus Stuck, Weiß, Gold, Silber und Relief. Auf dem Papier, das auf dem Fußboden ausgebreitet war, kroch er mühsam umher., wie beschwerlich auch immer es war Konturen zu ziehen die fünfzehn, fünfundzwanzig oder dreißigmal Mal größer als er selber und aus denen unter den Händen der Stukkatere und Holzschnitzer auf Wände, Decken und Türen Wolkengebilde, Gebüsche und Gottheiten werden sollten.
Und noch heute, da sie längst stukkierte Gestalt gewonnen haben, kehrt er gerne bei ihnen ein, ganze Tage.
Sie tragen seine Jugendkraft in sich, seine fleurs d’age, und die Kraft von damals strömt in ihn zurück, wenn er zwischen ihnen hockt, ge-schmiegt an arkadische Nymphen, böotisches Geflügel, Satyrn und Fa-sanen.
Eine silberne Hirschkuh, die er 1742 an eine bestimmte Leiste hatte setzen wollen aber dann doch vergessen hat, weil Pan ihn bat, ihn ins Schildkrötendickicht zu platzieren, scharrt immer noch an ihm. Hol mich aus deinem Kopf ! scharrt sie. Er verspricht ihr, er werde sie gleich morgen endlich Gestalt werden lassen und darf dafür zwischen ihren Vorderläufen einschlafen.

Als der Gnom damals in der Residenz ankam, vom Hof des Son-nenkönigs und auf dem Kutschbock des Kurfürsten Max Emanuel, fand er anstelle einer Stadt ein Dimpfeldorf vor, gefüllt mit Krautäckern, zwischen denen Hühner und Ferkel herumwimmelten. Er sollte Hühner und Ferkel auseinanderscheuchen und Max Emanuel ein zweites Versail-les errichten, groß genug für des Kurfürsten weitgespannte Ambitionen im Politischen wie im Militärischen.
Die große Achse, die von allen Seiten her auf den Allerdurch-lauchtigsten zuläuft und von ihm wieder weg. Der Allerdurchlauchtigste als centre universelle, dem sogar die Geometrie huldigt. Avenuen der Erlauchtheit, Triumphwege des Strahlenden, Siegesalleen für einen Kur-fürsten, der sich für allzeit siegreich erklärte.
Dabei ließen die Siege auf sich warten. Siegreich war er nur in seinen Phantastereien, die seine italienische Mutter ihrem Bambino anerzogen hatte. Auf dem Schlachtfeld behielten immer die fremden Truppen die Oberhand und die Triumphbogen, die der Gnom entwerfen sollte, wurden anderswo errichtet, in den Städten der Sieger.
Beim Nachfolger des Kurfürsten verhielt es sich nicht anders und auch beim Nachfolger des Nachfolgers. Die Kriegskontributionen, die sie an den jeweiligen Sieger zu entrichten hatten, fraßen das Budget des premier architecte auf. Das Bauholz, das er für Dachstühle hatte verwenden wollen, ging für Pontonbrücken der Armee drauf, und die Ziegelsteine für Festungswerke.
Die Bauten des premier architecte Bauten schrumpften zu ihm herunter, ihm entgegen ins Zwergische.
Als dann Napoleon auftrat, der Krieger aller Krieger, und dem Kur-fürsten eine Königskrone aufsetzte, damit der ihn umso williger mit fri-schen Truppen versorgte, geriet die Baukunst gänzlich unter die Fuchtel des Militärischen. Strammstehende Säulen wurden nun errichtet zwischen kahlen Wänden, unterbrochen von Wachnischen, in denen als Philoso-phen verkleidete Korporale auf das nächste Infanterie-Bataillon warte-ten, und die Planzeichnungen des Gnoms wurden im Moor versenkt.
Wegtreten, Rocaillen ! In den Waffenrock, Zierwerk ! Richt euch, Ornamente, und ohne Tritt Marsch !
Unter dem Kommando der Generalstäbler hieben die Baumeister immer breitere, immer geradere Straßen in die Residenzstadt, auf denen die Armeen in einen immer schnelleren Tod marschierten. Bis von der Residenzstadt nichts mehr übrig blieb als die Ziegel, aus denen sie aufgemauert war, schwarz verbrannt.
Der Gnom überdauerte diese Zeiten in seinen Rocaillen.
Er verschlief les années terribles des Klassizismus, der Gründerzeit, der wilhelminischen Klotzkasernen, des Jugendstils, des Bauhauses und des noch falscheren Klassizismus des Albert Speer. Und als das König-tum zurück kam und man das alte goldene Zierwerk wieder ehrte, entsann man sich auch wieder des Gnoms.
Man fand ihn schlafend, um einen gipsernen Tritonen geringelt. Man zupfte ihn aus seinen Rocaillen heraus, bürstete ihm den Staub der Jahr-hunderte aus Hoftracht und Dreispitz, bewunderte und belächelte seinen Zierdegen und verhinderte umsichtig, dass Dreispitz und Degen im Antiquitätenhandel verschwanden.
Diesmal zog der Gnom nicht auf dem Kutschbock in die Hauptstadt ein, er wurde in einer Nobelkarosse mit sechs Zylindern unter der Kühler-haube zur Staatskanzlei chauffiert, wo junge Herren in Flanell verlegen um ihn herumstanden. Und alle seine Bedingungen annahmen, fürstlicher als je der Kurfürst, obwohl sie ihn alle überragten.
Der Gnom hätte nun am Klassizismus Rache nehmen können.
Er hätte dessen Säulen-Regimenter entmilitarisieren können, die kahlen Wände mit Orgien von Stuck überziehen, die Baupläne seiner Nach-folger tiefer versenken lassen als nur im Moor. Aber es gefiel dem Gnom, weise geworden zu sein und so empfahl er den Herren im Flanell la plus grande esthetique als Krönungsmantel und Schmuckhülle ihrer erneuer-ten Monarchie.
La fluctuation, die dynamische Architektur, Baukunst à la mode dyna-mique.
Die nicht reglos verharrt, sich nicht an einem Fleck einzementieren lässt, sondern die flutet und flottiert. Weil der Gnom so lang gelebt hat, fordert ihn nicht mehr das Statische heraus, sondern das Lebendige, und was ihm ehedem die Rocaillen waren, sind jetzt die Menschen selbst.
Jeder Herbert oder Karlheinz soll Pan sein dürfen, sofern er sich auf des Gnoms Choreografie einlässt. Jede Elke oder Liesl darf Nymphe sein und belle figure machen, und alle sind sie Farben auf seiner Palette. Und er selber, der große gnomische Arrangeur, will mittendrin mit hopsen.
Diese ahs! und ohs ! Dieses helle Gelächter der Überrumpelten ! Diese Ängstlichkeiten, die sich gleich drauf in Wonne verwandeln ! Der Gnom macht sich sogar noch die Ängstlichkeit derer zunutze, die nicht mitspie-len wollen. Die vor seiner Kunstwelt bocken, riskieren dafür noch ab-gefeimtere Zumutungen. Wenn ich die plumpen Bewohner dieses Landes zu einem leichtfüßigen Universum der Ornamentik geformt habe, jagen sie mir nach dreihundert Jahren eines Tages vielleicht keinen Schrecken mehr ein.
Wie nicht anders zu erwarten, wollten einige Geldgeber das Recht-eckige wieder haben und auch dafür bezahlen. Paraden, Wachablösun-gen, Zapfenstreiche, Platzkonzerte, dröhnend vom Tischbumm der hoch-seligen Belle epoque mit Kesselpauken und Schellenbäumen, Wett-bewerben um die Palme des glanzvollsten Posaunisten, des schneidigsten Trompeters, des verwegensten Trommlers. Und berittene Garden sollten wieder her mit weißen Helmbüschen, und die große Frühjahrsparade auf dem Marsfeld und Heldengedenken mit Salutschüssen und Fackeln in der Faust von Mann, Frau, Kind und Tränen in jedem Auge. Aber nach einem tête a tête mit Professor Haberstock war das alles gestrichen und erschien nie wieder auf einen Wunschzettel. Keinerlei Mittel bereitstell-bar für solchen Stallmeisterkitsch bestimmte der Professor Haberstock in dem Ton, den man von ihm kennt und der Widersetzliche verstummen lässt. Denn Professor Haberstock ist Max Emanuel, Leibniz und Napoleon in einer Person, nur eben ein Napoleon ohne Kürassierstiefel.

Die zusammengeschalteten Großrechner haben vermerkt dass sich der Gnom im Ornament 123 Gruppe 7 Raum IV der Grünen Galerie der Re-sidenz zur Ruhe begeben hat. Wie sie vorher vermerkt haben, wie hoch der Energieverbrauch des gestrigen Tages im Lande gewesen ist und wie hoch er morgen sein wird. Nachdem sie den Verlauf der Kampfhandlun-gen in X und Y analysiert haben und was die Geräte aus der Fertigung Professor Haberstocks dabei ausgerichtet haben ermitteln sie, wieviel Nachschub für die kriegführenden Parteien bereit zu stellen ist. Um sich dann dem Fall einer Sekretärin aus einer sensiblen Branche zuzuwenden, der in der Diskothek ein fremder Schönling schön getan hat, um sich am Morgen danach die Blaupause des Rüstungs-Projektes LR 23 ( Ge-heimhaltungstufe III ) zeigen zu lassen. Sodann nehmen sich die zu-sammengeschalteten Rechner sechs Schafkopfbrüder vor, die die be-leibten Figuren auf ihren Spielkarten zum wiederholten Male mit dem Monsignore und das Aufknallen selbiger auf den Wirtshaustisch ( melden die darin versteckten Sensoren ) mit Lästerungen deftigster Art begleitet haben. Ferner einen Konditormeister in Mindelheim, der seine elfjährige Tochter zum Beischlaf gezwungen hat, einen Immobilienschwindel im Rückfall ( Neumarkt/Oberpfalz ) sowie –
Nichts weiter ? Zirpen die Rechner A, ein so kurzes Pensum heute ? Die Aburteilung dieser Delikte nehmen ein hunderttausendstel der Zeit in Anspruch, in der sie verübt wurden, und während Rechner B und C noch mildernde Umstände prüfen ( Posten in der Rüstungsindustrie ? Zuarbeiter von Haberstock ? ) hat der Rechner D schon die Quittungen parat : die Sekretärin wird mit einer halbseitigen Gesichtslähmung ver-warnt, die Kartenbrüder werden am Morgen als Infarkt-Patienten er-wachen. Über den Bäcker-meister wird Prostatakrebs verhängt, der Im-mobilienbetrug mit Exitus geahndet. Der Tod kommt nicht als Todesstrafe und Urteil, die Rechner haben die Lebensbahn eines Gestrauchelten gewürdigt und, klarsichtiger und unparteiischer als irgendein beengter Menschen- oder Juristenverstand erfasst, wer unrettbar aus der Bahn ge-worfen und zum Auswurf verkommen ist. Als umsichtige Heger und Pfleger, fürsorglich wie ein guter Hausvater, zart wie eine Mutter die abends das Licht löscht, unterbrechen sie die Verkabelungen der Delin-quenten mit dem Leben. Sanft gehen die Betroffenen hinüber in eine Sphäre, über die letztlich nur Monsignore Zirngibl Bescheid weiß. Ins Nichts mit dir ! singen freundlich die Leitungen. Ins Nichts, Aufrührer, Zweifler, Nutzloser. Sanft entschlafen, ohne Schreie und Krämpfe, findet man die Schädlinge friedvoll in ihren Betten. Und noch ihr entschlum-mertes Daliegen lobpreist die Harmonie der monarchischen Ordnung.
Ehe sie sich gegen Morgen trennen, geben die Großrechner sich noch einer liebgewonnen Routine hin und machen, wie allnächtlich, die Route des Trauerzuges aus, den die Prozession mit dem Herzen des vorigen Regenten heute auf dem Weg nach Altötting hinter sich gebracht hat. Sechs Gemeinden hat er durchmessen, zwei kreisfreie Städte, sechs unbeschrankte Bahnübergänge. 52373 Personen sind vor ihm nieder-gekniet, 123mal sind von diesen Marienlieder angestimmt worden, zwei-mal das Tedeum, einmal das Andreas Hofer-Lied. 667mal wurde der Bitte entsprochen, die goldene Urne berühren zu dürfen, darunter von von sechs Unfallpatienten und zwei von Geburt an Mongoliden. Es musste das Schuhwerk von 34 Teilnehmern erneuert werden, 141 Kerzenleuchter ausgetauscht und 311 Amulette entgegengenommen, von welchen der überwiegende Teil selbstgefertigt war, sowie 14 hartgekochte Eier, und in den Sammelbüchsen fanden sich neben drei Zehndollarscheinen 48 Knö-pfe. Bis zur nächsten Nacht denn !
Josef Maria Amplinger, wenn er nun bei Tagesanbruch seinen Dienst beeendet, weiß dass er Teil einer großen Inszenierung ist. Nicht nur ein grauer Pflichterfüller, der vergessene Lichtschalter umzukippen hat und aufzusammeln was andere fortgeworfen haben. Eine ganz gewöhnliche Existenz. Er weiß jetzt, er ist König Otto dem Wahnsinnigen gleich-rangig, zumindest was den splitterbaren Schädel anlangt. Josef Maria Amplinger ist eine ganz besondere Existenz. Ohne ihn hätte dieses große Arrangement, das er zu hüten berufen ist, keinen Bestand, und ohne ihn hätte es auch keine Zukunft. Er wird dem Wahnsinnigen nun anders begegnen, von gleich zu gleich und so fröhlich pfeifend wie er eben jetzt davongeht in den beginnenden Berufsverkehr hinein, zwischen den Strahlenbögen der Sprengwagen hindurch, in denen sich die Morgen-sonne fängt. Er bleibt stehen, betrachtet die Fontänen mit ihren Regen-bogenspiegeln, als wären es Kaskaden, die Cuvilliés entworfen hat und streckt ihnen dankbar das Kinn entgegen, um ein paar Spritzer abzu-bekommen, in denen nun auch kleine Regenbogen glitzern. Der Gnom hat ihm alle Sinne geöffnet, er wird dem Wahnsinnigen einen Ball mit-bringen und einen Schutzhelm aus rotem Plastik – nein, besser aus gel-bem, mit blauen Laubfröschen darauf. Er wird einen Kreis an die Wand malen, nein besser : drei Kreise, konzentrisch, das stachelt den Ehrgeiz an, und ihn auffordern seinen königlichen Schädel, wenn schon dann umsichtiger und zielgenauer dort hinein zu schmettern. Und nicht nur das, er muss dem Irren der vom Lebensalter her sein Enkel sein könnte, Abwechslung verschaffen, seine Lungen gehören mit frischer Luft ge-füllt, seine Ohren mit Kinderlachen, er wird ihn in den Hofgarten aus-führen zu den Boccia-Spielern oder gleich in den Zirkus Krone.
Die Schwarzen Sheriffs in der U-Bahnstation wissen nicht, dass heute Nacht der premier architecte auf Amplingers Schultern gesessen hat und damit eine Freundschaft begründet worden ist. Und wenn sie es wüssten, sie würden genauso mit ihm umspringen wie mit den Jungen. Aber die Statur des Alten gibt nichts mehr her fürs Kräftemessen, sie lassen ihn unbehelligt durch und drehen lieber den Halbstarken und Betrunkenen die Arme auf den Rücken.

7. Kapitel
in dem wir ein weiteres Mal dem stummen Unermesslichen lauschen

Nie werde ich den Südhimmel sehen.
Aber wenn ich am Abend sitze und zu den Sternen hinauf träume, meinen Wegweisungen, strecken diejenigen, die nah dem Äquator ange-siedelt sind, der Adler und der Große Hund, ihre Lichtnetze wie Zei-gefinger bis hinab über die Horizontlinie der Wälder und Gebirge, die meine Sicht begrenzen, und verweisen ( allein für mich, ihren Freund ) auf ihre Geschwister, die da unten wohnen : den Kentaur, den Pfau und den Kranich, den Maler mit seiner Staffelei und das Schiff. Und gleich daneben, berührt fast von seinen Planken, das Kreuz des Südens, das Leitlicht aller Sehnsüchtigen, die aus ihrem Gehege fort wollen.
Das Kreuz des Südens schwimmt mitten in der Milchstraße, das weiß ich, obwohl ich es nie gesehen habe. Und Milchstraße fließt bis zu mir herüber, sie schwappt vom Südhimmel über in den Nordhimmel und fließt als dichter weißer Strom über mich hin. Ich male mir die südlichen Gestirne, die ich nie sehen werde aus, wie das Sterbild des Malers, der dort unten am Südhimmel vor seiner Staffelei sitzt.
Das Nachtdunkel des Südens, stelle ich mir vor, ist ein ganz anderes Nachtdunkel als das unsere am Nordhimmel, ein fahriges Blauschwarz muss es sein, mit blaugrünem Dampf darin, spiegelt es doch die uner-messlichen Ozeane wieder. Die Sternbilder leuchten dadurch salziger als bei uns, stechender, erhitzt von den warmen Winden der Tropen. Ich stelle mir vor, wie es sein muss unter ihrer Wegweisung zu wandern. Ich würde größere Schritte nehmen können, aber weil dafür zu wenig Land da ist, gelangte ich jeweils schneller an Küsten und müsste ins Wasser steigen und im Ozean bis zu den Knien waten, bis zur Brust, bis zum Kinn und dabei gewaltige Bugwellen auf-werfen, die mir das Gesicht kühlen, bis ich keinen Grund mehr unter den Füßen hätte. Dann würde ich, die Arme weit voraus, mich der Dünung überlassen, das Gesicht nun nicht mehr dem Kreuz des Südens zugewandt, und mich mit den Walen treiben lassen.
Ich döse und gebe mich dem Rauschen des Südmeeres auf der anderen Hälfte des Erdballs hin. Nachtvögel lassen sich auf mir nieder, Gänse-schwärme, und ihr Ruf wird mir zum Geschrei der Albatrosse, den ich nie hören werde und das ich, durch meine Freude die Gänse, nun eben doch höre. Ich pflege die Freundschaft mit Tieren, ich bin ihnen gefällig, Eulen wie Dohlen, Wühlmäusen wie ihren Jägern, den Igeln, und wenn Dachse sich in meinen Schuhsohlen ansiedeln, habe ich nichts dagegen. Ich lege mich bereitwillig auf den Rücken, wenn ich bemerke dass sich ein Hirsch oder ein Steinbock vor seinem Weibervolk großtun will und mich erstei-gen.
In dieser Nacht sind es ganz besondere Türe, die mich besteigen. Lange schon sind sie um mich herum geschlichen, als wollten sie mich vermessen und meine Größe flößte ihnen Bangigkeit ein. Sie dämpfen ich-re Stimmen wie die Waldtiere, wenn der Förster in der Nähe ist, aber es sind Zweibeiner und sie haben Bierdosen in den Fäusten, aus denen sie sich Mut ansüffeln. Erst wenn es dunkel geworden ist in dieser mondlosen Nacht, erkunden sie endlich einen Einstieg in mich und erklimmen eine Rückennaht. Oh ihr Bürschchen ! Ihr wollt mir und euch beweisen, dass es euch nach alpinistischen Großtaten juckt, nach Großtaten überhaupt ! Dabei haben die Bürschchen gar keine Hirschkühe drunten im Wald stehen, die sie dafür bewundern könnte. Es ist ihre eigene Verwegenheit, die sie den beschwerlichen Weg über die Steilwand meines Rückens riskieren lässt, statt den bequemen Allerweltseingang über meine Knie-hosen, wo die Nähte schlaff sind vom vielen Beklettertwerden. Sei freund-lich gerade zu Grünlingen, die verwegen tun hat mir mein Freund der Gnom eingeschärft, denn grade die fürchten sich am meisten vor dem Spott ihrer Kumpane von denen sie reichlich umgeben sind, weil sie auf sich allein gestellt Hosenscheißer wären. Und ich lasse sie gewähren, und vollführe nicht die kleinste Bewegung. Bedenke, sie sind allemal Kinder, verglichen mit uns. Sie sind noch nicht einmal geboren, immer verglichen mit uns. Noch ein Merkwort meines Freundes, des Gnoms.
Ich schlafe ein vor geduldigem Zuwarten. Nach, wie mir scheint, end-loser Zeit, die ich wiederum unter dem Kreuz des Südens verträumt habe, weckt mich ein Kitzeln in der Leistengegend. Ich will mich kratzen, da kitzelt es bereits auf Höhe der zweiten und der dritten Rippe. Ich spüre, wie ich bekrabbelt werde, orientierungslos, verwirrt und verirrt, wie von Ameisenkarawanen die Spähtrupps nach hier und dort aussenden, die immer wieder auf nichts anderes als sich selber treffen. Das aber unter immer überlauterem Gelächter, als wär ihnen das Umherirren ein Jokus und das Nirgendwoankommen eben das Gaudium, das sie sich erhofft haben.
Ein einziger arbeitet sich zielbewusst in die Region vor, die der Re-gentenfamilie vorbehalten ist. Er steigt zügig in mir auf, er kennt den Weg und die zugeknöpften Durchlässe. Behänder könnte auch der Regent selber nicht in denSchlafbeutel gelangen, der nur dem hohen Paar vorbehalten ist, wie er eben jetzt, und schon rumort er gleich nebenan im Boudoir der Regententochter. Das mit Kissen und Schmusetieren ausge-stattet ist, ich weiß es vom Gnom, denn das Reserl ist ein verspieltes Ding, das viele kuschelknautschige Accessoirs um sich versammelt wie eine Fünfjährige. Jetzt mustert der Eindringling Reserls Flacons durch, und jetzt bestäubt er sich mit ihren Inhalten, ich rieche es bis zu mir herauf.
Seine dummbatzigen Gefährten, Fremdlinge an Bord meiner ausla-denden Kluft, haben sich unterdessen so vereinzelt und verzweigt, dass ich ihr Gekrabbel nicht mehr orten kann. Vielleicht hat auch das Bier, das ihnen Mut einflößen sollte, ihnen nur Schlafseligkeit eingeflößt. Der Dreiste und Zielbewusste aber nimmt nun von der Regentenloge her den einzig richtigen Weg, der von dort einzuschlagen ist, den auf den Thron-sitz meiner Hände zu. Ich enttäusche seine Erwartung nicht, ich strecke die Arme aus als säße der Hofstaat darauf. Die Parfüms Reserls, mit de-nen er sich vollgespritzt hat, quellen schwelgerisch kitschig zu mir he-rauf, aber ich unterdrücke wohlweislich das Niesen, das sie auslösen und breite die Hände aus, wie ich sie für die Regentenfamilie ausbreite : nimm schon Platz, du Frechdachs ! Ein bisschen zögerlich nur, sei’s wegen der Dunkelheit oder wegen der Höhenangst, rutscht er dorthin, wo sich mein linker und mein rechter Handballen berühren. Und thront dort. Mit Behagen nund voller Selbstgewissheit, viel behaglicher und selbstgewisser als das Regentenpaar, das immer ein wenig geniert auf meinen Handballen sitzt als würde es in einer fremden Equipage mitge-nommen.
„Lupf dich, Riese !“
Das ist unverfroren. Er verlangt, dass ich mich erhebe ! Er achtets nicht, dass ich im Sitzen schon ein achtunggebietender Fels bin, und gar erst ein Gebirgsmassiv, wenn ich mich erhebe. Er fordert das Gebirge allein für sich. Er knobelt was wohl das Kommando sein könnte in der Regelsprache des Hofes, um mich zum Aufstehen zu veranlassen. Hallo wird’s bald ! Alter beweg dich ! Gemma, gemma…Das nun doch recht beklommen, er merkt das das nicht den richtigen Ton trifft gegenüber einem monumentalen Inventarstück der Monarchie, und verlegt sich darauf aufmunternd und lockend vor sich hin zu pfeifen. Als ich mich immer noch nicht rühre, nimmt er seine Finger zu Hilfe. Zu einem Pfiff wie auf dem Fußballplatz Ich spüre auf einmal die selbe Erlebnislust wie in ihm wie in mir, wenn ich vom Südhimmel fantasiere, der mir un-erreichbar bleiben wird. Ich stehe auf, äußerst behutsam, um ihn nicht zu verschrecken. Die Gefährten die sich irgendwo in meiner Livree verstiegen haben, lassen wieder von sich hören als ich den ersten Schritt tue.
“Hej, das ist ja wie der Ausflug mit einem fremden Sportwagen !“
Bodennebel kommt auf. Ich habe das Gesicht über den Schwaden und bin bei meinen Sternbildern. Beim Adler und dem Großen Hund, die auf den Südhimmel verweisen wie Reisende, die hier wie dort ihre Behausung haben. In der Milchstraße, über meinem Scheitel, leuchtet das Sommer-dreieck, Atair, Deneb in der Leier Wega in der Leier. Unterm Nebel bewegt sich ein Lichtstreifen auf mich zu, der Zug der das Herz des vorigen Regenten durchs Land begleitet. Ich tauche unter den Nebel und strecke meine Hände weit dem Lichterzug entgegen. Der auf meinem Handballen sitzt, soll sich daran satt sehen. Die Feuchte des Nebels wäscht ihm die Parfüms ab wie eine Mutter ihrem Kind die verschmierte Marmelade.
Später schüttle ich seine Gefährten, ohne meine Hände zu bewegen, einen nach dem andern aus mir heraus und achte, dass sie wohlbehalten in Moospolstern und auf Wiesen landen. So sorgsam bin ich zu euch, ihr Grünlinge. Und ihr vergleicht mich mit einem Sportwagen.
Auf einmal ist der Gnom da. Auf meinen vorgestreckten Händen, bei dem Dreistesten. Er sitzt Huckepack auf ihm. So sitzt er immer, wenn er jemanden berät und belehrt und ihm vorschwärmt von seiner fluctuation, wie auf einem Schaukelpferd. Aber der Beratene merkt es nicht, dass er nur als Schaukelpferd dient und fühlt sich hoch geehrt. Und zuletzt darf der Eindringling seinen Namen einschnitzen in meine Bauchhaut, in der schon hunderte von Namen eingeritzt sind.
GERSTL HANSI. Wie jemand, der sich eine Wohnung reserviert hat.

8. Kapitel
worin nicht nur wir bei Professor Haberstock vorgelassen werden, bei sanfter Beleuchtung

Das Gestühl in diesem Vorzimmer ist bei weitem nicht so kommod wie die Fauteuils in der Residenz es sind. Es nötigt die, ihm ihr Hinterteil anvertrauen müssen dazu, den Rücken durchzudrücken. Als wären die Sitzmöbel darauf dressiert, den Besucher ohne Verzug hoch schnellen zu lassen, wenn der Aufruf ergeht :
“Professor Haberstock läßt bitten.“
Aber Professor Haberstock läßt nicht bitten. Seit geraumer Zeit sitzen sie hier, sind es nicht schon Stunden bereits ? Die Hände lagen anfangs auf den Knien, nun sind sie gefaltet. Hin und wieder eilt jemand durch das Vorzimmer, grußlos, ohne das grünlodene Paar wahrzunehmen.
„Als ob man beim Zahnarzt wär. Oder beim Notar“ murrt die Gattin. Ihr Gatte erwidert nichts, rammt ihr nur seinen Ellenbogen in die Seite. Denn es wartet noch jemand im Raum, Über Papiere gebeugt, aber das Aktenstudium könnte nur Camouflage sein, und der Aktenleser ein Lau-scher. In Professor Haberstocks Umkreis erwartet man nichts als Lau-scher, Horcher, Überwacher, Mithörer und Gehörthaber. Der Professor stellt Maschinen her, die all das digital bewerkstelligen, Nachtfluggeräte, Spezialapparaturen zur Ortung von fremdem Kriegsgerät und auch sons-tige elektronische Ohren, von den kein normaler Sterblicher sich einen Begriff macht. Also verschluckt die Gattin den Satz, den sie als nächsten hat sagen wollen :
„Aber beim Zahnarzt täten wenigstens Illustrierte ausliegen.“
Das Ehepaar schweigt wieder, gesenkten Blicks, Eilige durchmessen den Raum durchmessen, wiederum grußlos.
„Professor Haberstock lässt bitten“ wird nun doch endlich gerufen, durch den Türspalt. Aber ehe das Ehepaar hochkommt, ist der schweig-same Dritte bereits hinein geflitzt und der Türspalt kein Spalt mehr.
„Wir waren doch vor dem da !“
Sie starren beschwerdeführend die Tür an, verknüllen beide die Hände ineinander. Die Türe ist wuchtig furniert. Rüster, dunkel gebeizt. Die Gattin fühlt sich dadurch ein wenig weniger eingeschüchtert als er und resümiert halblaut :
„Wir entsprechen einfach nicht den Anforderungen, die was hier Usus sind.“
Dabei sind die Stühle doch so bemessen, dass sie rasches Hochschnel-len geradezu anbefehlen. Obs wohl gar an unser Kondition liegt, rein körperlich, oder bloß an der langsamen Herkunft ? gründeln sie beide. Aber sie sprechen es nicht voreinander aus, obwohl sie nun eindeutig allein sind, sofern man in Professor Haberstocks Vorzimmer je allein sein kann.
„Und jetzt richtet er uns aus, der da drinnen“.
„Der hat doch gar nix vernommen von uns, der hat doch -“
Wieder eilen Eilige, der Gatte bricht mittendrin ab.
„So wenig Selbstwertgefühl aber auch bei dir ! Braucht denn das gleich ein jeder merken dass du Möbelschreiner gelernt hast “.
„Und du Fußpflegerin“ pfunzt er zurück. „Du kannst dich einfach nicht lösen vom Alleruntersten.“
„Der Herr Professor Haberstock ist eh tausendprozentig auf dem lau-fenden über uns.“
Bis in unsere tiefsten Verästelungen hat sie noch sagen wollen, aber in denen wäre der Monsignore Zirngibl vorgekommen.
„Und jetzt schau amal andersrum, was wissen denn wir schon über den Professor und die Verästelungen von seinem weltumspannenden - „
Wieder ein unvollendeter Satz, denn es wird durchgehuscht, geeilt, geglitten. Sobald sie allein sind, hält er dagegen :
„Als ob wir ihm das auch noch schulden, dass wir bis ins Detail kundig betreffs seinen Handel und Wandel, wo er uns doch –„
Aber nun, ohne dass jemand durchs Vorzimmer gleitet, ist die Gattin es, die den Gatten abschneiderisch unterbricht und ihrem aufgestauten Rechtfertigungsverlangen Bahn schafft : gar nichts verstehe er, der Gat-te von Fusspflege, rein gar nix. Ihrer Wertigkeit, ihrer Auswirkung auf den gesamten Menschen, der sich da drüber aufbaut und herablassend, herab schaut auf seine Gehwerkzeuge. Und mitunter nicht einmal mehr herab schaut, so wie eben ihr Gatte. Und dann eben strauchelt.
„Unausweichlich, vom Schicksalsgegebenen her betrachtet. Dünkel ist genau das Wort dafür, Dünkel !“
Und das in seiner Stellung. Und ob er noch immer nicht eingedenk sei nach all den Jahren an ihrer Seite, dass an den Sohlen das komplette In-nere eines Menschen abgebildet ist, die Untersicht des menschlichen Fußes als Spiegel des Leibseelischen. Beeinflussbar, ja stracks steuerbar sogar durch sensible Druckausübung auf die Sohlen.
„Was das für ein Wunderwerk ist, da drunten ! Da kannst du dir an der Nase reißen so viel du willst, deine Nieren oder deine Wirbelsäule hören nicht darauf. Aber umgekehrt ! Umgekehrt hab ich dich von den Füßen her im Griff, und jetzt übertrag das einmal auf den Riesen… „
Professor Haberstock steht plötzlich dicht bei ihnen, hat sich heraus bemüht ins Vorzimmer. Er hat den begleitet, der stumm neben dem Ehepaar gesessen hat. Und scheint, die Schritte schon wieder seinem Kontor zugewandt, die beiden eher zufällig wahr zu nehmen.
„Ach ja…da war ja auch noch Ihr Termin“.
En aparté, als habe er zufällig den Hausmeister auf dem Weg zur Toilette getroffen das Spülung klemmt schon wieder, schaun Sie mal was sich tun lässt.
„Zu unserem allwöchentlichen Rapport, Herr Professor, wenns recht ist“ rückt die Gattin das Hingehuschte ins Dienstfertige.
„Ich höre - ?“
Professor Haberstock sitzt bereits. Einer, der seine Worte so knapp einteilt wie seine Zeit. Es ist schummrig im Büro, das finstere Furnier der Tür draußen hat darauf eingestimmt. Professor Haberstocks emp-findlichen Augen genügt eine kleine Lampe auf seinem Schreibtisch, deren Strahl ein grüner Schirm abwärts richtet, sodaß er selbst im Zwielicht bleibt. Das Ehepaar hält in diesem Schummer schlecht und recht Ausschau nach Sitzgelegenheiten, bis sich ihre Knie an welchen stoßen, die nicht einmal mehr eine Lehne haben. Wer sich darauf niederlässt, hat einen Kerzengrade-Vertrag geschlossen oder hat gleich verspielt. Die Gattin befleißigt sich, die Erwartung zu erfüllen und winkt dem Ihrigen mit den Augen zu, vis à vis mit einem Weltmanager heißts dasitzen so aufrecht wie der Kölner Dom.
Aber Professor Haberstock schaut weder zu ihm noch zu ihr.
„Also…“er öffnet ein Dossier, liest. “Also Ihre Tochter hat ja offenbar recht passable Figur gemacht beim letzten Auftritt.“
„O ja“ bricht es aus der Mutter heraus.“Es sind alle durch die Bank verzaubert gewesen von ihr“.
Professor Haberstock, schweigend, liest weiter. Der Gatte bemerkt, dass Haberstock den gleichen lehnenlosen Sitz hat wie sie, bei säu-lenartig hochragendem Körper. Seines respektgebietenden Alters unge-achtet. Der Gatte strafft sich noch mehr. Forchheim, befindet sie Gattin, die die Angestrengtheit des Gatten bemerkt, sein ganzes Leben lang wird er Forchheim nicht los und privat zieht er sich immer noch an wie nur ein Berufsschullehrer in Forchheim sich anzieht, der auf dem zwei-ten Bildungsweg aus dem holzverarbeitenden Gewerbe kommt. Der an-dere dagegen, Haberstock : stattlich wie die Stahlgehäuse die er zusammenschweißen lässt. Stahl ist überhaupt alles an ihm, zehnfach siliciumgehärteter Edelstahl. Bei dem in seiner Dynastie Familie ist ja da gar kein Wort mehr dafür ist das Befehlenkönnen schon in der soundsovielten Generation erbliche Ausstattung. Ganz anders als bei ihrem Ernstl. Dabei hat der Stählerne nichts groß-mächtig Gebieterisches an sich. Obwohl er Dr.rer.pol. und dazu noch Dr.rer.nat. ist, schaut er eher wie ein Handwerksmeister aus, der selber mit anpa-cken könnte an der Drehbank. Und auch zupacken würde, wenn er nicht so viel Staatsgeschäfte, weltumfassende Geschäfte, Ewigkeitsgeschäfte zu versehen hätte im Namen des verschlungenen Organismus des Großen Konsortiums. Als besorgtester und sorgendster und gestrengster Hausvater. Als jedermanns Hausvater. Auch der des Ehepaars, das ihm hier die Aufwartung machen darf. Und dieser Hochmögende nun hat Ihnen soeben huldvoll ein Vergissmeinnichtblümchen über den Tisch gereicht, ein Blümchen in Worten, und hat ihre Tochter belobigt. Die Gattin getraut sich das Lob ein paar Handspannen weit zu verlängern :
„Ganz recht, der Herr Professor. Das Reserl hat so das nonchalante Auftreten, das – „
- jetzt sagenS bloss nicht, Herr Professor : das wir nicht haben -
Der Professor sagt es tatsächlich nicht, und sie getraut sich fort-zufahren :
„- das nonchalante Auftreten so in der lockeren Handhabung der Eti-kette“.
„Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, es heißt nicht mehr Etikette.“
Zurechtgewiesenes Schweigen. Courtoisie ist ihnen eingebimst wor-den, ist gleich Etikette gleich Zeremoniell gleich Dynastie Begriffs-möbel der weiland feudalherrlichen Hochnäsigkeit. Weil Dynastie eine erbliche Krone voraussetzt. Und die erbliche Krone ein erblicher Fehler war im volkswirtschaftlichen Sinne, weil ein Erbe ohne Verdienst sich nicht rechnet und ein Gottesgnadentum voraussetzt. Und heutigentags ist das Gottesgnadentum allein bei der Allumfassenden Partei.
„Von Krenleitner liegt schon wieder eine Beschwerde vor.“
Krenleitner. Immer Krenleitner. Es wurde schon wieder zu wenig von seinem Bier ausgeschenkt bei der letzten Reise. Es gibt weiß Gott noch andere Brauereien im Land als seine.
Der Regent wagt diesen Einwand nicht. Der Professor Haberstock selbst trägt ihn vor und belächelt ihn gleichzeitig, so viel ist im grünen Schummer zu erkennen.
„Bier ist schließlich keine Schlüsselindustrie. Und der Herr Kren-leitner zuvörderst Beauftragter für die Organisation der Großen Selbst-reinigung. Darin bringt er schon Eigenwerbung genug unter.“
Aber weil Krenleitner sich zurückgesetzt fühlte wegen zu kärglichem Bierausstoß, hat er auch noch eine Anschwärzerei zu Protokoll gegeben.
„Betreffend eine unbefugte Fremdnutzung.“
„Wie meinen der Herr Professor ?“
„Der Riese war eine ganz Nacht alleine unterwegs. Ohne Sie.“
Auch wenn er vom Regenten spricht, schaut er ihn nicht an.
„Ein Affärchen ohne jede Bedeutung. Da soll irgendein so ein Alten-pfleger, wie heißt er doch gleich…“
Professor Haberstock gibt sich den Anschein, Gerstls Name sei unerheblich.
„Ohne Bedeutung, wie gesagt. Es sei denn, es handelt sich um einen Liebhaber von unserem hochgeschätzten und allgeliebten Reserl.“
„Unser Reserl hat keinen Liebhaber !“
„Angenommen, der Betreffende ist, ich sage mal : nur ein Verehrer. Ein, weiter angenommen, ausnehmend hartnäckiger…“
Wenn der Professor so beharrlich über Liebesdinge spekuliert, weiß er auch von der Regentin und dem Monsignore Zirngibl.
„Ich behalte alles im Auge in diesem unserem Land.“
Jetzt hat ers ausgesprochen. Die Regentin ist dankbar für den grünen Schummer. So bleibt es ihrem Ernstl und dem Professor verborgen, dass sie tiefrot anläuft. Kissennahe Liebhaber wie weit entfernte Ver-ehrer stehen unter immerwährender Beobachtung, auch bei ausgeknip-ster Schlafzimmerbeleuchtung, der Professor baut Okulare für Nacht-fluggeräte.
Und nicht Automobile ! Weil sie heimlich von Dieselkarossen träumt sinniert der Regent. Wo sie doch den Riesen hat zur Fortbewegung ! Auch dieser Fehltraum wird im Auge behalten werden. Die Gattin ver-wechselt überhaupt immerzu die leitenden Herren. Sobald ihr einer den Rücken zuwendet, kann sie nicht mehr beschwören, welches Gesicht der vorne dran hat – das des Vorstandsvorsitzenden der Motoren- und Turbinenunion oder das von der BEADS mit ihren besonderen Flug-körpern oder das vom Baron Treidlein mit seinen Banken und Ver-sicherungen oder das von Biehl GmbH&CoKG mit den Panzerketten. Sie alle haben Sitz und Stimme im Großen Konsortium und der primus inter pares ist Professor Haberstock, Großmogul der Nachtfluggeräte.
Der im Schummer seiner grünen Lampe selber einem Nachtwesen gleicht. Einem blinzelnden Greifvogel, von dem man nicht weiß ob er schläft oder gleich zum Sturzflug ansetzt. Ihm als Abkömmling einer langen Ahnenreihe von Optikindustriellen genügt diese wohldosiert ma-gere Lichtquelle, sie schult das Auge, Dämmerlicht stärkt die Kräfte der Konzentration und der Reflexion, die Sinne fallen in keinerlei Ver-suchung und richten sich auf das Wesentliche. In der Tageshelle verludern die Sinne, weil sie zu üppig bedient werden. Auch in einem Rechner ist es dunkel. Eigentlich sind Farben Feinde, ein ablenkendes Faschingsgesox ; mit dem Schwarz begann die Evolution, und die Nacht ist das Element Haberstocks : durch sie geleiten seine Geräte die Waffen zu dem schnarchenden Feind, um ihn zu vernichten.
So spräche er, wenn er seine Innereien aufschraubte. Aber er schraubt sie nicht auf vor einem Ernstl und einer Traudl, Berufsschullehrer und Fußpflegerin, er legt seine Bauteile und Schräubchen nicht vor dem Dienstpersonal aus. Die vor ihm im Dunkel ausharren, reglos wie die lehnenlosen Hocker auf denen sie sitzen müssen. Er gönnt ihnen dass sie in den nächsten Tagen ihr Steißweh bejammern werden, statt zu liefern wofür das Große Konsortium sie sich hält.
„Ihre Reisen, meine Lieben, führen nicht egalweg in ein und dasselbe Kirchweihzelt. Wir sind einer der avanciertesten modernen Industrie-staaten und nicht ein immerwährendes Gäubodenfest. Der Riese, den wir Ihnen anvertraut haben, der steht auch für die Grundwerte. Das ungeschriebene Gesetz, nach dem das Große Konsortium das Staatsschiff lenkt. Das Numinose, werter Ernstl, wie es der monar-chischen Idee wesenhaft ist. Sie haben die Ehre, und Sie wissen, wer dafür finanziell gradesteht, das Sie da oben auf den Riesenhänden sitzen können, auf Bauchhöhe, wo bei einem Großbauern die Uhrkette hängt mit diesem Geklunker dran, das man ländläufig wie nennt - ?“
„Charivari“.
„Exakt. Aber Sie sind, mein Gutester, keine Uhrkette und kein Chari-vari. Und ich hoffe doch für uns beide, Sie haben nicht dieses Selbstbild. Sondern Sie sind was- ?“
„Ich bin die Verkörperung des einfachen Menschen in diesem un-serem Lande.“
„Exakt. Sie sind Jedermanns Nachbar und die Ihnen Angetraute ist jedermanns Nachbarin, und was aus ihrem Munde kommt muss sich anhören als ob die Volksgemeinschaft selber spricht, auch wenn die noch längst nicht so weit ist zu weiß wovon Sie da reden. Aber : Sie haben es so zu sagen, dass die Volksseele es selber in den Mund neh-men kann. Wir verstehen uns doch, Ernstl ?“
Ernstl ist, als ob er aufstehen musste wie ein gerügter Schüler in sei-ner Berufsschule in Forchheim. Da ihm aber die Gattin nicht den dazu nötigen Schubser gibt, bleibt er sitzen, weit außen auf der Kante seines grausamen Sitzmöbels.
„Ihre Reden lassen in gewissen Hinsichten zu wünschen übrig, mein Lieber. Das Staatsvolk muß moralisch gehärtet werden für Ernstfälle die uns ins Haus stehen. Unzweideutig konturieren, bitt ich mir aus, warum seinerzeit Trennung von der nordwestdeutschen Republik !“
Professor Haberstock setzt streng eine Pause.
„Also, warum Trennung ?“
„Um nicht“, und nun steht Ernstl doch auf, “behin¬dert zu sein durch rüstungsbehindernde Verträge auf internationaler Ebene.“
“Exakt ! Und nicht etwa weil sie da oben keinen Schuhplattler mögen. Endlich freie Bahn, heißt das, für heimischen Erfinder-Impetus etce-teraetcetera namentlich im Bereich Nukleares und Weltraum etcetera-etcetera. Energische Erweiterung des Pazifizierungs-Arsenals etcetera-etcetera. Letzteres natürlich nur in ausgesucht kleinerem Kreis dar-stellbar.“
„Habs immer beherzigt, Herr Professor.“
„Herausstellen, dass die Identität des Landes steht und fällt mit Waffenproduktion. Uralte Wehrhaftigkeit etceteraetcetera. Ständig be-wusst halten Tradition Schützenvereine etceteraetcetera. Bild des Tem-pelritters heranziehen…“
„Hier wiederum monarchische Idee einbringen…“
Ernstl, stehen geblieben, ist stolz den Stoff flüssig präsent zu haben.
„Axiomatisch darstellen : Krieg lediglich Fortentwicklung des boden-ständigen Fingerhakelns. Und Atomraketen nichts anderes als –„
„ - die legitimen Nachfolger von den Maßkrügen, wie sie bei einer jeden Wirtshausrauferei zum Einsatz kommen.“
Es wäre Ernstl lieb, wenn der Professor sich nun ein Zwischenprüfung befriedigend in sein Büchlein schriebe. Das gemahnte ihn warm an seine amtspädogogische Vergangenheit in Forchheim, als er noch nicht die Krone tragen musste, wenn auch nur symbolisch. Aber Haberstock führt keine Büchlein, Beurteilungsbögen und Personalregister, wie Ernstl sie aus dem Schulbetrieb kennt. Haberstock ist selbst ein Registrierter und Beobachteter, seine Macht ist die Macht der Großrechner des Großen Konsortiums. Um ihnen dienstbar zu sein, muss er nun schon wieder beobachten, was die Rechner ihm ins Haus tragen, zur Beobachtung vorlegen, auf den Monitoren sichtbar machen, die in seinem Schreibtisch versenkt sind. Die Regentin greift nach des Regenten Hand und zieht ihn hinaus.
„Er hat mein Gutester zu dir gesagt. Wie zu einem Kater. Und zweimal hat er dich sogar Ernstl genannt. Ernstl ! So redet man doch nicht mit einem Staatsoberhaupt !“
Auf dem Weg durch den leeren Firmensitz Professor Haberstocks ist niemand zu sehen. Büroschluss. Und dazu versagt der Lift seinen Dienst. Die zugehörige Treppe muss das Regentenpaar allein ausfindig machen.
„Manchmal frag ich mich schon“ keucht die Regentin, nachdem sie sich zweimal verstiegen haben “ob die monarchischen Zeiten wie sie früher einmal waren dem Menschen nicht mehr Würde gelassen haben.“
Der Regent hofft inständig, dass die Treppenhäuser nicht abgehört werden. Ein neuer Regent ist schnell gefunden und einer der sich nicht bewährt noch schneller aus dem Verkehr gezogen.
„Die Fürstin Lichnowsky erzählt sogar….ich hab sie ein paarmal mit-reisen lassen, damit das Reserl ein bisserl einen Schliff kriegt, der was noch was ausstrahlt von dem so ganz gewissen Eleganten das was am k. und k. Kaiserhof im Schwange gewesen sein soll…also die Fürstin Lichnowsky erzählt sogar, seine Majestät der Kaiser Franz Joseph hätt seinerzeit immer von seinen Untertanen dass…“
Sie muss ihre Anekdote unterbrechen, weil aus der Loge am Ausgang ihre Ausweise verlangt werden. Sie protestiert mit einem naheliegenden Ja wissen Sie denn nicht wen Sie vor sich haben, und der Wachhabende kontert mit einem ebenso naheliegenden „Das darf ich gar nicht wissen, weil die Sicherheitsstufe bei uns im Hause ist die schärfste in der Branche überhaupt“.
Die Schranke hinaus in die Nacht öffnet er ihnen dann aber doch mit einem leutseligen wenn auch flüchtigen Tippen an die Dienstmütze. Es regnet. Um diese Stunde wird wieder das Herz des vorigen Regenten durchs Land getragen, und dem jetzigen Regenten tut es gut sich vorzustellen dass viele Hände sein eigenes, eben Ernstls Herz berühren wwerden, wenn die Reihe an ihm ist und das Herz silberumkleidet.
„Ich schäm mich für dich, dass du dich so demütigen lässt, Ernstl.“
Und vergleicht ihn wieder einmal mit dem Monsignore. Nicht nur, dass der festere Hände hat, eine zupackendere Libido und einen barockeren Appetit. Die Leitungsinstanz des Monsignore ist Gott der Herr im Himmel und nicht das Große Konsortium mit seinem Professor Haber-stock.

Unter dem Schreibtisch hat der Gnom gesessen. Er hat dem Regenten und der Regentin nicht, wie mans von ihm erwartet, die Schuhbänder zusammengeknotet. Und das nicht nur, weil die beiden zu weit vonein-ander entfernt saßen. Er wollte ihnen nicht auch noch zumuten, dass sie sich vor ihrem Dienstherrn unwürdig verstolpern.
Wenn der Gnom Professor Haberstock über die Schulter schaut, der über seine Monitore gebeugt ist, sieht er Bilder von Truppen-Aufmär-schen, versammeltem Kriegsgerät, das unter fernen Sonnenhimmeln schimmert, Waffeneinsätzen, Angriffsmomenten, Explosionen und daraus sich ergebende Diagramme.
„Dafür gehört das Volk begeistert.“
Aber Haberstock selbst weiß am besten, dass dieses Bildschirm-geflacker zu unsinnlich ist. Eine Lust für Ingenieure, aber nicht für die, die es eigentlich begeistern soll und die an ihren Videospielen Maß nehmen.
„Wir brauchen, eine neue Ästhetik des Krieges von Ihnen.“
„La guerre kann ich nicht. Krieg konnte ich noch nie. Des affairs politiques und das Militär haben mich noch nie interessiert und gar inspiriert. Fi donc ! Kriegshandwerk, das bedeutet für den Baumeister: die Bauarbeiten werden fürs erste unterbrochen. Truppenbewegungen bedeuten, es kommt kein Gips mehr durch. Kavallerie bedeutet, das Blattgold wird gestohlen. Und Truppenaushebung bedeutet, sie werben mir die Maurer und Tischler ab und machen Grenadiere aus ihnen. Und wenn sie je zurückkehren, können sie nicht mehr maurern und tischlern weil der oberste Kriegsherr ihre Hände einbehalten hat.“
Aber heutzutage, wendet Haberstock ein, schaffen die Rechner alle gewünschten Materialien in Mausclickschnelle herbei.
„Töten kann ich nicht darstellen.“
Bukolisches kann er darstellen, Glück, Nymphen im Schilf, Flöten-blaser, den Traum vom Leben jenseits der Schlachten.
„Sie haben auch Blutrünstigkeiten dargestellt. Und Kampf !“
„Jamais !“
Hunde, die sich in Eber verbeißen. Durchbohrte Sauen. Damen nicht nur nackt sondern auch im Harnisch, Helme auf den Köpfen und Speere in den Händen.
„Zu mehr als zu Hofjagden sollten sie nie stimulieren.“
Hofjagden. Der Gnom hat sich verfangen. Hofjagden sind allemal mörderisch, jedenfalls für die Tiere.
„Die Kurfürstin selbst hat geschossen !“ schiebt Haberstock dazwischen. „Und schießen ist schießen. Und ein gezogenes Rohr ist ein gezogenes Rohr. Fragt sich nur noch, welches Kaliber durchgejagt wird, und auf wen.“
Wer es in die Hand nimmt, hat schon seinen Kontrakt mit Mars be-siegelt ad infinitum. Oder mit Kain. Oder mit beiden. Eine Welt sans guerre ist eine Lüge und die Lüge fällt auf den Lügner zurück und besudelt ihn. Macht ihn zum Schmarotzer derer, die das Bluthandwerk an seiner Stelle verrichten müssen. Denn verrichtet muss es werden.
„Les chasses gehörten zu den Festivitäten, die ich zu arrangieren hat-te. Wie die Redouten, wie die Oper, wie -“
„Es ist scharf geschossen worden ! Reden Sie bloß nicht heraus. Auf Wild, das an der hochgestellten Jadherrin vorbei getrieben worden ist. Und hochgestellt war das betreffende Frauenzimmer nicht bloß, weil sie die Tochter des Kaisers war, sondern vor allem weil sie auf einem Dachbalkon stand, den Sie ihr errichtet hatten, mein Herr premier ar-chitecte. Eigens zu diesem und zu keinem anderen Zweck. Piffpaff ! Und die Hofschranzen mit gespannten Flinten im Halbkreis um sie herum.“
„Es war eine Lustbarkeit, damals.“
„Krieg ist immer noch eine Lustbarkeit .“
Wer sein gutes Geld in Waffensysteme gesteckt hat, will sehen wie sie gut eingesetzt werden. Er will zuschauen, wie sein Geld siegt. Die Kurfürstin war siegreich bei den Fasanen, der Investor von heute will siegreich sein all over the world.“
„Monstre cynique Sie ! Ich binde Ihnen die Schnürsenkel am Stuhl-bein fest“ knurrt der Gnom mopsartig, und zeigt seine Zähne dabei.
„Monstre du mensonge“ knurrt Haberstock zurück.
Aber er fletscht seine Zähne nicht. Ihm glaubt man auch so dass er ein Raubtier ist. Wenn der Gnom mit seinen früheren Dienstherren Bau- ten und Taten ausgeheckt hat, mit Max Emanuel oder mit seinem Sohn, dem Kaiser für eintausendvierhundertvierundvierzig Tage, dann inmitten eines Gewimmels von Ordonnanzen, Mundschenken, Bau-zeichnern. Die Maitresse, die jeweilige Maitresse saß mittendrin, in einer marmornen Badewanne, und die Kuppelbedachung, die der Gnom eben noch vorgeschlagen und ausgemalt hatte, zerbrach bereits, ehe sie errichtet werden konnte unter den Würfen ihrer Badebürsten und Flüche. Die sich daraus ergebenden erotischen Attacken des Kurfürsten, von den Schoßhunden der Maitresse bekläfft, inspirierten den Gnom zu fein geschnitzten Reliefs, in denen die Maitresse die Nymphe und der Kurfürst der Faun war. Oder das Meeresungeheuer, der Schafbock, das wasserspeiende Dromedar. Der Mantel eines Botschafters der in diesem Getümmel seine Aufwartung zu machen hatte und der im Badewasser der Maitresse landete, inspirierten ihn zu einem Turban für den Meeresgott, das zwitscherige Gewirbel der Zofen verwandelte sich für den Gnom in Linien, Farben, Verkröpfungen und Rocaillen.
Die bodenständigen Baumeister, schwerfällig wie ihre Balken, neide-ten ihm diese Kunstfertigkeiten. Esprit / wia a Vieh wurde in den frisch-geworfenen Mörtel seiner Bauten geritzt.
Wenn der Gnom das Haus verließ, folgten ihm die Gesellen Effners, manchmal sogar die eigenen, von den Effnerischen besoffen gemacht, hinkten quiekend hinter ihm her und spielten die Überzwerge, so dass alle Passanten stehen blieben und sich ergötzten an dem fremd-ländischen Zwergerl, dem ein Gefolge von einheimischen hinterher hinkte wie ein Trupp Ferkel. Der Gnom verließ das Haus nicht mehr, nur noch in der Kutsche, aber dieser folgten sie ebenfalls der fremd-ländische Herr hats notwendig dass er nimmer zu Fuß geht ! Und alles auf Kosten des Kurfürsten, also jedermanns Steuerkosten. Effner ging betont zu Fuß, die Beine weit auseinander, schwergewichtig wie einer von seinen Ziegelsteinen, und besah sich das Schauspiel mit seinem kantigen Gesicht. Aus Stahlbeton, der nur eben noch nicht erfunden war.
Der Gärtnerssohn aus Dachau, der nur gerade Rabatten eingelernt bekommen hatte von seinem Vater, Buchsbaumhecken, Dachauer Buchsbaumhecken, die mit der Sichel Tag für Tag kurz gesäbelt wurden damit sie nicht auswucherten, die man klein und medioker hielt, wie er selber, der Effner Joseph, klein und medioker gehalten worden war, jeden Abend Rosenkranz beten musste, dem Wucherungen ein Graus blieben sein Leben lang, auch als Stuck : was drübersteht gehört beschnitten mit der Gartenschere ! Und gefangene Maulwürfe gevier-teilt. Noch nicht einmal mit einem Grinsen, sondern mit dem kalten Auge eines Maurerpoliers der mit zusammengekniffenen Lidern Schiene und Lot ansetzte und den Lehrling prügelte. Effner war von seinem Gärtnervater aufs Säuberliche gedrillt worden. Wer nicht säu-berlich war, kriegte die Zähne des Rechens in den Hintern, da hatte der geharkte Kies zu sein und da der Rasen, und dazwischen die Begonien in säuberlicher Reihe wie die Gardesoldaten. So erzogen, verwünschte der Gärtnerssohn Effner die französisch parfümierte Dekadenz, die der Kurfürst aus dem Ausland mitgebracht hatte, obwohl er, Effner das Wort dafür noch nicht einmal kannte. Und mit ihm den Zwerg, der ein Teil davon war, und doch auch für Effner das Ganze : das Wider-natürliche in Schrumpfgestalt. In Effners Bauerngehirn wollte keine Ro-caille reifen, er musste sie abzeichnen aus dem französischen Mus-terbuch. Die bukolischen Szenen, die der Gnom entwarf waren für Effner, den Kirchenfrommen, heidnisches Gewüste, Hexensabbat und türkisches Bad zugleich. Ingrimmig zählte er die Frösche in den stukkierten Tümpeln des Gnoms : Froschfresser ! der will lauter Froschfresser machn aus uns !
Und lauter Sieche, die an der französischen Krankheit leiden, die man sich bei dene Nimpfffnweiber holt, bei diesen Nymphen, die Cuvilliés‘ Rankenwerk bevölkerten, die Syphilis. Er nannte sie immer nur die französische Krankheit, als sei der Gnom es gewesen, der sie eingeschleppt hatte. Bewahrt sollte der allergnädigste Kurfürst ( mit seinen üppigen Bauaufträgen ) vor so eindeutigen Zweideutigkeiten werden, und wenn Effner sonntags zur Messe ging ( und er ging jeden Sonntag zur Messe, und ließ auch keinen Rosenkranz aus, sogar auf der Baustelle ), dann betete er dös heidnische Zeigl weg und dass das Landvolk es nur nicht zu sehen kriegen möge, sonst steckte es sich an der französischen Krankheit an und verlangte Frösche zu essen statt Schweinernes mit Erdäpfeln und Wirsing.
Mit einem Gesicht aus Stahlbeton, der nur noch nicht erfunden war, aber in Effners Zügen schon vorausgeahnt, banden Effners Maurer-gehilfen dem Kuwilier Stelzen an die Beinchen und er musste darauf laufen.
„Damit er no gigantischer werd, unser gigantisches Architekterl !“
Und sie ließen ihn zum Gaudium der Zimmerleute auf Dachshunden reiten, die drauf dressiert sind, in Dachsbauten einzudringen. Wenn sie in die eindrangen Fass Hunderl fass Dachserl ! und ihn abstreiften, hoben sie ihn auf, erdverkrustet, und ließ ihn auf einen Wink Effners im Mörtelbottich zur zweiten Etage von Effners Neubau hoch hieven, den ins Schwingen und Kreiseln versetzen und gegen die unverputzte Mauer krachen, dreimal, zehnmal, ein dutzendmal, bis Effner der Hiesige die Gnade hatte, in die Runde seiner Bauleute zu rufen „Wo isn jetz blos der Mössjöh Franzos blieben ?“
Die Bauten, die unter solchen Vergnügungen errichtet wurden, gingen besser vonstatten als die Effners und der anderen und gefielen dem Kurfürsten. Dem Gnom aber blieb die immerwährend, diese anderen könnten es nicht bei solchem Gaudium belassen, sondern ihn mit ihren Mistgabeln und Dreschflegeln niedermachen, wo isn jetz blos der Mössjöh Franzos blieben ? und zwischen Ziegelstapeln verenden lassen.
Ein Stallknechtland in dem nur Misthaufen wuchsen. Aus Angst vor den Stallknechten verzog der Gnom sich in die Gespinste seiner Stukkaturen beauté ! beauté ! beauté ! Er verließ sein Haus nicht mehr, suchte Zuflucht in seinen Entwürfe, die auf dem Boden ausgebreitet waren, weil er Leitern nicht ersteigen konnte, kroch über den Estrich, zeichnete seine Paneele in ihrer natürlichen Größe, die Palmetten und Kartuschen, und wenn er den hasserfüllten Atem Effners immer noch im Nacken zu spüren meinte, zeichnete er ihn in seine Ornamentenwelten mit hinein, ließ den Alleskönner, Allesbewirker, der es nötig hatte einen Zwerg zu bekämpfen, einen Tritonen sein, der in Entengrütze herum-plantscht und dem Fontänen aus den Ohren schießen. Oder einen Pavian der einer Schönen den Spiegel halten muss, ein Nilpferd auf dem einbeinig die Marabus stehen.
Sein Kurfürst war selbst ein Künstler darin, Bauten hochzuziehen und Armeen zu rekrutieren einen Sou in der Kasse. Der Kurfürst verrannte sich in seine Art von beauté, die kostspieligste und halsbrecherischste von allen, die beauté de guerre. Und brach sich den Hals dabei. Oder doch den seiner Untertanen, die den Krieg erdulden mussten. Sein Land war ihm Last und Verdruss, wie seinem späten Nachfolger Franz Xaver Schmautz, beide wollten es lebenslang eintauschen gegen ein größeres, an der See gelegenes, den Rhein und zugleich die Alpenpässe be-herr-schendes, im Mittelpunkt sich kreuzender Heerstraßen, einen bequemen Tagesmarsch entfernt von London, Paris und Madrid.
Und ohne einen Misthaufen.
Aber mit einem Dekorateur zur Seite, der ihren Hofstaat mit weithin sichtbarer Ornamentik versah. Die Verwöhnung durch ihre Mütter hatte sie krawallsüchtig werden lassen von kleinauf, lebenslang kuschelten sie sich unter Frauenregiment, liebten das Kriegerische wie vom Schau-kelpferd herab. Cucci sie beide, Muttersöhnchen, und stets tränenbereit. Der Kurfürst weinte nachts aus Angst vor der gestrengen Fürsorge seiner italienischen Mamma und schrie gleichzeitig nach ihrer heißen Scho-kolode und ihren weichen Armen, Jahrzehnte noch nachdem sie gestorben war. Franz Xaver Schmautz zog, sogar wenn seine Minister zugegen waren, den Kopf noch tiefer in den Rumpf aus Angst vor seiner Gattin, dem schrecklichen Annamirl mit ihrer noch schrecklicheren Bier-fahrerstimme. War er darum so gut Freund mit dem Winzling Francois de C. und seiner Fistelstimme ? Wollte er ihn darum ständig um sich haben, auch in seinem Flugzeug, seinem liebsten Schaukelpferd, und obwohl er ihm nie einen Auftrag erteilte ? Alles was er an Kunstleistung verlangte war, dass der Gnom sein Gefolge zentimeterdicht um ihn herum arrangierte, eng wie Votivkerzen um eine gipsernen Sankt Aloysius,damit das Volk seine dünnen Beine nicht sah, abgenagt wie die Röhrenknochen aus dem Metzgerladen seines Vaters. Damit das Publikum, ständig ergriffen, das Missverhältnis nicht wahrnahm sollte wie wenig barock seine Waden waren im Vergleich zu seinem Elan beim Zupacken, wenn Gewinne lockten und der Wucht seiner Reden. Wer noch einmal ein Gewehr in die Hand nimmt, hatte er als Junger im Bierzelt gedonnert, das sein Mistbeet und Wurzelgrund war, dem soll die Hand abfallen. Späterhin wurde es ihm zur Passion, mit Kriegsgerät Geschäfte zu machen und seine Hand wurde golden davon. Geschäfte, die Professor Haberstock, Schmautzens beflissenster Schüler, nun fortführt, der ebenso kurzhalsig ist, sogar gänzlich ohne Hals. Der Gnom, wenn er jemand berät, pflegt sich in dessen Nacken zu setzen – wo aber soll er Platz nehmen, wenn da kein Nacken ist ? Und auch die Beratung wird in die Irre gehen, denn Kurzhalsige wittern hinter sich immerzu Verschwörungen, wispernde Subalterne. Es ist schwer, einen massigen Körper behände zu drehen, die hinter dem Rücken geflüstert haben sind dann schon längst verstummt und unbefangene Mienen aufgesetzt. Franz Xaver Schmautz, um seine Halslosigkeit zu kaschieren, warf seinen Kopf hoch, schleuderte ihn in die Lüfte wie eine der Raketen, die er ersehnte und nie bekam. Nun sind die Raketen da, und Franz Xaver Schmautz in der Hölle. Haberstock und sein Großes Konsortium vollenden sein Werk. In der Nacht, wenn das Herz des Regenten durchs Land getragen wird, addieren die zusammengeschalteten Großrechner, wieviel Reibach heute die Bewohner dieses Landes wieder an den Kriegen in aller Welt verdient haben, an Tretminen und Drohnen, wieviel Schuss pro Kopf abgegeben wurden und wieviel Gewinnausschüttung sich daraus ergibt. Wieviel Reibach pro Kopf einer glücklichen Monarchie. Auch für Gerstl, den Monsignore, Krenleitner und die Träger, die das Herz des vorigen Regenten durchs Land tragen.

Die reich verzierte Doppeltür öffnete sich. Ein Flügel, aber nur einen Spalt weit, als wollte sich eine Katze hindurchschlängeln. Aber es schlän-gelte sich niemand, und die Tür fiel unhörbar wieder ins Schloß. Der Gnom ging um den Tisch herum der in der der Mitte des Raumes stand, um die Katze zu begrüßen. Aber da war keine Katze. Sondern ein Zwerg wie er, unter Puderperücke, mit Jabot und seidenem Leibrock und hielt sich mit marzipanenen Fingern den Dreispitz vor der Brust. Nur der Zierdegen fehlte. Sie streckten beide den Zeigefinger nacheinander aus und lachten.
„Du bist ein Wurstel.“
„Und du bist ein Lachpropf.“
Sie umkreisten einander, kichernd.
„Du brauchst dich nicht lustig machen über mich. Ich antichambriere.“
„Was isn das ?“
„Ich habe hier zu
warten bis seine Hoheit der Allergnädigste ….“
„Du willst sagen der Allerwerteste…“
Sie verschluckten sich beide an ihrem Lachen. Draußen näherten sich Schritte. Augenblicklich richteten sie sich grade. Aber niemand trat ein. Fliegen summten, und die hohen Fenster warfen ihr Licht übers Parkett. Heißes Sonnenlicht, das sie unter ihren Hofkleidern ins Schwitzen brach-te.
„Ich werde zuerst vorgelassen.“
„Untersteh dich. Mein Papa verhaut dich.“
„Ich bin nämlich ein Künstler. Ich hab das da gemacht.“
Der eine Zwerg wies zur Decke mit ihren Stukkaturen. Der andere Zwerg schaute nicht hinauf und sagte trotzdem „Das kann ich auch.“
„Bist du auch Architekt ?“
„Ich bin Klaviervirtuose.“
„Das glaub ich nicht.“
„Dir glaub ich auch nix.“
Schritte draußen. Wieder trat niemand ein. Fliegen summten. Man ließ sie schmoren. Der Schweiß rann, und bei dem einen Zwerg lief die Schminke aufgelöst in den Kragen.
„Du bist ja angemalt !“
Unter der Schminke war der andere Zwerg ein alter Mann. Aus seinen Runzeln quollen Schweißperlen.
„Dann bist du auch kein Künstler wenn nix echt ist an dir“.
„Den Tisch da hab ich auch gemacht“ verteidigte sich der Alte und wagte nicht sich den Schweiß abzuwischen damit sich nicht auch noch der Rest seiner Schminke auflöste.
„Und die Ornamente an den Wänden !“
Auf den zweiten Zwerg machte es keinen Eindruck. Er fuhr dem angemalten Alten mit dem Finger über die Wange und tunkte sie in die Schminke. Die Fingerkuppe, nun fettig rosa, steckte er in den Mund.
„Iiiiih ! Nicht amal wenn ich eine Fliege wär, tät mir das schmecken.“
Er war ihm um eine Ohrfeige zu tun. Wer geohrfeigt wird als un-schuldiges antichambrierendes auf sich allein gestelltes Kind im Sonntagsstaat, der darf kreischen bis die Lakaien gerannt kommen : was tut denn der Unhold dem armen Buberl an ! Und wurde zum Trost als Erster vorgelassen.
Aber der Alte erhob keine Hand.
„Schäm dich, meine große Schwester ist viel mannhafter als wie du Feigling ! Die haut zu, wann ihr danach ist.“
Und riss dem Älteren die Perücke herunter.
„Jetzt bist du dran. Reiss mir meine runter !“
Aber die Haare des Kleinen waren seine Haare. Festgewachsen, nur gepudert. Der alte Zwerg bettelte. Er bekam dafür die Zunge des Jün-geren zu sehen. Der Jüngere lief schneller. Der alte Zwerg glitt aus auf dem Parkett, das er selber hatte legen lassen.
„Und die Vase da hast du auch gemacht, du Angeber ?“
„Die hab ich auch gemacht“.
„Dann schau doch amal nach was drin ist !“
Und warf die Perücke in die Vase. Schritte draußen. Diesmal nä-herten sie sich der Tür. Wer zur Audienz gerufen wurde, durfte ums nicht kahlköpfig vor dem Kurfürsten erscheinen. Der alte Zwerg griff mit seinen Ärmchen in die Vase und ererangelte nichts.
„Hättst sie bloß nicht so groß machen brauchen, bäh !“ freute sich der jüngere Zwerg. Dem Gedemütigten blieb nichts, als schwitzend einen Sessel heranzuziehen und in die Vase zu klettern. Ihr Schlund wiederum war so eng, dass er sich seines nassen Leibrockes entledigen musste. Die Tür, diesmal beide Flügel, tat sich auf, als er eben in der Vase ver-schwunden war.
„Monsieur de Cuvilliés chevalier de bouche wird vom Kurfürsten zur Audienz beordert !“ sagte der Diener. Er sagte es noch einmal, da er nur ein grinsendes Kind vor sich sah.
„Der Monsieur den wo der Monsieur Diener gewärtigt, das is einer der wo nicht vorhanden ist“, sagte das Kind „ich aber schon“
Und grinste weiter.
„Und wie ist dein Name, Bub ?“
„Amadé Mozart aus Salzburg. Der Kurfürst wartet schon lang auf mich.“
Als es Cuvilliés endlich gelungen war, sich aus der Vase zu befreien ohne diese zu stürzen und seinen Rock auszog, um den Staub davon zu entfernen, bemerkte er dass sein Schädel kahl, weil seine Perücke in der Vase verblieben war. Vermittels eines Sessels gelang es ihm unter Mühen, diese zu sich herauf zu angeln, wiederum ohne die überaus kostbare Vase zum Umstürzen zu bringen. Als er büschelweise tote Insekten, Tabak und Präservative aus seiner Perücke klaubte, die nun mit Wollmäusen bestäubt war statt mit Haarpuder, hörte er ein Clavichord durch die Flure tönen. Er hörte es viele Stunden lang, denn man hatte ihn über der Darbietung des Buben in dem Antichambre vergessen.
Der Kleine, der sich von Improvisation zu Improvisation fortschwang, hatte danach nur noch dreißig Jahre zu leben und ist niemals größer geworden als er damals war. Der Gnom stand in seinem sechsund-sechzigsten Jahr und ist gleichfalls so groß geblieben wie damals.

9. Kapitel
worin nach vollbrachtem Tag- oder auch Nachtwerk in unterschied-liche Häuslichkeiten heimgekehrt wird

Isartor. Rosenheimer Platz.
Niemand redet mit einem anderen. Niemand liest. Zugesperrte Gesichter.
Was sich der Dingsda wohl heute wieder für eine Gemeinheit aus-denkt, echt abgschossen g‘hört so einer als Chef. Wenn ich so eine Wampe hätte wie meine Nachbarin tät ich mich schämen wenn ich in die S-Bahn einsteig. Ein solcher Mundgeruch schon in der Früh langt dem Kerl neben mir net, er muass auch noch furzen dazu.
Mit den Augen des Wachmanns vermerkt Amplinger eine beim Aus-steigen hingeschmissene Zeitung von vorgestern, die unter dem Luftzug der geöffneten Tür ihre Blätter über das ganze Abteil zerflattert.
Ostbahnhof. Leuchtenbergring. Zugesperrte Gesichter.
Ich bin gespannt wieviel sich heut wieder krank gemeldet haben in der Firma und allein an mir bleibts hängen mit dem Nacharbeiten. Das nächste Mal wann wieder einer so kommt hau ich ihm echt eine in d’Fotzn.
Amplinger, mit den Augen des Wachmanns, vermerkt Fettpapier, das hinter den Sitz rutscht, Ketchup-Schlieren hinter sich herziehend, die aussehen wie geronnenes Blut.
Berg am Laim. Trudering.Gronsdorf. Zugesperrte Gesichter.
Ich hätte der Gisela echt eine reinhauen sollen mit voller Wucht da gehört eine Tracht Prügel her eine andere Währung gilt nicht bei so einer.
Amplinger, der Wachmann, vermerkt dass der Boden voller Zigaret-tenkippen ist, trotz Rauchverbots. Der, der einer Gisela eine reinhauen will, walzt in seiner Wut auf den Kippen herum, bis das Papier unter seinen Schuhen platzt und der rußige Tabak sich unter seinen Sohlen ausbreitet, als wäre einem erlegten Tier das Fell abgezogen worden.
Haar.Vaterstetten. Baldham. Zugesperrte Gesichter.
Dem präsentier ich die Quittung dass es nur so staubt der wird sich noch umschaun so ein Rotzkrüppel so ein elendiger schon mit sechs Jahr erschlagen gehört so einer schon mit sechs Jahr danach ists z’spät derschlagen sag ich derschlagen.
Die Füße dessen der einen anderen erschlagen will stehen in einer Lache aus ausgelaufener Cola. Oder ist es Urin ? Sein eigener Urin ?
Derschlagen derschlagen derschlagen
Zorneding. Eglharting. Kirchseeon.
Wenn Amplinger in seiner Schlafstadt ankommt, sind die anderen im-mer schon fort. Der Werktagsbeginn der anderen ist sein Feierabend. Ein umgedrehtes Leben. Kirchseeon hat nur diese eine Straße. Mit drei Schaufenstern. Bei zweien ist die Blechjalousie heruntergelassen. Im drit-ten ein Schild AUSVERKAUF. Die Penner sind wieder mehr geworden seit gestern abend. Sie haben hier ihr Lager aufgeschlagen, weil die Fäu-ste der Schwarzen Sheriffs sie aus ihren warmen Schlafecken der Innen-stadt herausgeprügelt haben. Er erteilt sich die Anweisung, sie nicht zu verfluchen, wenn er über ihre leeren Magenbitterflaschen steigt. Die Flaschen gesellen sich zu dem, was die Jugend fortgeworfen hat, und das nicht mehr nur in den Rinnstein. Als wäre diese Schlafstadt schon aufgegeben. Keine Einwohner mehr, nur noch Einpendler, eine Grube schon gefüllt mit Hinterlassenschaften und Nachlässen Fortgezogener, senfverkrusteter Pappe, Fahrradleichen, tote Tiere, Präservative. Aber auch das quer über die Eisenjalousie des aufgelassenen Konfektions-geschäftes gesprayte FUCK THE TEACHERS mit dem rosagrünen Penis registriert er nicht als Ordnungswidrigkeit, die wachmännisches Ein-schreiten erfordert. Das alles könnte ja Teil der Inszenierung des Gnoms sein, fluctuation, wie er , Amplinger, selbst Teil der Inszenierung ist.
Wenn er sein Appartment aufschließt, kommt schon lang nicht mehr die Frage Und wie wars im Dienst ?
Er richtet das Essen. Für die mit, die nicht mehr fragt.
„Du Anna, ich hab mich erkannt heut im Spiegel. Ich hab ein Profil wie auf den alten Münzen.“
Da sie nicht mehr fragt, gibt er ihr gleich alle Antworten vorweg.
„Ich hab ein Münz-Profil, Anna ! Wo ich doch immer gemeint hab ich bin bloß ein Grauer mit einer Dienstnummer im Kittel. Aber ich bin kein Grauer, ich bin bloß immer ein Bescheidener gewesen. Schon, ich steh in der zweiten Reihe, aber vor mir in der ersten Reihe steht eine große Auf-gabe. Eine gesunde Reihenfolge.“
Wie auch Friedrich der Große in der zweiten Reihe gestanden ist hin-ter seinen Aufgaben, verstehst Anna, ganz ohne Goldtressen und im grau-en Rock. Oder der Prinzregent Luitpold.
„Verstehst, Anna.“
Der schlichte Landesverweser in seinem abgeschabten grauen Loden-anzug mit der Schnupftabaksdose dort wo bei anderen Potentaten die Brillanten gesteckt sind, und hat seinen Schnupftabak auch noch mit dem letzten Jagdgehilfen geteilt.
„Oder denk an den Adenauer. Ein Grauer, ein Zurücksteher, bis seine Stunde da war. Und genau in dem Sinn wird die Stunde da sein für deinen Josef Maria und er ist auf einmal der Wachmann für ein ganzes Land.Verstehst, Anna.“
Kauend schaltet er den Fernseher an zu den Abendnachrichten. Es ist Vorschrift so, die neuen Gesetze werden nach den Abendnachrichten bekannt gegeben, zuvor die Gewinne aus dem Verbrauch weit draußen in den Konfliktfeldern der Welt, wie viel Schuss pro Kopf und wie viel Gewinnausschüttung hieraus, das Staatsvolk rechnet aus, ob sich wiederum die Beteiligung an der Produktion von Tretminen und Drohnen wiederum ausgezahlt hat. Die Gesetze schaffen Gelegenheit um sich für den folgenden Kriminalfilm mit Trinkbarem zu versorgen. Man ist ohnehin eines Sinnes mit den Ratschlüssen des Großen Konsortiums, geborgen im weichwarmen Mantel der Allumfassenden Partei. Beam-tenschaft und Paragrafen vermisst niemand mehr, aber wo um Himmels Willen ist nur wieder der Flaschenöffner ?
„Den Herrn von Kuwulier hab ich schon auf meiner Seite“.
Das gemeine Volk hat ihn seit eh und je so ausgesprochen.
„Der Gnom, verstehst Anna, ist sogar mein ganz persönlicher Bei-stand.“
Draußen die trostlose einzige Straße. Die drei geschlossenen Schau-fenster. Die Rotzlöffel, die auf der einen Seite hinauf ziehen und auf der anderen wieder herunter. Die Spraydosen im Anschlag, um die herab gelassenen Jalousien der aufgegebenen Geschäfte wieder mit hilflosen Krakeln zu versehen. Amplinger räumt die Teller fort.
„Warum hast du denn schon wieder nichts angerührt ?“
Und füllt das für Anna Bestimmte der Katze in den Napf. Im Fernsehen ist ein Lichterzug zu sehen.
„Das Herz unseres verewigten Regenten“ sagt der Sprecher “hat heute auf seinem Weg nach Altötting die Gemeinde Wechingen im Landkreis Donau-Ries erreicht. Wiederum säumten hunderte die Straßen, und unzählige Hände drängten sich, um die Urne zu berühren, hinter der sein Herz noch immer schlägt für Volk und Land.“
Eines Tages, denk dir Anna, werden auch unser beider Herzen übers Land getragen werden durch das ganze Land !
Schaut wird man zu den Kindern sagen, da trägt man den zur letzten Ruhe der sein ganzen Leben dem Ordnungsgedanken geweiht hat, und da dafür ist er Regent geworden.
„Ich lass dich exhumieren, Anna, wenns so weit ist !“
Dann werden die Rotzlöffel die Mauern und Jalousien sprayen I LOVE KING JOSEF MARIA oder auf gut deutsch : ES LEBE UNSER REGENT AMPLINGER ! Amplinger sieht dem Kater zu, wie jeden Tag, wie der das Menu verzehrt, das für seine Anne bestimmt war. Wenn eines Tages Dienstplan des Lebens für Josef Maria Amplinger abgelaufen sein wird, wird die nicht drei Monate nach seinem Vermodern die Polizei die Wohnungstür aufbrechen müssen und den Kater vor dem Verhungern retten.
“ Sofern du dich bis dahin nicht schon von mir ernährt hast. Sondern wir ziehen demnächst um !“
Und werden nicht mehr am Sonntag nur die Kartoffelfelder entlang wandern um das Schauspiel zu genießen wie die anderen reisen, denn nun werden auch sie selber reisen. Eine so edle Art wie sie denen da in ihren VW-Bussen und Caravans nicht zukommt. Und wenn sie in die Gruppe fahren, werden sie nicht auf irgend einer als Friedhof ausgewiesenen Parzelle draußen am Ortsrand versenkt werden, sondern ihr Herzmuskel wird in der Heiligen Kapelle zu Altötting zur Ewigen Ruhe gebettet werden, in einer Wohnhöhle mit der wundertätigen Schwarzen Madonna. Neben den Herzen der früheren Herrscher, Herzöge, Kurfürsten, und in Ewigkeiten werden sich an den silbernen Wandungen ihrer Herzurnen die Lichter wiederspiegeln.
„Wir ziehen um ! Du wirst staunen, Kater, wohin...“
Und Amplinger pfeift den Präsentiermarsch vor sich hin, der nur ge-spielt werden darf, wenn der Regent einzieht. Er pfeift vor sich hin, bis er ihn leibhaftig in den Ohren dröhnen hört. Und wippt dazu mit den Beinen. Im Takt eines Walzerchens, im Takt eines gravitätischen Concerto grosso, im Takt eines wuchtigen Defilees mit tausenden von Zuschauern. Und winkt dazu leutselig hinunter auf eine Menge, die so laut jubelt, dass sie die Musik zudeckt. Und der Kater wundert sich.

„Aber ich bitte Sie…das muss jeder für sich meistern.“
Es ist nicht erkennbar, ob beide nur aus Höflichkeit so tun, als wolle der eine dem anderen handgreiflich zu Hilfe kommen.
„Von Haus aus bin ich ja ein passionierter Alpinist. Ich meistere mit links.“
Nämlich den beschwerlichen Weg nach oberwärts.
„Traut man einem geistlichen Herrn gar nicht zu, so viel Zugriffigkeit sogar bei der Kletterei. Notabene wenn er die Sündenlast mitzuschleppen hat vom Regentenpaar“.
„Wenn ich der Beichtvater von Ihnen auch noch wär, mein Lieber, dann tät ich mir freilich selber vom Aufstieg abraten.“
„Ein Segen für Sie, dass ich ein Evangelischer bin. Mit meiner Sün-denlast täten Sie glatt im Fersenabsatz schon versacken.“
Professor Haberstock meint den Fersenabsatz des Riesen, in dessen Strumpfmaschen er gemeinsam mit dem Monsignore hochklettert. Rotge-lacht im Kniebund des Riesen angelangt, haut der eine dem andern auf die Schulter.
“Professor Schlitzohr !“
Und der andere dem einen.
“Hochwürden Haderlump !“
Aus ihrer Höhe beobachten sie einen dritten Notablen, der sich an-schickt, die Schuhe des Riesen zu erklimmen.
„Schaun Sie sich den an da drunten !“
„Der Krenleitner schon wieder.“
„Lässt sich Leitern hinstellen damit ers raufwärts schafft, was wir mit unserer bloßen Muskelkraft bewältigt haben.“
Krenleitners Gefolge ist mithilfe dieser Leitern zuerst auf dem Oberleder der Riesenschuhe angelangt. Nun hievt es den Fürsten des Fußballs und des Bieres herauf.
„Statt dass er sich aufbaut als ein Vorbild sportlicher Ertüchtigung wie ers seinen Fussballern schuldig wär.“
„Genauso blamabel wie das Unentschieden von seinem Verein gegen den FC Wieheißterdochgleich am Mittwoch.“
„Was heißt da sein Verein. Der andere gehört ihm doch genauso, dem muss er halt auch einmal einen Punkt zukommen lassen.“
„Sein Proletenschädel ist so rund wie einer von seinen Fußbällen.“
„Und innendrin genau das gleiche Vakuum. Wo der Bierbaron auftaucht, und wo taucht der nicht auf, da kriegt die Floskel vom Dunstkreis auf einmal einen ganz eigenen Sinn, weil, es dampft ihm die Maische von seinen sämtlichen Brauereien heraus, sobald er das Maul aufmacht.“
„Und wann macht er das Maul nicht auf.“
Haberstock und der Monsignore steigen nun in die Innennähte der Knie-hosen ein.
„Wo wir grad beim Dunstkreis sind, thematisch gesehen - ihr Beicht-kind, unser Prinzesserl Reserl soll sich ja einen ganz einen eigenen zugelegt haben, neuerdings.“
„Dem sein Dunstkreis nun wieder besteht aus Kampfer und Bett-pfannenduft. Ein Altenpfleger, hör ich, aus Murnau.“
„Ein verheißungsvolles Bürscherl, hört man, von dem noch so einiges zu erwarten ist. Ich frag mich, ob er genauso verheißungsvoll in Erscheinung tritt in den Beichtbekenntnissen betreffend sechstes Gebot. Ich meine, bei Tochter und Mutter. Bei der soll er ja, ist mir zu Ohren gekommen vor-rangig der Favorit sein “
Nichts dergleichen ist Haberstock zu Ohren gekommen, aber der Monsignore soll sich bewusst bleiben dass Haberstock natürlich genau weiß dass er der Favorit ist. Der Monsignore hat geistliche Ohren, und Haberstock hat elektronische Ohren, das stabilisiert die sittliche Haltung Jedermanns und jeder Frau und ist segensreich fürs binnenmenschliche Klima. Hier in der überweiten Garderobe des Riesen aber, wo Mikrofone von dessen Schweiß angefressen würden, setzt jede Bemühung aus, dem einzelnen Untertanen die Aufmerksamkeit zu widmen die ihm eigentlich gebührt. Und der Untertan, dies erahnend, gibt sich entsprechend ent-spannter. Das Mitreisendürfen auf dem Riesen ist Herrenclub, Tribut, Ferienlager und Sauna zugleich. Überwacher und Überwachte, Verdächtige und Verdachtschöpfer verschmelzen hier zu einem Ameisengewimmel aus Spießgesellen, die sich auf eine Landpartie besonderer Art begeben haben.
Haberstock und Monsignore Zirngibl müssen jetzt einen Engpass durchqueren, in dem sich viele Landpartie-Ameisen stauen, Spießgesellen und Ausgezeichnete, um den Gürtel des Riesen herum, zwischen dem Schamisettl und dem Leder seines Leibriemens. Haberstock und Zirngibl aber bleibt peinsames Gedrängel erspart, sie verfügen über spezielle Schlüssel, die ihnen hier verborgene Reißverschlüsse öffnen und dort mancherlei Durchschlupfe, wie sie allein dem innersten Kreis vorbehalten sind. So können sie unbehelligt aus dem Dorn der Gürtelschnalle heraus beobachten, wie die anderen durcheinanderwuseln wie ein Nest Blindschleichen. Und wie nur ein Einziger Gewalt einsetzt um voran zu kommen.
„Der Krenleitner schon wieder !“
„In einer Hoftracht wie sie nicht grad en vogue sein sollt bei Hofe.“
„Von wegen Hoftracht, die hat er sich bei seinem Herrenausstatter schneidern lassen nach betont eigensinnigem Gusto.“
„Und mit der stellt er sich dann auch noch in die allererste Reihe.“
„Gleich hinterm Regentenpaar.“
„Wo ich ihm doch die vierte zugewiesen hab.“
„Er hat sogar angeboten, er will einen Lift einbauen lassen, auf eigene Kosten versteht sich. Damit ers nicht mehr so beschwerlich hat beim Aufstieg.“
„Dabei ist es doch Kavalierspflicht und Lustprinzip in einem, dass man den auf sich nimmt.“
„In Demut.“
„Und sich dabei vorkommt wie im zwölften Jahrhundert.“
„Initiationsweg nenn ichs immer. Grottenröhre und Eiger Nordwand auf einmal.“
Dabei durchsteigen sie eine Innennaht, eine Grottenröhre eben, die nur Eingeweihten ihres Ranges reserviert ist. Aber nicht bequemer zu durchklettern. Die beiden Hochgestellten schwitzen wie die Wurstbrater. Schwitzen gehört sich in den Kleiderschluchten des Riesen, Schwitzen ist Höflingspflicht. Seinen Schweiß rinnen lassen, zeugt von der Treue zur Monarchie.
„Als nächstes verlangt der Krenleitner noch, dass er Werbeflächen angewiesen kriegt auf Brust und Buckel.“
Des Riesen.
„Unser Nationalmonument als Litfaßsäule für dem Maischestinker sein Bier !“
„Der Maischestinker ist die Bodenlosigkeit in Person.“
Sie trennen sich. Der Monsignore strebt in der Gürtelschnalle nach rechts, Haberstock strebt nach links, ein jeder zu seiner Gemeinde.

Die Zielgenauigkeit der heimischen Raketen tat tagsüber wiederum Segensreiches, sie zerstörten die Gefechtsstellungen der Rebel-lenverbände, ohne die umliegenden Dörfer anzutasten. Die Bewohner, so rühmten Beobachter aus Drittländern, verzehrten dort ihren ange-stammten Hirsebrei mit Hammel und Affenbrot, ohne der Einschläge so recht gewahr zu werden, die vom Geschnatter der Essenden überlagert wurden.
Auch im Einfamilienhaus des Regentenpaars laufen, wie bei Josef Maria Amplinger, die Abendnachtrichten. Nach dem Dankgebet, das ihrem Mahl wie auch der Präzision der Einschläge galt, so berichtet die aufgeräumte Korrespondentin im Tarnfarben-Kostüm, seien diese mit noch essensverkrusteten Mündern aus ihren Häusern geeilt, um das Gefechtsfeld in Augenschein zu nehmen. Das Fernsehbild beglaubigt sie, denn grin-sende Dunkelhäutige umstehen die Korrespondentin. Freilich nur ältere, denn die Dorfjugend ist geschäftig dabei, Geschosshülsen einzusammeln und was sonst noch auf dem battlefield verstreut liegt. Einige aufgeweckte Knaben gesellen sich mit ins Bild und halten der Kamera vertraute Markennamen entgegen : Diehl, RTL, EMT,Krauss Maffei.
„Ja, sie identifizieren das alles mühelos im Handumdrehen, und die fixen Burschen wissen genau Bescheid was die Firmen-Logos zu bedeuten haben !“
Eine technisch aufgeweckte und zugleich qualitätsbewusste Gene-ration wächst da heran, die unsere Präzisionsarbeit von früh auf schätzen lernt .
“Und so verabschieden wir uns für heute mit diesem besonderen Gruß an die Heimat und kommen morgen beim Drohnen-Angriff auf die in den Bergen verschanzten Aufständischen wieder“.
Das Einfamilienhaus hat das Regentenpaar bereits erworben als Ernst noch Berufsschullehrer war, Traudl noch Fußpflegerin und Kerstin, dem Volk als Reserl bekannt, noch nicht auf der Welt. Mit dieser bescheidenen Siedlungsweise dokumentiert das Paar ein weiteres seine Einbettung in das Volksganze, hat es doch niemals Anspruch auf einen Umzug in die ihm sehr wohl zustehende Residenz erhoben, auch um den in- und ausländischen Touristen nicht den Besuchsgenuss zu vergällen. Oder sich mit den Lasten einer gewissen Über-Repräsen-tation abzuplagen, etwa einer allgegenwärtigen, ständig salutierenden Ehrengarde mit Bärenfellmützen, peniblen Denkmalschützern, die entspanntes Wohnen in den ehrwürdigen Räumlichkeiten empfindlich behindern oder Touristenmädchen, die von ihren Müttern angehalten werden vor dem Paar, das sie für ein hohes halten, den zu Hause eingeübten Hofknicks auszuführen.
Hier aber, im eigenständig erworbenen und erdienten Eigenheim haben vorbeikommende Bürger wie auch Reporter aller Art unver-krampft Zugang. Flaneure, Topfgucker und Bildreporter sollen sich ungehindert auf ihren Gartenzaun ( ist ein aus sich überkreuzten Latten zu einem Rautenmuster gefügter ) lehnen dürfen. Dem ganzen Land gleichsam wird Einblick durch die Sprossenfenster gewährt. Ganztägig, Sonn- wie Feiertage. Ja, die Pfingstrosen sind selbst gesetzt. Ja, die Dahlenzwiebeln werden bei Frosteinbruch in den Keller getragen und auf Torfmull gelagert ( beschriftet mit Pompon-Dahlien, blauviolett oder Halskrausen-Dahlien, cyclam ) von eben derselben Hand, die sonst das Szepter hält und im Frühjahr werden die Knollen wieder sorglich aus dem Winterquartier hervorgeholt und anderen Stellen des Gartens der Erde anvertraut, denn die Blumenfülle die die Landesmutter vor der Öffentlichkeit ausbreitet soll jedermann abwechslungsreiche Erqui-ckung bieten. Ja, und auch die bunt bemalten Tonfiguren zwischen den Rosen sind eigenhändig gestaltet, die Fingerfertigkeit der gelernten
( jeder im Lande weiß es ja ) Fußpflegerin entführte sie dabei ins musisch-Verspielte, gell. Ja, und auch die Fenstervorhänge sind selbst genäht und gerüscht, zwischen denen hindurch die Regentin manches Mal nach draußen winkt, und den einen oder anderen Vorübergehenden, je nach Tageszeit, vom Gartenzaun weg ins Hausinnere bittet. Traudl, die Regentin, ganz Leutseligkeit, führt die Hereingebetenen oder auch nur Hereingeschneiten dann zum Herrgottswinkel über der Essecke und zu den blank geputzten Küchenmaschinen. Ja, auch hier lässt die Regentin keine andere Köchinnenhand walten, auch nicht die ihrer Tochter Reserl. Ja, eine Abschrift ihrer bevorzugten Rezepte geht dem Gast gerne zu. Ja, auch ein Blick Schlafzimmer und Kleiderschrank ist genehm. Aber nein doch nein ( und hier pflegt die Regentin perlend zu lachen ) es wird da nicht klandestin Hofkleidung alten Schlages ver-wahrt, Reifröcke und Schnürkorsette, wo denken Sie hin, Zwei- oder gar Dreispitze, Degen und Schärpen, am Ende gar mit Hermelin Besetztes , ja mia waars gnua !
Nein, schmunzeln nun Regentin und Besucher, die Garderobe ist so schmalfarbig und vom selben Schnitt wie’s halt mittelständisch so gang und gäbe ist. Und Haustiere ? Nein, weder Hund noch Katz, die Tochter hat eine Haar-Allergie, sie hält sich an Stofftieren schadlos. Dermaßen nun vertraut geworden, verengt sich die Neugier der Besucher flink darauf, wie das Reserl wohl ihre Neigung zu der leidigen aber landes-bekannten Korpulenz mit den Mitteln der haute couture kaschiert.
„Aber gehnS zu - haute couture…“ prustet die Regentin, und der Besucher begreift wieder einmal, dass sie die charmanteste aller denk-baren Landesmütter ist und wünscht sich insgeheim ihre frauliche Fürsorge auch auf den eigenen Haushalt herab.
Nun aber, nach den Abendnachrichten und Siegesmeldungen, versorgt die Regentin, ohne Zeugen, Besucher und Pressevolk, mit ihrer Tochter den Anzug des Regenten.
„Also weißt, der Altenpfleger da…“
Eine Szene, die sie beide eigentlich nur nachstellen, denn sie ist in vielen Fotoserien verbreitet. Die Illustriertenleserinen kennen jede Bie-se an jeder Trachtenhose des Regenten, ihres Ernstls, jeden Hirschhorn-knopf und sogar die Kleiderbürste mit der der Stoff liebkost wird ehe er wieder in den geschnitzten und bemalten Bauernschrank einkehrt. Auf dessen Aufsatz eine Flößerszene dargestellt ist, mit verschneitem Alpenpanorama im Hintergrund.
„ Das ist schon ein Bazi, der ! Kidnappt einfach den Riesen !“
Dieses Burschi, Rädelsführer eines Bubenstreichs, der dem Professor Haberstock ein Dorn im Auge ist. Aber Respekt ist dem Buben nicht zu versagen, so einen wagemutigen Jungspund hätte die Regentin auch gerne als Sohn gehabt statt einer Tochter. Gewiss, das Burschi schreibt sich damit in manchen Rechner ein, in dem man besser nicht eingeschrieben sein sollte. Der Bazi riskiert allerhand, ein Verwegener ist der, ein richtig Verwegener, gesegnet mit einem Wildschützen-Temperament. Und das als Altenpfleger. Der sonst nur Bettpfannen hin und her zu schieben hat und Haferschleim darzureichen, bei dem er vorher verkosten muss, ob er die richtige Temperatur hat. Nämlich eine lauwarme. Und der wagt nun eine Tat, die so gar nicht lauwarm ist. Wem er wohl mit seinem Streich hat imponieren wollen ?
„Und in deinem Boudoir soll er sich ja ganz b’sonders umgetan haben.“
„Da beantwortet sich doch von selber wem er hat imponieren wollen.“
Das Reserl vergegenwärtigt sich ihre Stofftiere, die sie dort aufeinander getürmt hat, so irgendwie orgiastisch, und wie mitten in einem andauernden Quickie, kichert sie vor sich hin. Wenn der Hijacker da seine erotische Einbildungskraft dran hat rumspielen lassen… Eine Szenerie wie im türkischen Bad, nur eben alles in Plüsch und ohne feuchte bloße Haut. Und Reserls persönliches Parfüm über allem.
„Ob er sich da hineingeschmissen hat - ?“
Zwischen die Stofftiere. Sie kichert. Zugleich legt sie, Kante auf Kante, im Gleichtakt mit ihrer Mutter die Hosen des Vaters zusammen. Mechanisch und doch akribisch, als könnte gleich ein Kameramann rufen stop, die Damen, das Ganze bitte nochmal. Das Licht hat nicht gestimmt.
Wie es unzählige Male schon gerufen worden ist, wenn das Fern-sehen sie bei der Pflege der Garderobe gedreht hat, bis sie Darstel-lerinnen ihrer selbst geworden sind, von Scheinwerfern umstellt. Aber ist der Text, den sie hersagen ihr eigener.
„Wenn ich mir vorstell, wie er an meinen Teddys geschnüffelt hat, der Bazi….“
Das Eigenheim des Regentenpaares schwankt nicht. Anders als der Riese, ihr Schiff , das sie überall hin trägt. Aber sie sind an dieses wupp wupp so gewöhnt, dass sie es unter ihren Füßen spüren, obwohl es gar nicht da ist. Und so schwankt ihr Eigenheim eben doch. Sie gehen und stehen beide breitbeinig wie Seeleute, denen auch beim Landgang noch das Pflaster des Hafens unter den Füßen rollt. Welche beachtliche Schenkel das Reserl doch hat, ist dabei zu entdecken, und was für ein barocks Becken.
„Und dann hat er womöglich in den Teddy hinein gewichst...“
Den Teddy der Prachtpuppe der Monarchie. Nur weil ihr Vater Be-rufsschullehrer aus Forchheim ist, soll das Reserl keine Dynastie begründen dürfen. Ihre Freundin, die Fürstin Lichnowsky, sie hat eine Generalvertreteung von Daimler Benz in Toronto, aber der k. und k. Nimbus schwebt sie noch immer um sie, und sie sagt in ihrer Familie rührte jedes dritte Kind von einer Liaison her mit einer Person aus der Unterschicht. Hauspersonal, Handwerkerstand, Bauernburschen. Und dass sich das segensreich ausgewirkt hat als blutauffrischerische Präventivmaßnahme gegen Inzucht, für die wo ein altes Haus progredient anfällig ist, sagt die Fürstin - wenn die Regentin sich nun zusammentut mit dem kecken Gerstl ? Und das Reserl und der Gerstl heben einen neuen Adel aus der Taufe, wortwörtlich. Der Dreiste und die Dantschige, wo sie doch praktisch schon eine Prinzessin ist. Eine neue Dynastie, und die Illustrierten, die sie immer nur mit dem Bügeleisen präsentiert haben, kriegen eine Hochzeit geboten.
„Ob er sich wohl“, lächelt das Reserl“ eine Puppe mitgenommen hat ?

10. Kapitel
worin der Leser einer exklusiven Gelehrtenschar beiwohnen darf, die das Projekt Thassilo bebrütet

Das dort, von der überhohen Lehne eines Renaissance-Sessels überkrönt, ist Dr. habil. Leopold Hölzl.
Sein Vorname verweist auf das Adelsgeschlecht, das von der Mutterseite her in Hölzl einen bürgerlichen Ausläufer gezeitigt hat. Wie auch sein Zungenfehler auf Adel verweist, denn in seiner Mutterfamilie wird bereits seit dem späten siebzehnten Jahrhundert gelispelt. Was Dr.habil. Leopold Hölzl jedoch in seiner gefürchteten ausschweifenden Rhetorik nicht hem-men kann. Noch freilich muss er schweigen, denn er ist allein. Er war stets der erste im Saal, auch an den vorhergehenden Sitzungstagen.
In der Reihenfolge nun ihres Eintreffens : Professor Haselwanter, Mediävist, Erlangen. Dreibändiges Standardwerk über die karolingischen Traditionslinien, soweit sie sich unter dem Herrschaftssystem der Salier fortführen, vergriffen in der siebzehnten Auflage. Um die achtzehnte ist zu bangen, denn Haselwanter ist jüngst emeritiert worden. Grußlos setzt er sich an den Beratungstisch, sechs Plätze von Hölzl entfernt.
Heute ist der zweihundertdreiundzwanzigste Sitzungstag.
Herein jetzt Professor Sigurd Mittermayer, Neuhistoriker, originärer Denker von der aufstrebenden Universität Bayreuth, stets darauf bedacht, dass seine These, die Völkerwanderung habe gar nicht stattgefunden in der Diskussion bleibt. Mit einem kaum hörbaren Habe die Ehre allseits in Richtung Tischplatte läßt er sich drei Plätze entfernt von Hölzl nieder, sieben entfernt von Haselwanter. Die Herren sind sich in tiefer Abnei-gung verbunden.
Herein jetzt Hauptlehrer i.R. Hiebele, sowohl titellos wie auch Schwa-be, delegiert namens der Heimatforscherverbände. Er nimmt sich selbst kaum wahr, deswegen nehmen ihn auch die anderen nicht wahr, mithin nimmt er seinen Platz ganz unten ein.
Herein jetzt drei Figuren, die bislang niemand danach befragt hat wer sie eigentlich hierher beordert hat. Mal ist der eine anwesend gewesen an den vorangegangenen Sitzungstagen, mal der andere, dann wieder der dritte, dann wieder treten sie als Dreigespann auf, wenn auch stets durch verschiedene Türen. Eine darüber hinausgehende Koordination zwischen den dreien ist niemals bemerkt worden, außer dass sie zur selben Zeit ein-treffen und aufbrechen und niemals ein Wort untereinander wechseln. Sie setzen sich in betontem Abstand zu dem jeweils anderen, womit sie frei-lich nicht die Lücken zwischen den bereits Anwesenden füllen, sondern an dem ohnehin schon überlangen Beratungstisch das Feld noch weiter auseinander ziehen.
Herein jetzt die Herren Himmelmeyer und Stapferer. Sie nun wieder sind miteinander in lebhaftem Gespräch, wurden sie doch hierher de-legiert als Vögte der Töne, also Vertreter des Rundfunkwesens. Da das Fernsehen schon vor Jahrzehnten in private Hände übergegangen ist, um widerborstigem Journalismus den Boden zu entziehen, ist es ihr Auftrag, die Ohren der Untertanen für das Unhörbare zu erziehen, das Auditive jenseits aller Worte und Mitteilungen. Himmelmeyer und Stapferer füllen die verbleibenden Intervalle zwischen den Werbe-Takes und den Ver-lautbarungen des Großen Konsortiums mit Klangkunst aus wie Das Ge-räusch der Woche oder Das Ritschratsch des Tages für dich allein und nur für dich.
Herein jetzt Baronesse Alexandra von Treidlein M.A. in modisch folk-loristischer Kleidung, fermentiert von der wohlgepflegten Strubbligkeit alten Adels aus der Straubinger Gegend. Funktion : Platzhalterin der his-torischen Fakultät der Residenzstadt-Universität und zugleich des Ordi-narius Weichslgartner, bei dem sie promoviert. Zeitlich bereits recht überdehnt promoviert, wie Hölzl schriftlich anmerkt, denn er führt ( stie-kum in eigenem Auftrag ) Buch über alle die sich seit zweihundertdrei-undzwanzig Tagen hier um diesen endlos langen Tisch versammeln.
Herein jetzt, und es ist der einzige Auftritt mit Aplomb, Emiljosef Schroubek, als einziger im traditionellen Trachtenanzug mit roten Bie-sen an den grünen Hosen. Nicht dass er sein Hereinkommen zum großen Auftritt stilisierte, es ist seine charmante Eigenart, diesen großen Raum zu betreten, als sei der warm-lauschig überfüllt mit lauter Busenfreunden. Schroubek, noch titellos ( wie jedermann aber weiß ist seine Ernennung zum Professor h.c. nur noch eine Frage der Zeit ) also bewillkommt sämtliche Mitglieder der Runde mit einem Na sowas dass ich Sie hier treff, als wollten ihm seine engsten Spezis eine Geburtstagsüberraschung bereiten. Individuell eingelautet je nach Lehnenhöhe, Alter, Stellung in der jeweiligen Hierarchie. Schroubek tritt sogar an die Plätze derer, die gar nicht anwesend sind, die auch diese Sitzung wiederum schwänzen und legt die Hand freundschaftswarm auf die verwaiste Stelle der Tischplatte, und die Baroness bekommt sowieso einen Handkuss. Schroubek würde auch männliche Hände küssen, sofern der Rang des Inhabers es geböte, auch wenn diese Hände nicht von einem Ring geschmückt wären. Schroubek weiß sich stets und überall inmitten, Schroubek schwimmt im Fettauge des Wohlwollens, wo er sich auch befindet, ist die Mitte und Schroubek ist der Mittler schlechthin. Vertritt Schroubek doch die Belange der Vereinigten Verbände der Sudetendeutschen Lande in geschichtlicher Observanz wie im materiell Gegenwärtigen, wobei er, was das Geografische betrifft, offen lässt, ob die von ihm repräsentierten Lande sich diesseits oder jenseits der Hohen Tatra erstrecken. In jedem dritten Bürger der Monarchie ( gering ge-rechnet ) west ein Abkömmling der böhmischen und mährischen Lande, die Gebietsansprüche sind niemals aufgegeben worden, haben sich vielmehr von Generation zu Generation zügig vervielfacht, zusammen mit den hiesig per Einheirat hinzu Arrondierten ergibt sich so ein immenses Territorium und wird durch üppige Nachkommenschaft strebsamst erweitert. Das Egerland zum Exempel wird solcherart zum Grundbesitz ganzer zwei Familien, Saazer Ländchen mag knapp für eine einzige hinreichen, und die Gebietsansprüche der übrigen rücken kontinuierlich weiter nach Osten vor.
Auch seine eigenen Territorialansprüche hier am Tisch sind keine geringen, Schroubek pflegt seine mitgebrachten Akten großzügig über drei Plätze hinweg auszubreiten, obgleich er selbst nur einen Sitz füllen darf, nämlich den zwischen Hölzl und Haselwanter.
An der oberen Schmalseite des Tisches erhebt sich eine Lehne, die noch höher ist als die, die Hölzl usurpiert hat. Das Polster darunter ist Professor Haberstock vorbehalten, summus summorum der Gelehrten-welt, allenfalls noch Udo Quantz darf dort Platz nehmen, der Syndikus des Großen Konsortiums, welcher freilich der Versammlung an sämtli-chen bisherigen zweihundertzweiundzwanzig Sitzungstagen noch nie die Ehre gegeben hat.
So wenden die Versammelten diesem Platz, er mag mit noch so ho-her Lehne begipfelt sein, aus Gewohnheit den Rücken zu. Allein Schroubek, als würde von dort aus der Vorsitz geführt, schaut dorthin, hat von Anfang an dort hin geschaut. Wie seine Vorfahren einst gehorsamst auf Wallenstein geschaut haben, danach auf den Kaiser in Wien, danach auf Reinhard Heydrich. Die Oberen wechseln, aber es ist stets ratsam in ihrem Mienenspiel zu lesen, ehe man einen Ausspruch tut oder ihn tun-lichst unterlässt, selbst dann wenn diese Oberen gar nicht zugegen sind. Gerade wenn sie nicht zugegen sind. Die Schroubeks sind durch die Zeiten gut damit gefahren, sonst säße nicht einer der ihren eben hier am Tisch.
Da niemand das Präsidium ausübt, niemand die Anwesenden begrüßt, niemand auf eine Tagesordnung pocht, ist es der Hauptlehrer Hiebele, dem es leid tut dass die ungenützt Zeit verrinnt. Das Pensum hat aufgearbeitet zu werden, schwäbelt der Schulmann in ihm, ehe der Pedell in ihm die Klingel schrillen lässt. Und Hiebele beginnt von seinem abgeschlagenen Platz dort weit unten aus herzuzählen was das Gremium bislang zum bewahrenswertes Gut des Landes erklärt hat, würdig um aufgenommen zu werden in das Projekt Thassilo.
Niemand lässt irgendeine Regung erkennen, alle sitzen gesenkten Kopfes da, denn der Hauptlehrer, der selbsternannte Heimatforscher auf Landkreisebene steht weit unter ihnen. Und so liest Hiebele sich auf seiner Liste des bereits Gesicherten ungehindert voran : Top 127 Brauch-tum Top 128 Heimatgüter Top 129 Handwerk Top 30...
Allein Schroubek erwidert seinen Blick, von Lehrperson zu Lehr-person, war Schroubeks Ausgangspunkt doch die Volkshochschule in Kulmbach, wo er das Amt eines Lehrmittelwartes versehen hat. Ein Lehrmittelwart ist einer, der herbei trägt. Alle Schroubeks haben durch die Zeiten etwas für andere herbei getragen. Bunsenbrenner und Dia-Projektoren als Schuldiener, Essensportionen als Kellner, Handgranaten, Huldigungen, Denunziationen als Büttel des Reichsprotektors Reinhard Heydrich. Jetzt trägt ihr Nachfahr Zustimmung für den Hauptlehrer Hiebele herbei : o ja doch, die Osterbräuche sind konservierenswert, die Osterfeuer, der österliche Eierlauf, das Karfreitagsratschen. Und erst die Kultur der kleinen Brauereien draußen im Lande ! Schroubek kennt sich da aus, er besitzt ein halbes Dutzend davon und nickt noch wohl-wollender zu Hiebele hinunter. Der fühlt sich ermutigt und verlängert seine Liste um Stierkörungen, das Schulgebet und Zwetschgenmännle, und Professor Dr.Sigurd Mittermayr, das Gesicht tief über seine Skripten beugend, leidet zusehends unter Hiebeles schnarrend sonorem Mit-telschwäbisch, als ob er Zeugnisse verliest. Und : man hätte ihn auf seiner Almwiese unter seinen Kühen belassen sollen, die könnten ihm besser behilflich sein beim Wiederkäuen denkt die Baronesse, als eine Doktorandin von Adel. Und : Skandal dass so einer es schafft hoch-zukrabbeln in ein Gremium in dem einer wie ich Sitz und Stimme hat denkt Professor Haselwanter. Und als der Hauptlehrer nun den Antrag stellt, auch noch das Quempas-Singen, das Hackbrett und die Nürnberger Bratwurst in die Schatzkammer des Projekts Thassilo aufzunehmen, notiert sich Dr. habil. Hölzl Zumutung Zumutung Zumutung !
So geraten die Entscheidungen der Kommission zu recht intimen in dem Sinn, dass sie von intimen Sym- wie Antipathien durchmasert sind, ja diese Maserung bereits ihren Kern bildet.
Top 132. Sakralbauten barock.
„Warum kann man die nicht an den zuständigen Ausschuss verweisen ?“
murmelt Haselwanter, dem alles diesseits des 15. Jahrhunderts ein Graus ist, der Tischplatte zugewandt. Schroubek hat es trotzdem gehört.
„Weil, es gibt keinen Ausschuss der was dafür zuständig ist.“
Der Auftrag, die herausragendsten Kulturleistungen des Landes zu erfassen versickert so im Kissenberg der Beamtigkeit.
„Weil, wir hätten müssen überhaupt erst einmal Ausschüsse bilden !“
Selbst Himmelmeyer und Stapferer, die Rundfunkleute, die Propheten des Schalls, die bisher nur untereinander gewispert und sich Zettelchen zuge-schoben haben, werden hellhörig. Sie sitzen hier erst zum hundertelften Mal, sie sind Nachwuchs-Sitzer zwischen Altgesessenen und erfahren nun, dass in der allerersten, der konstituierenden Sitzung ( vor wievielen Jahren ? ) die Ver-sammlung noch lobenswert vollzählig gewesen sei sowie darin einig, die zu erfassenden Kulturgüter durch Repliken zu ersetzen und die Originale zur Aufbewahrung an einen denkbar sichersten aller sicheren Orte zu verbringen und für alle Zeiten zu schützen.
Die Würzburger Residenz, die Landshuter Martinskirche, die Globen Martin Behams, das Wessobrunner Gebet versiegelt und verschweißt, unbe-droht von Atemluft, Feuchtigkeit, Sauerstoff, Winterkälte, Bleifraß, Som-merhitze, ultraviolettem Sonnenlicht und Bakterien. Und vor allem menschlicher Berührung.
Hölzl ist der Einzige in der Runde, der über einen Behälter verfügt der fassen könnte, worüber hier verhandelt werden soll. Als provisorischer Vizedirektor des Zentralmuseums aber ( die Chefstelle, trotz Todesfall, ist seit Jahren unbesetzt, Hölzl will sich, züngelnd nach weiteren Karrieren, alle Optionen offenhalten ) wird er KEIN EINZIGES STÜCK HERAUSRÜCKEN, wie er versal seinem Notizbuch anvertraut. Für den Fall aber, dass er diese Maxime eines Tages mündlich wird äußern müssen, schreibt er, der vielen tückischen S-Laute wegen lieber ebenso versal NICHT MIT MIR. Und umrahmt es dreimal.
Haselwanter, Ordinarius, hinwieder ist mehr an Ideengut gelegen, Tabellen, Datensammlungen, Kernsätzen der Wissenschaft ( er denkt an seine eigenen ). Ein Thesaurus aller Ekenntnisse, für Ewigkeiten verwahrt. Mittermeyer, sein Widerpart, gleichfalls Ordinarius, ringt mit dem Problem, dass hier Jahr-hunderte aufbewahrt werden müssten, die es laut seiner These gar nicht ge-geben hat. Himmelmeyer und Kapferer, die Rundfunkmänner ihrerseits wollen Töne aufbewahren und nur die Töne, die aber für alle Zeiten. Auch für die, die diese Töne nie wieder werden hören können. Almglocken, das Dröhnen von Milchkannen wenn sie voll aber auch wenn sie leer sind, das Auspuffdonnern von im Lande gefertigten Motorrädern. Himmelmeyer ist es namentlich zu tun um das kesse Surren des Reißverschlusses an Stapferers Jeans. Er hat es schon zwei dutzendmal zum Geräusch der Woche gemacht, diese Jubiläumszahl allein rechtfertigt für ihn bereits die Aufnahme ins Schallarchiv des Projekts Thassilo.
Haselwanter ist inzwischen in einem Stadium der inneren Sammlung ange-kommen, wo er sich nur noch mit einem einzigen Partner austauscht, den nur er allein sieht, während er seiner Umgebung die dazu gehörenden Gesten mitteilt. Die dafür weit ausfahrend und mit vorgestoßenen Fingern. Mit-termeyer, seinem immerwachen Antipoden will es scheinen als mache der Kollege ( zumal bei bestimmter Haltung des Daumens zum Zeigefinger ) gerade die eine oder andere von seinen, Mittermeyers Lehrmeinungen herunter und er bestraft den Kollegen, indem er Papierschiffchen faltet. Aus den Registerseiten von Haselwanters dreibändigem Werk über die Karolinger. Diese bläst er über die Tischplatte hinüber zu dem Kollegen. Wo sie jedoch nicht ankommen, obwohl Schroubek ihm beim Pusten behilflich ist. Die drei Unbekannten fangen sie mit unerwarteter Umsicht ab und verwahren sie in ihren Aktendeckeln, was wiederum Mittermeyer stutzen lässt, sodass er, wie schon sämtliche Beiträge bisher, nun auch das Papierfalten unterlässt. Hölzl notiert das eine wie das andere und versieht die Worte in wessen Auftrag mit drei Fragezeichen, eines für jeden der Unbekannten.
Indessen hat Stapferer eine Büroklammer zurechtgebogen, in die Tischplatte gebohrt und zupft daran verklärt herum auf der Suche nach dem nächsten Geräusch der Woche : klingt es nicht wie eine sphärische Harfe ?
Die Baroness von Treidlein, in ihren Taschenspiegel blickend, flüstert lächelnd zu Schroubek ( der sogleich warmherzig zurück lächelt ):
„Fescher als wie diese ganzen faden Altertümer wär doch eine pikante Blütenlese aus ansprechenden Bauwerken, an denen wo sich das Auge bis zum Jüngsten Tag noch erfreut“.
Eine Probe Wohlgestalt von da, meint sie, und ein Häppchen Anmut von dort, und vor allem : der grand architecte chevalier de bouche Cuvillíes ( sie wirft es hin als spräche sie den Namen ihres Leibgerichts im teuersten Restaurant der Stadt aus ) gehört schleunigst mit der Bauleitung betraut. „Unser Zwergerl, weil der is doch das A und O für sowas. Schon von seinem ganzen traditionsmassigen Background her.“
Sie sagt traditionsmassig wie die prozesslustigen Landwirte in ihrer niederbayerischen Heimat g’richtsmassig sagen statt gerichtsmäßig.Und klappt ihrenTaschenspiegel wieder zu. Schroubek ist ihr, man sieht es an seinen roten Backen, nun endgültig hörig geworden : was im Hause des Ordinarius Weichslgartner Kanon ist, hat er soeben durch den Mund der Geliebten Weichslgartners erfahren dürfen. Er vor allen anderen, und nichts vermittelt Schroubek so trauliche Geborgenheitsgefühle als wenn er sich unterordnen darf unter Gesetzesmeinungen, die höchsten Ortes gepflogen werden. Mittermayer hingegen, in der Ferne des ungeliebten Bayreuth, hat Weichslgartner immer schon für einen heimlichen Anar-chisten gehalten, umgedreht in dessen Studienzeiten im fernen roten Bochum. Unversehens formieren Haselwanter und Mittermayer eine Phalanx, über den Abstand von elf Sitzplätzen hinweg.
Ein Trutzbund wider den Gnom.
Einen Künstler, dem die zuständige Wissenschaft nicht über die Schul-ter blickt, warnen sie gemeinsam, und ihm die Hand lenkt - als eigentlich Verantwortliche ! - ruft Hölzl dazwischen, froh um ein Wort ohne Zisch-laute - ein solcher Künstler gerät unweigerlich außer Rand und Band.
„Schon früher ist dieser C. durch den Synkretismus seiner Kreationen aufgefallen. Wolf spricht 1967 von der von ihm so schludrig gepflogenen Rocaille und Laran – immerhin von der Pariser Nationalbibliothek ! - tadelt aufs schärfste sein Ornamentenwerk, ich darf zitieren : gezeichnet mit willkürlicher Phantasie, die der Natur und der Vernunft zu spotten scheint. Und der allseits geschätzte Norbert Lieb, Ordinarius an der Landesuniversität, urteilt 1981 : Er hat bei der Dessination nicht bedacht, in welchem Material es auszuführen sei.“
„Hört hört !“
Und nun die Ausführung eines Bauvorhabens von den Dimensio-nen des Projektes Thassilo in der Hand eines solchen Wichtels !
Die Kunstwissenschaft ist berufen, ungesunde Wucherungen zu unterbinden. Metastasen zu beschneiden, ihr Wächteramt auszuüben über den quellend-qualligen Gestaltungsgelüsten der Künstlerschaft. Namentlich über ein Exemplar wie den Monsieur de C., dessen Stil-epoche seit zweihundert Jahren ins Vergangene, ins Vor-Vergangene abgeschoben worden ist, über den von Seiten der Kunstwissenschaft alle Bewertungen längst abgeschlossen, sämtliche Fürs und Widers ins historisch Verantwortungsvolle entrückt sind.
„Da kann doch nicht zugelassen werden dass unsere Einordnungen erschüttert werden, und sei es durch den Künstler selbst.“
„Der Künstler schafft, und wir sortieren ein.“
„In letzter Instanz. Unwiderruflich.“
„Aber dagegen vergeht sich dieser Cuvilliès flagrant, indem er nicht nachlässt, possenreißerisch herumzuflattern.“
„Peinsam so ein Monsieur Kunstikus, der nicht rechtzeitig abgeht !“
„Und uns sein Ouevre überlässt. Treuhänderisch.“
„Zur Magizinierung“.
Es wird Zustimmung getrommelt, mit den Knöcheln auf die Tischplatte.
„Soviel Unverfrorenheit kann er sich überhaupt nur leisten, weil er das Große Konsortium hinter sich hat.“
Wer hat diesen Satz gesagt ? Nicht einmal Schroubek mit seinen feinen Lauschern des Türhorchers konnte es orten. Alle schweigen ver-schreckt still. Fragen sich, wieviele Mikrofone im Raum sind, in oder un-ter der Tischplatte, in der Stuckdecke, in den Stuhllehnen. Fragen sich, welcher der Anwesenden den Satz als Erster Professor Haberstock hin-tertragen wird und ob es nicht nutzbringender sei, selbst dieser Erste zu sein.
Plötzlich ragt ein Oberkörper vor der höchsten Lehne an der Stirnseite des Beratungstisches auf. Auf dem Platz, der dem summus summorum der nationalen Wissenschaft vorbehalten ist, sitzt aber nicht Professor Haber-stock, sondern Udo Quantz. Nur Schroubek bemerkt es, der unablässig die hohe Lehne im Auge behalten hat. Der Mund steht ihm offen, er will mit ausgestrecktem Arm auf den zweithöchsten der Oligarchen auf-merksam machen, aber die Rücken der anderen bleiben abgewandt. Quantz lächelt Schroubek zu. Einverständig ? Huldvoll ? Verschwörerisch ? Schroubek genießt es, dass der Blick des Großen allein auf ihm ruht, seine zweihunderzweiundzwanzigtägiger Emsigkeit ist belohnt worden. Er hat einen Mächtigen für sich allein, und wäre es nur diesen Augenblick lang, und sein ausgestreckter Arm bleibt in der Luft stehen.
Die Gesichter der anderen blieben tischwärts gesenkt, wären nicht die drei Unbekannten aufgesprungen, um Udo Quantz stehend Reverenz zu erweisen. Dabei hat einer seinen Stuhl umgestoßen, dessen Lehne auf Haselwanter fiel. Über den Stoß fluchend, erblickt er Quantz. Hölzl ver-sucht wie stets, die Situation zu seinen Gunsten zu wenden : „Wie bereits angekündigt“ ruft er „hat Herr Quantz - „
Ein Satz fast ohne Zischlaute.
Nichts war angekündigt, und Hölzls Zunge scheitert bereits am Z im Namen des Oligarchen. Quantz winkt ab, als gebiete er Rücksicht auf etwa immer noch Schlummende. So nehmen ihn die weiter entfernt Sitz-enden erst bei seinem zweiten, dritten Satz wahr, als er bereits angelangt ist bei –
„…der fünfte Abschnitt unseres Projekts soeben fertiggestellt, der sechste bis achte in Bau, der achte und neunte bewilligt. Die Hülle, die nun mit Ihren Konzeptionen schleunigst zu füllen ist ! Alle anderen Invol-vierten haben das Ihre beigebracht, voran die Allumfassende Partei, die Kirchen, die Sportverbände, die Landwirtschaftskammer, die Traditions-verbände, die Trachtenverbände, die Veteranenverbände e tutti quanti. Nur Sie als historische Kommission, die Sie eingesetzt sind, dass sie in all das verdammtnochmal eine Strukturierung reinklamüsern …“
Er unterbricht sich, um zu schneuzen. Aber Schroubek duckt sich, als würden Gasgranaten abgefeuert.
„Ich weiß gar nicht was ich sagen soll zu so einem Watte-Gebirge von Tranigkeit …“
Nicht er, seine hochgezogene rechte Braue sagt : bei uns in der Wirt-schaft wären besagte Tranige längst abserviert.
„Aufgabe war, in den Brennpunkt von Projekt Thassilo rücken : Gloriole unserer Industrien ! Wie hat verdammtnochmal die Welt ausgesehen, bevor es die fränkischen Kugellager gab, die schnellen Wagen aus der Residenzstadt ! Den Atomstrom aus dem gesamten Königreich. Unsere Waffenschmieden, die die ganze Welt mit Artikeln der high security versorgen….ich muss Ihnen das doch wohl nicht erst kleinklein ver-klickern.“
Niemand muckst sich. Quantz ist der Schulrat, der den Lehrplan fürs kommende Schuljahr vorträgt, aber die am Tisch haben noch nicht einmal ihre Aufgaben fürs abgelaufene erledigt. Allein Schroubek ist bestrebt, dass sein Kopfnicken gesehen wird.
„Es versteht sich dass wegweisende Gestalten wie Bölkow oder Willy Messerschmidt angemessen zu würdigen sind. Vor allem, stellen Sie den Krieg in der Geschichte dieses Landes als initiales Element heraus ! Es war ein Krieg, nämlich der dreißigjährige, der uns die Kurfürstenwürde brachte. Es war die Teilnahme in den wechselnden Allianzen der napoleonischen Kriege, die uns die Königskrone gebracht hat und das Land zu seiner jetzigen Größe, geografisch gesehen.“
Und das Ende des 1. Weltkriegs ? schreibt Hölzl auf einen seiner Zet-tel. Unfall einer Republik die keiner gewollt hat und macht einen Kreis drum vor Freude, einen Satz ohne S produziert zu haben. Quantz über-geht die heikle Zeitspanne, die Hölzl da wenigstens auf dem Papier benennt und preist dafür die Rüstungsleistungen, die auch seither zu verzeichnen waren.
„Holla ho, was für ein Schub, verdammtnochmal, an Innovation !“
Der zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg bescherten dem Lande jene anhaltende Konjunktur, in der –
„In der wir mitten drin zu sein die Ehre haben, Damen und Herren.“
Niemand am Tisch scharrt, niemand hüstelt. Niemand aber auch trom-melt mit den Knöcheln Beifall. Allein Schroubek nickt ausdauernd, wodurch Quantz die entente cordiale der Widerborstigkeit bei den an-deren erst bewusst wird. Darum zieht er jetzt andere Saiten auf.
„Wir können natürlich auch knapp pragmatisch rangehen und das Projekt Thassilo schlicht als Selbstporträt gestalten. Der Welt-Unterneh-men bei uns zulande. Dann fällt der Löwenanteil an Siemens. Und Sie, die Wissenschaft fällt klar raus !“
Ein Zettel wird ihm zugeschoben. Sie sind hier leider von Charak-termasken umgeben die sich selbst für Künstler halten. Siegfried gegen Nibelungenzwerge ! Ihr ergebener Hölzl.
Quantz lacht. Noch nie ist an diesem Tisch, in dieser Runde gelacht worden, schon gar nicht dieses in Harvard erworbene Baseball-Cham-pion-Lachen, bei dem alle Zähne seines vorteilhaften Gebisses stramm-stehen wie die Mannschaft bei der Siegerehrung. Wenn man denkt, der Mann ist immerhin Ende vierzig belobigt Schroubek sich selbst, weil er dem Richtigen zugenickt hat.
„Durch die Beobachtungs-Satelliten, die meine Firma baut“ lacht der Richtige weiter, “schauen wir auf einen Globus, der tief zerklüftet ist von Terrorismus und Angriffslust. In Territorien die sich malerisch und reise-prospektmäßig darbieten, lauert Mordgier. Unter Gebirgen, die man auf der Stelle erkraxeln möchte, liegen Bodenschätze, um die blutige Kämpfe entbrennen, welche jeden Ausflug mit dem Alpenverein unmöglich machen. An sonnigen Gestaden lauern Guerillas im Hinterhalt, in tropi-schen Flussidyllen, ein Leckerli für jeden Kanuten, sind Rebellenarmeen verschanzt. Warlords verwehren den Zugang zu wertvollsten Bausub-stanzen, die jeder Kulturbeflissene sich einfach reingezogen haben muss. Da ist es nun unsere Mission, dem ein Ende setzen. Diese ganzen men-schenverachtenden Amateurschießereien zu beenden. Unser Muster-köfferchen der Friedenssicherung aufzuklappen, auf breitester Front. Und unsere hocheffizienten Arsenale of peacemaking an die Betroffenen weiterzureichen.“
Schroubek stellt sein Nicken ein, da er sieht dass nun genügend ande-re es ihm gleichtun.
„Global betrachtet ist unsere Monarchie ein Eiland der Eintracht und des Wohlstandes. Das, was die großen Utopisten der Renaissance – neh-men Sie Thomas Morus, nehmen Sie Campanella und wie sie alle heißen mögen, was die visioniert haben und gefordert als Menschheitsziel. Und diese Utopie tragen wir nach draußen, Damen und Herren, indem wir mit stählerner Faust in den Konfliktherden dafür sorgen, dass es dort eines nahen Tages so aussieht wie hierzulande bei uns !“
Schroubek schaut wie in der Heiligen Messe, wenn Brot in den Leib Christi verwandelt wird.
„Gebongt, und nun wünsche ich mir von Ihnen nur noch den kleinen Dienst, dass Sie das im Projekt Thassilo vollinhaltlich zur Anschauung bringen. Für die künftigen Generationen, die uns da folgen sollen."
„Aere perennius" setzt Schroubek hinzu, als spräche er ein Amen.
“Die Zuspitzung der Lage erfordert zügiges Handeln. Es sind Ent-wicklungen eingetreten, die….aber das gehört nicht hierher.“
Harvard-Lächeln.
„In diesen so ausschließlich geisteswissenschaftlich geprägten Kreis. Dort unten jedenfalls stehen Ihnen sagenhafte Kapazitäten zur Verfü-gung. Greifen Sie zu !“
„Dort unten ?“
Hölzl mit zwei Wörtern ohne S.
„Ja selbstredend doch kann das Projekt Thassilo nur unterirdisch sein. Den fatalen Begriff Bunker will ich hier allerdings vermieden wissen. Es geht schlicht und präzise um die größtmögliche Sicherheit, die wir dem kulturelle Erbe unseres Landes angedeihen lassen wollen. Wir sind es, die den Tresor dafür bereitstellen.“
Wir, das Große Konsortium.
„Und Sie stellen die Füllung.“
Er küsst der Baroness die Hand und behält sie in der seinigen.
“Ich erlaube mir, Sie einzuladen zur Besichtigung der Baustelle.“
Hölzl spürt, wie sich seine Zunge vor Empörung aufbäumt zu einem so zischend zornigen Sssss, dass er sich die Hand vor den Mund halten muss. Quantz übergeht Hölzl, der mit drei der ältesten Adelsfamilien versippt ist, deren sämtliche Sprachfehler er redlich ererbt hat, und hofiert dieses blaublütige Trutschelchen ! Als Hölzl den Fauxpas protokollieren will, kommt es ihm vor, als hätten eben noch viel mehr Zettel an seinem Platz gelegen. Sein Verdacht fällt stracks auf Schroubek, wen sonst, den notorisch Neugierigen. Hölzl rammt seine ganze Wut in seinen Fuß, denn oberhalb der Tischplatte soll man ihm keinen Affekt anmerken. Aber der Fuß ist gefesselt, die Schnürsenkel seiner Schuhe sind verknotet und die losen Enden ums Tischbein geschlungen. Hölzl würgt sich aus seinen Schuhen, taucht unter die Tischplatte hinab, und trifft dort ausgerechnet auf Schroubek. Dem ein gleiches widerfahren ist, aber entlastet ihn das ? Auch dem strumpfsockigen Hauptlehrer, der zornrot und einen Schuh in der Hand, aussieht als wollte bis ans Ende seiner Tage nur noch Klassen-verweise schreiben. Zwei, drei Tischbeine weiter hinten rackern sich Ha-selwanter und Mittermeyer ab, nun Gefährten im Schnürsenkel-Schla-massel. Ebenso die drei Unbekannten, ebenso Himmelmeier und Stapferer, deren Schuhbänder sogar jeweils mit denen des anderen zu Zöpfchen verschlungen sind, die sie nun einträchtig entflechten und dabei Stöhnlaute hören lassen. Die unrecorded bleiben, als Geräusch des Monats aber sendenswert wären.
Nur die Baroness ist längst aus dem Saal, am Arm von Quantz.Aber die hatte ja auch Pumps getragen, schnürsenkellos. Schroubek, seine Hände in die Schuhe geschoben, robbt an den anderen vorbei, grüßt aufmunternd nach links und rechts, auch im Kriechen ein böhmischer Wohlwollen-verspritzer. Als er sich am Ende der langen Tischplatte aufrichtet, erreicht ihn erst so recht der Zauberbann des Wortes unterirdisch das Quantz ge-offenbart hat. Das Projekt Thassilo wird die Tiefe unter dem Königreich füllen. Es wird, dafür will Emiljosef Schroubek sorgen, so viel Schubkraft entwickeln dass es mit seinen Stollen unter den Landesgrenzen hindurch bis ins Böhmische fressen. Und mit ihm Schroubek. Und von da voran ins Mährische. Schon sieht sich Schroubek unter den Iglauer Höhen, Schrou-bek unterquert die March, Schroubek baggert unter den Weißen Karpaten, stößt durch zum Nitra-Gebirge und schickt sich an die Hohe Tatra unter-kellern.
Der Allmögende hat Emiljosef Schroubek zugelächelt, und nur ihm. Emiljosef Schroubek wird den slawischen Raum untertunneln.


11. Kapitel
worin die Todesangst der anderen zum Genuss gerät

„Ja da schau her !“
„Dass si der überhaubz reintraut zu uns echte Manndern.“
„Der rote Horsti !“
„Ob der am End aa no mitspielen möcht ?“
Bei der Großen Wette. Pflichtprogramm aller Mannsbilder. Eben der echten Manndern.
„Der Vaterlandsverräter !“
Wie ein Urteil in letzter Instanz hört sich das nicht an, gefällt mit dem Bierglas in der Greisenhand. Aber verwunden hat die Runde dennoch nicht, dass der rote Horsti in die Residenz komplimentiert worden ist, trotz der sozialdemokratischen Flecken in den Irrfahrten seines Lebens.
„Ich geb euch gleich an Vaterlandsverräter !“ grinst der Horsti und wird dafür getränkt, dass er sich so trocken anhört. Ein Sozi hört sich allerweil trocken an, wird gefoppt, ma kriegt selber an Mords Durst da-von. Die Trockenheit wird gelindert, der Durst der anderen sowieso, und nun ist die Stimme des roten Horsti Stimme so biergestärkt, dass er die Vaterlandsverräterei widerlegen kann. Fließend. Gerade die Sozialde-mokraten seien es doch gewesen, die anno 1914 dem Kaiser den Krieg ermöglichten. Und wer hat bittschön, als das Volk den Krieg nicht mehr wollte, die roten Aufstände niedergeschlagen danach ? Die Sozialdemo-kraten ! Und wer hat nach dem nächsten und auch schon wieder verlo-renen Krieg dem Volk die Wiederaufrüstung schmackhaft gemacht ? Wieder die Sozialdemokraten. Immer wehrbereit, immer die Hände an der Hosennaht seit 1914, und dabei auch immer die Eierhandgranate abzugsbereit in der Faust.
„Bloß in der Faust !“ heult ein Chor, bierig.
„Aber mir ham richtig damit g’schmissn !“
Sie wollen von der leidigen Geschichtsstunde herunter, nur ein Sozial-demokrat gibt sich mit diesem abgewetzten Gewirr und Gerümpel ab. Ihr eigenes historisches Wissen reicht gerade einmal zurück in die Zeit ihrer Erstkommunion und der Fahnenweihe im Schützenverein.
„Weisen wir ihn ein ! Am End werd er do no a richtigs Mannsbild !“
„Und a Wildschütz !“
Wie sie alle es sein möchten. Darauf wird angestoßen, und die faltigen Saufbrüder sind gleich bei gleich, mit lausbübischen Erinnerungen an einen lausbübischen Krieg. Und der Horsti darf mitspielen.
„Wo’s doch jetz um Waffn geht von am ganz andern Kaliber als wia damals !“
Sondern Tarnkappenbomber und Lenkwaffenzerstörer, und sie werden in ihrer Hand zu den Eierhandgranaten von damals. Nur dass sie nicht selber zu werfen brauchen. Und für ihr Leben fürchten schon gar nicht.
Der Spielführer wird bestimmt. Er misst, wird dem Horsti erklärt, bei der Großen Wette den Mitspielern die Schlachtfelder zu. Alles künftige, noch wird dort nicht geschossen. Aber in drei, vier Tagen werden sie wirkliche Schlachtfelder sein mit wirklichem Geschieße . Für diesmal stehen vier zur Auswahl. Beim Spiel A geht es um Öl. Bei Spiel B um die Expansion eines Nachbarlandes auf Kosten eines anderen. Vornehm für : um Eroberung. Bei C um einen klassischen Bürgerkrieg und bei D um einen nicht ganz so klassischen, den Haberstock selbst entfacht hat, um in diesem südostasiatischen Winkel sein Warenangebot unter die Leute zu bringen.
Alle Spiele sind anonymisiert, aber es gehört ( so weiht man den Neuling ein ) zum guten Ton darüber Bescheid zu wissen, dass etwa der Fall A in einer Wüstenregion abgewickelt werden wird, folglich ohne Bodentruppen, Fall C dagegen im dichten Dschungel, in dem weiße Söldner vorschnell von Moskito-Armeen aufgerieben werden, ein-ge-borene Leihtruppen jedoch allerhand Chancen haben, soweit sie Fabrikate von Heckler & Koch in die Fäuste kriegen. Und Fall D in der Savanne, mithin ein Aufgalopp für die Panzertruppe zu werden verspricht. Aber ist es ausgemacht, dass im Fall D der Angriff nicht auch von Westen her geführt wwird, von der Gebirgsgrenze aus, dann aber volles Rohr mit Hubschraubern ?
Ein kommodes Kriegführen, die Alten fachsimpeln wie beim Fußball in der Kreisligsa. Kriege, bei denen man nicht marschieren und durch den Dreck kriechen muss. Bei dem keiner der Mitspieler sein Leben aufs Spiel setzt. Nur die draußen auf dem Spielfeld, wenn morgen oder übermorgen die Schlacht beginnt.
„Wer setzt bei A auf Blau ?“
Auch die Kriegsparteien sind anonymisiert, ebenso die Waffenarten, ebenso die Stückzahlen, ebenso das übergeordnet Strategische, von dem nur die Generalstäbe wissen. Die alten faltigen Connaisseurs aber haben ihr eigenes Kriegerwissen. Bei Öl ( 7 ) geht’s immer hoch her, man darf die Russen nicht dran und Israel nicht im Stich lassen ( 13 ), es aber auch mit den Türken ( 21 ) nicht verderben, und mit den Tschechen ( 27 ) schon gar nicht, weil die Ersatzteile liefern. Und wenn der Brandherd sich ausbreitet, lockt weiterer Gewinn, weil Großbritannien intervenieren muss ( 333 ), was sich sofort umrechnen lässt in Lieferverträge über meh-rere tausend Stück.
Aber das ist schon wieder anonymisiert und wird mit dem griechischen π kostümiert. Sechs Spielbrüder setzen auf Blau, 14, 27, 4 und griechisch ∑, wofür man kein altsprachliches Gymnasium besucht haben können muss, sondern nur Aktien in der Branche Erdminen halten.
Ein Alter hält nicht mit.
„Bei de Erdminen san de da drunten net auf am satisfaktionsfähigem Niveau“.
Wie die gegnerische Partei.Wer auf de da drunten setzt, obwohl sie die Israelis hinter sich haben ( 17 ) riskiert seinen Einsatz.
„Man sollt de da drunten zwingen, dass sie endlich amal gleichziehen.“
„Und aufs Weltniveau aufschließn.“
Und gesund in Waffen investieren. Damit es sich für Rentner wie Gustl, Erwin und den Charly rentiert auf ihren Sieg zu wetten.
„Weil, der Charly hat aa bloß a mittlere Rente als ….angestellter. Da drauf sollten die endlich amal Rücksicht nehmen. Die da drunten.
„Also setz i auf Grün. Grad extrig.“
Und der Horsti kriegt schon wieder eine Einweisung in buchmacherische Kriegführung zu hören. Wann, gilts zu taxieren, überschreitet das Nationalprodukt eines Entwicklungslandes die Marke, von der an dieses verpflichtet werden kann, Waffen aus hiesiger Produktion zu importieren ? Und wie wird dieser Zeitpunkt erschnuppert, am besten gesteuert ? Wie wird nachgeholfen, dass er auch gefälligst eintritt ? Und zwar bevor die Chinesen, die Russen, die Amis schneller sind mit dem Liefern ?
„Und wer setzt bei B auf Rot ?“
„Denen haben wir doch schon vor drei Monaten Flugabwehrkörper geliefert vom neuestem Stand.“
„Und ….neuwertig !“
Jetzt sollen die da unten beweisen, dass sie auch damit umgehen. Unsere Instrukteure waren lang genug dort.
„Das will i meinen. Mein Schwiegersohn aa.“.
ES wird auf die Farbe der Schwiegersohnpartei gesetzt. Wenns dem Wastl sein Schwiegersohn ist, dann gewinnen die.
„Ich schließ mich an“ lacht Horsti.
Und pfeift, über seine eigene Verwegenheit.Was für ein lustiger Krieg !
Die Aussicht auf den flotten Vormarsch des Generals Reibach wie auf flotte Fernseh-Übertragungen schäumen Kindergarten-Glucksigkeit auf
Es müssen alle Kampfmittel in Spiel geworfen werden, die verfügbar sind ( die gesamte heimische Produktion steht bereit ) damit im Rücken der Truppe die Industrien rotieren, Volkswirtschaften brausen und die Börsenkurse in der Höhe bleiben. Darum ist es erste Pflicht derer, die bei der Großen Wette mitspielen, sich finanziell mit allen Kräften einzubringen. Horsti hat durch hohen Einsatz beweisen, dass er doch ein Krieger ist.
Ein Krieger geworden ist, spät aber doch, hier im Altmännerbündnis der Schützengrabenlieger. Vor Zeiten, als es noch Schützengräben gab, Knobelbecher voller Dreck und Läuse und Eis, war man einem rück-ständigen Krieg preisgegeben. Ausgerüstet nur mit Seitengewehr und Schießprügel, und die Artillerie hatten immer nur die anderen, den einfachen Landser zogs hinunter in Schlamm und Grab. Und ein Gas-Angriff war ständig zu gewärtigen, hat man vom Vater gehört, der noch vor Verdun gelegen hat. Dagegen, und das möge der Horsti würdigen statt nur zu flennen bringt der moderne Krieg, wie sie ihn hier führen –
„Die volle Dynamik ! Alles ist ständig in Bewegung !“
„A jeder hat a Chance, akkrat a jeder !“
Solche Zureden erhöhen Horstis Einsatz noch mehr.
Vor dem ersten Schuss steht der Sieger schon fest, wie Franz Xaver Schmautz gelehrt hat, und der heißt Reibach. Bei der Großen Wette ist hoher Einsatz Ehrensache, die Höhe des Einsatzes bringt Renommée und zeigt die Richtung, in der sie investieren müssen, damit Reibach auch Sieger bleibt.
„Sowas von einem humanen Spiel !“
Keine Zerstörungen, keine Toten, keine Verwundeten.
Jedenfalls keine eigenen. Wer den Krieg irgendwo da drunten führt, hat es selbst zu verantworten. Wie beim Fußball. Tragen die auf den Rängen Verantwortung, wenn einer mit schwachem Miniskus als Rechtsaußen aufgestellt wird ?
„Humaner, Horsti, geht’s überhaubz nimmer.“
Gibt es diesen Krieg überhaupt ? Er ist fern und phantomhaft wie ein Computerspiel – ein Männerspaß, ein Spiel für große Jungen. Gewonnen bei der Großen Wette hat, wer am punktgenauesten vorhersagt, wie viel Kriegsmaterial aus der landeseigenen Produktion nötig sein wird in einem Krieg, der noch gar nicht ausgebrochen sein muss, dessen Verlauf vor-aus zu sehen aber zum Spielzwang gehört.
Auch das Staatsvolk, das in den Taschen des Unterfutters nicht mit-schwappt und mitwettet, sitzt mit am imaginären Roulettetisch, denn die Bürger sind gehalten einen Panzer, eine Rakete oder ein Drohne zu adoptieren. Oder wahlweise eine Kampfbrigade, aus ausländischen Söld-nern bestehend,. Die weiblichen Bürger halten sich, was niemand er-staunt, am liebste an chemische Waffen
Horstis Spielkameraden führen einen Krieg gegen den Krieg. Und die in den Weltkriegen elend umkamen –
„Die täten uns doch jetzt Dank sagen noch und noch !“
Darauf gehört getrunken. Die Bierhefe spült alte Gesänge hoch.
„Wo rauh der Bergwind weht
Ein kleines Blümlein steht
Das kleine Edel- Edel- Edelweiß…“
Andere Veteranen holen noch andere Melodien aus sich heraus :
“Heute wollen wir ein Liedlein singen
Trinken wollen wir den roten Wein -“
So kommt auch der Wein noch zu seinem Recht.
„- und die Gläser sollen dazu klingen,
denn es muss es muss geschieden sein -“
Der Horsti hockt verwirrt zwischen den greisen Waffengattungen, die gegeneinander ansingen.
„Das kleine Edel- Edel- Edelweiß…“
Die einen geben sich als Seefahrer zu erkennen, die anderen waren bei den Gebirgsjägern. Beide unbesiegt seinerzeit. Beide siegreich jetzt.
„Denn wir fahren
Denn wir fahren
Denn wir fahren gegen Engelland…“
„„Das kleine Edel- Eeeeeedeeeeeel- Edelweeeeeeeiiiiiiiiiiß…“
„Bomben Bomben Bomben
Auf Engelland…“
Wer also setzt beim Krieg A auf Blau ?
Horsti setzt auf Blau. Und verliert alles, was er gesetzt hat. Sogar seine Versöhnungsrente, die der Hof ihm gewährt hat. Er wird Gerstl anpumpen müssen, seinen Pfleger. Der wird es würdigen, dass er als Sicherheit nur seinen Rollstuhl zu bieten hat.

Haberstock, wenn er sich an der Gürtelschließe des Riesen vom Monsignore getrennt hat, ist gelandet in einer Herrenrunde, die es sich in Logen aus Barchent bequem gemacht, aufs angenehmste ausgepolstert. In jedem Beutel, in jeder Loge hängen Fernseher.
„Das war leicht und locker Material für sechs Nachlieferungen was da verschossen worden ist.“
Eine Übertragung vom Kriegsschauplatz III27 ist zu Ende gegangen. Alle sind beseligt. Und alle sind geschlaucht, denn wenn die Herren auch nicht selber mitgekämpft haben, ihre Raketen waren da draußen tätig, während sie hier wie Täuflinge im Taufkissen lagen.
„Das war der Umsatz von einem ganzen Jahr ! Gratuliere !“
„Und Doppelbussi zu der Präzision !“
Wo auch immer draußen in der Welt Krieg geführt wird, hiesige Waf-fen sind mit dabei, auf beiden Seiten, und das Fernsehen bebildert, was sie bewirkt haben.
„Der Chinese sieht blass aus dagegen.“
„Dabei hat er das Leitsystem doch von uns geklaut.“
„Aber wir haben es weiter entwickelt inzwischen, ätsch !“
„Und jetzt kann er sehen, wo er bleibt – 223 zu 18, hab ich gezählt !“
Männerbeine hängen lässig über die Saum ihrer Taschen-Betten. Sie schaukeln im Rhythmus der Schritte, die der Riese tut. Wupp wupp wupp. Die Stimmung wird beschaulich.
„Wenn diese Silberpfeile so durch die Luft fliegen,ssssssssst…“
„Viel zu schnell ! Für meinen Geschmack immer viel zu schnell.“
„Das ist schon ein Genuß. Und man ist sich bewusst : das hab ich
finanziert –„
„Man streichelt sie während sie noch am Fliegen sind“
„Ja, Jungs, da haben wir das Phallische an sich ! Das reinkarniert das männliche Glied in seinem männlichsten Zustand : dem der Erektion.“
Wupp wupp wupp. Sanft auf und nieder, wie Ruderboote in einer freundlichen Bucht. Und sanft der Geist von Franz Xaver Schmautz in jeder Naht, er liegt als Kissen in jeder gepolsterten Loge.
„Die hochgeschnellte Rakete verkörpert ja den Ejakulationsvorgang an sich ! Rein, reiner, purer kann er gar nicht mehr gedacht werden ! Die Rakete : der Samenschuss !“
„Das ausstrahlende Glied ist weggeschrumpelt, runterverkürzt zur Lafette, zu einer Art Gleitschiene, zum bloßen Transportschammes. Sie, die Rakete, das eigentliche Ereignis, die Eruption, in der die Welt-schöpfung wieder erfühlbar wird, und nachvollziehbar.“
„Eine Kosmogonie zweiter Art, in einer entgötterten, scheinbar ent-rätselten Welt. Sie meinen, das wär zu hoch gegriffen ? Ein Raketenschuß kein schöpferischer Akt ? Aber aber ! Wir wollen‘s doch .nicht so ver-bissen von der Schadensseite her sehen, von der Zerstörung.“
„Was bitte heißt überhaupt Zerstörung ? Es wird doch nur vorüber-gehend eine Lücke geschlagen in den Gesamtbestand. Gebongt, einige Gebäude und Einrichtungen gehen zu Bruch…“
„Menschenleben als Kollateralschaden.“
„Das mag, individualistisch betrachtet von der Einzelperson her als Verlust empfunden werden. Aber nun schauen uns wir doch auch mal das Insgesamt an ! Da wird das, was so wischiwaschi wie Zerstörung aus-sieht, dialektisch zum Faktor einer NeuSchöpfung“.
„Der Schöpfung überhaupt !“
„Zum Innovationsmoment und Appell, diese Schneise wieder zu dü-beln.“
„Im Hastenichgesehn-Verfahren waren doch die deutschen Städte wieder proper aufgemauert, nachdem die Royal Air Force da weiß Gott ganze Arbeit geleistet hatte.“
Es wird anerkennend gelacht.
„Mit einem Millionstel Potential von dem wo drüber wir heute verfügen, notaben.“
„Da haben wir doch den großen, den sinnstiftenden Wirkungszusam-menhang vor uns. Wir sinds, die Schneisen schaffen fürs Zukünftige, das sollte man uns endlich danken !“
Wupp wupp wupp. Nur so nah am Riesen, an seine warmen, pochende Körperlichkeit geschmiegt und im zuverlässigen Takt seiner Schritte, lassen sich solche Gedanken ins Ziel schießen. Sanft schaukeln sie auf und nieder wie Ruderboote in einer freundlichen Bucht.
„ Die Völker des vorderen Orients, die haben dafür ein besonderes Gespür : wenn die sich fotografieren lassen, dann unweigerlich mit ihren MPs im Anschlag.“
So werden fernste Gegenden in dieses Gelass herein geholt und damit vertraut. Reisen im Geiste, Ferntourismus im Liegen.
„Diese islamischen Regionen, wo man das Weibliche fernhält“ weiß Haberstock, „ sind eben drum das dankbarste Abnahmegebiet für unsere Produkte.“
Wupp wupp wupp.
Professor Haberstock schlägt den Bogen vom Orient ins Hiesige. Wie im Nahen Osten, sei auch hierzulande Wehr und Schwanz ein und das-selbe Szepter, und die Rüstungsindustrie verdanke sich der Tradition der althergebrachten Gebirgsschützen. Dieser männischen Kultur des Phal-lischen, des Raufers, Wilderers und Fingerhaklers, dessen Glied hinter einem mächtigen ledernen Hosenlatz mehr kulthaft ausgestellt als ver-borgen ist.
„Dieser homo Gebirgsschützensis, der war just das richtige Menschen-material, um die Vervoll¬kommung und Kultivierung der Wehrtechnik zu bewerkstelligen.Schau sich einer nur die Entwicklung des alten, des altertümlichen Geschützrohres an !“
Das Glied des Urmenschen als Urbild alles Artilleristischen.
„Aber dann diese Weiterentwicklungen ! Diese Verfeinerungen ! Die
Überhöhung, die Apotheose des Sexualaktes Und die gewaltigste der Ejakulationen : der Schuss ! Feuer ! Ignition !“
„Ignition !“ rufen alle, Freudentränen in en Augen.
Keiner von den Herren ist in einem Alter das nahelegen könnte, er spräche von sich selber. Was das Ejakulatorische aus eigenen Röhren angeht.
„Und dann dieses Wonnegefühl nach dem Schuss…“
Die Bildschirme beleben sich wieder. Die Übertragung vom Kriegs-schauplatz II /18 steht an. Man klopft sich die Kissen zurecht unter den nicht mehr ganz gelenkigen Gelenken, wühlt sich wohlig in aufgetürmte Polsterburgen und ist nun ganz gesammelte Aufmerksamkeit. Eine Bubenbande, die in der ersten Grundschulklasse gleich einen Hase- und Igel-Film anschauen darf.

Die Herren genießen die Todesangst der anderen.
„Wird das jetzt eine Beichte ?“ fragt eine der Damen in einer
anderen Höhle, die sanft vom Schritt des Riesen gewiegt wird.
„Aber meine Damen…“wehrt der Monsignore wehrt ab mit seinen roten Händen.“Sehen die Damen hier vielleicht irgendwo einen Beichtstuhl stehen ? Offiziell eine Beichte ist es erst, wenn ich meine Stola umlege.“
Sie seien zwar mehrheitlich protestantisch, aber –
„Das Katholische, für das Sie ja geballt stehen“ lächelt die Gattin von Udo Quantz, „das übt nun mal einen so unwiderstehlichen Sog aus gerade auf puritanisch erzogene Psychen.“
Der Mosignore grinst sein Bauerngrinsen und spricht Sanftes über die Geborgenheit, die er seinen Schäfchen ich darf Sie doch meine Schäfchen nennen ? zuteil werden lassen möchte.
„An diesem besonderen Ort“.
Wo das friedsame Wupp Wupp Wupp der Riesenschritte auch wirre Gedanken friedsamer werden lässt. Den Schüttelsieben gleich, die das Neue Testament im Sinn hat wenn sie spricht vom Trennen der Spreu vom Weizen.
„Zelle der Kontemplation sei das Leitwort.“
Die Damen nehmen es bereiwillig auf und schweigen. Wie zur Einstim-mung. Dann , durchaus leise wie im Beichtsuhl üblich, beginnt eine zu berichten was sie bedrängt. Berichte aus dem Höllischen.
„Auf Schritt und Tritt wirst du von Mikro-Organismen verfolgt da un-ten !“
Dort unten, das sind die Kriegsschauplätze, die ihren Gatten in anderen Höhlen betrachten.
„Wie von den Spähtrupps von ihren Dschungeltruppen“.
Und Trinkwasser kann man da ja nicht abkochen wie in unsern Brei-ten, da schwimmt dann eine Tierwelt drin – „
„- als fünfte Kolonne ! –„
„- wo man hierzulande gar nicht groß reflektiert drüber“.
„Wie Spring-Amöben zum Beispiel.“
„Hört sich ja grässlich an“ schauderts den Monsignore.
„Und erst Schlummer-Amöben…“
„Das klingt ja voll nach Heimtücke“.
„Nach Wochen, nach Monaten womöglich erst nach so einer Tropen-reise bricht dann das Fieber aus –„
Die Damen beten eine Litanei des Schreckens her.
„- mit Spätfolgen noch und noch -.“
„- und man ist gezeichnet fürs Leben.“
„Hören Sie auf, das ist ja grässlich“.
Hören Sie auf ist die wirksamste Aufforderung fortzufahren im Regi-ster des Grässlichen, den fünften Kolonnen von Mikroorganismen, die –
„- Gott weiß warum, vor allem über die Frauen herfallen“.
„Und da schreiben diese Pazifistenblätter im Ausland noch“ ereifert sich die Gattin von Udo Quantz, „man brächte keine Opfer als Frau eines Topmanagers“.
Die Damen stöhnen, schweigen einträchtg, geben sich der Betrachtung ihrer inneren Weltkarten hin. Das Exotische leuchtet ihnen in vertrauten Farben. Ihre Ehemänner haben allesamt ihre wohlgehegten Materialsta-tionen. Und in den Regierungen ihre Herzensbrüder. Frühere Schieß- feinde, die nun regelmäßig durchs Oktoberfest geführt werden. So er- weitert sich der Gesichtskreis und damit die Toleranz quer durch Ras-sen und Zivilisationen.
„Man wird heimisch in den Wildnissen, und der mentale Erfahrungs-horizont erweitert sich enorm.
„Um Voodoozauber.“
„Und Bestattungsriten“.
„Und die Essentials des Buddhismus.“
„Es krempelt einem ganz schön das Ego um, wenn Männe da unten Krieg führen lässt…“
„Man bringt sich da emotional sagenhaft mit ein…“
In die Bürgerkriegsparteien, die eine wie die andere, und die dritte, die noch gar keine ist und waffenlos abseits stehen muss, führt man mit weiblichem Fingerspitzengefühl in die Kreise ein auf die es ankommt. Und in denen dem Bürgerkrieg eine neue Front eröffnet wird, und den Gatten neue Kundschaft. Die Damen sehen Guerilleros und Armeen zu, wie sie ihr Handwerk ausüben. So wie sie vordem den Klöpplerinnen in Amalfi zugeschaut haben oder dem Holzhacker im Stubaital, nur dass sie eben die Axt ( oder das was der Axt gefolgt ist ) gleich aus heimischer Werkstatt mitgebracht haben.
„Und das man nu bewundern kann in der Stunde seiner Bewährung.“
„Im Sumpf, im Dschungel, unter Moskito-Beschuss, unter den härte-sten Bedingungen.“
„Da kann ich endlich würdigen, was mein Holger so ausgeknobelt hat.“
„Und nicht mal ein Sterbenswörtchen von hat mitteilen dürfen von.“
„Nicht mal im Bett.“
„Schon gar nicht im Bett !“
„Wegen höchster Geheimhaltungsstufe in einer Tour.“
„Und nu steigt also dieses Endresultat seines Scharfsinns endlich vor einem in den Himmel … „
„Ignition…“
Alle Damen schweigen. Wupp wupp wupp.
„Natürlich will man dann hinterher“ findet Udo Quantz‘ Gattin die Spra-che wieder „auch die Einschläge sehen.“
„Das ist sogar total angeraten ! Überschrift trau schau wem ! Von der regulären Armee zu den Rebellen und zurück – „
„Überall herzlich bewirtet und gebauchpinselt“.
Und dann die kleinen Beglückungen der Kunden : frisch geernteter Mohn, sportliche Adjutanten, wahlweise eingeölte Tänzerinnen, Optio-nen auf zu erobernde Ölfelder ( wenn sie von beiden Kampfpartnern versprochen werden, geraten sie im Handumdrehen sie doppelt so groß ), für den Gatten durchzechte Nächte voller Saki und Koks mit dem Haupt-mann, der sich später zum Staatspräsidenten hinaufputscht und seinem Stabschef, den er gleich darauf erschießen lässt. Mit dem Rebellenführer, dem Exilkönig, dem Bundeswehr-Oberst, der eine Freischärlerarmee im Kongo aufbaut, ausgerüstet von Heckler & Koch. Diesem ärgerlichen Konkurrenten aus dem Württembergischen, weswegen der Oberst eines Morgens leblos aus den Stelzwurzeln des Okavango-Flußes geborgen wird. Ein exotischer Bildteppich voller Höhere-Töchter-Romantik, Gelbfieber und Todesangst.
Todesangst freilich der anderen.
Und die Damen spüren das Coca von damals noch einmal auf der Zunge.
„Und die Brunstbisse des Generals von der Befreiungsfront…“
„Fragen Sie mich nicht, wo überall.“
Der Monsignore legt seine Beichtstola um.
Die Ausdünstungen des Riesen werden eins mit dem Schweißgestank des Guerillaführers, der sie seinerzeit galant im Gebrauch der Machete unterwies, als Waffe im Nahkampf. Die halbe Nacht lang.
„Dutzende von den eigenen.“
Und die Papageien und Makaken haben dazu geschrien in den Lianen.
„Abtrünnige und Drückeberger hat er mit seiner Machete geköpft. Vor meinen Augen.“
„Zum Vorspiel !“
„Aber wenn ich an der Reihe war - Sie verstehen schon, Monsignore – hat er doch immer wieder tief traditionell aufs Rohr zurück gegriffen als Waffe, auf sein Rohr…“
Der Monsignore lächelt pastoral und schlägt ein Buch auf.
„Einem verhältnismäßig dünn¬wandiges Seelenrohr wird ein in seinem Innendurchmesser schwächeres Mantelrohr aufgeschrumpft, welches von außen her auf das Seelenrohr einen ständigen Druck ausübt. Hierdurch wird eine gleichmäßige Beanspruchung aller Rohrschichten beim Schuß erreicht.“
Kein Gebetbüchlein, ein Fachbuch, wie es einem Wehr-und Waffen-priester geziemt.
„Quod erst demonstrundum : Geschützrohr wie männliches Glied - hier wie dort das sensible und sinnreiche System und Inein-einanderwirken von Schwellkörper, Muskel und Vorhaut, wie wir es bei den Primaten vor uns haben“.
„Ach Monsignore, wenn ein Mann in einen eindringt, der schon hundertfach getötet hat, womöglich tausendfach…“
„Raubtiiiiiiier !!!!!“
„Und durch seinen Samen schießt der Lebenssaft von allen in einen rein, die er umgelegt hat…“
„Igniiiiiiiiiiiiiiiissssssssschn - !!!!!!!!“
„Erst Kampf und Krieg können Frauen wahrhaft befriedigen.“
Der Monsignore nimmt seine Stola wieder ab.
“Auch das Christentum, Kindlein, ist noch immer mit dem Schwert ausgebreitet worden“.
Gestimmtheit wie früher nach dem ite missa est der alten Liturgie, an der der Monsignore noch immer festhält. Die Höhle um sie her vibriert, und der Riese dampft und dünstet. Die Gattinnen fühlen sich hier unten wie die frühesten Christinnen, die sich in den Katakomben um den geheimen Altar geschart haben. Und sie sind ja wahrlich in einer Kata-kombe. In der Katakombe des Riesen, zwischen seinen Beinen. Im untersten Bauch, hypogastrica infernior. Im Uteralen wenn man so will, in der Region die eigentlich von den Urologen bewirtschaftet wird.
„Im Hoden des Riesen, Kindlein, gleich zu setzen mit den grottentiefen Tempelstollen des Mithras.“
Nur wenige, die Auserwähltesten wissen von diesem heiligen Ort der Einkehr. Ihre Männer, diese atheistischen Technikfuzzis, bequemen sich nicht in die Kapelle, belassen es bei der Teilnahme an Fronleichnamspro-zession und Hochämtern, wo die Fernsehkameras auf sie lauern. Hört ihr da unten, hämen sie, wenigstens ordentlich seine Eier bollern ? Die Damen hören sie, als wären sie das große Geläut von San Pietro in Vaticano oder von Fatima, oder die Glocken des Liebfrauendomes.
„Meine Kindlein…“
Der Monsignore duftet nicht nach Weihrauch und Beichtstuhlschwitze, er stinkt nach Hodensack. Sie stinken alle nach Hodensack, nach Bestien-Schweiß, beißender als der, den sie von ihren Ausflügen in die Tropen kennen. Das mollige wupp wupp wupp der Riesenschritte wiegt sie in Halbtrance , und der Monsignore wird ihnen zum Guerillerohäuptling, zum Schamanen, der die Waffen umtanzt hat und nun die Häuptlings-frauen geistlich knutschen darf.
„Kindlein…“

„Jetzt hats aber gespritzt !“
Sie sinken erschöpft zurück in ihre Kissen, wie sie vor Zeiten nach einem vollzogenem Beischlaf in die Kissen gesunken sind. Erschöpft von der Schlacht, die sie andere haben schlagen sehen. Das dritte Gefecht die-ses Tages ist glückhaft zu Ende gegangen. Für den, der Panzerketten produziert, denn er hat zusehen dürfen, wie seine Stahlraupen die Stel-lungen der Verteidiger zermahlen haben, so unbezwinglich sie auch armiert waren. Für den mit den Leitsystemen, denn die haben auf beiden Seiten gnadenlos ins Ziel geführt. Für den mit Mischangebot, denn Gra-naten wie Lafetten wie Radaranlagen wurden hüben wie drüben zu Schrott geschossen, und alle füllen sich postkoital durchgepustet wie nach dem ersten gemeinsamen Puffbesuch im Rahmen der Abiturfahrt seinerzeit in East London, angeführt vom Englischlehrer. Alle hier ha-ben gewonnen, am wenigsten noch die Sieger da drunten, denn das sind die mit dem Materialverschleiß, der über ihre Kräfte ging und jetzt müs-sen sie nachbestellen bei denen, die hier in den Kissen liegen.
Wohlige Stille. Ein paar sind eingeschlafen. Die Wachgebliebenen wi-tzeln, wenn sie zu schnarchen anfangen hört euch das an die muss man ölen. Und alle genießen es nach, dass wieder einmal reichlich Rebel-lenzeug, Diversanten, Aufwiegler, Abtrünnige vernichtet worden sind.
Das schafft ein geruhsames Polster auch für ihr Jetzt und hier.
„Gebongt, sie haben Waffen bei uns eingekauft. Aber wollen wir solches Kroppzeug hier haben ?“
Keiner will Zwietracht hier haben, das Reich durch das der Riese stapft, herrscht vollkommene Harmonie. Wupp wupp wupp.
„Und morgen“ freut sich einer, schon halb im Schlaf „ist mein großer Tag“.
Günters Flugzeugträger kommt zum Einsatz.
„Du leistest dir einen eigenen Flugzeugträger ?“
So wie andere ein Großwildjagd in Uganda. Oder eine kostspielige Geliebte.
„Ein Flugzeugträger ist eine Geliebte“.
Unser Günter ! Bisher dachten alle, er sei auf Streubomben festgelegt.
„Dreihundertdreiunddreißig Meter ist er lang…“
Die Herren sind aus dem Alter heraus, da sie die Körbchengröße ihrer außerehelichen Donna bekannt geben, und in welchen Filmen sie mitge-spielt hat. Nun sind es die ihre Waffendatten, die erotisch kribbeln.
„Und zwohundertzehn Meter hat er Tiefgang. Und ratet mal, wieviel Knoten er macht…“
Einige erraten es. Sie haben die Daten der Amerikaner, Russen, Türken im Kopf.
„Und nun sag uns noch, wieviel Senkrechtstarter…“
„Dickes Geheimnis bis morgen.“
„Schwenkflügelflugzeuge, sag schon !“
„Hubschrauber - ?“
Günters Zeigefinger, der hin und her gewedelt hat, landet auf den Lip-pen. Die Frage, wo der Flugzeugträger überhaupt liegt, wird von den meisten niedergezischt. Unfairness ! Die Aufstellung, wie beim Fußball, wird erst vor dem Anpfiff bekannt gegeben.
„Ich will euch doch nicht zuviel versprechen...“
Allen ist der Mund wässrig auf den morgigen Tag. Der morgige Tag, das sind die morgigen Gefechte. Und darauf wird nun angestoßen, mit Exquisiten, das in Flaschen gluckert, die von da unten kommen. Cuvée privé oft nur für den Warlord, und in einer Flaschenzahl, die fünfzig nicht überschreitet.
„Wenn mein Doktor das wüsste !“ schleckern die Herren.
„Ihr Herz, Herr Direktor ! Und schonen Sie ihre Leber !“
…Ist schon weit über 80. Aber wenn er gesiegt hat, und volltrunken ist, ergießt er sich noch und noch.
Im Schlaf. Die Freunde, die Kampf- und Siegesgenossen schauen zu und wettten wieder. Diesmal auf den nächsten Erguss.
Wupp wupp wupp

Ich weiß dass selbiger Krieg schrieb die wittelsbachische Lieselotte von der Pfalz aus keiner anderen Ursache kommen ist, als weilen der Kardinal von Fürstenberg mit Madame de Lyonne beischlief, und der Kö-nig, Ludwig XIV, doll über ihn war und ihm alle Händel machte, wo der Krieg hernach auskommen ist.
Der Krieg, der hernach auskommen ist, war ein zierlicher Krieg, und der Gnom hat ihn erlebt. Er wurde geführt mit Kavalleristen in Monturen und Zaumzeugen, die viel Geld gekostet und an denen viele artisans lange genäht und gehämmert hatten. Die Artillerie schoss aus verzierten Rohren, die Damen konnten, sofern sie nicht vergewaltigt wurden, die Scharmützel aus gebührender Distanz mit dem Fernrohr beobachten. Und dem Landvolk, dessen Felder dabei zertrampelt wurden, stand es frei nach getaner Soldatenarbeit den Toten und Halbtoten die Röcke auszuziehen und die Degen und Hüte der Sieger und der Besiegten zu den ihren machen. Eine Kapelle mit Zimbeln und Fanfaren trabte vorweg, die Schabracken waren mit Ornamenten geschmückt, die der Gnom ge-zeichnet hatte. Zu solchen Waffengängen fielen ihm noch Décors ein und Bebilderungen. Heute, da Haberstock einen neuen Krieg zu bebildern wünscht, fallen dem Gnom keine Bebilderungen und kein Dekor mehr ein. Ratlos liegt er unter der Zunge des Riesen, wie ein kleiner Junge der sich im Hollerbusch versteckt weil er die Arbeit geschwänzt hat die ihm aufgetragen wurde.
Aber hat ihm auch wieder Sauerampfer mitgebracht. Immer, wenn der Gnom bei seinem Freund, dem Riesen Gregor unter der Zunge einkehrt, bringt er ihm Sauerampfer mit. Dicke Büschel Sauerampfer, die er alle selbst gesammelt hat. Sie sind die einzige Nahrung, die der Riese zu sich nimmt.

Es sind nicht nur Vögelschwärme, die dem Riesen entgegen fliegen, sondern auch Vögel aus Stahl. Kampfflugzeuge heißen ihn willkommnen, Erprobungsmodelle kurven um ihn wie Schwalben. Ein eitler Senk-rechtstarter tanzt vor seinem Gesicht auf und nieder und führt sich auf als wäre er eine Libelle. Als käms ihm darauf an, dass der Riese ihn zu Gesicht bekommt und nur ihn, noch ehe die ihn sehen die ihn bestellt haben. Sieh, ich Libelle bin der teuerste und sensibelste Flugapparat der bisherigen Militärgeschichte. Sieh und bewundere mich ! Meine Kons-trukteure haben mich HURRICANE getauft. Diese Libelle umsirrt den Riesen so eng, dass der auf freiem Feld stehen bleiben muss. Und so wars auch gedacht von der Regie, die hier Udo Quantz führt. Wie könnte eine Waffenschau stimmungsvoller ablaufen als in der Abenddämmerung vor aufziehenden, aber nicht drohenden Wolken. Das Abendrot, ehedem im Soldatenlied benützt für den Reim leuchtest mir zum frühen Tod, das selbe Abendrot streichelt nun die wendige Schönheit der neuen Maschine. HURRICANE trägt Raketen mit den exotischsten Tiernamen und ein gutes Dutzend Streu- und Flächenwaffen an seinem schlanken Körper, er hebt das Verhältnis von Nutzlast und Eigengewicht auf, er ist die fliegende Überwindung der Physik, wie der Riese die einherstapfende Leugnung der Physik ist. Ein staunenswertes Aufeinandertreffen der Ausnahme-Erscheinungen, und Udo Quantz, der es herbeigeführt hat weiß dass es bestaunt werden wird..
Der Riese streckt die Hände vor und der Hof versammelt sich auf seinen Armen. Es ist kein Volk zugegen, es ist die reine Selbstfeier diesmal, art pour l’art zu Ehren der Ingenieurkunst. Die hinterste Reihe der Höflinge hat in den Armbeugen ihren Platz und ist kobaltblau gewandet. Die Reihe vor ihr smaragdgrün. Die auf den Armstulpen stehen sind ockerfarben, die davor orange, die auf den Handballen gelb. Die im innersten Kreis um das Regentenpaar ihren Platz haben tragen goldene Roben. Zwischen ihnen Krenleitner, in Rosa mit weißem Besatz. Er selbst würde es pink nennen, und er hat es nach eigenem Gusto schneidern lassen. Niemand nimmt Anstoß, niemand scheint ihn zu bemerken. Aber niemand auch bewundert seinen exklusiven Geschmack.
Es ist ohnehin die Stunde der Militäringenieure. Querinternational gehören diese verschiedenen Waffensysteme endlich vereinigt, mon genéral. Nach hiesigem Muster, versteht sich.
„Versteht sich.“
Hiesige Muster sind überhaupt ein Segen, logistisch mal gesehen, für diese Armeen around the world, und weil es immer die Armeen sind die die Staaten formen nach ihrem Bilde, gilt : bavarian weapon global system als sinnstiftendes Muster für den Globus.
„BWGS, mon genéral ! „
„Unsere Standards hinaus in alle Welt, so wie jetzt schon unsere Lederhosen !“
Chinesen und Amerikaner haben keine Lederhosen, aber Ambitionen die mit den hiesigen nicht immer so in Harmonie zu pressen sind wie man sich das dringend wünschte. Und sie sind näher dran an gewissen Absatzgebieten, der schnöden Geografie sei’s geklagt. Man ist eben nicht Franz Xaver.Schmautz, man kann nicht überallhin auf Missionsreise fliegen, um den Verweigerern von Friedensmitteln ins Gewissen zu reden. Und schon ist die Millisekunde vor der Explosion wieder mal da, das Auf-zischen der Stichflamme am Pulvermagazin.
Die eitlen Libellen dürfen jetzt vor aller Augen ihre Kapriolen vollführen, nicht nur vor dem Gesicht des Riesen. Zeigen, wie sie ihre Kraft drosseln können und dann wieder losstürzen, sich auffangen und absacken lassen. So nah wird den Gästen, die auf den Schulterstücken des Riesen stehen, nie mehr im Leben Flugkörper kommen, sie flutschen vorbei wie Delphine bei der Fütterung, und ein fürwitziger Dreistrahler saust zwischen den Beinen des Riesen hindurch.
Der Regent beobachtet reglos, er ist ohne Massstäbe. In seiner Berufsschule hat er Turnfeste und Wettbewerbe im Autogenschweißen durchgestanden, aber wie soll er einem Sturzkampfbomber einen Siegerkranz umhängen, er kommt sich vor wie ein Kindergartenkind in der Staatsoper, das das Tannhäuser-Bacchanal absitzen soll, und seine Hände krampfen sich an den Knöpfen seines Trachtenanzugs fest. Monsignore Zirngibl dagegen genießt die Darbietung, die Luftwaffe ist ihm die moderne Version der himmlischen Heerscharen, in der Meta-phorik ist es vom Engel zum Düsenjäger nicht weit, in der Theologie auch und es zucken ihm die Finger, wenn er sich vorstellt wie er diesen geflügelten Miraculi einen Weihwasserpfutsch auf die edlen Schnauzen schwappt in nomine patris et filii et und nun flieg hin und tu dein Werk fürs christliche Abendland !
Miltärgerät steigert das Mannestum, nur beim Regenten schlägt’s nicht an. Wie kümmerlehrerlich er da neben seiner Regentin steht, zum Erbarmen ! Nur die dicken grünen Abstepper an seinem Trachtenanzug halten ihn noch so lala aufrecht. Aber sie, die Landesmutter, wogt, die Adern an ihrem Hals pochen, der Monsignore sieht es dicht vor sich, der Fluglärm ist ihr ein halber Orgasmus. Oder schon ein ganzer ?
Wenn die Kampfflugzeuge mit Marschbefehl Einsatzgebiet X³ ver-schwinden, steht Krenleitner allein weit vorne auf der linken Hand des Riesen. Es gibt keine Halteseile, wer hier oben steht wird gehalten von seinem Vertrauen in den Riesen und den Rillen in seiner Haut, in denen die Füße halten finden. Er winkt in die Tiefe, obwohl auch dort niemand ist.
Er ist zwar nur kurz gewachsen, aber er steht so breit da wie zwei Männer nebeneinander. Oben ist er wuchtig, nach unten nimmt er ab, konisch würde man’s nennen, wenn er eine Vase wäre, aber er ist eine Büste mit Beinen, als übe er für die Büste in der Walhalla in Kelheim, wo er dereinst in Marmor aufgestellt werden wird. Er hat auch das Stehen auf dem Handballen des Riesen geübt, ohne Seil, nah dem rechten Ringfinger des Riesen und nah der Spalte die diesen vom Mittelfinger trennt. Wozu er viel Beinarbeit benötigt, aber er ist ja auch Sportsmann, als Besitzer mehrerer Fussballvereine.
Er winkt hinunter, obwohl niemand da ist. Nur Krenleitner ist immerfort für alle da, er lenkt die Massen in die Stadien, er tränkt sie und füttert sie mit Rummel und Halligalli. Die Vielen wären leergesoffene Bierdosen ohne ihn, den Einzigen. Ihm gebührt der Platz dicht beim Regentenpaar, auf den offenen Handflächen des Riesen, der sie seinetwegen vorstreckt und nicht ihretwegen. Auch wenn geraunt wird bloß weil er die Selbstreinigung organisiert muss man es ertragen dass so einer mitreist. Er genießt es, wie der Nachtwind ihn zaust, späte Benzinschwaden und das Kerosin der Flugzeuge, das noch immer in der Luft hängt, und er genießt den Maischegeruch seiner Brauereien. Eine gesunde Gerbsäure, Verdauungsgerüche eines Landes das seines ist, insofern als es einen wie ihn braucht. Mögen andere im Lande sich rühmen , sie seien nicht auf der Brennsuppe daher geschwommen ( wo doch niemand mehr weiß was eine Brennsuppe ist ) und sind es dann eben doch, wie man an ihrem suppigen, versuppten Gehabe sieht. Krenleitner ist auf dem Bier daher ge-schwommen und bekennt sich dazu, das Bier vereinigt alle Nahrungs-mittel in sich und düngt auch noch die oberen Regionen, den Geist und das Hirnkastl. Das ganze Land ist ein einziger Bierbottich, und Krenleitner schwimmt obenauf als Schaumkrone wie die Sommerwolken über dem Land, und der Gerstensaft ist Nordkurve und Südkurve zugleich.
Der Zug mit dem Herzen des Regenten zieht tief unter ihm dahin.
“Zu mir kommen mehr als wie bei dem Trauerzug jemals dabei g’wesen sind, könnts ruhig nachzählen“.
Und er öffnet den Hosenstall und brunzt hinunter, in die Nacht.

12. Kapitel
oder Diese Schönheit diese Reinheit
worin die Künste des Helden unserer Erzählung gepriesen werden und aus dieser die Verschönerung des öffentlichen Lebens abgeleitet

Diese Schönheit, diese Reinheit die alles Widrige vergessen macht, die hineinlockt in die bukolischen Sphären der Unschuld und der Sehnsucht nach Einklang, Wohlklang und Wohlgefühl ! Bedürfnisse, die wir alle aus einer uns verborgenen Ur-Heimat mitbringen, die in uns fort und weiterweiterwirkt als Sehnsucht, eingehen zu dürfen in harmonische, befriedete Sphären, in eine reineren Form der Existenz als wir sie tagtäglich führen müssen, in ein Dasein inmitten von Schönheit, wie es freilich erst in der anderen, der drüberen Welt für uns bereit stehen mag. Wie es aber von des Künstlers Hand bereits ins Diesseitige herübergeholt wird und vor uns ausgebreitet zu werden, auf dass wir den Atem der großen harmonischen Umfassungsgeste in uns erspüren mögen. Auch als dem Nüchternen verhaftete Tatsachenmenschen, als allein technizistisch Interessierte, als Verwalter der Bilanzen und Reagenzen, der Moleküle und der Pixel erstrahlt uns im künstlerischen Universum des Francois de Cuvilliés ein ethisches Muss, das unser aller Massstäbe weit nach oben rückt. In einen Kosmos, der erleuchtet ist und beherrscht von der Farbe Weiß als dem Inbegriff des Reinen schlechthin. In einen Kosmos, aus dem alles Zwielichtige verbannt ist. Wie auch die Dunkelzonen des Zweifels, der Verzweiflung und der Destruktion. Ein Kosmos, in dem das Seiende sich aufs überschaubarste darbietet als Relief, mit offenem Angesicht, in der zu vollkommenster Ehrlichkeit geronnener Darbie-tungsform des beinah Flachen und Planen. In der des Bas-Reliefs, wie Francois de Cuvilliés es vollendet zu handhaben weiß, und das nichts weiß von düster lauernden Vertiefungen, Winkelzügen und verschatteten Vertiefungen, in denen Ungutes keimt. Diese Reliefs, aufrichtige offene Klargebilde, die sich zu letzter Übersichtlichkeit bekennen, bieten einen Idealspiegel in dem sich die Offenen und Klaren geläutert wiedererkennen, klug belohnt durch Silber und Blattgold, wodurch, als Steigerung des Lichthaften, Strahlen des Sonne, sol invictus, und des Mondes, luna tenera, stellvertreterhaft ins Irdische herabgeholt werden.
Solche befriedeten Oberflächen gestatten den Verschwörungen des Schattens und der Finsternis keinen Raum. Der unbedingte Stilwille zur makellosen Harmonie hat sie ausgetilgt. Seht uns an, sagen uns die Kunstwelten des Francois de Cuvilliés, wir bieten uns euch dar als Gesetz gewordene Grazie. Nehmt dieses Gesetz in euch auf und lasst euch leiten von diesen Ornamentengespinsten zur zivilsatorischen Vollendung, zu Reinheit und Reinsinnigkeit, zum sens de clarté.
Dieser Impuls zum Rein-Werden und Sich-Rein-Erhalten springt aus Francois de Cuvilliés‘ schöpferischem Kosmos heraus und hinein in die Realien des Landes und nimmt hier konkrete Gestalt an. Wer sich in seinem monarchischen System geborgen fühlt, dem ist es zur zweiten Natur geworden, jeder Fäulnis zu wehren, noch ehe sie die o.g. Reinheit und Schönheit stört und zum Eiterherd wird. So werden Dunkelzonen aufgespürt ohne den geringsten Wink einer vorgesetzten Behörde. Die, wie wir wissen, ohnehin nicht mehr existiert, stellte sie doch eine altertümliche Beschwernis dar, geeignet, die sanften weißgoldenen Harmonien des Gemeinwesens durch bürokratisches Grau zu verunstalten.
Haberstock, bei dem Bezichtigungen wie auch Selbstbezichtungen in letzter Instanz landen, weiß die Spreu vom Weizen zu trennen. Die Selbstanzeiger, die tolpatschigen oder masochistischen Aspiranten auf Auslöschung werden von den diskreten Rechnern des Großen Kon-sortiums unter ihre Fittiche genommen. Und nicht in das helle Licht gerückt, das sie durch ihre Denunziation für sich vorgesehen haben. Denn das Volksganze sehnt sich ( und Haberstock ist hier nur lächelnder Regisseur, nicht Bestimmer ) nach Verbrechen, die in vielerei dunklen Färbungen oszillieren : in den scharlachroten der Wollust, in den gift-gelben der Bestechlichkeit und im grünspanigen aufklärerischer und umstürzlerische Umtriebe. Erschaudernd soll das Volksganze im Akt der Großen Selbstreinigung erfahren von Untaten, die es nie für möglich gehalten hatte, weil es nicht für möglich gehalten hat, dass auch jemand anderer bereits von ihnen geträumt haben könnte.
Die Nachrichtendienste von ehedem sammelten Daten über alles Querköpfige und Widerständlerische im Staat, mit der politischen Lupe, nicht der hygienischen. Das Resultat war nicht die Ausmerzung des Querköpfigen und Widerständlerischen, sondern ein aufgequollener Beamten-Ballon, der über einem mickrigen Archipel von Delikten schwebte. Zu viele Spitzel, zu viele Gehaltsempfänger, zu viele juri-stische Hirndämpfe. Die Aufklärungsquote ersoff in den Planstellen.
Das Große Konsortium dagegen rechnet auf das wache Ohr des Herrn Jedermann und die rechtschaffene Hausfraulichkeit seiner Gattin, die das Gemeinwesen ebenso sauber gehalten sehen wie ihre Küche und und ihren Kühlschrank. Spülmittel und Bohnerwachs reichen quasi auch noch für die öffentlichen Belange, und die innere Reinlichkeit Gemeinwesens ist deckungsgleich mit der Reinheit eines Francois de Cuvilliés, ein blitzblankes Bas-Relief, überschaubar und ohne obskure Hinterecken. Und das Volksganze darf sich rühmen, an diesem Kunstwerk mitgewirkt zu haben.
Ein urdemokratisches Verfahren, das freilich der Demokratismus zu entwickeln noch nicht in der Lage war. Demokratisch und wahrhaft volksherrschaftlich in dem Sinn, dass hier die Beobachtungen eines jeden gewürdigt, aufgefangen, gespeichert und verdichtet werden. Und voran-getrieben bis zu einem public trial of cleaness, wo das Volksganze manifest werden lässt, dass die bezichtigten Elemente aus seiner Mitte entfernt werden, weil sie zu Fäulnisrregern inmitten der großen Harmonie der Bas-Reliefs geworden sind.
Es ist nicht zu leugnen, dass hier ein gewisses Sehnen Platz gegriffen hat nach melodramatischen Verbrechen. In denen sich die Verderbtheit widerspiegeln soll, die der loyale Bürger der Monarchie bei sich selbst ausgetilgt hat und nun aber, sittlich über-gereinigt gleichsam, mit schleckrigem Voyeurismus bei anderen erhofft.
„Überwachung des Nachbarn S.dringend angezeigt. Gehört nicht dem örtlichen Schützenverein an. In der so gesparten Zeit üppiges Partytreiben in schwer einsehbarem Hobbykeller ( drei minderjährige Töchter, die sich der Gemeinschaftsaufgabe als Schützenlieseln entziehen ).“
„Zahl der ( höchstwahrscheinlich ) chinesischen Spione in unserem Zweigwerk auf vier erhöht, darunter attraktive Brünette in der Entwick-lungsabteilung.“
„L. und M. nehmen nicht an der Großen Wette teil.“
„Schützenbruder B. bezieht seine Schusswaffen hartnäckig im Ausland, Heckler & Koch, schwört auf Präzision derselben im Vergleich zu heimischen Fabrikaten. Stutzen untersuchen mit dem er Sieg beim letzten Gauschießen errang !“
„Hölzl verfolgt eigene Pläne im Zuge Projekt Thassilo.“
„Familie S. kauft ihren Kindern nicht die Bausätze der neuen Schüt-zenpanzer.“
Nichts Verwertbares für die Große Selbstreinigung, mögen die Rechner des Großen Konsortiums sich also ihrer Routine widmen. Mö-gen sie einen gewissen Amplinger Josef Maria erfassen, Witwer, Wachmann in der Residenz. Trägt sich mit der Aufstellung einer Palastwache, getarnt durch historische Ausstaffierung. Rechnet auf Unterstützung des Herrn Cuvilliés bei deren Einkleidung. Hat S-Bahn-Wachmannschaft ins Vertrauen gezogen.
Und da tut er gut dran.
„Bei einer zünftigen Palastevolution“ lächelt Haberstock, „brauchts Karate, nicht bloß Dekorationslanzen aus dem Museums-Depot.“
Hinwiederum : die S-Bahnbewacher bewachen auch die Atom-Anla-gen. Ein zu ausschweifendes Projekt für einen Amplinger, Josef Maria, kinderlos, verwitwet, ehemaligen Dorfpolizisten . Je mehr Haberstock ihn durchleuchtet, desto mehr wächst er ihm ans Herz. Besagter Amplinger, so melden Haberstocks Quellen, hat sich auf seinen endlosen Rund-gängen durch die Residenz niemals in Seitenfluren verirrt außer im Sei-tenflur seiner Wahnvorstellung, ein so rechtlicher Pflichterfüller wie er habe auch das Recht, am Ende seines Pflichtlebens den vielen anderen, den nicht so Rechtlichen, als pflichterfüllerisches Mahnmal hingestellt zu werden, an der die Nation sich misst. In aller Bescheidenheit, und um eben diese ist es genanntem Amplinger ja allein zu tun, aber auch weithin sichtbar. Und an diesem Punkt ist der A. auf seinen langen Rundgängen auf den Riesen verfallen als Plattform. Als Plattform, so steht es im Bericht. Haberstock muss lächeln. Als wäre der Staatsriese etwas wie der gusseiserne Austritt an den alten Eisenbahnwaggos, immer rüttelnd, durch den hindurch man Schienen und Schotterbett vorbeisausen sah. Aber auch, und nun lächelt Haberstock nicht mehr, ziehe besagter A. die Füße des Staatsriesen als ein kolossales Kampfmittel in Betracht. Wieder wörtlich.
Dieser königliche Aufseher hat gelernt von seinen Karatefreunden von der U-Bahnwache.
Auf diese Füße ist auch die Regentin verfallen, die gelernte Fuß-pflegerin, freilich nicht ihrer waffentechnischen Verwendbarkeit wegen, sondern weil sie sich mit den Reflexzonen an den Fußsohlen auskennt. Beim Massieren der endokrinen Hormondrüsen an denselben erschließt sich der gesamte Körper. Den Körper auch eines Riesen ? Denn sie, diese Drüsen ( so hat es die Regentin in ihrer Jugend gelernt haben in der Ausbildung zur Fußpflegerin ) stellen die chemischen Regulatorien der Körperfunktionen dar. Wer sich mit ihnen gut stellt, sie knetet, sie liebkost, der gewinnt das Zutrauen aller Körperteile. Und welches Kör-perteil wollte da widerstehen, bei der erotischen Ausstrahlung der Regentin. Die Innenseiten-Region der Sohlen beim Mittelfußknochen korrespondieren mit dem Herzmuskel, die Region hinter den Fußballen mit dem Zwerchfell quasi im Gespräch sein und die Kitzelzone in der Sohlenmitte ( Haberstock zieht einen Schuh aus und probiert es sogleich an sich selbst aus ) mit dem Magen, der Bauchspeicheldrüse und den Därmen.
Hat der Riese überhaupt Därme ? Eine Blase ? Einen After ? Haber-stock ist überrascht, dass er sich noch nie bewusst geworden ist, welche gewaltigen Eingeweide da mit ihm reisen, wenn er auf dem Riesen reist. Er hat dieses Ungetüm nur als livriertes Flaggschiff wahrgenommen, das der Wege stapft, die er und das Große Konsortium ihm vorgeben. Wie dieser Wachmann durch die Residenz. Und nun schickt diese Traudl sich an, den dienerischen Felsbrocken rebellisch zu machen mit keiner an-deren Machtmittel als dem ihrer rundlichen Mutti-Finger, und damit nach der Macht im ganzen Staat zu greifen. Von der Kitzelzone an den Fußballen aus ! Eine Versorgungsleitung von Drüsen und Säften und Nervleins, von denen das Große Konsortium mit allen seinen wissen-schaftlich-technologischen Resourcen nullkommanull Ahnung hat, wohl aber eine biedere Zeghennägelbeschneiderin mit Mittlerer Reife aus Amberg. Und wenn der Riese seine Stimme wieder findet, weil sie auf eben die Hautrille gedrückt hat die der Kippschalter für das Sprach-zentrum ist, wird er weithin übers Land hinbrüllen mit einer Stimme die es mit dem Donner aufnehmen kann, einer Stimme wie fürs Jüngste Gericht, und das dicke Reserl zur Königin ausrufen und die Sippe der Ernstls zur Dynastie von Gottes Gnaden. Und der Riese, willfährig wie er ist, wird es mit sich geschehen lassen. Treuherzig und sabbernd vor Eifer. Haberstock hasst sich dafür, dass er nie darauf gekommen ist, ein Dutzend fescher Madeln sich von des Riesen Stirn abseilen zu lassen und ihm die Backen zu streicheln. Ihm Karamellbonbons in den Mund zu schieben. Ihm einen Pickel auszudrücken, ihn auf die Lippen zu küssen.
Womit ihm die Regentin nun zuvorkommen will, wenn auch aus der entgengesetzten Richtung. Wie, grinst Haberstock, mag sie das nur an-stellen ? Wird sie ihn bereden dass der Riese sich flach auf den Boden lagert ( man bedenke den Raumbedarf ) und die Schuhe abstreift auf dass sie ihr Knetewerk vollbringe ? Sie, die immerhin Landesmutter, raspelnd an seiner Hornhaut, matschend zwischen Milben und Wurzelwerk und Pilzen und was da unten noch alles sein mag. Wird der Riese behaglich grunzen währenddessen, wenn er schon nicht plauschen kann mit ihr ? Wird er kichern, wenn sie ihn kitzelt ? Du mein Rieslein, merkst du wie innig ich deinem kleinen Zeh abknutsche ? Das kommt weil der aus schaut wie dem Monsignore ausm G’sicht g’schnitten.
Haberstock legt seine Füße auf den Schreibtisch, wie um sie dem zu entziehen was er insgeheim wünscht. Dass die Regentin sich daran zu schaffen mache wie an denen des Riesen. Er sähe dabei von oben in sie hinein, in ihren wohlausgestatteten Ausschnitt, wie er in ihren Kopf jetzt schon hineinsieht dank seiner Überwachungsprogramme und in ihre kleinbürgerlichen Traumbilder, in denen ihre Tochter Reserl ein Krönchen trägt zum Trachtendirndl mit Hermelinbesatz. Endlich gleichauf mit dem Hof von Buckingham Palace, den Niederlanden und Monaco ! Endlich Paraden, und Platzkonzerten, später Hochzeit des Erben mit einer Doppelkinnigen von den Habsburgern, die endlich ihr Ländchen wiederhaben wollen, und einem Esterházy der fürstlichen Linie als Hofmarschall. Die Versippung mit den Habsburgern erbringt Erb-ansprüche bis weit ins Böhmisch-Mährische hinein, auch die Slowakei wäre ein mundiges Bröcklein im hors d’oeuvre, über das die weiland Fußpflegerin nebenbei auch noch regieren könnte, und wie war das gleich mit der Stefanskrone ? Und als Prinzgemahl ausersehen dieser Alten-pfleger Gerstl Hansi, unter wehendem weißen Helmbusch und hoch zu Ross. Der auf seinem inneren Kasperltheater mit Dreschflegeln bewaff-nete Plebejer vorbeiziehen sieht wie anno 1705, als seine Urvorväter dem Kurfürsten einen Aufstand darbrachten, wenn auch einen durch und durch staatstreuen. Denn die bairischen Männer sind eh Lattirln, wie man in der Landessprache treffend sagt, nur die Waffen-rituale in ihren Schützenvereinen bewirken dass ihnen was steht. Was die Frauen zu übergriffigen Wachträumen verleitet, wie Mutti Traudl zu dem von der Königinmutter. Haberstock würde sie sich lieber als Nymphe in C.s Figurenpark vorstellen, mit vergoldeten Brüsten.
Und sich selbst als - ?
Zwischen all den Computern gestattet Haberstock sich ein paar Bite Erotik. Aber die Erotik der Regentin schöpft der Monsignore ab. Der Monsignore ! Haberstock dankt es ihm, dass er ihn zwischen den drögen elek-tronischen Spitzelberichten stets reichlich Lachstoff bietet. Freilich ohne jene Grazie, die einer mitbringen müsste der im Kunst-Universum des Gnoms de C. agieren darf. Haberstock ist darin groß geworden, wenn schon nicht von Gestalt, die wenig Panhaftes aufweist, wohl aber in seinem Denken und seinen Handlungen. Der Monsignore taugte nicht einmal zum Widder-Darsteller auf dem untersten Paneel, er ist der unge-schlachte Bauerntölpel geblieben, als der er im Gäuboden zur Welt kam. Allein die bierschwitzige Viehhändler-Strategie, mit er seinem Plan hinterher stampft, Erzbischof und damit Kardinal zu werden ! Schwoabn ma’s abi, die nicht eingehaltenen Absprachen mit dem Großen Kon-sortium, schwoabn ma’s abi, Loyalität zu den Industrien, schwoabn ma’s abi, Handschlagtreue unter Herren von Stand und Distinktion. Bei jeder PC-Sitzung muss Haberstock scheffelweise Berichte über den Monsig-nore zum SPAM schaufeln. Er möchte sich den Feisten nicht einmal bei der Fronleichnamsprozession vorstellen, umringt von seinen TV-Kame-ras, und mit ansehen müssen wie seine haarigen Bauernpfoten die Mon-stranz umkrallen als wären’s die Oberschenkel der Regentin.
Diese erotischen Traumbläserei schon wieder um die Regentin ! Haber-stock weiß, dass er wie alle Söhne des Landes ein halbitalienischer Halb-garling ist, der sich lebenslang eine Annamirl als Mutterfrau und Frau-mutter ersehnt wie die Annamirl des F.X. Schmautz eine war : Santa Maria vom Siege mit tiefer Stimme und erzenen Armen. Wie sie Patronin des Landes und der Schützenvereine sein darf, weil sie 1620 die calvini-stischen Böhmen unterworfen hat, Schutzgöttin, Schützenliesel und Kinderfrau in einem.

Maria vom Siege steht auf einer Weltkugel und zertritt ein Schlan-genbiest, das alles Verwerfliche zugleich ist, demokratisch, aufklärerisch, pazifistisch, muslimisch und schwul. Wie das Buberl auf ihrem Arm zugleich das Jesuskind, der Regent, Haberstock und Franz Xaver Schmautz ist.
Und auch noch der Monsignore Zirngibl.
Aber neben dem will Haberstock schon gar nicht auf den Armen Traudls Platz nehmen. Denn der Monsignore bosselt, wie Haberstock zu-getragen wurde, an einer Predigt von den Händen des Riesen herab. Bei bengalischer Beleuchtung. Nach Sonnenuntergang, auf volkreichem Platz. Und dazu wird der Monsignore sich vom Gnom die Erschei-nung aller Erscheinungen inszenieren lassen : das Gesicht des Riesen wird leuchten im Dämmer. Donner rollen, ohne dass ein Gewitter am Himmel steht. Der Riese öffnet den Mund. Noch bengalischeres Leuchten, noch ein paar Donner, dann Stille.
Denn auf die weit ausgefahrene Zunge des Riesen tritt nun Maria vom Siege. Diesmal hat sie kein Knäblein auf dem Arm, und keiner braucht eifersüchtig zu sein. Die geweiteten Lippen des Riesen umrahmen sie von drei Seiten, wie die Tropfsteine der Grotte in Lourdes die dortige Madonna, aber hier sind sie auch noch mit bunten Lämpchen bestückt.
Annamirl, die Maria vom Siege, wird von beträchtlicher Größe sein müssen. Haberstock berechnet eine Höhe von 7 Metern 83, um von weitem wahrgenommen zu werden, notabene bei Dunkelheit. Haberstocks Rechner amüsieren sich über seinen Schnitzer und kommen auf eine Höhe von 334 Metern, einer sogar auf 813 Meter 43, einer auf achtzig Zenti-meter. Unumstößlich aber auf eine Lichtleistung von 12 000 Watt, erst ab 10 000 Watt nämlich glaubt das Publikum an eine überirdische Erscheinung.
Haberstock, wozu hat er sich sonst den Monsignore vom Arm der Gottesmutter fort fantasiert, malt sich all das für sich selber aus. Als kleines Allotria hinter seinem eigenen Rücken, von niemand erwartet. Denn im Großen Konsortium sitzt Haberstock auf der Seite der Knochen-trockenen und Diagrammherzöge. Trockener noch als dieser Quantz mit seinem Projekt Atomwaffen.
Der will eigene Raketen mit eigenen Atomsprengköpfen bestücken, Die er weit in der Ferne testen lässt. Haberstock will nicht in die Bre-douille geraten, will die Atomköpfe allein liefern, klandestin und ohne Raketen, diese vierschrötigen Spargel, die von jedem Satelliten sogleich zu erkennen sind. Haberstock will sich in alle Richtungen die Hände frei halten, auch das Leugnen, das Doppelgeschäft, das Nicht-dabei-gewesen-Sein bei voller Präsenz. Die Gefechtslage ist wirr genug auf dem Globus, der Krieg III2 samt seinen Unter-Kriegen zeigt kräftiges Wachstum, aber das Kriegsmaterial auf beiden Seiten liefern grinsend und fast allein die Chinesen. Die Monarchie ist ins Hintertreffen versetzt, China näher dran am Kriegsschauplatz und nützt es schamlos aus. Und unter den Armen der Chinesen, Russen, Amerikaner hindurch grabschen Viert- und Fünft-Verwerter nach der Ware, der Satan soll sie fressen, und verramschen sie zu frivolen Discounterpreisen. Scheiß drauf, dass eine Streubombe nicht altert !
Was für ein Bild für die Bürger der Monarchie, wenn ihre Export-industrie derart beschämend schmutzig aus dem globalen Wettstreit der soliden Kräfte fortgemauschelt wird ! Werden die Bürger der Monarchie charakterstark bleiben, oder wird Unmut in ihnen hochsickern ? Bei Tapezierermeistern, Getränke-Grossisten, Tankstellenpächtern, die um ihre Abschreibungen bangen ? Bei mager besoldeten Hilfsingenieuren in den Schlüssel-Technologien, die sich chinesische Wanzen unters Revers stecken lassen ? Werden Getreue zu Ab- und Aufweichlern, Defätisten, Krypto-Pazifisten, Zeigefingerhebern, die die Risiken des Rüstung-geschäfts beraunen ?
Sie werden.
Bei der anstehenden Selbstreinigung müssen Exempel statuiert wer-den. An die Kandidaten sind diesmal hohe Anforderungen zu stellen. Mittel-klassige Triebtäter, Bankräuber, Totschläger geben nichts her, wenn die Monarchie an allen Fronten im Gefecht steht.
Haberstock leistet es sich, verspielt zu werden.
Er kramt das Modell der Großen Selbstreinigung aus seinem Schreib-tisch. Maßstab 1 : 200. Die goldene Muschel in der Mitte gießt sanftes Licht über Haberstocks Gesicht, wie Abendsonne, und macht seine Gesichtszüge weich. Cuvilliés hat es gefertigt. Es atmet sein Stilgefühl, seine Grandezza, sein Gespür für sublime Wirkungen. Mit Cuvilliés ist, als er über die Grenze kam, der Esprit des gallischen Absolutismus ins Land eingewandert und hat Frankreich für immer verlassen. Als es noch keine Freimaurer gab, Voltaire noch auf der Schulbank saß, Diderot und Rous-seau eben erst geboren waren und die Schriften von Montesquieu noch nicht erschienen. Überhebliche, kränkliche Ideengebäude, die hierzulande nie im Fuß fassen konnten, weil sie dem Hiesigen stets fremd geblieben sind. Zur rechten Zeit ist Kurfürst Max Emanuel aus dem Reich Ludwigs XIV. hinaus geritten, den kleinen Francois als Pagen vor sich im Sattel. Danach ging Frankreich an die Nation verloren und die Chimäre der republique.
Versonnen baut Haberstock die Große Selbstreinigung vor sich auf der Tischplatte auf, wie eine Assemblage aus Zinnsoldaten. Für jeden der Mitwirkenden hat er ein Figürchen, für den Kandidaten, für den Erz-bischof, die Granden, für sich selbst, die Fahnenabordnungen und den Posaunenchor, der vorweg blasen wird. Die Regentin wird auf der Ehrentribüne sitzen, diesmal in schwarzem Kostüm. In seinen Fingern ist sie so groß wie ein halber Fingernagel. Als er sie an ihren Platz stellt, fühlt er sich wie der Riese.

13. Kapitel
worin der Unermessliche ein drittes Mal das stumme Wort ergreift

In der Nacht vor seinem großen Auftritt ist es mein Amt, den Kandi-daten allein über Land zu tragen. und ihm so viel davon zu zeigen wie er sehen mag. Aber er mag nichts sehen. So zeige ich ihm die Sterne, meine Freunde die mich immer sorgsam geführt haben. Die Waage, das Sinn-bild der Gerechtigkeit. Mars, den Kriegerischen der alles Kriegerische auf der Erde beobachtet und durch Waage, Skorpion und Wasserträger zum nächsten Schlachtfeld wandert. Den Hesperus, der seine Runde als erster am Abendhimmel beginnt und den die Alten für Venus, die Liebesgöttin gehalten haben. Am Morgen steht er noch immer am hoch am Osthimmel, auch an dem Tag, der der große Tag des Kandidaten sein wird.Ich lasse ihn die Wälder schnuppern, die Kornfelder, das Lachen der Zechenden unter den Kastanienbäumen. Den Frieden der Gehöfte, die Harmonie der Städte : du Narr du ! Gegen all dies hast du dich vergangen. Der Kandidat weint. Ich bette ihn warm, decke in mit der Hand. Er schläft, in Frieden. Morgen trage ich den Schlafenden in die Hauptstadt, auf den größten Platz. Dort wartet die Menge. Der angehaltene Atem der Menge bringt ihn zum Erwachen. Ich hebe ihn dem Erzbischof entgegen. Der nimmt ihn sanft in die Arme. Seine Augen sind ausgeweint. Und mit diesem leergewaschenen Blick schaut er den Regenten an, die Stadt, die Bürger, aus deren Mitte er sich heraus begeben hat. Viele halten diesen Blick für heilkräftig. Sie recken ihm ihre kranken Glieder entgegen, ihre Kinder, manche ihre Lotteriescheine und Aktien. Ich setze den Kandidaten in den goldenen Trichter, eine mächtige Schalenkonstruktion. Ich setze ihn in die Mitte des Kraters, in die tiefste Stelle der Hohlkehle. Der Erzbischof versetzt dem Kandidaten einen Backenstreich, unter dem Geläut der Kirchenglocken.
Das ist das Signal, auf das die zehntausende gewartet haben. Verwünschungen setzen ein, Pfiffe, Schmähungen, Unflätiges in allen Dialekten des Landes, und viele ausländischer Mundarten der von weither Angereisten mischten sich drein. Manche brüllen unentwegt einen einzigen Ton, bis ihnen die Stimme fortbleibt, bei vielen aber hat stundenlanger Biergenuss das Organ noch verstärkt, wie die goldene Mu-schel Getöse verstärkt und vervielfacht zu einem Orkan von Stimmen, der sich in dem Trichter auflädt zu einer Sturzflut aus Schmerz. Der Kandidat will sich losreißen, aber mein Zeigefinger hält ihn auf seinem qualvollen Platz. Seine aussichtlosen Rettungsversuche reizen die Zuschauer zu äußersten Schmähungen. Der Delinquent bäumt sich auf, er hat plötzlich die Hände frei, aber was nützt es ihm, sie gegen die Ohren zu pressen, die Zuschauer, bedacht auf ein ausgedehntes Vergnügen, dämpfen das Gebrüll fast bis zur Fermate, steigern sich wieder, weiden sich an den Verrenkungen des Gequälten, was die Zuschauer in Gelächter treibt, in Schreilachen aber selbst das Gelächter wird in der Muschel zum Sturm.
Der Delinquent sinkt zusammen. Amtspersonen stellen seinen Tod fest. Es erhebt sich darüber kein Jubel. Alle auf dem Platz sind heiser, geben sich einer wonniglichen Heiserkeit hin. Man strömt zum Fest.
Die Volksseele ist gereinigt.

14. Kapitel
worin man der Jagdlust frönt und Abschusslisten erstellt werden

Hunde, Hunde, Hunde. Überall Hunde.
Sie stürmen durch die Livrée des Riesen, ihr Gehechel ist schon zu hören bevor man sie selber sieht. Manche bekommt man auch gar nicht zu sehen, denn sie stürzen in Stopflöcher, straucheln in Falten, bleiben mit den Pfoten in Abnähern hängen und melden ihr Unglück mit gellen-dem Gejaul. Andere Hunde, die weit entfernt herumstrolchen in irgend-welchen Brusttaschen, versichern sie ihres Mitgefühls und jaulen mit ihnen, obwohl sie sich noch in gar nichts verfangen haben. Wieder andere, die sich in den ungewohnten Tuchhöhlen verirrt haben, werfen Hofbeamten und Gästen ihre Pfoten auf die Schultern und flehen sie an, ihnen den Ausgang zu zeigen. Sie spüren, dass man sie in ein noch nie da gewesenes Abenteuer geworfen hat, wie die Erstürmung eines Fuchs-baues, in dem Riesenschlangen hausen. Oder wie den Sprung in einen Vulkan, und unten im Krater dann kein einziges Karnickel. Der allge-+ genwärtig beizige Duft nach Wild erregt sie, aber niemand klärt sie darüber auf, dass es allein der Leibsgestank des Riesen ist, der da ihre ehrlichen Riechnasen mit schmackhafter Stinke beschwindelt. Und dass der Riese viel zu sperrig wäre, um ihn als zwischen Hundezähnen herbei zu schleppen und einem Herrchen vor die Füße zu legen um dafür die Ohren gekrault zu kriegen braves Hunderl sakrisch braves Hunderl.
So, weil die Beute wie das Lob ausbleibt, trieft immerzu sehnsüchtiger Sabber aus ihren Fängen, Fäden aus Sabber wehen hinter ihnen her und von Tuchwand zu Tuchwand, hinter jeder Reißverschluss-Öffnung hoffen sie auf die ersehnte Beute, Füchse und Hasen zu stoßen die den Geruch an sich tragen, der ihre Nase bezirzt. Aber ihre vier Pfoten können nicht mithalten mit ihrem Elan, ihr Geläuf ist nicht gemacht für diesen Estrich aus schwankendem Stoff, auf dem schon die Zweibeinigen nur vor-ankommen, weil sie sich an Halteseilen entlang hangeln, beiderseits. Winselnd verrollen sich die Hunde, schwer sacken die Taschen des Riesen unter dem Gewicht der Meute nach außen, in Verzweiflung schmiegen sie sich aneinander, ein geschlagenes Heer.
In ihrem Elend werden sie von den Briten getröstet. Die Briten emp-fangen dafür innig nassen Dank, ihre Gesichter triefen von Hunde-speichel wie unter der Brause, und sie strahlen wie frisch geduscht. Zum Dank versichern sie den Hunden, dass auch sie voller Tatendurst sind, umarmen jeden einzelnen Sabberer, umarmen die ganze Meute, lassen sich zwischen sie fallen und versichern sie, dass sie Spießgesellen sind, loyal fellows under loyal fellows bei der Jagd, die gleich beginnen wird. Ein herrschaftliches Vergnügen, um das sie auf ihrer Insel längst gebracht worden sind durch die Tierschützer und die Labour Party. Wer sich einem Hund an den Hals wirft, der sieht in dessen Maul schon das Wild, das er ersehnt. Und wer dem Hund in den Schlund riecht, empfängt als seligmachendes Bukett die Geruchsvision von vorausgeträumtem Reh-fleisch, Hirschfleisch, Schwarzwildblut. Darüber wird gefachsimpelt zwischen Jagdkumpan zu Jagdkumpan in einer Geheimsprache die dem Jagdfremden als Gemengsel aus Winseln und Knurren erscheint, aber wer auf Rehwild, Rebhühner oder gar Büffel aus ist, hört eine klare Syntax heraus und es wässert ihm selber das Maul.
Auch die chinesischen Gäste, in hiesigen Jägerbräuchen noch un- sicher, legen sich zu den Briten und den Hunden. Die Italiener und Russen filmen die Mensch- und Tier- und Sabbernester, und nur die Franzosen fürchten um ihre Garderobe. Denn alle sind sie in erlesene Jagdkostüme gekleidet, man sieht Kilts um Londoner Hintern und an-dalusische Caballeros in jägerischer Folklore, die lange nicht mehr zur angemessenem Entfaltung gekommen ist, weil es in der Heimat der Jagdgäste nur noch nordische Zugvögel und Karnickel zu erlegen gibt. Und nun hechelsabbern sie alle gemeinschaftlich der Hatz auf Rotwild und Wildschwein entgegen.
Und dazwischen überall Hunde.
Sie gehören der Baroness von Treidlein, der mans am wenigsten zuge-traut hätte. Aber nur wenn man ihrer urbanen Nonchalance aufgesessen ist, die sie in der Residenzstadt zur Schau trägt. Dabei ist das flache Land ihr Reich und Mutterboden, sie ist vom Kern weg, wie die Entourage der Regentin kichert, eine Kartoffelbaronin geblieben, die sich einen Späh-platz in der Residenzstadt reserviert hat. Aber eben nur reserviert. Und das in der Person des Ordinarius Weichslgartner, ihres Doktorvaters.
„Und, das weiß ja eh ein jeder, ihrem Schani.“
Ihrem ergebenen Geliebten.
Die Hunde, so viele es auch sind, tragen alle Namen. Und so wüst sie auch durcheinander bellen, sobald sie ihres Frauchens ansichtig werden, schweigen sie still. Wenn sie einen Namen ruft, antwortet nur ein einziger aus der Meute. Mit einem Laut, der sich anhört wie ein halb schmerz-volles, halb sehnsüchtiges Wuh.
„Stofferl!“
„Wuh.“
„Sieglinde!“
„Wuh !“
„Schmautz !“
Schmautz war ein früherer Ministerpräsident. Das ist eine Huldigung.
„Wuh.“
„Mittermayer !“
Das ist eine Gemeinheit. Denn der Namensgeber wider Willen ist der Erzrivale ihres Geliebten.
„Hölzl !“
Das ist mehr als eine Gemeinheit. Hölzl wird es sich notieren müssen.
„Wuh.“
Wenn die Passagiere aus der Livrée des Riesen lugen, sehen sie Herbstwälder comme il faut. Brandrot, sonnengelb, und alle Farben dazwischen. Den meisten Jagdlustigen prägen sich die Farben nicht ein, sie nehmen sie nicht einmal wahr, sie berechnen nur das Feuchtklima unter dem Dach der Bäume, und ob das Wild mehr in den Fichtenschonungen steht oder im Auenwald. Und da sie das alles von oben sehen, aus den Brusttaschen und Knopflöchern des Riesen heraus, werfen sie innerlich einen Netzplan aus über die Land-schaft und stecken mit den Augen ab, wo sie sich auf Pirsch begeben werden.
Tief im Forst geht der Riese in die Knie und winkelt sein rechtes Knie so an, dass sein Schienbein wie eine sanfte Sprungschanze über den Wipfeln steht. Heraus jetzt mit den Hunden ! Sie hecheln begierig aus dem Kniebund des Riesen ins Freie. Hussa, hussa, die Jagd geht auf ! Die Baronesse wirft eigenhändig ihren Leithund auf die Rutschbahn Bussi, Beni, Bussi ! Die Rutschbahn ist der seidene Strumpf des Riesen. Der erste Rutscher weiß noch nicht so recht, was von ihm verlangt wird, er will gar nicht rutschen, er jault elendiglich, versucht sich fest zu krallen, und reißt dabei Maschen ins Gewebe der Seidenstrümpfe. Er bleibt an den Fäden, die er mit den Klauen aufgefetzt hat, nur kurz hängen, sein eigenes Gewicht zerrt ihn weiter und tiefer. Der zweite Hund ist ihm freiwillig nachgesprungen, überholt den ersten, mit allen vier Beinen rudernd, bellt dem ihm aufmunternd zu. Auf geht’s, Beni ! Der erste, der grade noch um sein Leben gejault hat, fasst wieder Mut, geht vom Jaulen ins Kläffen über, und schon rutscht es sich zu zweien hochgestimmter über den Seidenstrumpf hinunter. Jetzt gibt’s für die anderen kein Halten mehr, die Baronesse braucht nichts mehr befehlen und keinen mehr zu werfen, die ganze Meute ist auf der Bahn. Rollen vorwärts da und Kugeln rückwärts dort, Kapriolen und Überschlag, die einen mit der Schnauze voran, die anderen mit dem Schweif, einige müssen über die Bäuche von anderen springen, die auf dem Rücken abwärts schliddern. Gesprenkelte Dalmatiner neben Schweißhunden, ein durch- und übereinander kullerndes Farbgekleckse, das dunkle Braun der Bracken strudelt ineinander mit dem Hellbraunweiß der epagneuls breton, dazwischen das Rotbraun der Setter und das Weiß der Bassets, die Hundeleiber bilden kläffende schwarze, weiße, kastanienfarbene Reptilien, die sich ineinander, auseinander, übereinander ringeln. Die Franzosen genießen die Farbenspiele, die Südamerikaner bewundern das Wettkämpferische, die Chinesen glauben die Vorführung einer ihnen noch nicht bekannten Waffentechnik vor sich, und die Briten springen mit hinein ins Gerutsche. Die Kilts blähen sich, im Wettrutschen bestätigt sich die Fama, dass unter den Faltröckchen keine Unterhosen getragen werden. Mensch und Tier, Hunde, Schotten und Walliser bellen fre-netisch. Auf dem Waldboden oder auf den Schuhen des Riesen gelandet, wollens die Hunde gleich noch einmal genießen, betteln jaulend darum, wieder nach oben geschafft zu werden. Ihre zweibeinigen Mitrutscher machen sich die Forderung zugleich zu eigen, einige klemmen einen Hund unter den Arm, um ihn wieder nach oben zu verbringen, und jaulen flehentlich dazu.
Aber sie vermögen nichts gegen die Baroness, ihrer aller Frauchen und Herrin. Sie ist mit einer Pfeife ausgerüstet, und wenn sie es betätigt, werden ihre Hunde auf der Stelle so still und sittsam, dass die Briten erschrocken die Hunde aus ihren Armen fallen lassen.
„Stofferl!“
„Wuh.“
„Sieglinde!“
„Wuh !“
„Schmautz !“
„Wuh !“
In der selben Reihenfolge wie zuvor. Alle sind heil unten angekommen, nur Hölzl –
„Hölzl !“
  • nimmt sich übel, dass er nicht beim Wuh ! seines Namensvetters mit-jault. Wenn auch bitter sarkastisch, um gegen seine Verhöhnung und Verhundung aufzumucken. Aber wenn er jaulte, wenn auch noch so sarkastisch, würde er ohnehin nicht gehört, sondern übertönt von den Jagdgästen, deren vielstimmiges Wuuuuuh !!! nach jedem Hundenamen die Meute dazu anstachelt, in einen wölfischen Lobgesang auf ihre Herrin zu verfallen, der nur von dieser selbst beendet werden kann. Indem sie wieder in ihre Pfeife bläst, worauf zum allgemeinen Erstaunen diesmal nicht ein weiterer Setter und Pointer auftritt, sondern der Regent im Jagdkostüm.

„Oh ! Isn’t it marvellous ! The king himself !“
Ein verwirrter Asiate schießt Salut aus seiner Flinte, aber die Oberhand gewinnen die in einer Reihe angetretenen Förster, die auf ihren Jagd-hörnern dem Regenten Tribut zollen.
„Wir sind hier versammelt im ehrenden Gedächtnis – „
Den Text, den der Regent hersagen muss, hat diesmal der Ordinarius Weichslgartner verfasst, der Geliebte der Baroness und feinsinnige Inter-pret der Landesgeschichte.
„- im ehrenden Angedenken an unseren Franz Xaver Schmautz – „
Weichslgartner steht lauschend mit zwei Samojeden an der Leine. Die, wie er selbst, der Baronesse gehören.
„ – welcher noch immer seinen gewaltigen Schatten wirft über unser Staatswesen, welches er selbst nicht mehr erleben durfte. Gedrungen von Gestalt - “
Gedrungen von Gestalt war er, aber titanisch in der Nachwirkung. Wei-chslgartner schmeckt seine Formulierungen nach im Munde des anderen. Des Regenten. Schwankend dabei wie eine Esche im Sturm, denn die Samojeden zerren an der Leine, sie wollen lieber bei der Baronesse sein als bei Weichslgartner.
„Aber titanisch in der Nachwirkung – „
Hölzl wird sich notieren, dass Weichslgartners Vorname beim Zähl-appell der Hunden nicht vorgekommen ist und zieht schon jetzt sei-ne Schlüsse daraus, so oder so.
„Der große Schmautz – „
Der große Schmautz, liest der Regent vom Blatt, hat Jagden über alles geliebt. Man möge diesen Gedanken weiterspinnen und sich jetzt und hier, umfangen von seinen Jagdgründen fragen nach dem tiefen Zusam-menhang von Waidwerk und Staatskunst. Und auf sich wirken lassen dieses mannigfache Beziehungsgeflecht zwischen jägerischer und staats-führerischer Entschlossenheit. Den Befehl an sich selbst. Die Verant-wortung des Schützen. Die Dialektik von Jäger und Beute –
„-in diesem zutiefst magische Faszinosum lebendiges Fleisch“ liest der Regent sittsam herunter und schaut nach jedem Satz hoch.
„Bei der Jagd bricht der Urmensch wieder aus der seelischen Tiefe herauf und das Atavistische, welches so mancher verdrängen will, for-dert aufs Neue sein Recht“.
Im Munde des Regenten wird, was Weichslgartner geschrieben hat, zum Adddavistischen und die Tiefe wird zur Diefe. Weichslgartner hat sich nun schon in die dritte Reihe begeben, hinter die Förster. Vor Zorn, dass sich auf der Zunge des Regenten alles Pathetische und Aufgereckte seines Textes einebnet. Mit dem er, Weichslgartner, die Weltöffent-lichkeit hat beeindrucken wollen. Oder doch den kleinen Ausschnitt davon, der hier auf die Jagd wartet. Vor allem aber die Baronesse.
Die Förster lassen die Spucke aus ihren Hörnern rinnen.
„Jenes Addavisdische, das uns in der Frühzeid schon emporgehoben hat über das Level der restlichen Fauna. Erhoben, auch als Jäger, über Luchs, Wolf und sogar Löwe. Sonst wären diese jetzt und hier die Jäger, und wir die Beudde.“
Die Beute. Es hört sich an als rede der Regent von einem neu aufge-stellten Papierkorb auf dem Pausenhof. Die Gäste treten von einem Bein aufs andere. Der Reif auf ihren Filzhüten staubt ihnen auf die Brauen. Schmautz, flüstern sie, war das nicht der, der in einem See ertränkt wor-den ist ? Dem Lake Starnberg oder dem Lake Chiem, auf der Flucht vor seinen Feinden. Die alle so ausgesehen haben wie die hier. Lauter Wild-diebgesichter, schaun Sie sich doch bloß um. Schmautz, das ist doch der gewesen, weiß ein Araber, der von seinen eigenen Leuten erschossen worden ist bei der Vorführung eines neuen Panzermodells. Fehlschuß, Rohrkrepierer, Haftladung, irgendwas in der Richtung, und paff ! weg war er. Ein Beduine hats auch gehört vom Meuchelmord, aber uns hat er vorher noch 370 Stück davon verkauft. Und der Staatshaushalt von zwei Jahren ist drauf gegangen dabei.
„Und so wollen wir heute in seinem Geiste diesen Jagdtag begehen. Und diesen Geist des Kampfs über Kimme und Korn hat er in uns alle gesenkt, wie wir hier stehen:“
Den Jagdgästen frieren die Wolken, die ihnen aus dem Mund treten, als weißer Reif an den Nasenflügeln fest. Professor Haberstock sieht es und unterbricht urplötzlich den Regenten.
„Es sind 42 Stück Schalenwild zum Abschuss freigegeben.“
Eine Botschaft die die Gäste nicht mehr langweilt. Hinten wird sie ins Spanische, Russische, Kanton-Chinesische übersetzt. Und es bleibt un-verlesen, dass Weichslgartner ins Manuskript geschrieben hat, wie der junge Schmautz, allmorgendlich vom Schlachthof die Schweinehälften hat herankarren müssen. Tief hingebuckelt über blutiges Frischgeschlach-tetes, wuchs in ihm, dem Fleischerssohn, der er neben seinen anderen mannigfachen Talenten auch war, das Verlangen, selber Fleisch zu er-legen, zu erbeuten, zu reißen, zu schlitzen und ausbluten zu lassen. Nicht schnöde maschinenhaft wie in den Schlachtfabriken, sondern in ehrlich archaischem Gegenüber wie unsere Vorväter.
Hölzl liest diesen Text schier wörtlich vom enttäuschten Gesicht Weichslgartners ab und beschließt, später zu notieren W. tief verbittert wg. Abbruch Jägerphilosophie durch Haberstock. Der waltet seines Am-tes als Jagdherr.
„Ferner laut forstamtlichem Bescheid 123 …26…478….“
Und löst damit bei den Jagdgästen freudenglucksende Chorgesänge aus, die seine Aufzählung als munteres Pizzicato begleiten.
„Splendid ! Even wild boars !“
Arge Schäden hätten all diese Aufgelisteten angerichtet in den staat-lichen Forsten, finstert Haberstock, schlimm sich vergangen an Baum-rinden und jungen Schößlingen. Schmarotzer des Waldes und des Volkes. Jetzt kriegen sie ihre Strafe mittels Schrotkugeln, und die Jagdgäste beschließen das Moralinsäurliche daran nicht verstanden zu haben.Wer sind sie denn ! Doch nicht etwa Ausputzer und Forstgehilfen im Beam-tendienst der Monarchie. Staatsgäste erster Klasse sind sie, weil sie Kunden der besonderen Industrien der Monarchie sind. Deshalb winken die Zweige schon aufmunternd zu ihnen herüber, die allerfeinsten Schnäppchen werden für sie bereit gehalten da drin und Zwölf- Vier-zehnender und Keiler mit prächtigen Stoßzähnen, die reichlich was hermachen werden, wenn sie erst bei ihnen zu Hause in Djakarta, La Paz oder Lagos überm Kamin hängen. Und die Nachbarn, die Herren vom Generalstab und die Entwicklungshelfer sie bestaunen.
„Die Treiber haben rote Westen an“ verkündet Professor Haberstock und weist ein Exemplar vor „damit unsere verehrten Gäste nicht etwa Mühe haben dass sie sie auseinanderhalten vom Wild.“
Und sie nicht etwa als Rotwild ansehen, ha ha ha. Das auserwählte Exemplar darf erröten, und die Arme hochreißen samt Prügel. Gleich wird er, werden die anderen mit diesen Haselnussstangen auf die Baumstämme schlagen und den Gästen das Gewünschte vor die Flinten treiben. Abwechslung von dem, was sie sonst als Freiwillige Feuerwehr oder Notarztfahrer in den umliegenden Dörfern von ihnen verlangt wird. Noch stehen sie in einer Reihe und grinsen verlegen, als ob sie abschätzten, wer von den Gästen ihnen trotzdem eine Schrotladung ins Fleisch jagen wird. Auch die Hunde sitzen in einer Reihe, die Fußballen im Reif und mit heraushängenden Zungen, die in der Kälte dampfen.
„Wir bitten unsere Gäste ferner freundlichst beachten zu wollen -“
„Stofferl !“
Die Baronesse unterbricht Haberstocks Sermon ebenso abrupt, wie dieser zuvor den Regenten unterbrochen hat.
„Sieglinde !“
Diesmal antwortet kein wuh ! , der so aufgerufene Hund stürmt stracks in den Wald.
„Schmautz !“
Und ab ins Gehölz.
„Mittermayer ! Hölzl ! Loisl ! Sepp…“
Die Jagdgäste tuns ihnen gleich, als würden die Hunde sie an der Leine hinter sich her zerren. Der Wald empfängt sie, Bellende und Rennende. Die Baumstämme werden ihnen zu Höhleneingangen, die als Versteck locken. Tief drinnen, den Menschen weit voraus, lassen die Hunde ihren Hetzlaut hören, die Tiere haben Witterung aufgenommen, andere Tiere, wildere Tiere, kommt hierher Menschen hier gibt’s was zu hetzen ! Die Jagdgäste, die von den britischen Inseln voran, stimmen in den Jaulchor mit ein, Menschenstimmen und Hundestimmen gleiten ineinander, werden zum selben rohen Geheul, der teutonische Wald wird zum Dschungel, und ihre Haus- und Schoßtiere sind ihnen mit einem Mal reißende Bestien.
„Wuuuuuuuuuuuuuh….“
Und die Jagdhörner legen dazu goldene Fährten tiefer und tiefer hinein ins grüne Unbekannte. Wo der Farn eine Glocke ist, die den Zauber über einem ausschüttet, eins zwei drei und du bist nicht mehr frei, und wer das Lösewort nicht weiß, muss ewig hier bleiben und wird zum Sauerklee den das Erdhörnchen verspeist. Wörter die draußen im gewöhnlichen Leben gebraucht werden schlüpfen bei der Jagd in das Kostüm eines Ge-heimdialekts, in dem Blut zu Schweiß wird, das Reh zum Stuck, die Hun-deohren zum Behang, die Rehbrust zur Kammer, sein Maul zum Äser und so fort und fort hinein ins Räuber-Volapük derer die nicht erwachsen werden wollen.
Und das Jaulen der Bracken ist auf einmal Wolfsgeheul.
„Wuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuh…..“
Der Monsignore vernimmt es genüsslich auf seinem Hochsitz und summt lächelnd mit. Die Beine behaglich weit auseinander gestellt, thront er wie die Kaiser auf mittelalterlichen Münzen gethront haben. Ganz anders als ihr Ernstl, der immer die Beine eng beinander hält als wären sie ungebärdige Schüler, die zu beaufsichtigen er dem übrigen Lehrkörper versprochen hat. Wer so majestätsmäßig dasitzt, auch wenn ihm niemand dabei zuschaut ( außer Traudl ) fügt sich first class ein in eine Familie, in der bald das Majestätsein zum Alltag gehören wird. Und erblich.
Der Monsignore trägt heute nicht die Soutane, in der die Welt ihn kennt von seiner Fernsehshow her, sondern einen Jagdanzug, den ihm die Re-gentin hat schneidern lassen auf Kosten der Hof-Schatulle, und auch keine Stola um den gedrungenen Hals, sondern ein goldenes Huber-tuskreuz. Es steht auf der obersten Speckfalte seines Bauches auf und verneigt sich nach vorn dabei, denn der Monsignore hat den Jagdanzug aufgeknöpft fast bis zum Nabel.
„Macht euch die Erde untertan, hat Gott der Herr dem Menschen ver-ordnet in der Genesis. Untertan also auch die Tiere. Das Viehzeug müsste die Schöpfung ja auslachen, wenn wir es nicht vertilgen. Weil der Mensch ist Vorstand solang der Chef nicht da ist, und der Hammel ist das Opfer im alten wie im Neuen Testament.“
Noch ist Gelegenheit für eine kleine Predigt. Noch steht, was vertilgt gehört, im Unterholz.
„Ja, Jagd ist Krieg.“
Vor dem Monsignore liegen sechs Gewehre, Flinten mit glatten Läufen und Büchsen mit gezogenen. Nicht einmal Traudl hat ihm so viele zugetraut. Ihr Ernstl begnügt sich bei den Staatsjagden damit, dem er-legten Wild grüne Zweige in die Mäuler zu stopfen, und auch das nur, weil die Fernsehleute es von ihm verlangen.
„Und das Kriegerische hat noch immer das Innerseelische aufgewühlt in der Bewährungsstunde fürs wahre Mannstum.“
Das Hubertuskreuz auf der obersten Speckfalte seines Bauches ruckelt auf und nieder, als nicke es Zustimmung, und die Gewehre starren in alle Himmelsrichtungen wie die gierigen Hauer eines urweltlichen Raubtiers.
„Und das Waidwerk ist die Vorübung für den Krieg. Das Manöver gewissermaßen.“
Er streichelt die Flinte die ihren Lauf nach Südosten richtet, eine altehrwürdige zweiläufige, dann die nach Südwesten, als sei sie es und nicht Traudl, an die er seine Predigt richtet.
„Im Schützengraben gibt es keine Atheisten. Gott will nicht, dass sein Werk auf Erden von Friedensfaslern versaubeutelt wird, sein Auge ruht auf den Starken und nicht den Lauen.“
Ihre Finger sind riesengroß, wenn sie nun den Hals des Monsignore umklammern, denn das Spektiv durch das eben das gesehen wird, ist vom edelsten. Es ist noch gar nicht auf dem Markt ; nur der, der hindurch-schaut, darf es handhaben, und er ist hoch zufrieden. Nicht nur wegen des Vergrößerungsfaktors, sondern weil er edelstes Wild beim Decken er-wischt hat. Der Bretterkasten des Hochsitzes beeinträchtigt ein wenig den Vollzug, aber Monsignore und Konkubine fügen sich angenehm in Haberstocks Szenario. Die Figuren, die sein Spektiv erfasst, sind genau da auf seinem Schachbrett, wo er sie haben will.
Das Gebell der Hunde wird höher.
„Das ist der Standlaut“ weiß der Monsignore. Sie haben Wild gestellt. Das Kreuz baumelt frei und wagemutig, wenn er zwei seiner Flinten ergreift und die Leiter hinunter eilt. Nimrod, der biblisch Jäger. Die anderen Gewehre bleiben liegen.
„Was für Rohre“, bewundert Traudl. Sie streichelt die Flinten, als wäre der Monsignore und sein Rohr noch unter ihren Fingern.
Haberstock hat kein Gewehr vor sich. Aber ein Arsenal seiner Gläser, aufgereiht wie sitzende Jagdhunde. Mit diesem, bald mit mit jenem schaltet er sich die Fauna dieses Waldes nah, Hofschranzen, Waffen-kunden, Attachés, Groupies in grünem Loden, Generalstäbler und Schma-rotzer und vor ihnen her die rote Linie der Treiber. Um das Reserl viel ausländi¬scher Adel und Sprösslinge internationaler Monarchien, abge-dankter wie regierender. Wie stets. Und Gerstl, der Altenpfleger. Nicht wie stets, Gerstl ist frisch aufs Schachbrett gerückt. Haberstock hat viel von ihm gehört, jetzt endlich hat er ihn im Sehfeld seiner weltberühmten Gläser. Der Cicisbeo der Regententochter gockelt und lässt es knallen und knallen und abermals knallen, mit kindlicher Freude, als entdeckte er eben erst den Schießkünstler in sich. Dabei hat er, taxiert Haberstock, seine Fertigkeiten auf Dorfkirmessen erworben, wo der Bursch für seine Liebste Papierrosen und Plüschlöwen erlegen muss. Vorab, damit die anderen Burschen es sehen, die noch keine Liebste haben und damit auch keine Plüschlöwen brauchen. Hier im Jagdrevier sind die Hasen die Papierrosen und die Rehe die Plüschlöwen und die anderen Burschen, die nicht halb so gut schießen sind die Gräfleins und ausländischen Attachés. Die Gerstls Überschwang noch für Schießbuden-Wichtigtuerei halten, dabei weiß Haberstock, dass Gerstl im Oberland bereits einen Trupp auf die Beine gestellt aus verwegenen Krankenpflegern. Im Oberland wu-chert dieser Berufsstand, hunderte Alten- und Pflegeheime gibt es dort wo früher Almen waren, und die bäurischen Kraftvorräte der Roll-stuhlroller und Bettpfannenschieber sind bei weitem nicht damit ausge-lastet, Greise über sanfte Matten zu schieben und Greisinnen so urge-duldig, wie es ihrer Lümmeljugend gar nicht entspricht den Biobrei in den Mund zu löffeln. Es gelüstet sie nach Abenteuern wie Bauernbuben seit eh und je, nach Hufeisenwerfen, Messerstechen und Wirtshaus-keilerei, nach Brauchtümerrn, die mit der alten Landwirtschaft ver-schwunden sind. Und der Kumpan Gerstl ersetzt sie ihnen nun, er lässt sie mit Pistolen auf Steinpilze ballern im Wald, er lässt sie feststehende Messer in die Fichtenstämme rennen, bis sie sie an den Hirschhorngriffen nicht mehr herausziehen können und belohnt sie hin und wieder mit einem Ausflug auf dem Riesen, dessen alleiniger Herr zu werden er ich-nen verspricht.
Mit ihrer Hilfe.
Und er lässt sie bei ihren Ausflügen ihre Initialen hierhin und dorthin schnitzen, als sicherten sie sich damit Logis in der Livree des Riesen. Und wenn der durch die Haupt- und Residenzstadt schreitet, lässt er sie auf die Residenz hinunter schauen. Dort in den Höfen werden seine Kinder herumkullern wie jetzt die Touristen, und sie werden Prinzen und Prinzessinnen sein. Und die Kumpane spähen nach der Palastgarde und nehmen Maß, denn die werden ihre Gegner sein wenn es demnächst zum Nahkampf kommt, Spitzenkragenträger, die bisher nur Scharmützel auszufechten hatten mit Angetrunkenen, die sich im Kreis ihrer Bierdosen auf einem Fauteuil aussztrecken wollen, auf dem Napoleon gesessen hat. Hellebarden gegen feststehende Messer aus dem Oberland ! Die Kumpane jodeln jetzt schon in Vorfreude. Aber den Ausschlag wird geben, dass die Armee der Pfleger Griffe beherrscht, die störrische Alter-chen in seligen Schlaf befördern ehe man sie auf schimmlige Matratzen bettet, von denen es in der Residenz reichlich gibt.
Eben darum hat der andere Putschist, der Wachtdienstler Amplinger, die Hellebardenbeamten gar nicht erst ins Vertrauen gezogen, obwohl er Brotzeitraum und Dienst-Toilette mit ihnen teilt. Sondern weitaus kriege-rischere Kollegen aus der Wachzunft hinter sich gebracht : die Schwarzen Sheriffs aus der U-Bahn, und Haberstock weiß auch das. Die sind auf reale Schlachten aus, mit realem Fleisch und wirklich fließendem Blut. Das allmorgendliche Training im Keller wo sie nur auf die Schattenrisse davon rennender Gesetzesbrecher schießen dürfen macht sie gelüstig, aber die Tagesarbeit bei der sie sich nur an den Genicken verstörter Lehr-linge abarbeiten dürfen, macht sie noch gelüstiger und verbitterter.
Amplinger, der Alte, der seines Alters wegen keine Kampfgelüste mehr bei ihnen wachruft, hat sie von ihrem ewigen Dosenbier erlöst und ihnen dafür lange gelagerte Weine aus den Gewölben der Residenz mit-gebracht. Zuerst haben sie die ausgespien, sie schmeckten so gar nicht nach Cola, aber von Woche zu Woche wurden sie danach süchtiger. Wie auch nach Amplingers unerbittlicher Energie, mit der er in ihren Lebens-plänen herumfuhrwerkte. Von denen sie, die ihre pickligen Gummi-gesichter eben erst aus den Jugendvollzugsanstalten herüber gerettet hatten, doch noch gar nichts wussten. Ihre Schicksalsbestimmung, be-lehrte er sie bei immer noch einem Schoppen uralten Weins, gegossen in uralte Gläser, die er auch aus der Residenz herüberbrachte und die sie nicht zerknüllen konnten wie vordem die Pappbecher mit Bier. Sie lernten vielmehr, sie in ihren dicken Fingern zu halten, gegen das Neonlicht ihrer Wach-Unterkunft zu halten und nicht nur das vornehme Kristall zu bewundern sondern auch den Abdruck ihrer Lippen darauf. Das Glas zu ehren und das Abbild ihrer Münder darauf, die sie jetzt erst entdeckten, als schmückende Girlande auf fürstlichem Kelchen. Ihre Schicksalsbestimmung sei es nicht allein, so hörten sie dazu von Amp-linger, Fußballrowdys die Knie in die Magengrube zu rammen. Sondern Ehrengarde eines Königs sollten sie sein ! Steht euch das nicht an die Stirn geschrieben, Bürscherl ? Und sie sahen sich an, nach dem achten oder dreizehnten Schoppen, und fanden, es stand ihnen wahrlich an die Stirnen geschrieben. Sie würden Handschuhe über die Schlagringe ziehen dürfen, verhieß ihnen Amplinger, sie würden Duftwässer unter die Ach-seln sprühen und vornehmen Damen die Tür aufhalten dürfen, die sie vorher nur aus der Illustrierten kannten.
Und die Kristallgläser dürfen sie zerschießen.
„Wenn der Kurfürst auf der Jagd war, quelquefois, haben sie mich in den Balg von einem Fasanen eingenäht bis zum Knie, und put put put gerufen wie beim Hühnerfüttern.“
Der Gnom hockt zwischen Haberstocks Knien und umklammert seine Waden.
„Und dann haben sie mich rennen lassen. Wie einen Hühnergockel, der vor dem Fuchs davon rennt. Alors vite, nain, vite vite vite… !“
Der Professor wird ihn nicht rennen lassen. Der Gnom nimmt es dafür auf sich, dass Haberstock auf seiner Puderperücke seine schwergewich-tigen Ferngläser abstützt.
„Und wenn ich fünfzehn Schritte weit war, haben sie auch die Schweiß-hunde rennen lassen. Vite vite vite…“
Und immer war Musik dabei. Nicht nur ein paar Jagdhörner, schlecht und recht von Forstbeamten geblasen so wie heute, sondern von Hof-Musici, dazu Trommeln, kleine und große, Flöten und Tschinellen. Und wenn der Kurfürstin melancholisch zumut war, auch Violinen, Oboen und sogar Harfen. Sie alle spielten in einem fort, ein Vorhang von Musik auch beim Umbringen. Wie in der Schlacht, attaque avec orchestre. Das letzte auf Erden, was Soldaten und Fasanen zu hören bekamen, waren Wohlklänge.
Ein Schatten dagegen was sie heute Jagd nennen. Keine Pferde, keine Lanzen mit Wimpeln daran, keine Mohrenknaben die Wildpret zur Schlossküche schleppen, kein Aufgalopp mehr über Felder, Saaten, Bau-erngärten. Und die Bauern mussten mit gezogenen Kappen vor der Brust Reverenz erweisen und Kratzfüße machen, wenn die Hofgesellschaft über ihre Äcker setzte, die Kartoffeln fürs Frühjahr an den Pferdehufen hängen blieben, und sie bekamen nur die abgeschwarteten Knochen über die Zäune gekippt. Ich habe mich trotzdem amüsiert, auf meine Weise : der Kurfürst mochte die Farben des Waldes nicht, ich musste sie auflösen durch farbige Kostüme, die ich Jägern und Trabanten verpasste. Stan-darten in den Ästen da und Zelte dort, die Jagd wurde zum Fest für alle Sinne. Wenn sich mich nicht gerade selber gejagt haben. Jetzt ist da nichts mehr dabei als grobes Geschrei und grobes Geknalle.
„Liefern Sie mich nicht dieser Jagdgesellschaft aus, Sire …“
„Du hast mich eben Sire genannt“ lächelt Haberstock und lässt das
Fernglas nicht von den Augen.
„Das schmeichelt mir.“
Haberstock erschrickt vor sich selbst. Sire ! Die Anrede für ein gekrön-tes Haupt. Wo er gerade die ausspioniert, die es nach Kronen gelüstet, um sie für immer auf ihren Köpfen zu behalten.
„Das Wild wurde vor die Kurfürstin getrieben. Dédommangement, Sie verstehen. Trostzuckerl ! Sie durfte nicht dabei sein bei den Kriegen ihres Gatten, nun bekam sie ihren eigenen Krieg, leur guerre de compensation, und der Kurfürst hielt sich in der Etappe. Die Galane und Domestiken haben ihr die gespannten Flinten gereicht, und sie durfte ihre bataille aus-kosten gegen Hasen und Fasane. Und sie schrie ! Mon dieu, wie die schrie ! Sie kreischte sich schier heiser, sie plärrte sich die Seele aus dem Leib. Das was sie hier tat, das war ihre Seele. ‚Ecoutez messieursdames‘, lachte der Kurfürst ‚sie hat einen orgasme nach dem anderen‘.“
„Die jetzige Regentin genauso“ grinst Haberstock und genießt es, durch seine Linsen hindurch.
Die Regentin feuert mit den Flinten des Monsignore. Schaut euch die an, die schießt aus geistlichen Rohren, hämen die anderen Jägerdamen, denen kein Lover mit seinem Rohr aushilft.
„Sie revanchiert sich für das was er ihr sonst reinschießt.“
„Do ut des, sagt der Kirchenlateiner.“
Im Wald sortiert sich die Libido um, verästeln sich die Triebe neu. Wo das Wild röchelt, schwingt der Unterleib mit, Der Gnom, den Haberstock durch seine Fernstecher linsen lässt, kennt diese faunischen Verirrungen im Gehölz, in Pans Revier, er hat sie in der Amalienburg Bild werden las-sen. Aurora lauert barbusig auf Kephalos den Jäger, als ihrem Wild, sie wird ihn auf den Akanthus zerren, Pfauen werden ihm den Hintern behacken, während er sie reitet. Aber wenn der Gnom die heutigen Dar-steller solcher Dramolette ins Auge fasst, überkommt ihn, deja vu, die Langeweile des Uralten und er reicht Haberstock das Fernglas zurück. Es ist die Gattin des Panzerkettenherstellers und nicht Diana, die sich dem Militärattaché hingibt, und die Waldameisen krabbeln ihr in die Muschi. Es ist Frau Quantz und schon wieder nicht Diana, die den Oberkomman-dierenden der Befreiungsfront in den kühlen Farnen für sich allein haben will, drüben in seiner heißen Heimat hockten unentwegt seine Kinder-soldaten um ihn herum. Aber hier bei der Hofjagd ist er gröblich in der falschen mise en scène, ihre Wonnen bleiben ihm verschlossen, er weiß nur mit der Kalaschnikow umzugehen, auf kürzeste Distanz und per Genickschuss. Die libidinösen Schaltzentren der Jagdgästinnen geraten ins Fludern und Überdampfte ; der Riese, der Mann aller Männer hat sie auf dem Weg hierher mit seinem Tiergestank und seinem gleichmäßigen schwopp schwopp auf caccia d’amore eingestimmt, nun wollen sie ihre Beute. Nicht vor Kimme und Korn, sondern zwischen ihren Schenkeln.
Müßige Gedanken, unnötiges Spintisieren. Die zusammengeschalteten Rechner des Großen Konsortiums haben längst entschieden wer mit wem und wer mit wem auf keinen Fall. Die Rechner hegen keine porno-gra-fischen Fantasien, sie erröten nicht, sie echauffieren sich nicht, sie verlie-ren sich nicht in den Schleimreichen des Obszönen. Sie fädeln Aven-tiuren und Seitensprünge ein, verkuppeln Hofdamen an ausländische Kunden und an Kundschafter, Gattinnen aus der Dynamitbranche an lei-tende Herren aus dem Bereich Minenräummaschinen, Gesandtennichten an Generalstäbler, Töchterchen an Ingenieure, Ingenieure an Ingenieure oder auch einen Spezialblechhersteller aus Meppen im Emsland, wenn die Interessen der besonderen Industrien es geraten erscheinen lassen.
Und hören dann mit unter jedem Kopfkissen.
Hölzl, beobachtet Haberstock, hat sich separiert,. Hölzl will im Wald mit seinem ererbten Waldhorn üben. Draußen im Gehege der Zivilsation ist ihm das immer wieder misslungen, in seinem eigenen Museum sind die Sekretärinnen und Aufseher zusammengelaufen, als er tief drunten im Depot die ersten laienhaften Töne blies. Hier im Hegwald hat er nur die Baumkronen als Zuhörer und kann endlich drauflos pusten und patzen und kein Konkurrent aus dem Kunstgelehrtenstand hebt rügend den Finger. Blasen ist Freiheit. Hölzl irrt auf und ab in der Tonleiter, dann wird er kühner und vagabundiert zwischen den Intervallen, er entdeckt zum erstenmal das Vagabundieren, er feuert sich an : drauf los, irr herum ! Irr dich ! Er vertut sich hinauf und hinunter, hingerissen von der Kraft der eigenen Lungen, die er, der Leisesprecher und Hüstler, bis heute nicht in sich vermutet hat. Er gerät zu seiner eigenen Verblüffung ins Improviseren und tritt damit niemandem zu nahe außer ein paar Eichelhähern, die aufgescheucht davon flattern. Wenn schon ! Zickiges Federvieh, das aus der Ferne zu ihm herüberzankt. Er äfft das aufgebrachte Krächzen der Eichelhäher nach, das führt ihn zu noch ke-ckeren Improvisationen, die alsbald zu festen Melodiebögen werden, von denen er nicht mehr lassen kann. Nochmal dieses Tuten und jenes Ge-tröte, noch mal diesen blechernen Schrei, noch mal…
Und er bewundert sich zum ersten Mal selbst.
Auch andere werden hellhörig, nicht nur Eichelhäher die davonflattern, sondern Hunde, die herbei gerannt kommen. Er muss ihnen, ohne es zu ahnen, ein Signal übermittelt haben, das sie zum Angriff ruft. Auf einen Hirschen oder einen Keiler, ein robustes Wildtier, er erkennt es an ihrem Heranpreschen, und da er sich mit Hunden nicht auskennt, seine Mutter hast selbst Katzen von ihm ferngehalten, und schon gar nicht mit Jagdhunden, am allerwenigsten wenn sie als Meute losbrechen, sieht er sich selbst als das Wild das gerissen werden soll und flüchtet auf den erstbesten Ast. Die Hunde ergrimmt das, oder es erheitert sie, wie soll er wissen ob sie Blutrache kläffen oder Spott. Vielleicht weil sie Sie seinen Rückzug als Fahnenflucht deuten, und die zeigen ihm stattliche Gebisse dabei, Memme ! Feighaferl ! Spielverderber ! Hölzl hat gar nicht gewusst was Haustiere für Waffenarsenale mit sich herum tragen. Auch der Ast auf den sich gerettet hsat, ist ihm nicht wohlgesonnen, er wippt knarzend zur Meute hinunter, und Hölzl klettert wohl oder übel höher hinauf.
„Mittermayer !“
Die Stimme der Baronesse von Treidlein.
„Loisl ! Sieglinde !“
Die Hunde gehen in weniger aufgeregte Tonlagen über, deuten aber durch ihr Gehabe, das nur ein Hundefrauchen entschlüsseln kann, dass dass sich hier ein Wild versteckt das seiner Pflicht nicht nachkommt, sich zerfleischen zu lassen.
„Hölzl !“
Schon wieder ist sein hündischer Namensvetter gemeint, aber diesmal hat er guten Grund Laut zu geben -
„Hier bin ich“.
Stille. Die Hunde schauen, nun braunäugig sanft, zu ihm hinauf. Ihr Part ist beendet. Das Jagdtier hat sich ordnungsgemäß bei ihrer Herrin ge-meldet. So entspricht es augenfällig einer Hunde-Regel, und die Schnau-zen sinken zufrieden auf die Vorderläufe.
„Aber liebstes Direktorchen, was treiben wir denn da auf dem Baum ?“
Ohne Jagdhorn, denn das ist ihm bei der Flucht abhanden gekommen. Die Baronesse klaubt es auf, die Hunde rücken höflich beiseite. Sie setzt es anders an den Mund als er, sie schürzt die Lippen anders, und es kommen andere Töne heraus als bei ihm. Leisere. Als seien sie vor allem für das Gehör ihrer Hunde bestimmen, die sogleich die Ohren spitzen und nicht einmal mehr hecheln, wie Konzertbesucher beim Adagio. Wenn sie auf Hölzls Horn weiter bläst, fallen auch die Hunde mit ein, als kennten sie die Melodie, und steuern zu ihrem Solo je ein kleines, sehnsüchtiges Wimmern bei, hart auf der Grenze zwischen Gesumme und Gejaule. Sie unterbricht sich. Unter einem Hund, der diesmal nicht kavaliersmäßig beiseite rückt, als wollte er seine Unterlage nicht preisgeben, zieht sie ein Notizbuch hervor.
„Da haben wir ja auch noch die die berühmten Aufzeichnungen …“
Mit einer Hand schlägt sie sie auf, in der anderen Hand immer noch das das Horn, aus dem weiter ruhige Läufe träufeln. Plötzlich ein schriller Ton, dann eine Fermate.
„Jetzt ist sie an der Stelle, wo…“ grübelt Hölzl.
Es gibt unendlich viele Stellen wo in Hölzls Fleißwerk, es wimmelt nur so von Stellen wo, aber welche hat sie just eben entdeckt, und welche Strafe wird sie über ihn verhängen ? Aber die Baronesse bläst unver-sehens weiter, mehrere Triolen nacheinander, als bereite es ihr einiges Vergnügen was sie da zu Gesicht bekommt. Bis jetzt muss sie ihren Na-men schon mindestens viermal gelesen haben. Hölzl spürt, dass ihm Blut neben dem Ohr herunter rinnt, ein Ast muss ihm eine Wunde gerissen haben, auch ein Hosenbein ist aufgeschlitzt, zwischen den grünen Biesen seines Jägeranzugs lugen seine dünnen weißen Waden hervor und weisen ihnen als einen beamteten Büromenschen aus und nicht als Waldschrat.
Die Baronesse liest.
Sein Blut sucht sich rücksichtslos einen Weg abwärts, über Äste, durchs Laub, hart am Gesicht der Baronesse vorbei. Aber die liest. Hölzl kommt es vor, als schlügen seine Blutstropfen mit der Wucht eines Mehl-sacks auf dem Waldboden auf, aber es ist nichts zu vernehmen.
Und die Baronesse liest.
Die Hunde beschnüffeln sein Blut, knurren, schlecken es von den Waldkräutern, grummeln Beifälliges. Hölzl schmeckt ihnen ! Als der Vorrat weggeschlotzt ist und die Hunde erwartungsvoll zu ihm aufschau-en und ihre Schnauzen gegen die Beine der Baronesse drücken Hol uns den da herunter, der ist ein feiner Happen ! reißt sie an dem Ast auf den Hölzl sich gerettet hat, versetzt ihn in Schwingung, und Hölzl schlägt auf dem Waldboden auf.
Die Baronesse liest weiter.
Die Hunde, nun da ihnen ihr Beutetier und Blut-Lieferant so nahe ist, sind beseite getreten und bilden höflich einen Kreis um ihn. Die Baronesse klappt das Notizheft nach hinten zusammen ( Hölzl tuts weh, weher noch als die Prellung in der Steißgegend, die er sich soeben zugezogen hat ) und steckt es in eine Brusttasche. Dann greift sie Ver-bandszeug aus ihrem geräumigen Jagdbeutel. Sie riecht nach Tannenharz, nach Walderdbeeren, nach Fichtenhonig. Und etwas Strengem, was Hölzl nicht herausbekommt, denn er ist kein Kenner des Waldes und sie dicht über ihm.
„Scheißdiewand an, sind Sie ein impertinenter Hammel“ stößt sie hervor als sie ihm eins, zwei, drei Pflaster über das Jochbein pappt. Er darf jetzt nicht klein beigeben. Er ist kein angeschossener Feldhase, er ist der Di-rektor des bedeutendsten Museums und sie eine nicht der Rede werte Doktorandin.
„Ich fordere Sie auf, unverzüglich …“
Aber nun sind die Hunde an ihm. Sie lecken ihm die Hände, tröstend wie einem Patienten und nicht, als erhofften sie noch mehr von seinem eben genossenen Blut.
„Unverzüglich… ?“
„Mir meine…meine dienstlichen…“
Die Hunde lecken.
„Meine dienstlichen Notate…“
Die Hunde lecken, einige haben sich auf die Hinterbeine gestellt und erreichen nun schon sein Kinn.
„Meine streng vertraulichen Notizen…“
Jetzt fällt Hölzl ein wonach die Baronesse noch riecht. Vor allem riecht. Nach dem Öl, mit dem ein passionierter Jäger sein Gewehr reinigt. Es ist der unwiderstehlichste Geruch von allen.
„Sie sollten sich gegen Tetanus impfen lassen, für alle Fälle.“
Wie eine geschäftsnüchterne Krankenschwester.
„Bei Ihrer Konstiution …“
Hölzl ertappt sich dabei, dass er sie zu Pferde sehen will, hoch über ihm. Eng an ihren Leib geschnallt, den er sich in einem weißen Flatterhemd wünscht, seitlich offen, trägt sie einen Köcher voller langstieliger Pfeile. Sie zielt lange mit ihrem Bogen, als wäre sie sicher dass das Wesen, auf das zielt sich nicht vorzeitig davonmacht, und ihre Armmuskulatur tritt dabei prachtvoll hervor. Noch mehr ihre Halspartie. Aber sie verfehlt Hölzl bei jedem Schuss. Die Pfeile schwirren eng über ihn hinweg, sie fächeln ihm die Glatze wie ein Aasgeier der über ihn hinfliegt und er fühlt sich von diesem Windstoß gestreichelt. Liebkost. Geadelt. Göttin Diana ! Aber er kann es nicht in sein Notizbuch schreiben.
Denn die Baronesse liest schon wieder darin.
Auch Haberstock läse gerne mit ihr. Aber sie hält die Seiten abgewandt, so dass er nicht einmal er mit seinen vier Okularen im Format 8x56er eine Chance hat. Er schwenkt weiter auf den Monsignore inmitten seiner weiblichen Gemeinde, die er in seiner besonderen Kapelle um sich zu scharen pflegt. Und wie Haberstock den Gottesmann beobachtet, begut-achtet, abtastet : vier jüngst vollzogene Beischläfe sieht er ihm mindes-tens an, vollzogen während dieser Jagd. Auf dem Hochsitz, im Moos ? Mit welcher der Damen ? Oder doch nur wieder mit der Regentin ? Wenn Zirngibl ein absolutistischer Fürst wäre, wären seine illegitimen Bälger übers ganze Land gestreut, wie beim weiland Kurfürsten Karl Theodor. Die Hof-Schatulle hätte diskret für sie aufzukommen, aber dafür würden seine Gene das Zuchtbild aufbessern. Mit Volksfrömmig- und Trink-festigkeit, einer schätzenswerten Melange. Will auch der Monsignore erblicher Monarch werden ? Mit dem Riesen als Faustpfand, der sogar die höchste Kirche des Landes überragt ? Haberstock wundert sich, dass sich nicht noch mehr in den Besitz des Riesen setzen möchten. Alle Ver-schwörer haben den Riesen in ihre Pläne einbezogen. Als Emblem der Monarchie, als einschüchternde Er-scheinung oder schlicht als Ramm-bock.
Der Gnom ist zwischen seinen Waden eingeschlafen.
Alle Figuren, bestätigt sich Haberstock, spielen sein Spiel. Haberstock ist das ausgestülpte Okular der Rechner. Er verrichtet ihre Augenarbeit, und die Rechner verrichten seine Maschinenarbeit. Summarisch, kühl statistisch, nach den Standards die ihnen das Große Konsortium einge-geben hat, und ohne Ansehen der Personen, Valeurs und besonderen Um-stände. Ab und an unterläuft ihnen ein Fehlerchen, wie jedem Automaten. Haberstock unterlaufen keine Fehler, sein Herz und sein Hirn stehen gleichermaßen unter Generalmobilmachung. Seine Kenntnis jeder Person ist so tiefenscharf wie seine Ferngläser.
Und so wie Haberstock beobachtet, wird er seinerseits beobachtet. Wer ist Wild in diesem Land ? Wer ist im Fadenkreuz, und wer feuert den final shot ab ? Wer nicht das Geweih seines Gegners vorweisen kann, der ist schon ein Querulant und Verweigerer und schreibt sich selbst auf die Abschussliste.
Haberstock wird auf jeden Fall anordnen, unver¬züglich die Vorbe-reitungen für die Selbstreinigung zu treffen.
Drei ausländische Gäste, die ungenannt hatten bleiben wollen, sind im roten Wams der Treiber gefunden worden. Saubere Blatt-schüsse, waffentechnisch hoch zu loben. Ein jeder hat einen Tan-nenzweig im Mund, wie es der Jägerbrauch verlangt, und sie bleiben auch weiterhin ungenannt. Wer tot ist, hat die Jagdprüfung im nachhinein nicht bestanden. Und die Lebensprüfung in diesem Lande im vorhinein nicht. Nicht umsonst auch ist vor Abprallern gewarnt worden. Eine Kugel, die gegen einen Baumstamm fehlgeleitet wurde, sucht sich selbst ein Ziel und wehe dem, der da herumsteht wo so viele Ballistiker um die Wege sind. Mancher Romantiker, dem die Pürsch ohne den Jäger aller Jäger Franz Xaver Schmautz sinnentleert vorkam, hat sich freiwillig einen Abpraller eingefangen und liegt nun zwischen Hase und Fasan, Wildbret bei Wildbret. Auch ein Inder, der im Unterholz mit einer hiesigen Dame das Kamasutram allzu hand-greiflich vorturnen wollte. Dabei, und die Dame wusste es, war er nur ein enttarnter Rüstungsspion. Dafür liegt er ohne Tannenzweig im Fang und kein Diplomat wird seinen Fall weiter verfolgen.
Der Monsignore steht grätschbeinig inmitten seiner Strecke. Er steht nicht bei, er steht über seiner Strecke, die Beine zwischen den aufgereihten Kadavern, die hingebreiteten Tiere scheinen unter ihm hindurch zu fließen wie die Waggons unter einer Eisenbanbrücke. So viele Flinten hatte nicht einmal er, um sie zu erlegen. Jeder der ihn kennt, weiß dass er nichts geschossen hat. Seine Gemeinde hat ihn versorgt mit den Drogen, die ihre Gatten aus ihren Kriegen mit-gebracht haben und die Damen, stocknüchtern, konnten umso präzi-ser zielen.
Sein Hubertuskreuz hält mehr Audienz als er, es fordert alle Auf-merksamkeit für sich, weil es auf und nieder hüpft vor Stolz über seine Schießkünste. Hirsch tot, blasen die Förster, mehrfach, Reh tot, Hase tot, tot tot tot und die Chinesen stellen sich an um das baumelnde Kreuz zu küssen zum Dank für ihr eigenes Jagdglück. Sie halten es für ein elektronisches Gerät, Prototyp der Waffenindustrie, noch immer sind sie bei Erforschung hiesiger Jagdrituale.
Drei Töne, die wiederholt werden, blasen die Jagd ab. Es wäre eigentlich am obersten Jagdherrn, dem Regenten, ein paar feierliche Worte hinterher zu schicken, aber Weichslgartner hat ihm keine aufgeschrieben, er fahndet nach seiner Baronesse, aber der Mon-signore lässt sein Hubertuskreuz so übermütig am Kettchenen durch die Luft wirbeln, dass aller Augen bei ihm sind, und die Fotografen sowieso. Es heißt Demut erzeigen dem Herrn über der über uns wohnt für so reiche Strecke, grinst er in die Objektive, und horrido ! grinst er, als er per Zuruf zum Jagdkönig gekürt wird, und horrido ! antworten alle die um ihn her stehen.
Die Briten hüpfen durch die Zeilen der aufgereihten Tiere, oh what a lovely war und prosten dem Wild zu, cherio ! Ein paar von ihnen haben sich der Jagdhörner bemächtigt, spielen darauf Jazz, auch wenn sie alle zusammen nur zwei Hasen erbeutet und ein Reh angeschossen haben. Dafür aber auch nebenbei den Transfer von vierunddreißig Schützenpanzern via Kanada nach Ungenannt ausge-handelt, achtzig Prozent Provision für jeden und ohne Zoll, was sie nun feiern, eichenlaubumkränzt wie Beowulf, mit einem kakophonen when the saints are marching in, das sie zugleich allen toten Tieren als Requiem darbieten. Sie sind die Uraltmeister des battlefields, die Teutonen haben noch nicht einmal von sich selbst etwas gewusst, da standen ihre Vorväter schon auf dem Schlachtfeld. Fast immer siegreich, darum behaupten sie jetzt die Vorherrschaft über die Blechblasinstrumente. Auch wenn nach ihren Siegen die Umge-kommenen nicht so pingelig hingezählt auf den Erdboden sortiert lagen wie hier. Aber die liegen nun schon durcheinandergewirbelter, die Briten hüpfen ja darüber, das Stahlgewicht ihrer Schützenpanzer macht sie leichtfüßig, und sie blasen aus Leibeskräften „whe are hanging our wash up on the Siegfried line the Siegfried line the Siegfried line“…

Unterm Kurfürsten ging es nach der Jagd erst eigentlich hoch her. Ich hatte die Blumengirlanden bereit zu halten, unter denen die Hofgesellschaft ihr Defilée zelebrierte, durch die Reihen des Wildes, Fackeln in den Händen. Die Musik, versteht sich, war wieder dabei und untermalte, wenn die Herren chausseurs einen Happen Niere oder Leber aus ihrer Beute schneiden mussten und ihrer Dame dedizieren. Und malte aus, was er der Dame sagte. Und wer sich bei der Jagd nicht hervortun konnte, hatte nun coram publico seinen Auftritt. Denn beim Schießen wird nur des Wilds geachtet, nicht des Schützen. Nun aber beim Aufbrechen konnte sich wahrer Heldenmut zur Schau stellen vor der versammelten Jagdgesellschaft. Geschwin-der galt es zu sein als die Armeen der Schmeißfliegen, die das Wild umlagert haben seitdem es den ersten Treffer abbekam und das von der Dienerschaft verscheucht wurde. Lachhaft vergeblich, denn die Fliegen hatten schon vom ersten Blutstrahl gekostet und bestanden nun endlich auf ihrem Endfraß. Sie liefen dem Helden missgünstig über die Finger, wenn er die Rippen aufbrach um zum ersten Ge-därme und Magen heraus zu fetzen, hinein in die kreischende Hofgesellschaft, immer dabei das Gesicht gepeitscht von den zurückschnellenden Rippen und den Fliegen, die nun auch sein blutbesudeltes Gesicht malträtierten. Es war Ehrensache, dass die Herren sich über und über besudelten, dass man troff vor Blut oder Schweiß, wie der Jäger es nennt, dass man von den Eingeweiden, die man herausschnitt, nicht mehr zu unterscheiden war. Bis hin zum Hochheben der der Brunftkugeln, Hoden auch genannt, die man den aaahs ! und ooohs ! der Damen darbot, die gierig nach ihnen grif-fen, um sie sich als Talisman austrocknen zu lassen oder in Liebestränklein zu tunken. Und wieder war Musik dabei, um das Kreischen der Damen zu accompagnieren und die Zoten der Herren zu übertönen. An diesen Herren chasseurs war es nun, das Erlegte zuzubereiten, zu köcheln und zu braten je nach Gusto, die eigentlichen Köche standen beiseit und räumten die Eingeweide weg. Mit seidenen Handschuhen über der Blutsudelei wurde den Damen serviert was und bei wem Schrotkugeln im Braten waren, der wurde für die Nacht in die Hundekammer gesperrt.
Und immer noch spielte Musik. Blut und Bratenfett spritzte auf die Musikanten, die abgenagten Knochen flogen gegen Bratschen und Hafen, und ich, der ich auch der Hofzwerg war, hatte an frischen Gedärmen zu lutschen unter Grimassen und mit oj oj oj quel gôut terrible oj oj oj ! und musste mich vorsehen, dass sie mich nicht in einem ausgeweidetes Hasen verschwinden ließen und zugleich hatte ich im Auge zu behalten, dass anschließend zum Verdauungs-stündchen die Ballettpantomime anmutig vonstatten ging, in der drei Amazonen mit ihren Flitzebogen Adonis verfolgten, der sich auf seiner Flucht der Kurfürstin zu Füßen warf.
Wer die meisten Abschüsse zu verzeichnen hatte, wurde allego-risch gefeiert als der roi cerve. Allegorien ! Niemand weiß heute msehr was Allegorien sind. Ein System, ein univers fantastique aus geheimen Zeichen, die alle verstanden. Botschaften wurden damit übermittelt, die mündlich oder schriftlich nicht zu übemitteln gewesen werden, und ob die Göttin, die mit vergoldetem Gesicht übers Podium mit silberner oder goldener Larve durch den Spiegelsaal wippte, annoncierte der Kurfürstin, mit welcher ihrer Hofdamen der Kurfürst sie soeben betrogen hatte und wenn Bacchus mit schwarzer Larve auftauchte, wusste der Oberkämmerer dass er das Jagdfest zu kärglich budgetiert hatte und in Ungnade war und ihm nur die Wahl blieb zwischen Kloster und Strick. Und wenn er sich einen Ast suchte zum Vollzug, wurde er davon abgehalten von den Herren chasseurs, mit ihrer zweibeinigen Jagdbeute, die eben noch die Hirschkühe getanzt hatten. Und die Jäger die die Jünglinge jagten die die Hirsche dargestellt hatten merkten bei den relations sexuelles dass die Geweihe ihrer Liebesobjekte nicht zum Dranfestklammern geeignet waren weil ich sie nur aus Draht hatte fertigen lassen. Nur das Orchester, toujours l’orchestre spielte unentwegt weiter, verstärkt in der Nacht noch um Posaunen und Pauken, denn nun inszenierte ich das große Feuerwerk zum Finale, und nur die Sterne machten ihm das Licht streitig. Nur die Sterne, bedenken Sie ! Heutigentags beeindruckt ein Feuerwerk niemand mehr, bei jedem Pfarrge-meindefest wird eins abgebrannt und erreicht doch nicht einmal die Intensität der städtischen Straßenbeleuchtug. Und wenn damals der Kurfürst selber es war, der die Weinfässer beaufsichtigte und sie erst nach dem Jagdvergnügen zum Saufvergnügen frei gab – heute hat jeder seinen Flachmann dabei, aus dem er weitaus Hochprozen-tigeres süffelt.
Und der Gnom gerät dann wieder in die selbe Not wie damals, weil die Scherze der Angetrunkenen handgreiflich werden. So verzieht er sich. An den sichersten Ort, unter die Zunge des Riesen.

Professor Haberstock zählt die Strecke. Die erlegten Tiere liegen in exakten Linien, wie die Soldaten auf den Friedhöfen, angelegt von Soldaten. Und die Militärs unter den Jagdgästen machen dieselben Gesten, die sie auch bei Massenbegräbnissen zu vollführen gewohnt sind, nur dass der Monsignore hier kein Trauergebet spricht und mit einem Weihwasserbecken durch die Reihen geht.
Wenn die Widersacher und Widerborste so zu erlegen wären wie das Wild hier, denkt Haberstock beim Zählen. Die, welche ausge-merzt gehören, damit nicht nur die Forstwirtschaft, sondern auch die Volkswirtschaft nicht Schaden durch sie nimmt. Richtsätze, wie sie aus dem Mund des Regenten zu verlautbaren wären, in die rechte Form gebracht von Weichslgartner. Aber der war damit beschäftigt, nach der Baronesse zu fahnden und ihre Hunde haben ihn hierhin und dorthin gezerrt ohne die Witterung ihrer Herrin, als die längst wieder im Dunstkreis Haberstocks stand. Ein Bruch im Maul eines Wilds, findet der, ist doch weitaus bequemer für den Veranstalter als diese sperrige Kränzen bei Militärbestattungen, und so gesehen ist doch doch a bisserl entspannter als wie der Krieg. Und Hölzl brächte ohnenhin keinen Zapfenstreich zustande. Denn nun darf er endlich blasen. Das das Halali, das ite missa est der Gesellschaftsjagd, für das er so lange geübt hat. Und zuletzt auch gelitten, mit verbeultem Horn. Auf dem schon sein Urahn mütterlicherseits, der Graf Taufferfeuyss in den 1840er Jahren das Halali geblasen hat. Wenn der Jagdheilige Hubertus Hölzl gnädig ist, sitzt es noch im Messing von damals her, und wenn ihm die Jagdgöttin Diana gnädig ist, hat die Baronesse von Treidlein es warm geblasen. Er berührt das Mundstück das sie vorhin berührt hat, den Blick auf der Baronesse. Aber die spricht mit ihren Hunden, die ihren Weichslgartner durch den Forst gezerrt haben. Hölzl versammelt alle Luft in seinem Kehlkopf, so dass seine Kopfwunde erneut schmerzt. Die Hundemeute, eben noch kläffig, schweigt mit einem Mal. Er nimmts als Zeichen der Huld ihrer Herrin, und wagt den ersten Ton. Und im selben Augenblick ruft die Baronesse :
„Stofferl!“
„Wuh.“
Alle schweigen, bis auf den, der aufgerufen wird.
„Sieglinde!“
„Wuh !“
„Schmautz !“
Keine Antwort.
„Schmautz !“
Es bleibt still.
„Schmautz...Schnau…“
Zum zweitenmal ist ein Schmautz nicht von der Jagd zurückgekehrt. Wenn auch diesmal als Rauhaarbracke. Die anderen Hunde beginnen einen Klagesang, der allen das Herz zerreißt. Tränen fließen sogar bei den Ostasiaten, die nichts verstehen und die Russen in den Gesang hinein-ziehen, die nun tiefkehlig mit einfallen und ihre Tränen rollen lassen. Auch bei der der Baronesse rinnen Tränen, aber ehe sie ihr Kinn erreichen, schluckt sie zweimal und setzt mit fester Stimme den Zähl-appell fort. Sie ist wahrhaft Göttin Diana, durchzuckt es Hölzl, und er dreht sein Jagdhorn um, damit die Spucke heraus rinnt, wie ers bei den Förstern gesehen hat. Aber bei ihm rinnt nicht einmal Spucke heraus.
„Loisl !“
„Wuh.“
„Luitpold !“
Göttin Diana, o Göttin Diana, sie reitet ohne Sattel auf einem Mustang.
„Mittermayer !“
„Wuh.“
„Hölzl“.
„Wuuuuuuuhhhh !“
Diesmal ist es Hölzl selbst, der jault. Durchdringender als sein hündi-scher Namensvetter, der sich mit eingezogenem Schweif zwischen die Stiefeln der Baronesse verkriecht.

Wild hat sich die ganze Jagd über gesammelt zwischen meinen Füßen, nicht ahnend, dass es gerade bei dem Schutz sucht, der ihnen die Jäger in ihre Wohnstätten getragen hat. Ich rücke meine Füße etwas voneinander, damit die Tiere sich verbergen und die Verschrecktesten von ihnen sich unter meinen Sohlen den Tunnel vor meinen Absätzen verkriechen können.
Ich fühle mich geehrt, dass sie mich zum Asylpaten erwählt haben.
„Man muss sich von ganz unten her dranmachen an ihn“ flüstert die Regentin am schwitzigen Hals des Monsignore, als der schon am Einschlafen ist.
„Weißt scho, ich mein den Riesen.“
Das Hubertuskreuz an seinem seinen Hals piekst in seine Gurgel, er schiebt es nicht beiseite, es wird ihm zum Tropeninsekt, die Drogen rappeln immer noch durch seine Adern. Eben hat das Kreuz die Regentin noch selig gekitzelt, als er a l’missionaire auf ihr ritt.
„Von da aus hast du einen sagenhaften Einfluß auf den gesamten Or-ganismus. Lass dir das sagen von einer ausgebildeten Fußpflegerin. Den Organismus von einem Menschen. Warum nicht auch von einem Rie-
sen !“
An der Wand schaukeln die Jagdwaffen des Monsignore, nun wieder vollzählig.
„Weil, an den Fußsohlen, da bildet sich das Lymphsystem ab. Wie auf einer Schalttafel. Das System, verstehst, das wo sich über den ganzen Körper hinspannt und man braucht bloß draufdrücken, wie auf ein touch sreen, und du bist justament an dem Punkt im Körper auf den wo’s dir ankommt.“
Sie lutscht am Hubertuskreuz. Es schmeckt sauer nach Schweiß, nach dem seinen und nach dem ihren.
„Kurios ist das schon, das Empfindlichste so ganz weit unterwärts, wo’s dem Straßendreck ausgeliefert ist. Was der Schöpfergott sich bloß gedacht hat bei sowas.“
Und lacht. Und hängt das Hubertuskreuz zu den Jagdflinten.
„Vom Lymphsystem her den ganzen Riesen in Besitz nehmen, stell dir das amal vor !“
Und dann einziehen auf ihm in die Hauptstadt, in die Residenz ! Keine Palastgarde wagte dann mehr zu schießen – was brächte es denn.Ein paar versengte Punkte in seinen Strümpfen. Aber hoch darüber auf sei-nen Händen das Thronfolgerpaar. Reserl und der fesche Jägerbursch, im Triumph. Und keck auf dem Daumen Traudl, nun Königinmutter.
„Aber sag, wie soll mans praktisch händeln, jetzt amal rein soh-lenmäßig ?“
Der Monsignore, erschöpft von Jagd und Beischläfen, schläft uner-reichbar den Schlaf des Gerechten
„Die sicherste Methode ist, man steigt in seine Schuhe ein“ schmaucht die Regentin in des Monsignore Ohr.
„Weil, dann bleibts unentdeckt, was da hantiert wird.“
Und der da hantiert, wird der Monsignore sein. Er weiß es nur noch nicht, wirft sich grunzend herum und patscht nach der Regentin. Durch seinen Traum preschen schwarzborstige Keiler, auf denen die Damen seiner verschworenen Gemeinde reiten. Verschworen und nackt. Der Monsignore treibt sie zum Galopp mit dem Knallen seiner Flinten, die ihm zwischen den Beinen heraus wachsen. Auch der Monsignore selbst ist beritten.
Er erkennt nicht sogleich, worauf.
Sein Reittier ist glattglitschig, sein Rumpf starr, aber es gehorcht den Stößen seiner nackten Schenkel, die blutig sind von seinem Reittier. Das auf einmal kein einzelnes Tier mehr ist, sondern mehrere, die Schwarten vieler Tiere. Der Monsignore kann sich nirgendwo festhalten und ist doch voll von inbrünstigem Zutrauen, er weiß das er auf er auf dem Schlacht-fleisch reitet, das Franz Xaver Schmautz für ihn herbeigekarrt hat, et in carne consecratus est.

Ich erleichtere ihnen ihr Vorhaben, sind sie doch meine Gäste die ich an meinem Leib herumtrage wie andere ihre Läuse. Auch Läuse sind eine Familie. Ich erleichtere ihnen, was sie vorhaben, indem ich meine Schuhe ausziehe ehe ich mich niederlege.
Alsbald Gewisper und Geschäftigkeit da unten, als sie die Löcher in meinen Strümpfen in Augenschein nehmen, durch die die Hautrillen meiner Sohlen sie anstarren. Ich drehe das Gesicht weg, damit niemand mein Grinsen sieht, und stelle mich schlafend. Ein paar Verwegene wa-gen sich als Kletterer in die Falten und Rillen meiner Fußsohlen. Sie müssen Alpen-Erfahrene und Bergsteiger sein, vielleicht sogar Berg-wachtler, die auch solche noch aus den unzugänglichsten Rinnen klau-ben, die sich rettungslos verstiegen haben. Auch meine Sohlen sind Felswände, versintert und verkarstet, noch nie gewaschen, noch nie der Betrachtung für wert befunden.
Nun aber wird ihnen Aufmerksamkeit zuteil, und da es Nacht ge-worden ist, werden sie sogar ins Licht gesetzt. Scheinwerfer fahren auf, es wird gewerkelt mit Stangen, mit Mistgabeln, Ästen, auch elek-trischen Maschinen. Die überlaut knattern, finden einige da unten.
„Leise !“ krakeelen sie, durchdringender noch als die Knatter-maschinen, und das Geknatter verstummt beschämt und macht langen Beratungen Platz, die mich fast in den Schlaf sinken lassen.
Bis auf einmal eine Frau unter ihnen ist. Ihre Stimme tut mir gut, im Wegdämmern. Ich habe sie begehrt seitdem ich sie tragen darf. Oft bin ich fast gestolpert, wenn sie auf meinem rechten Handballen saß, ich ihren Nacken bewunderte und ihr so tief in den Ausschnitt lugte wie niemand sonst auf Erden. Es tut mir gut, wenn sie jetzt selber an mich Hand legt, und wäre dieses Händchen auch so winzig wie eine Amöbe. Ich bin ganz Neugier, zärtliche Neugier.
Wird die Regentin mir vergelten, dass ich ihr mit meinen Blicken den Nacken gestreichelt habe ? Wird sie anerkennen, dass ich mich nur schwer zurückhalten konnte, mir ein Barthaar auszureißen und es liebkosend in die Kerbe zwischen ihren Brüsten zu stecken ?
Ich weiß nichts über meinen Körper. Er erzählt mir nichts von sich. Er weiß nichts von sich. Meine Gäste sind mein Leben, nicht ich selbst. Seine verschiedenen Quartiere liegen so weit auseinander wie einsame Dörfer, zwischen denen endlose Feldern liegen, und nie wandert einer von einem Dorf ins andere. Aber nun auf einmal kommen Botschaften zu mir herauf, von zutiefst unten. Zwischen den Zehen haben sich welche po-stiert, die Kippen Essenzen aus über die Steilwand meiner aufgerichteten Sohlen. Ist es Wachs ? Oder warmer Branntwein, Honig, versetzt mit Ro-senwasser ? Meine Sohlen, die seit eh und je taub vor sich hingedumpft haben, blühen auf, schließen sich auf, tun ihre Poren auf, werden weich.
Die Frau, die dort unten das Kommando geführt hat, legt nun selbst mit Hand an. An der ihrer Tollpatschigkeit erkenne ich, dass es nicht die Regentin ist, sondern ihre Tochter Traudl.
Aber die Tollpatschigkeit verliert sich , sobald in den Rillen meiner hornigen Sohlenhaut wühlt. Sie stellt sich so kundig an wie ihre Mutter, sie muss ihr lang schon alles abgeschaut haben. Reserl wirft sich in die verkarsteten Rillen, sie badet darin, und es strömen Wohlgefühle von unten zu mir herauf, wie ich sie noch nie erlebt habe und wecken meine stillen Gefäße auf.
Du bist ein Schöner, hast du das noch nicht gewusst, sagt meine Milz zu mir, sei stolz auf dich. Dabei habe ich nie gewusst dass ich eine Milz habe und wo sie in mir befestigt ist. Meine Nieren kichern vor hin, und meine Lunge sagt mir : du stehst auf dem höchsten aller hohen Berge und ziehst dir die Luft ein, die für dich vom tyrrhenischen Meer herüber weht. Ich glaubs ihr, denn nun saust er warm und frisch durch meine Lungenäste, die immer nur Nebel, Rauch und Abgase zu schlucken be-kamen, erwärmt über mein Sonnengeflecht die entferntesten Gegenden meines unermesslichen Leibes. Meine Zehen recken sich, wie die Beine eines Hundes, der auf dem Rücken liegt und sich den Bauch kraulen lässt.
Sie recken sich dem Polarstern entgegen, dem Großen Bären und dem Skorpion. Und auch, weil mir mein Sonnengeflecht so viel Mut zuspricht, dem Adler und dem Großen Hund, die nah dem Äquator angesiedelt sind und die ihre Lichtnetze wie Zeigefinger strecken bis hinab über die Horizontlinie wohin ich nie kommen werde.
Zum Kentaur, zum Pfau und zum Schiff. Und gleich daneben, berührt fast von seinen Planken, zum Kreuz des Südens, dem Leit-licht aller Sehnsüchtigen, die aus ihrem Gehege fort wollen. Es schwimmt mitten in der Milchstraße, die als weißer Strom zu mir herüber flutet, vom Südhimmel in den Nordhimmel.
Um Mitternacht lässt mir das Reserl auch noch Sauerampfer zwischen die Lippen stopfen. Ich öffne sie, obwohl ich um diese Zeit nichts und niemand mehr herein lasse. Das Reserl weiß alles über mich.
Meine Schuhe hatte ich so gestellt, dass das flüchtige Wild darin Unterschlupf finden konnte. So bleibt es unbehelligt auch von der Ge-schäftigkeit, die sich an meinen Fußsohlen entwickelt.
Wenn ich die Schuhe wieder anziehe, darf ich nicht vergessen, die Gäste sanft heraus zu schütteln.


15. Kapitel
worin in ein Bauwerk hinab gestiegen wird, das weit in der Tiefe des Erdbauchs zu denken ist

Das dort, mit dem weißen Baustellenhelm, ist Dr.habil.Leopold Hölzl, der Herr des Zentralmuseums. Der mit dem blauen Helm ist der Ordinarius Haselwanter, Mediävist aus Erlangen. Dicht gefolgt von seinem ewigen Rivalen Sigurd Mittermayer, dem mit dem beigen Helm, Neu-historiker in Bayreuth. Max Hiebele, der Vertreter der Heimatforscherverbände, ist als veranwortungsbewusster Hauptlehrer i. R. in wasserab-weisender Seglermontur erschienen, der Volksmund nennt es Friesen-nerz und er erstrahlt nun in einem intensiven Gelb, das ihn, bislang so unansehnlich wie der Ölsockel im Lehrerzimmer, nun zur aufgeblühten Sonnenblume macht. Himmelmeyer & Stapferer, die Rundfunkleute tei-len sich einen einzigen Helm, je nachdem, wer gerade das Aufnahm-egerät bedient, denn sie erhoffen sich von diesem Ausflug packende Original-Töne.
Emiljosef Schroubek, der Sachwalter der Traditionsverbände der Sudetendeutschen Lande, hat gleich vier Helme mitgebracht hat in der Erwartung, drei anderen damit gefällig sein zu können. Insbesondere, wie er sich hoffend ausmalte, der Baronesse von Treidlein von der Landesuniversität. Die Baroness frei-lich hat bereits für sich selbst gesorgt. Und wie sie gesorgt hat : ihr Helm weicht von denen der anderen erheblich ab, es ist keiner vom Bau, son-dern ( so erkennt Hölzl mit kleinem Schauder ) eins von den far-benfrohen Modellen, wie sie bei Fallschirmspringen Verwendung fin-den. Geschmackvoll abgestimmt mit ihrem Overall. Im Poncho-Stil und apartem gedeckten Blauviolett gehalten, reibt er sich quietschend eng an eng am Gummimantel von Udo Quantz. Der um und um ( wie abzusehen ) mit dem Schriftzug seiner Baufirma bedruckt ist. Der ganze Quantz ist eine Litfaßsäule. Schroubek, der der Baronesse nun nicht zu Diensten sein kann, verteilt seine Helme an die drei stillen Herren, die auch hier stumm aber zugegen sind wie in allen Sitzungen bisher. Den letzten Helm reicht er Luitpold Weichslgartner, Ordinarius der Haupt-stadtuniversiät und erstrangiger Cuvilliés-Spezialist, der es unter seiner Würde gefunden hat, sich wie der Angestellte eines Baubüros einen Si-cherheits-Verkappung unters Kinn zu schnallen. Udo Quantz hat ihn begrüßt mit einem wohlwollenden Salut unserem Professorchen !, um ihm sogleich die Baronesse vom Arm zu pflücken wie einen edlen Jagdfalken und sich mit ihr an die Spitze der Gruppe zu setzen. Dynamischen Schrittes, wie er ihn in Harvard gelernt hat. Und der Ordi-narius muss wohl oder übel dem Allerhöchsten her stolpern, ein gede-mütigter Untertan. Mehr noch als der Diminuitiv Professorchen bohrt in ihm, dass Haselwanter und Mittermeyer ihn gehört haben und nun zu ihm aufschießen wie von gleich zu gleich. Und dabei locker die pflichtschuldig mitgebrachten Bauhelme an den Handgelenken pendeln lassen. Während sich Schroubek, mit seinem feinen Gespür für Rang-ordnungen, im Kern des Zuges einreiht, nicht allzu deutlich hinter Hölzl, aber zwei Schritte vor Hiebele. Wo Schroubek ist, ist immer Mitte.
Die Herren zeigen sich erstaunt, dass sie auf dem Weg hierher keine Sperrzonen durchfahren haben. Jedes Museum hat doch einen Sicher-heitsbereich ! Da möchte man seinen Spezialausweis zücken können, wenn er einem denn schon ausgestellt worden ist, man möchte zu der Elite gehören, die Zutritt hat. Oder zu der Elite in der Elite gehören, die keinen mehr vorzuweisen braucht, weil der Pförtner bei ihrem Anblick schon die Sicherheitsschleuse summen lässt.
„Je nun, unser Künstler hats anders entschieden…“
Künstler, diese unberechenbaren Wirr-Kerle. Erzeugen Kunst und verschwenden keinen Gedanken darauf, sie auch zu sichern.
„Weil ihm halt alles Bunkerhafte verhasst ist“ weiß die Baronesse, „Das solltenS doch allmählich wissen.“
Das Zementklotzige, zumal Sichtbeton, schlägt halt amal ins Barba-rischen wie es erst lang nach seiner Epoche hereinbrach.
„Und mit dem Totalitären einhergeht“ mischt Weichslgartner sich ein, der seiner Geliebten seinen Forschungsgegenstand nicht allein über-las-sen will. Zumal sie sich bei Quantz eingehängt hat, statt sich bloß beiläufig von ihm führen zu lassen.
„Zuerst die Revolutionsbauten. Das waren doch bereits Bunker, mit griechischen Säulen vorgeblendet ! Und danach diese Trutzburgen des Wilhelminismus bis hin zu Speer und Stalin !“
Alles Brutalität in Stein. Der Gnom dagegen hat nie Wehrbauten errichtet wie dieser andere Franzose, Monsieur Vauban. Nie diese Schlä-ge mit dem Vorschlaghammer verübt, die die Landschaft aufreißen wie die Narben einer mit Zement ausgegossenen Wunde und diese noch mit Salz betreut damit sie fortschwärt und fortschwärt und nur kostspieligst zu entfernen ist.
„Mit Wachtürmen umgeben als einzig stimmigem Dekor.“
Aus Weichslgartner bricht heraus, was er in einer seiner Vorlesungen niemals von sich geben würde. Nur weil sich die Baronesse am Arm von Udo Quantz dem Allmächtigen angehalftert hat und ihrem Bettgenossen nicht einmal zulächelt. Nicht einmal verstohlen. Und schon gar nicht be-gütigend. So ist es an Schroubek, den Ordinarius mit gerecktem Fingern zur Mäßigung zu mahnen. Erst mit zweien, dann mit sechsen. Rosig sind sie alle. Aber Weichslgartner wird von seiner Phillipika fortgerissen.
„Und mit Bluthunden, die davor patroullieren. Vor diesen Schächten, die sich wie Kloschüsseln auftun. Und genauso riechen. Nach Vollzug, niedriger Notdurft, Darm-Entleerung, Westwall.“
Udo Quantz, statt den Aufmucker abzustrafen ( wie nicht nur Schroubek hoffte ) beschleunigt lachend den Schritt bis zum Galopp. Harvard liegt immer vorne. Die Baronesse hält kichernd mit, Schroubek bemüht sich, Hölzl will ihm nicht nachstehen, die Rivalen Haselwanter und Mittermayer fluchen, unterlassen es aber sogleich als sie bemerken dass der andere ebenfalls flucht und rennen darum fluchlos weiter, fluchen aber sogleich wieder, als sie von den drei Unbekannten gerammt werden, Hiebele setzt ihnen allen nach wie einer Bande Fünftklässler, die beim Schulausflug ausbricht und nur Himmelmeyer und Stapferer sind beglückt, mit dem Keuchen der anderen ein authen-tisches Tondokument einfangen zu können.
Nur Ordinarius Weichslgartner bekommt Moos und Matsch in die Schuhe, räumt sie frei, verläuft sich in einem Dickicht aus Farnen, er ist eben kein Waldmensch wie seine Baroness, er braucht als Kunst-historiker die geometrisch klare Orientierung durch Baulinien und Eck-steine. Und schließt erst verspätet wieder zu den anderen auf, die nun, als hätten sie den Anlass ihres Ausflug vergessen, auf einer kleinen Lichtung zusammengedrängt stehen, alle Wölkchen vor dem Mund. Und
In die Betrachtung eines Ringes von Pilze vertieft sind.
Der Hauptlehrer, wer sonst, macht sie ihnen namhaft : da ist der Halli-masch, der Steinpilz, Morchel. Spät im Jahr, und erstaunlich bei dieser Witterung, Als er beim Bovist angelangt ist, überkommt sie alle das Gefühl, dass die Pilze sich vor ihnen in den Waldboden zurückziehen, als wollten sie sich verstecken. Und Schroubek, der stets Umsichtige, bemerkt überdies : die Fichtenzweige über ihm entfernen sich von ihm, als sinke er selbst mit den Pilzen ins Moos. Der Waldboden unter ihnen hat sich gesenkt und sinkt stetig, fast unmerklich, Bovist, Hallimasch, Steinpilz und Morchel stehen immer höher über ihren Köpfen, wie eben noch die Zweige. Es wird düster um sie, kaum dass Weichslgartner noch den bunten Helm der Baroness erkennt. Als es gänzlich duster geworden ist,
Udo Quantz verwegen mit der Zunge und schreit mutma-cherisch Jippiiii ! wie im Rotor auf dem Oktoberfest, wenn der Boden unter den Füßen weggezogen wird.
„Insofern sehr volkstümlich diese Maschinerie“ lobt Hauptlehrer Hie-bele, und auch Schroubek, zu seinem Behagen eng an den Mächtigen gedrängt, möchte Rühmendes beisteuern. Aber schon in einem ge-wöhnlichen Aufzug würgen ihn Schwindel und Platzangst, wie denn erst hier, wo Bovist, Hallimasch und Morchel immer noch duften, aber eben
modrig und es zügig abwärts in Tiefen geht, vor denen ihn sein Magen warnt.
„Als ob unser Riese uns chauffiert !“ ruft Udo Quantz in die Finster-nis. „Bitte das angemessen zu würdigen, Herrschaften !“
Weichslgartner fasst ins Dunkel, um Quantz bei dem zu ertappen was er vermutet, fasst aber mitten in Himmelmeyer, der ihn des ungeschick-ten Zugriffs wegen für Hölzl hält, während Stapferer in sein Mikrofon saugt, wie Quantz in die Katakombenschwärze hinein stimmgewaltig verkündet, sie sollten sich fühlen wie ein angeschickerter Betriebsaus-flug, der alle Geisterbahnen schon durchprobiert hat und alle zu matt be-funden und -
„- und dann kommt kratterdiknatter doch noch die Hauptattraktion.“
Hofzwerggelächter. Etwas springt Professor Haselwanter in den Nacken, dann auch Professor Mittermeyer. Das Wesen fühlt sich fle-dermausig an, aber keiner wagt es wegzuschlenzen. Himmelmeyer und Stapferer nehmen das Meckerlachen auf, als das Wesen ihrer beider Nacken heim-sucht, dann ist Udo Quantz an der Reihe mit dem Besprungenwerden. Der sinkende Moosboden kommt ohne einen Ruck zum Stehen, und Quantz belobigt den Gnom wie ein Zirkushündchen, das sein Kunststück zur Zufriedenheit ausgeführt hat. Der Belobigte, meckerlachend, schlägt einen Vorhang zurück, eine üppige Drapierung die eines Hoftheaters würdig wäre. Ein schmaler Schlitz in der Dunkelheit nur, seine Zwer-genarme schaffen nicht mehr. Helligkeit strömt herein, schon hängt die Baronesse wieder am Arm von Quantz. Der geleitet sie als erste als hinaus, hinter ihm drängen Himmelmeyer und Stapferer, der die Arme reckt, um auch hier die O-Töne frisch zu erhaschen. Gleichauf die drei stummen Unbekannten, und der Hauptlehrer gleichauf mit den Professoren. Nur Schroubek als der Neugierigste von allen verfängt sich in der zurückrollenden Drapierung wie in einer samtenen Drehtür. Eine dicke Quaste schwingt ihm vors Gesicht, als der Hauptlehrer bereits dabei ist aufzuführen, was der Kommission zur Besichtigung ansteht. Als Schroubek den Bommel endlich weggeschleudert hat, meint er ein Hofnarrenkichern zu ver-nehmen, aber es ist nur das Kratzen der Silberfäden in der Quaste.
„Palais, dreistöckig, Mitte achtzehntes“ ruft Hiebele auf. So register- und hauptlehrerhaft, wie er eben noch Bovist, Steinpilze und Hallimasch hergezählt hat.
„Platzanlage mit Akazienallee, frühes achtzehntes.“
Wie die Pilze ist auch dies alles nachgemacht.
„Brunnen mit Tritonen, Sandstein. Kirchenfassade, so weit von hier aus zu bestimmen, frühes Rokoko.“
Nicht einmal zu dieser, seiner Zeit kann es so graziös, so proper, so freundlich ausgesehen haben wie jetzt.
„Toreinfahrt, von dem erst noch überprüft werden muss, wohin es führt...“
Jedem Kunsthistoriker, ohne dass er recht hinsehen muss, ist diese Toreinfahrt geläufig – wieviel Doktor-, Magister-, Seminar-Arbeiten wurden darüber geschrieben. Prof. Dr. Haselwanter, aus Erlangen und Prof. Sigurd Mittermayer, Bayreuth beobachten einander, denn es gilt diesen andern bei einem Urteil zu ertappen, das sich sogleich als Fehlurteil dingfest machen ließe. Was wiederum, recht betrach-tet, eine Aufwertung des jeweils anderen bedeuten würde. Der Gnom steht unter seinem Kunstwerk und zieht seinen Dreispitz.
„Unsäglich, der Kerl“.
Quantz setzt wohlgelaunt den Dreispitz wieder auf des Gnomen Kopf.
„Und nun wollen wir doch alle der Einladung folgen und uns darin ergehen !“
Und tritt unter den Torbogen. Die drei Professoren verweigern sich. Es wäre das erstemal, dass sie gemeinsam durch eine Öffnung gehen.
„Wir waren allerdings auf eine Baustellenbesichtigung gefasst“ be-gehrt Weichslgartner auf. Unerwartet schrill. Nicht, weil er dazu offen-sichtlich zu spät gekommen ist, sondern weil Quantz in einen Lauben-gang eingebogen und verschwunden ist, die Baronesse immer noch am Arm. Die anderen sind dem Professor grummelig dankbar, dass er ihnen den Zweck ihres Hierseins vergegenwärtigt hat, und besinnen sich auf ihre Baustellenhelme, die sie achtlos abgenommen hatten. Jeder, einer nach dem anderen, stülpt sie sich nun wieder über, mehr ratlos denn als Zeichen des Protests und schnallt ausführlich den Kinnriemen fest mit so entschlossener Miene, als zöge man nun in ein Gefecht. Und steht dann, helmbewehrt, trotzdem aufgeschmissen herum. Denn ein Baugerüst, ein Kran, ein Stapel Hohlblocksteine oder auch nur eine Zementmischma-schine, die eine so ungewohnte Plastikkuppel auf den Köpfen rechtfer-tigte, ist nirgendwo zu erspähen. Die Luft ist angenehm temperiert, süd-lich fast, mit einer Beigabe von etwas Mittelmeerischen und Bran-dungsnahen. Schroubek, der Neugierige, schnuppert. Aber die anderen haben sich nicht so tief ins Erdinnere begeben, um Meeresdünste auf sich wirken zu lassen und sehen ihn missbilligend an. Wie saukomisch der ausschaut mit seinem Helm, geht es allen durch den Kopf. Wie sau-komisch die alle aussehen mit ihren Helmen, geht es Schroubek durch den Kopf. Dem einen oder anderen rinnen unter dem Rand, der ihnen die die Stirn presst, schon die ersten Schweißstreifen heraus. Aber jetzt den Helm absetzen, obwohl der Schweiß nun schon den Nacken hinab sickert, das wäre Kapitulation. Vor wem oder was auch immer.
Man strebt auseinander, um sich hinter der nächsten Ecke das dämli-che Dingsda vom Schädel reißen. Ungesehen, ohne dass die Fassade der eigenen Würde damit einstürzte. Sollen doch die vom Gnom errichteten Fassaden dabei zusehen. Die trifft nun der ganze Grimm.
„Eine Probe Wohlgestalt von da und ein Häppchen Anmut von dort“ hatte sich Hölzl seinerzeit notiert und drei erstaunte Fragezeichen dahinter gesetzt, die sich nun als prophetisch erweisen. Ein Ausspruch der Baronesse. Eine pikante Blütenlese aus ansprechenden Bauwerken, an denen wo sich das Auge bis zum Jüngsten Tag noch erfreut.
An denen wo ! Sprachlich niederbayerischer Bauerntrampel, und als Bewah-rerin des nationalen Kulturerbes ist sie der Typ verhängnisvolle Schmieren-soubrette. Notiert sich Hölzl. Und die Blütenlese, die hieraus zu erwarten war, ist nun um ihn herum Stein geworden. Der Gnom, ihr Protegé, hat sich unterstanden, in diesem Keller, den die Großmut des Großen Konsortiums ihm bereitstellte, die Bauten zu errichten, die er zu seinen Zeiten nicht geschafft hat. Und hat sich zudem ( Hölzl wird das zu überprüfen haben ) erdreistet, Bauten wiedererstehen zu lassen, die abgeräumt und in den Orkus der Geschichte entsorgt hat. In den Orkus der Kunstgeschichte !
Eine Begriffskette mit vielen S., aber ist sie nicht trotzdem eine gerechte Mülltonne, ohne die die jeweils Nachwachsenden nicht zu Leben und Atemluft kämen ? ( Dies nun wieder, notiert sich Hölzl, eine Begriffskette fast ohne S. ) Dort oben gehörte den Wissenschaften die Vergangenheit allein, bei ihr hatte sie unter Verschluss zu bleiben, die akademischen Ober-priester hefteten ihre Inventarnum¬mern dran, und dann ab damit ins De-pot. Hier unten in der Zwergenhöhle dringt die Vergangenheit mit ihren contes des fées auf ihn ein, die Skulpturen auf den Gesimsen sehen alle auf ihn herab als wären sie die Baronesse von Treidlein, Diana hier und Diana dort, sie haben sogar die weißen Flatterhemden abgelegt, barocke Brüste hängen Hölzl entgegen, sie lagern auf Gesimsen, ihre nackten Bei-ne ( bloß mit griechischen Sandalen bekleidet ) wippen ihm entgegen als wollten sie ihre Zehen auf ihn stubsen. Selbst als Karyatidenmädchen, die Balkone zu schultern haben, lächeln sie ihn libidinös an, und als Ken-taurenmädchen greifen sie nach goldenem Obst, um ihn damit zu be-werfen. Und wo die Baronesse nicht als Skulptur gegenwärtig ist, wo nur Mauerwerk, Nischen und Architrave sind, schwingen darin ihre Run-dungen nach, und als er flüchtet, bilden ihm die Schwüngen der Gassen und Durchlässe ihre Anatomie nach.

Von Amphion, dem mythische Vorvater der Architekten, sagt man er habe mit Tönen Bauten errichten können. Kunststück, war er doch ein Sohn des Zeus, ein unehelicher schon wieder, erzogen von allen neun Musen auf einmal. Der Unsegen der auf ihm lastete war dass er von den Irdischen mit dem Tode bedroht wurde wie ich mit dem Unsegen beladen bin ein Zwerg zu sein, beschenkt aber mit dem Göttergeschenk einer siebensaitigen Lyra, wie ich beschenkt bin mit meiner Erfindungsgabe. Wenn er in seine sieben Saiten griff, gehorchten ihm die Steine, wurden zu Vögeln und schichteten sich aufeinander ohne Kran und Flaschen-züge. So wurde, was er baute, steinerne Musik. Wie auch ich mir einbil-den darf dass was ich je errichtete, als Musik erkannt wird.

„Und nirgends Gotik !„ kollert Haselwanter, der Mediävist.
„Kein Backstein. Nicht ein einziger Spitzbogen !“
Aber er kann nicht endlos kollern. Zu lange sind sie schon herum-gestreift, um seine Beschwerde endlos zu wiederholen als Avemaria im Rosenkranz. Wie es auch die beiden anderen, Weichslgartner und Mitter-meyer, leid geworden sind, die Bauten hier unten mit den Augen von Polizeispitzeln zu inspizieren. Helme werden gegen Mauern geschleudert, der professorale Zorn schafft sich ein Ziel. Trifft aber nicht auf Verputz, der wenigstens bröselte und staubte, sondern auf waffenharte Spezial-schichten, erprobt in der Rüstungsindustrie. Was kann da ein Plastikhelm ausrichten, geschmissen von einem Kathedermenschen. Als Himmel-meyer und Stapferer bitten, die Helme noch einmal gegen die Mauern krachen zu lassen ( ihre Mikrofone waren nicht auf dem Quivive ) wendet sich der professorale Zorn stracks gegen die beiden : Funkochsen ! Wellenhirsche ! Radiowichser ! und die Funkochsen flüchten durch einen Torweg, hören abermals Helme krachen und retten sich, noch ver-schreckter, hinter eine doppelflügelige Tür. Wenn sie zuschlägt, unter dem Gewicht ausladenden Schnitzwerks, umfängt sie eine Stille, die ihnen neue Angst einflößt. Aber ihre Absätze rufen auf den Marmorflie-sen ein so edles Schurren mit so edlen Echos hervor, dass die Ohren-menschen in ihnen wieder hellhörig werden und neue, noch fremdartigere O-Töne aufnehmen.
Schroubek, der Neugierige, ist ihnen neugierig gefolgt bis er gemerkt hat, dass die drei Stillen neugierig auf ihn, Schroubek sind. Für wen spionieren die eigentlich, fragt er sich und entwischt ihnen durch eine andere geschnitzte Tür. Für alle stehen geschnitzte Türen offen, wenn er denn eintreten will ins Reich Unbekannt, nur Hauptlehrer Hie-bele sieht es seit je als seine pädagogische Pflicht an, die Büble bei-sammen zu halten. Sein alteingelernter Impuls verlässt ihn nicht, aus-schwärmende Schüler bei der Klassenfahrt unter keinen Umständen aus den Augen zu lassen und so wird er, ihnen hinterher steigend, hinein-gezogen in Treppenhäuser, Flure, Ballsäle. Als er aber unvermutet Innengärten entdeckt, vergisst er seine Aufsichtspflicht. Sie locken mit einer Pflanzenwelt, die seinen Bestimmungsdrang reizen, denn ober-irdisch gibt es sie nicht mehr : violette Tamarisken, der Häufelwurz, die grüne Passionsblume, die rankende Türkennuss und die melierte Bour-bonrose, die keusch nur von Ferne duftet, alle Insekten aber die sich auf ihr niederlassen, in Räusche versetzt.
„Auch hier Schmetterlinge, sogar colias edusa“ staunt der Hauptlehrer. „Es ist an alles gedacht worden.“
Schroubeks Neugier hat sich an einem Globus festgefressen. Schweinsleder, alle Reiche und Reichlein sind bunt bemalt. In der Höhe seiner Augen, in der Mitte Europas, die habsburgischen Kronländer. Sein, Schroubeks Kern-Imperium, das wie mit Fingern in den Osten hinein greift. Es reicht so weit in den Balkan hinunter und so tief ins Zarenreich hinein, dass ihm schwindelt. An den Wänden sieht er Atlanten hängen, die ihm noch einmal bestätigen, dass ihm die Bu-kowina durchaus zusteht und der eigentliche Name von Sibiu Her-mannstadt ist und dass Kosovo polje Amselfeld zu heißen hat. Her damit also ! Was lügen dagegen die heutigen Schullandkarten alles zusammen oder doch eher auseinander, die die Gebiete die seinesgleichen ererbt hat von Auflage zu Auflage mit immer dünneren Strichelchen markieren. Die Bewaffneten und Geharnischten, die in den Umrahmungen der alten Atlanten hocken, sie bewachen und bezeugen, blicken grimmig, als wollten sie ihn ermutigen Brich auf gen Osten, wir halten die Fahnen in den Wind ! Und ob er aufbrechen wird, er ist bereits im Stollen, mit beiden Beinen steht er im Vortrieb seines Tunnelreichs.
Himmelmeyer und Stapferer sind der Aufnehmerei müde. Sie haben ihre Mikrofone an Tür- und Fenstervorhänge gehalten, weil die von ver-gangenen Jahrhunderten flüsterten. An Klingelzüge, weil die so silbrig bellten, um Gesinde herbeizuholen das aber dann doch nicht kam. An leere Vogelbauer deren Gitterstäbe zirpten wie Glockenspiele. An Stand-uhren und an eindeutig-zweideutig seufzende Sofakissen, die sie sich gegenseitig unter die Weichteile schoben, und zuletzt sind sie erschöpft in ein Paradebett geplumpst. Das Aufnahmegerät rutschte unbeauf-sichtigt unter den Bettrahmen und nahm weiterhin auf, was die beiden hervorbrachten : die Musik der kupfergedrehten Sprungfedern unter ihrer beider Geturne. Das Geräusch der Woche, und am nächsten Sonn-tag wird es gesendet.
Für alle stehen geschnitzte Türen offen, jeder mag sich aus den einladenden Reliefs etwas für sich herauslesen und dann entscheiden ob er eintreten will, auf Überraschungen hereinfallen will ; auch die Pro-fessoren sind hereingefallen und haben eine ähnliche Tour gemacht wie Himmelmeyer und Stapferer und Schroubek und Hiebele. Wenn auch durch andere Salons, Schlafzimmer und chambres separées. Aber keiner wird es vor den anderen zugeben. Dass Weichslgartner, Haselwanter und Mittermayer danach aufeinander treffen, ist dem Zufall dreier Frei-treppen zu zuzuschreiben, die sie sternförmig zu einem Brunnen führen und am Beckenrand die versammelt, die am wenigsten aufeinander treffen wollten. Aber ist es überhaupt ein Zufall, oder ist es die Tücke des Gnoms ?
Erschöpft sind alle drei, aber nur Weichslgartner, der schon längst nicht mehr wissenschaftlich unterwegs ist sondern nur noch auf der Suche nach der Baronesse, zieht die Socken aus und hängt seine heißen Füße ins Wasser. In dieses Wasser, das Wasser des Gnoms ! Ist es nicht Märchenstoff und Zauberbrühe, und wer sich ihm anvertraut, wird verwandelt in Esel oder Kröte und hat an Ende keine Füße mehr.
Der Gnom sitzt auf dem Beckenrand gegenüber.
„Es sind Eigenmächtigkeiten in einem unglaublichen Ausmaß passiert hier unten“bellt Haselwanter. Er bellt nicht in Richtung des Gnoms, als sei jedes Wort an ihn vergeudet. Der Gnom betrachtet sich im Wasser. Wie Narziss, denkt Mittermayer, er ist das Urbild des Narziss, der sich an sich selbst berauscht und sich selbst verwirklicht ohne jede Rücksicht auf Rahmenbedingungen, und er proklamiert wie ein Staatsanwalt, der Anklage erhebt :
„Das wird Folgen haben; oberirdisch, das garantiere ich demjenigen welchen.“
Wieder nicht zum Gnom hin.
„Der wird grade zu stehen haben, disziplinarisch und überhaupt, und zwar gesalzen…“
Seine Stimme verrollt bei der Vorstellung, was dem derart An-geklagten alles blüht. Aber der ohnehin nicht zu. Er streicht mit seinen weißen Hutzelfingern durchs Wasser. Es bewegen sich Fische darin, Mittermayer bemerkt es erst jetzt. Ihre Helme, wo sind sie nur…aber Mittermayer ist zu matt, danach zu suchen. Der Gnom summt leise vor sich hin, und alle drei werden schläfrig.
„Dass hier Kunstwerke oder das was eigenmächtig für Kunstwerke erklärt wurde…“ sinniert Haselwanter, überlaut.
Das Brunnenwasser plätschert. Der Gnom hat ein Schiffchen gefaltet und aufs Wasser gesetzt, aus rotem Wachspapier. In ihm steckt eine Flaumfeder. Wenn er da hineinbläst, macht es gute Fahrt. Es hält nicht auf ihn zu, vermerkt Haselwanter der Mediävist, und nimmt seinen halb gemurmelte Betrachtung wieder auf.
„Dass hier Kunstwerke hier quasi eingekellert sind doch unbestreitbar sein Gutes. So stiften kein Unheil mehr.“
„Sind endgültig zur Ruh gebracht wie Jesus in der Matthäuspassion.“
„Der Ordinarius wie der Museumsdirektor hat tag¬täglich Lebendware, ich meine künstlerische, einzukellern in den Unermeßlichkeiten seiner Depots. Niemand kommt auf den Gedanken dass er sie dort zu beglotzen zu will. Goldbarren will man auch nicht besichtigen. Die haben hinter dicken Stahlmauern zu lagern, und finito. Als Garanten für die Ver-vielfachung des Kapitals, das sich aus ihnen generiert. Das ist ihr allei-niger Zweck.“
„Allerdings mit dem trüben Risiko, dass Kunstwerk wie Goldbarren eines unkontrollierbaren Tages wieder hervorgeholt werden“.
Und damit neu eingeschleust werden in den Kreislauf der Unruhe.
„Hier unten dagegen…
„Unter Sicherheitsstufe hoch zweihundert weggesperrt für alle Zeiten“
Die Werke, die hier weggesperrt sind, werden für immer unsichtbar bleiben, ihre oberirdischen Originale aber eines nahen Tages zu Staub zerfallen.
Als das Papierschiffchen neben Weichslgartner an den Beckenrand stößt, reißt er seine Füße so erschrocken aus dem Wasser dass alle drei nass werden. Das Wasser des Gnoms ! Das Märchen hat sie doch noch eingeholt. Schießen ihnen schon Ziegenborsten aus den Handrücken ? Wächst ihnen ein Schweif ? Schieben sich die Hörner von Bocksgöttern aus ihrer Kopfhaut ? Und sind da nicht auf einmal auch Vögel in der viel zu lauen Luft über ihnen, die eben das bezwitschern und sie spöttisch willkommen heißen im Tierreich ? Sie rubbeln das Wasser mit den El-lenbogen fort, die Sorge brennt, dass ihnen unter den Hosen Felle ge-wachsen sind. Aber sollen sie die herunterlassen, um das zu überprüfen,
und der andere Professor schaut zu, und die Vögel lästern noch mehr ? Und warum rammt Weichslgartner seine Füße so hastig in die Schuhe, wenn er verstecken will, dass er Hufe daran hat ?
Einer nimmt des anderen Entsetzen wahr, und einer rennt vor dem anderen weg. Als die drei fort sind, segelt eine Libelle herab und um-kreist das Papierschiffchen, als suche es darauf einen Landeplatz.
Aber Messieurs…messieurs ! Ich wollte Ihnen doch nur die Augen dafür öffnen, dass ich, ein Vielhundertjähriger, hier versammelt habe, was mir würdig erschien im Elysischen aufbewahrt zu werden. Für im-mer befreit aus der Umklammerung der dumpfen Fantasielosigkeit dort oben. Deren Un-Werke das Land überflutet hat nach meiner Zeit. Und über die Sie, meine gelehrten Nachgeborenen, sich nie echauffiert haben. Nicht einmal wahrgenommen haben Sie sie, weil sie selbst ein Teil davon geworden sind wie alle ihre Zeitgenossen, die alle im Abfall hausen und im Schutt. Schutt die Mietwohnungen, Schutt die Schulhöfe, Schutt die Hochgaragen und Tunnels, Schutt die Unterführungen, Schutt die Hospitäler. Schutt die Bahnhofshallen, Autobahnen, Büros, Fabriken und Hangars und Kasernen. Alle Landschaft hat man zugeschissen mit Kasernen und nennt sie Heimstatt. Vorrichtungen all das zum Vernich-ten von Menschen durch Stumpfsinn und Ödnis und Eternit. Wer morgens ins Treppenhaus tritt, dem ist die Seele schon benebelt durch Sichtbeton und wer in ein Reihenhaus hineingeboren wird ist schon ein Untoter ein Leben lang und geht Tag für Tag der allerletzten Vernichtung entgegen. Sie wissen, messieurs, welches Wort dafür steht. Es heißt Dachau. Dort hat man, meine Pläne versenkt hundert Jahre bevor man auch Menschen dazugetan hat.

„Hölzl ! Hölzl ! Bitte melden !“
Die Stimme von Quantz kommt wie vom Himmel herab. Wo es gar keinen Himmel gibt, sondern nur das künstliche Azur das die Rü-stungstechniker installiert haben.
„Nach dem allgemeinen Lustwandeln wollen wir doch nun mal…“
Alle greifen wie ertappe Schulkinder nach ihren Helmen, als könnte dieser Kunsthimmel einstürzen und Quantz sie rügen dass sie die Sicherheitsvorschriften nicht beachtet haben.
„Kurz Festsstimmung an uns ranlassen lassen, Hölzl !“
Die Stimme des Gewaltigen ist voller kratzigem Charme. Aber wo ist er selbst ?
„Es kommt nunmehr unserem Museumsdirektor zu, die Schließanlage …naja, ich möcht‘s mal so nennen : die Sicherheitsschleuse einzuwei-hen.“
Hölzl hat seinen Helm als erster unterm Kinn festgeschnallt. Es fehlt nur, denkt Weichslgartner, dass er die Hand zum Gruß an den Rand legt.
„Sicherheitsschleuse gegen wen, wird da wer fragen ? Wo wir doch, igitt sowas von fallout-abgesichert sind hier unten ! Aber ich will mich nicht auf Grottenolme rausreden oder Fledermäuse die hier eindringen könnten. Grottenolme. Die Pharaonen und diese ganzen altvorderen Bauherren da haben die Bauleute umbringen lassen gleich nach Fer-tigstellung von vergleichbaren Bauten …naja, nicht so nukleargeschützt, aber die Herren verstehen schon was ich meine. So weit können wir die security nicht mehr treiben heutzutage, aber feindliche Elemente bleiben feindliche Elemente. Und Insurgenten Insurgenten, gell. Und ob da nun Elemente, die am Aufbau dessen was wir hier um uns haben, ob die sich da eventuell Eintritt verschaffen, um dieses aseptische Arkadien hier zu besudeln mit Fettfingern, Spucke, Atemdampf, Urin, und…oh ! ich mag das gar nicht ausmalen…“
Und nun pfeift er, als wollte er es eben doch ausmalen, wie ein Kirschdieb einem anderen Kirschdieb zupfeift. Ist er einer von den un-sichtbaren Vögeln gewesen, die vorhin gezwitschert haben ? Als Hölzl verwirrt den künstlichen Himmel absucht, trifft ihn barsch die körperlose Stimme :
„Hölzl ! Nu machen Sie schon…“
Der legt die Hand nun doch salutierend an den Helm. Und darf die Schaltzentrale betreten, er allein. Als der oberste Wächter der Kunst-schätze des Landes. Oberirdisch und nun auch unterirdisch. In der Schaltzentrale kein lebendes Wesen, nur Hölzl, der Berufene. Er sieht sich von gehorsamen Monitoren umgeben, die seiner Befehle harren, sieht die Historische Kommission lautlos auf den Bildschirmen wie hinter Glas, wie die Meeresfauna im Aquarium, und die Baronesse ist der bunteste und rundlichste Zierfisch dabei. Oberirdisch hat er sich ein solches Museum stets herbeigesehnt, in dem die Besucher stumme Weißfische sind, in ein Vakuum eingeglast. Der geforderten klinischen Asepsis ist Genüge getan. Zu ihrem Schutz, zum Schutz der Ausstellungsobjekte, und vorab zu Hölzls Schutz. Hinter schalltoten Wällen und nach Gesetzmäßigkeiten, über die allein Hölzl bestimmt. und ihrer eigenen Zugrunderichtung. Die Lichterknöpfchen , die ihm nun untertan sind, blinkern ihm aufmunternd zu. Hier bin, ich regle die Abluft, hier bin, ich regle die Zuluft, hier bin ich, ich regle die Garnichtmehrluft. Das Vakuum, Hölzl, das Vakuum !

Von Daedalos sagt man, König Minos habe ihn zu sich nach Kreta geholt, weil er ein diable d’homme war, ein Tausendsassa, Architekt, Goldschmied und Flugmaschinenbauer in einer einzigen genialen Person, der das unergründliche Labyrinth in dem der Minotauros gefangen gehalten wurde, wie nebenbei hinstellte, während in seinem Kopf schon eine Nachtfackelanlage für die Häfen Phrygiens und eine schwenkbare Brücke über den Hellespont umging. Mich haben meine kürfürstlichen Bauherren keinen diable d’homme sein lassen, nur einen maitre de plaisir. Erst jetzt, unter neuen Herren, bin ich ein Daidalos geworden mit einem stattlichen Labyrinth.

16. Kapitel
worin vordergründig das Herz des verewigten Regenten bestattet wird, während sich im Hintergrund gewisse Elemente auf geheime Mission begeben

Das Herz des Regenten hat nun das ganze Land durchmessen, Stadt um Stadt, Dorf um Dorf, Weiler um Weiler. Der Regent selber ist lang zuvor schon bestattet und zur Ruhe gebracht worden unter einem un-scheinbaren Steinmetzstein in seinem unscheinbaren Heimatdorf, un-scheinbar eingemeindet in die unscheinbare Gemeinde Kallmünz in der unscheinbaren Oberpfalz. Sein Herz aber ist in Silber geschlossen worden kaum dass es zu schlagen aufgehört hatte. So eng umschlossen, dass es hinter der Silberhaut noch immer zu pochen scheint, dass die vielen, die ihre Hand darauf gelegt haben, seine Wärme zu spüren meinten, auch wenn es ihre eigene Körperwärme war, die sie dem Silber mitteilten.Das Herz des Regenten hat in Einöden übernachtet, in Tankstellen und Intensivstationen, zwischen Nachtschwestern und wachhabenden Ärzten, die es neben sich auf dem wachstuchbespannten Tisch stehen hatten während sie im Kreuzworträtsel Weißt du eine Stadt am Missisippi mit vier Buchstaben ? herumkritzelten. Es hat in Notunterkünften über-nachtet, wurde in Kinderheimen auf den Hausaltar gestellt zwischen Kerzen, Einsame haben es zwischen die Schenkel geklemmt, Familien haben vor ihm um den Lottogewinn gebetet und um Ischias für den Nachbarn und sich dabei im Silber gespiegelt, weswegen die Gebete alle nicht erhört wurden, eine Behindertengruppe, in den Knien wiegend, sang ihm zu Ehren lallend So ein Tag so wunderschöööön wie heute/so ein Taaaag der dürfte niiiiieeeee vergehn“, auf derben Wirtshaustischen hat das Reliquiar gestanden und sich die Klagen und Scherze der Saufbrüder anhören müssen, ehe es mit Enzianschnaps übergossen wurde und zu guter Letzt, als die Trauer übermannshoch wurde, auch mit Tränen.
Durch tausende Hände gegangen, von zehntausenden Mündern ge-küsst, vor hundertausenden wie eine Monstranz zum Segensgruß ge-schwenkt, wird der Postsekretärsmuskel nun seiner endgültigen Ruhestatt in der Kapelle der Heiligen Jungfrau zu Altötting entgegen getragen, der Verehrung des Volkes anheim gegeben Seite an Seite mit den silberummantelten Herzen der früheren Herzoge, Kurfürsten und eines Kaisers. Die nun das Überbleibsel des Postsekretärs als eines der Ihren eine Ewigkeit lang neben sich werden dulden müssen, auf dem drittobersten Bord. Und er bringt so viele Pilger mit wie sie sich bei seinen blaublütigen Ewigkeits-Gefährten niemals eingefunden haben, denn eine königstreue Menge ist der Urne gefolgt auf ihrem Zug durchs ganze Land, Das Näherkommen des Herzens hörte man am Aufbrausen des unendlichen Chorgebetes und spürte man an der sich verstärkenden Dunkelheit und den Rauschschwaden denn die, die das Herz weitergereicht hatten, löschten ihre Kerzen :tausende ziehen jetzt mit brennenden Kerzen ein hier, die Langsameren und Fußkranken wälzen sich noch weit draußen vor Altötting, die Gehfreudigeren haben schon einen Ring um die Kapelle geschlossen, der zusehends dichter wird. Unter wehendem Gesang Ave verum corpus und dem Geläut aller Glocken im Land reichen die in den hinteren Reihen Einziehenden den vor ihnen her Schreitenden die silberne Urne mit dem Herz des Regenten, löschen dabei ihre Kerze und die Vorderen reichen das Silbergefäß weiter an die vor ihnen Schreitenden und löschen nun auch ihre Kerze, der kleine Silberschrein wandert von Hand zu Hand seinem letzten Aufbewahrungsort entgegen und tausend Hände werden frei , um ins Sacktuch zu schnäuzen. Ave verum corpus. Mancher holt das Silber noch einmal so dicht an sich heran wie es nur geht, schiebt es unter den Mantel, die Weste, Hemd oder Bluse, unters Unterzeug, dicht beim eigenen Herzen, als sollten die beiden ein letzte Zwiesprache halten, bis die in der vorderen Reihe es für sich selber fordern und es auch wieder unter Bluse oder Pullover bergen und die hinter ihnen ihre Kerzen löschen und die Dunkelheit sie verschluckt. Nun gibt es schon keine Gehenden mehr, niemand kommt mehr voran, enge Serpentinen von still Verharrenden sind um die Kapelle der schwarzen Madonna geschnürt, in der Nachtschwärze des Todes. Nun ist nur noch die Kapelle selbst hell, der Vorraum der Rotunde, in der die uralte Madonna steht, in ihrem gold-silbernen Altar, in goldbesticktem Kleid, aber mit schwarzem Gesicht.
Eine Lichtschnecke kriecht in das Innere des Kirchleins.
Vraiment, eine Lichtschnecke. Eine bewegte Volute nicht aus Gips son-dern aus Menschen. Ma fluctuation !
Der Gnom sitzt auf der rechten Schulter des Riesen, der an die Jesuitenkirche St.Magdalena gelehnt steht und nun den Mittelfinger ins Innere des Turmes steckt, um die schwingenden Glocken darin an-zuhalten und zum Schweigen zu bringen. Mit ihnen verstummen alle Glocken ringsum im Land.
Ich sehe ihre hell und fromm glänzenden Gesichter. Sie sind meine fluctuation, sie sind mein Materie, meine architécture dynamique, auch wenn sie es nicht wissen. Sie schreiten ins Innere der Kapelle wie ich es bestimmt habe. Jetzt ergreift das Regentenpaar die Urne, die Hand je-weils auf dem eigenen Herzen, wie ich es bestimmt habe, und stellt sie an ihren Platz zwischen den Herzen der früheren Potentate. Das machst du würdig, Ernstl, und ohne die zittrige Hast, die dir bei den Proben noch hast anzumerken war. Ich werde dein Herz genauso inszenieren wenn du an der Reihe bist, und nach dir das Herz des nächsten Regenten und dann des übernächsten - vive le roi toujours a l’eternité. Das wollen wir doch einmal sehen, wer a l’premier abgeht von der Bühne, moi le nain ou le royalisme die Monarchie oder ich und die dürftige Welt in der Finsternis zurück lässt als Waise.
Die Zeremonie hat lange gedauert. Die halbe Nacht. Um die Kapelle steht ein Kranz von Wirtshäusern und Pisshäusern, Wurstbuden und Scheißbuden. Alle lauern sie auf Kundschaft seit fünfhundert Jahren, und dazwischen lauern die Devotionalienbudiken. In denen all der Krims-krams der für die Weihehandlungen gebraucht wird, zu erstehen ist, handlich en miniature zum In-die-Tasche-Stecken. Die Allerheiligste Ma-donna mit dem schwarzen Gesicht und ihr bleicher Sohn aus Plastik, Weihekerzen mit den neuesten Fernlenkwaffen in goldbronzenen Reliefs, die Herzurnen der Wittelsbacher. Und auch die Hülle des eben beige-setzten Regenten ist bereits im Angebot, je nach Wunsch daumen– bis blumentopfgroß in PVC oder Weißblech, sein Konterfei jeweils aufge-prägt und handbemalt. Diese Urnen fürs Wohnzimmer gehen in rauen Mengen über die Ladentische, werden in Weihwasser getaucht, dabei auch diese und jene Gebetchen heruntergemurmelt, Fürbitten in höchsteigener Sache. Dann verteilt sich die Menge in die Wirthäuser und das große Sauffressen hebt an.
Jede fromme Verrichtung, jede Wallfahrt hierzulande schlägt um ins Sauffressen, als hätten die Gläubigen das Spirituelle vor den Altären ab-geladen wie ein Fuder Mist und müssten es sich nun als Schweinsbraten und Bier in den Leib zurückholen.
Während der Duft von Knödelsud und Schweinernem aufsteigt und den des Weihrauchs aus der Nachtluft tilgt, pfeife ich seelenvergnügt vor mich hin, weil ich auf meinem Freund Gregor geborgen bin. Denn die Landeskinder packen immer dann am derbsten zu, wenn sie aus dem Gottesdienst kommen und eine Zeitlang – aufstehen, hinsetzen, aufstehen haben parieren müssen. Und werden dann zu den Sadisten, die sie ancien einmal als herumkommandierte Ministrantenbuben gewesen sind. Und woran sie selige Erinnerungen hegen Woaßt da’s no wia ma ins Weih-wasserbecken neibrunzt ham und mit den Erinnerungen tauchen auch die Quälwünsche wieder auf, vervielfacht durch die Verletzungen die ihnen selber zugefügt worden sind und die an dem nackten jüdischen Jesus loszuwerden sie nie Zeit hatten. Nun aber, mit reichlich Bier im Leib und einem Zwerg in den Fäusten –
„Kruzifixkreizognaglterjadavarreckdoglei“
Ich weiß, was sie mit mir anstellen würden, und pfeife vor mich hin. Ich pfeife mich von ihnen fort.

Der Regent betrachtet seine Hände. Er will keinen Maßkrug und kein Besteck mehr berühren, um eine Weißwurst aufzuteilen, seitdem er die Urne mit dem Herzen seines Vorgängers angefasst hat, um sie auf den ihr gebührenden Platz in der Galerie der Geschichte zu stellen. Seine Gattin hängt ihm am Arm, nun ist ihr Ernstl der vor Würde Erstrahlende, und der Monsignore nur ein Messdiener. Am anderen Arm Reserl, die die Begründerin einer Dynastie sein könnte, wenn sie aus dem Fürstenstand käme. Aber die Schwarze Madonna hat sie erhört in dieser Nacht, und der Fürstenstand wird nicht mehr vonnöten sein. Wie auch ihr Gerstl Hansi Gebetserhörung gefunden hat. Der Bauernbursch, dessen Vorfahren 1705 Sensen auf Dreschflegel gesteckt haben, um ihrem Kurfürsten wieder zu dem zu verhelfen was ihm gehörte. Heute weiß er, er wird späte Anerkennung dafür kassieren, die Madonna hat ihm so gut wie zugenickt. Auch Josef Maria Amplinger, weit hinten im Gedränge, hat Erhörung gefunden. Nie mehr braucht er keine Touristen hinaus zu geleiten und muss nicht ihre Hinterlassenschaften vom Marmorboden wegkratzen, er weiß sich aufgenommen in den Kreis derer deren Herzen da aufgereiht sind. Auch um ihre Hinterlassenschaften hat er sich bekümmert, jahrelang hat er sie bewacht, bis er einer von ihnen geworden ist. Warum nicht auch leiblich ? Das Volk hat nie vergessen wie emsig der Kurfürst Karl Theo-dor und der König Ludwig I. unter ihm herumgeschnackselt haben. Wa-rum sollte Josef Maria Amplinger mit seinen erhabenen Vornamen nicht ihr Ur-UrUrenkel sein und mit vollem Recht in die Nachfolge eintreten ?
Der Monsignore spürt die Kräfte der heiligen Stätte durch sich strömen wie bei einem Wannenbad in Bad Wörishofen. Eine magische Ab-deckerhalde, an dem monarchisches Totengewebe lagert, auch unter den Steinfliesen noch liegt allerhand was magnetisch strahlt, liegen die Her-zen der fürstlichen Damen, dazu die von Bischöfen, Fürstäbten, Prinzen, Äbtissinnen. Der Monsignore fühlt sich auf allen diesen Gebeinen ge-kräftigt wie beim Wassertreten in Bad Füssing, nur dass hier überir-dische Wasserkräfte walten. Hier, im Jahre des Herrn 16o7, haben sich die katholischen Fürsten des Alten Reiches zum Kreuzzug gegen die Evangelischen verschworen. Ort des Aufbruchs ! Exodus ! Zu deinem Knechte weihe ich mich hat Kurfürst Maximilian der Protestantenfresser mit eigenem Blut geschrieben, virgo Maria hoc teste cuore atque chyrographo und den Zettel der Schwarzen Madonna unters Gewand gesteckt. Du brauchst keinen Zettel, Traudl mein Herz, du hast mich, einen geistlichen Herrn, ich bin das Papier von dem die Gottes-mutter dein Begehren liest und sie wird dich erhören so wahr ich Gottes Diener bin.
Wenn das Volk sich zerstreut hat, in die Wirtshausbetten gefallen um die Räusche auszuschlafen, mit den Bussen hinaus in die Nacht unter Gesängen, die nun nicht mehr fromm sind sondern grölig, wird auch der Riese wieder bestiegen. Wie sonst, aber es ist nicht wie sonst. Alle die zusteigen, glauben sich allein in seinen Taschen. Was kraus war in den letzten Wochen kommt ins Gerade. Der friedlich stampfende Schritt des Riesen stampft Zuversicht in die Sinne der Reisenden. Die Träume und Wachträume ordnen sich zu Plänen, zu plan und rational daliegenden Grundrissen. Der Gnom kriecht von einem zum anderen. Er treibt keinen Schabernack heute, knotet ihnen nicht die Schuhbänder zusammen, und bindet sie doch zu einer Einheit.
„Ich versichere Ihnen, der Riese höre nur auf sie“ flüstert er und kriecht weiter ohne zu kichern. Mit jedem Schritt Gregors fühlt jeder der Planenden sich der Verwirklichung seines Grundrisses nähergetragen. Du wirst König sein, rinnt es ins Herz des Monsignore. Du wirst an der Seite der Könige beigesetzt werden, in das Amplingers. Du wirst Mutter einer Dynastie werden, in das der Regentin. Sie sehen herab auf das Land, das sie regieren werden, grau, unentfaltet liegt es da. Nüchtern unter unterm Novemberhimmel, wie für sie zur Revision ausgestreckt. Die Dörfer sehen aus wie Kuhherden, die Fassadengesichter einander zugewandt, breit und massig, wie wiederkäuend, der Alte Wirt als Leitkuh, der Neue Wirt als scheckiges Gegenüber, verwandelt oft schon in ein Steakhaus, von oben sind nur die stierhafte Rücken der Dächer zu sehen und nicht das Eternit, mit denen die Fassadenmalereien zugeschraubt worden sind. Der Maibaum wie ein Stecken, der in den Dorfplatz ge¬rammt ist. Und gerade diese Nüchternheit tut jedem der Putschisten wohl, die aus den Knopflöchern Gregors lugen. Läge das Land unter dem Frühlingsmond, dann würde es sie blenden mit aufgeschminkter Schönheit, aber das Grau ermutigt sie : für das Goldene zu sorgen ist fortan ihr Geschäft.
Der Riese stapft der Venus am Westhimmel entgegen, die so hell leuchtet wie noch nie in diesem Jahr. Hinter ihm im Nordosten steigt der Große Bär auf wie eine ausgebreitete Hand.

17. Kapitel
Volkes Stimme Gottes Sturm

„Kreni,wir kommen !“
Sie haben sich gestreckt, als sie das Land betraten. Unwillkürlich haben sie sich gestreckt. Sich größer gemacht, jahrelang gestautes Wachstum holten in den wenigen Stunden nach, die sie auf die Hauptstadt zugerollt sind.
„Ist doch echt cool dass sie uns mit dabei sein lassen.“
„Nicht bloß dabei sein. Wir tragen doch auch was bei zu. Ich möcht mal so sagen, wir bringen uns voll mit ein, leistungsmäßig.“.
„Echt leistungsmäßig. Und zwar mit der totalsten Power wo du überhaupt drauf hast.“
Und dabei sind sie wieder gewachsen. Ihre Nacken sind ins Breite ge-gangen, die Muskulatur hat schier nicht mehr in die Sweatshirts gepasst.
„Und echt mit dem feeling dabei du gehörst echt mit dazu bei denen.“
„Das kannste aber laut sagen. Durch den Beitrag den was wir erbringen sind wir total integriert in dem Moment.“
„Kreni, wir kommen !“
Beim Aussteigen im Hauptbahnhof, am Flughafen, wenn sie unter-gehakt mit Einheimischen und Herbeigekarrten über die breiten Straßen der Residenzstadt zogen.
„Kreni, wir kommen !“
Durch ihre roten Ohren schien die Julisonne. Das Rot wurde gespeist von dem Bier, das sie in sich hatten fließen lassen. Bier aus den Brau-ereien Krenleitners. Sie wussten, dass sie erst mit Krenleitners Bier im Bauch ein Teil des Volksganzen würden, jeder zu einem Krenleitner, in jedem von ihnen Krenleitner. Ein Mann des Volkes, das Volk ein Mann. Und dieser eine Mann war Krenleitner.
„Kreni, wir kommen!“
Auch wenn der nicht hörte, dass seine Anhänger ihm huldigten, schon jetzt konnte er gewiss sein, die Energien die er benötigte zu seinem Werk marschierten auf.

„Zunge herzeigen !“
Josef Krenleitners Machthaberstimme. Mit der er ein Imperium zusam-mengerafft hatte aus Bier, das aufschäumte zu Immobilien, die auf-schäumten zu Kapitalgesellschaften, Dienstleistungen und Ehrenposten. Und von Erwerb zu Erwerb, von Coup zu Coup, war seine Stimme ge-wachsen in seinem Kehlkopf. Anfangs, als Bäckergeselle, war sie noch schwächlich, brachte sie die Bleche in der Backstube nicht zum Schep-pern und auch der Meister hat nicht gespurt nach Krenleitners Fasson. Aber er muss Hefe verschluckt haben, Hefe lässt alles quellen, die Mai-sche im Bier, den Profit im Geschäft, der an ihm kleben blieb wie Hefe und Maische, und Brauereikonzerne hochblubberte, Immobilien, Fußball-vereine und danach alles übrige. Vom big trucker in der Bauindustrie zur Wellness-Industrie, zur Fußball-Industrie zur number one im Privatfern-sehn zum super king in der Sicherheitsbranche.
„Zunge raus, wird’s bald !“
Aber der so Angeredete hat gebockt. Dabei Krenleitner wollte nur sehen, ob sie etwa belegt ist. Ob der, dem die Zunge gehört, auch bester Gesundheit ist. Pure Fürsorglichkeit. Krenleitner hätte auch noch ganz anderes verlangen können : Hose runter, Beinmuskeln herzeigen, Bizeps und so weiter. Schließlich besaß Krenleitner Rechte, die allein auf ihn eingetragen waren. Aber Krenleitner, ein gnädiger Herrschaftsmensch, begnügte sich diesmal allein mit der Zunge.
„Also Zunge ! Stichprobenartig, für alles andere.“
Dreimal bittet ein Krenleitner nicht. Selten zweimal. Der Kandidat würgte unter Schlossareks Griff.
„Na wer sagsts denn…“
Ein Prachtfilet, diese Zunge.
„Ich les da drauf, wie wann ich a Landkartn studier. Wenn dem seine Zunge Ackerland wär, könnt ich 300 Doppelzentner Kartoffeln ernten auf den Hektar. Dermaßen strotzt der vor Xundheit. Xundheit glatt mit X“ lachte Krenleitner und puffte freundschaftlich den, der ihm die Zunge hatte zeigen müssen.
„Aber wie der dasteht dabei ! Er, dem wo ich ein Bruder bin.“
Bei dem Wort Bruder zeigten die Umstehenden pflichtschuldigst ein Grinsen.
„Freilich Bruder ! Sogar so einer wie der da.“
Krenleitner war die Menschheit eine Ansammlung von Brüdern, alle in seinem Tross wussten das, und er wollte alle seine Brüder umarmen. Aber Krenleitner war so hoch oben, dass keiner mehr vorbeikam, und er musste sich einen hinaufholen.
„Der ist mein Bruder ! Jetzt von dem her amal gesehn : der hat voll meine Ausstattung. Voraussetzungsmäßig jetzt amal gesehn. Meine Her-kunft. Meine Statur...“
„Entschieden breiter als Sie durchaus, Chef“ taxierte Schlossarek.
„Gell ? Meine Kilo hat der sogar ! Wenn wir Boxer wären, wären wir klar in derselben Gewichtsklasse. Wenn ich ihn anschau, meinen Bruder, nacher schau ich mich an. Ein Herausforderer, der, von Haus aus. Wie der schon die Fäuste in die Hosentaschen rammen kann, der ! Als ob er da an jedem einzelnen Finger einen Schlagring streichelt. ! Der haut doch einen linken Haken, der mäht eine Kompanie um, was, du ?“
Schlossarek trat einen Schritt zurück. Aber es wurde nicht geschla-gen, nicht von Schlossarek und nicht von dem mit der Zunge, die Kren-leitner gehörte. Der Bruder stand nur starr da. Und plötzlich war Kren-leitner in Wut.
“So was von begnadeten Anlagen ! Und lasst sie verludern. Und ich muss her, als ob nichts Besseres zum tun hätt als Konzernchef und muss dem sein Leben in die Hand nehmen !“
Schlossareks Leben war auch in Krenleitners Hand. Das seiner Lohn-abhängigen, und sogar das seines Publikums.
„Und der Stuhlgang von meinem Bruder ?“
Nun war Krenleitners Allmachtstimme wieder fürsorglich.
“Hart heute, Chef.“
„Also Bewegung für meinen Bruder. Ausgang mit alles unklusive ! Und du, Schlossarek, stehst mir dafür grad dass er sich amüsiert, schonungslos. Auf den Putz haut, so dass ich mich mit amüsier !"“

„Kreni wir kommen“.
Durch ihre roten Ohren schien die Julisonne. Sie wussten nicht, untergehakt und in langer Reihe, dass es der Kandidat war den sie überholten. Er sah aus wie einer von ihnen. Er sah nach nichts aus, Schlossarek ging drei Schritte hinter ihm. Zwei Konfektionsmenschen ohne Signatur, sogar ohne Physiognomie.
„Kreni, wir kommen !“
„Hör dir das an“ sagte Schlossarek. „Alles dir zu Ehren. Kannst dir was einbilden drauf“.
Du bist jetzt der King des Tages.Und erst der ( pfeift ) Nacht...
Der Kandidat schwieg. Er nahm die Rufe nicht wahr.
„Wir haben freie Hand vom Chef. Ausgang mit alles unklusive , von ihm aus. Kannst dir auch was einbilden drauf. Also, was reißen wir auf ? Du führst. Ohne Auflagen. Ohne Kandare, ohne...“
Aber der Kandidat wollte keinen Ausgang mit alles inklusive. Nichts aufreißen. Nur auf einer Bank sitzen und auf Kinder starren.
„Gelüstig, eh ? Schänderisch ?“ würde Krenleitner hinterher Schlossa-rek fragen. Und Schlossarek legte sich schon einmal zurecht Ich hab ausdrücklich gesagt starren. Rein nur, damit sein Aug sich nicht ir-gendwo im Leeren verfranzt.
Sondern statt im Nirgendwo auf Rutschen hängenblieb, auf Sand-schaufeln, auf Gummi-Twist.
Gummi-Twist ! würde Krenleitner hinterher brüllen, das wusste er jetzt schon. Was zieh ich eine Spendierhosen nach der andern an, wenn mir das Saustück nicht hineinlangt !
Und Schlossarek redete auf den Kandidaten , er solle sich was gönnen, es sei nicht mehr zum Aushalten wie er nur ins Nichts glotze. Auf kleine Mädchen, die Gummitwist hüpfen. Statt sie zu schänden. Dann hätte er dem Chef wenigstens was zu melden.
„Dabei kannst du stolz sein, weil sie 113 Autogramme von dir verlangt haben, allein heut vormittag. Ich bins jedenfalls. Und der Chef erst !" Unbandig, wird er schreien, so viel verlangen sie ja net amal von mir. No amal, wieviel Autogramme ? Und er wird stolz auf dich sein. Ich hör ihn schon. Erste Wahl ! wird er schreien. Meine Mobilie ist erste Wahl ! Aber daß du einen Schreibkrampf gekriegt hast schon bei der sechsten Unterschrift - das verrat ich nicht. Ehrensache. Weil wir doch in einer Kameradschaft zusammenwachsen, du und ich. Zu einer Kameradschaft fürs Leben. Wie Brüder…hörst du, Brüder...“
„Kreni, wir kommen !“ sang eine Gruppe, die an ihnen vorbei zog. Die Stadt füllte sich mehr und mehr mit Gruppen, die das sangen.
Der Kandidat hörte nicht hin. Er starrte ein Zeitungsblatt an. das der Wind ihm zugeweht hatte. KRENLEITNER RUFT UND TAUSENDE KOM-. Darauf lag Taubendreck. Aber er las es nicht. Langsam zerriss er es in gleichmäßige Streifen.
Wenn der Wind sie davontrug, sah er ihnen nicht nach.

Nun war es schon die Nachmittagssonne, im Garten des Hofbräuhauses, die ihnen durch die Ohren schien.
“Wer beim Kreni landet, der is endlich in der festen Faust, die uns schon so lang abgeht. Uns da draußen.“
„Wer beim Kreni landet, der liefert das, wo er selber nix draus machen kann, ich möcht mal voll sagen : sein Dasein, das liefert der beim Kreni ab“.
,Der das Was-draus-machen voll drauf hat weil dem sein Leben eine einzige Riesen-giving story is.“
So gibt er auch noch dem was, der sich ihm ausliefert.
„Ich möchte mal so sagen : späten Ruhm.“
„Und dazu braucht der Kreni uns“.
So fällt Ruhm auch auf sie. Und jeder bestellt noch ein Bier.
„Kreni, wir kommen !“

„Zunge zeigen !“ rief Krenleitner, als Schlossarek den Kandidaten zurück brachte, und der zeigte sie.
„Der lernt aber rasant Gehorsam“ lachte Marille, Krenleitners Tochter.
„Ich täts nicht Gehorsam nennen. Mehr so ein Zusammenwachsen im... im…Schlossarek, Formulierungshilfe !“
„Im Symbiotischen, Chef.“
„Wir werden noch ein Fleisch, gell Bruder. Im Symbotischen.“
Es sind dem Kandidaten, musste Schlossarek berichten, gewisse Ange-bote zugesteckt worden.
„Auf Perversitäten.“
Und Marille gluckste.
„Auf Entführung.“
Marille entsetzte sich.
„Kenn ich doch schon bis zum würgmich.“
„Aber diesmal drohen sie Waffengewalt an.“
„Hemd runter !“
Der Kandidat stand wieder starr. Immer noch starr.
„Wirds bald !“
„Er geniert sich in Gegenwart einer jungen Dame“ wusste Schlossarek, und Marille kicherte.
„Die junge Dame ist Familie, capito ! In die wo du einbezogen bist, Bruder, unentrinnbar.“
Unentrinnbar.
„Und die junge Dame Marille möcht sich satt schaun an unserer Mo-bilie.“
„Mobilie !“ kicherte Marille, aber der Kandidat stand starr, Schlossarek musste seine Fäuste einsetzen. Jacke und Hemd gingen in Fetzen.
„Da ham wir‘s ja, seine Gemäldegalerie.“
Gemäldegalerie ! Gleich unter seinem Adamsapfel entdeckte Marille a Nackerte und einen Ständer, der wo ihm aus seinem linken Schulterblatt rauswachst.
„Von seiner Zeit her, wo er Zuhälter g’wesen ist.“
Und unter dem rechten Schulterblatt ein Hakenkreuz.
„Von seiner Zeit her, wo er brandstiftln gangen is gegen die Kanaken.“
Darum hüpfte ein Schwarzer, lichterloh brennend, von einer Arsch-backe zur andern, und Marille ergötzte sich. Nur auf dem Brustkasten, beschwerte sich Marille, war rein gar nichts zu erkennen im Ge-schwabbel.
„Das holt man sich bei zu viel Kartoffelpamps und zu wenig Auslauf.“
Damit spreche der Vater, übersetzte ihr Schlossarek, diskret die di-versen Haftzeiten des Kandidaten an.
„Weil, zu was ist meine Mobilie verkommen ? Zum looser ! Mit so einer passiven Anspruchshaltung inmitten des Verteilungskampfes, dem wir uns alle zu stellen haben, gefälligst.“
Krenleitner ließ die geschlossene Faust vor dem Gesicht des Kandidaten kreisen.
„Angenommen, Bruder, du kriegst von mir ein Känguruh – „
Das Känguruh fand Marille ergötzlich.
„Da gibts nix zum Lachen, Marille ! Das is eine Lektion in Wirtschaft. Und dazu, angenommen, schenk ich dem Bruder auch noch eine Insel. In der Gegend von, sagen wir amal, Grönland. Jetzt bist du dran, Bruder. Was machst du draus?“
Der Kandidat stand starr.
„Wirds bald !“
„Sie überfordern ihn“.
„Antwort. Wird’s bald !“
Er schlug den Kandidaten nieder. Man musste ihn liegen lassen.
„Weils eine Schand ist, wann einer das Fighten verweigert. Nur wenn man zuhaut, schafft man sich Lebensraum. Linker Haken - Spekulationsgewinn, rechter Haken – Feindliche Übernahme. Zuhauen is wie Umpflügen...danach geht die Saat erst so recht auf. So is der Krenleitner Bernd, der fipsige Semmeldreher aus Obergiesing, zu dem developer aufgestiegen, vor dem sogar der Haberstock den Schwanz ein-zieht.“
Der Kandidat war wieder aufgestanden.
„Also, was machst du aus dem Känguruh in Grönland ?“
Keine Antwort. Krenleitner schlug ihn ein weiteres Mal nieder. Und der Kandidat, der doch in der gleichen Gewichtsklasse war, hat sich wieder nicht gewehrt.

Nun war es schon die Abendsonne, durch die Ohren schien. Im Bier-garten beim Chinesenturm im Englischen Garten Die Sonne wurde nicht durch Haare behindert, denn die waren bei allen abrasiert.
„In der Illustrierten, da is sein - ich möcht mal so sagen : sein Werde-gang drin abgedruckt. So in Fortsetzungen. Hol ich mir jede Nummer am Donnerstag frisch vom Kiosk. Wie'n seine Mutter kaum großgekriegt hat in der Trabantensiedlung, schreiben sie da“.
Wirkungsvoller als ihre Liebe erwies sich der Hosengürtel des Vaters.
„Der is nich an seim Sprössling gehangen, der is an der Flasche ge-hangen, schreiben sie, und damit war die weitere Lebensreise markiert.“
„Null Lehrstelle . Dafür Bruch.“
„Und Jugendknast.“
„Und gleich nochn Bruch.“
„Und Erwachsenenknast.“
„Und wieder Bruch.“
„Er is unser Bruder in dem Sinn : wir spucken auf ihn, weil er der is, der einen am Morgen ausm Spiegel anglotzt.“
„Kreni, wir kommen !“

„Oh ihr meine sündigen Spratzelwürmer !“
Wie allwöchentlich sah der Monsignore seinen Beichtkindern aus der Mattscheibe heraus in die Augen und in die Seelen, unter gerunzelten Brauenbüscheln hervor und mit wässrigblauem Blick. Und mancher, und nicht nur die Männer, wünschten sich, dass seine Finger über den Bildschirmrand bis in ihre Wohnzimmer vorstießen.
„Jetzt muss ich mir wieder anhören, ihr Spratzelwürmer, wieviel Frevel wieder begangen worden in nur sieben Tagen. Sieben !“
Liebevoll schwang er die Wortpeitsche über seiner Gemeinde, und die musste ihre Stirnen dabei an die Bildschirme pressen, bis diese klebrig wurden von Schwitzfett.
„Sieben Tagen, die Gott der Herr einst genützt hat um euch und uns und alles um ihn her zu erschaffen.“
Die Gemeinde kniete vor den Bildschirmen, als wären in allen Woh-nungen Kameras installiert und nicht nur in ihren Gemütern.
„Alsdann, so hart es mich auch ankommt, leuchten wir hinein in diesen Bottich voller Abscheulichkeiten.“
Kissen unter den Knien ließ Monsignore Zirngibl nicht zu.
„Fort damit, Frau Eder in Waldkraiburg !“ rief er, also musste er das Polster unter Frau Eders Knien deutlich vor sich sehen.
„Neinneinein auch nicht bei Arthritis, Frau Listl in Bamberg ! Was fällt Ihnen ein – wenn Sie vor Ihrem Schöpfer knien !“
Und Frau Listl war damit aus ihrer Anonymität herausgehoben und hi-nein gehoben in die Schande. Denn um Gewissenerforschung zu be-treiben, musste der Boden unter den Knien grausam sein, ein Spitzel und Folterknecht der göttlichen Justitia.

„Schaut in euch hinein ! Tief, tiefer, am tiefsten, ihr sündigen Spratzelwürmer !“
Die Sendung hatte eine Einschaltquote, auf die es nicht einmal der Sport brachte bei einem Länderspiel, und der Monsignore hatte sich er-kämpft, dass sie nicht von Werbung unterbrochen wurde. Eine Werbe-pause ist eine Pinkelpause ist eine Sünderpause, hatte er getobt in heiligem Zorn.
„Erforscht euer Gewissen !“
Und weil auch die Spitzen der Werbewirtschaft Sünder waren und mithin Beichtkinder, hatten sie bußfertig klein beigegeben.
Der Beichtspiegel ist noch nie punktgleich dem Dekalog gefolgt. Habe ich den Namen Gottes fahrlässig ausgesprochen, und wenn ja wie oft, oder habe ich ihn gar im Zorn ausgesprochen ? Was Jehova vom Berge Sinai herunter erlassen hatte, war zur handlichen Stapelliste alltäglicher Vergehen heruntergeschmirgelt. Am Freitag Fleisch gegessen ? Und wenn ja, mit Vorsatz, oder nur weil es keinen Wirsing gab ? Falsches Zeugnis gegeben ? Unzucht getrieben ? Allein oder mit anderen ? Und so fort durchs Musterangebot bis hin zu Punkt zehn, und der geleierten Schlussformel O Gott sei mir armem Sünder gnädig.
Des Monsignore Stil war dieses Schlendern durchs Musterlager nicht. Er wandte sich bei der Gewissenserforschung halb ab, wie vor Ekel gelangweilt, ins Profil. Und man erkannte, dass seine beträchtliche Nase die eines Medici war, wie erschaffen zum Aufsaugen des Buketts edler Weine und edler Käsesorten. Und dass sein Doppelkinn aus seinem weißen Priesterkragen quoll wie fleischfarbener Bierschaum.
„Habt ihrs durch, endlich ?“
Um plötzlich alle zehn rosaroten Finger vor der Kamera hoch zu recken. Seine Augen funkelten wasserblau durch die Finger, als seien es nicht zwei, sondern unendlich viele Augen, die hinter den Lücken in einem Zaun spähen.
“Und der sechsmal überteuerte Preis, hä ? Letzhin beim Grundstücks-verkauf, was is mit dem ?“
Die linke Hand umfasste den Zeigefinger der Rechten wie einen festgenommenen Übeltäter und riss ihn herunter.
„Und der Fick mit der Leni, die wo doch eine Nichte ist !“
Die linke Hand riss den Mittelfinger herunter.
„Wo sie noch nicht amal den Mittelschulabschluss hat ! Und der anonyme Brief an die Baubehörde ? Und das Testament, das man nimmer gefunden hat, wo’s doch am Dienstag noch in der Schubladn g’legen ist ?“
Der Ringfinger wurde heruntergerissen.
„Und das Spannern bei der Nachbarin, hä ? Jede Nacht, wenn sie sich mit Körpergel einkremt ?“
Der kleine Finger wurde herunter gerissen. Nun ragte nur noch der Daumen.
„Und das da - ? Das Hauptvergehen ! Das Nunplusultra an Besudelung – heraus damit !“
Der Daumen, er war der rosigste und nackteste von allen Fingern, begann zu tänzeln, je länger der Monsignore nun schwieg. Er krümmte und schlängelte und wand sich vor den Fernsehzuschauern wie eine Nachtklubtänzerin, die aus ihrem Publikum die Aufforderung heraus locken will, ihre allerletzten Hüllen abzulegen, unter die Zuschauer zu werfen, ja gar sich an ihr zu vergreifen.
Der Daumen wurde immer rosiger und verführerischer. Er ruckelte langsam hoch, knickte über den Nagel nach hinten wie in einem stummen Orgasmus-Schrei. Als wären alle Sünden, sogar die heimlichsten gestanden und ausgespien.
Der wasserblaue Blick stach wieder auf die Beichtkinder ein, unter finsteren Brauen hervor, und alle zehn Finger verschwanden aus dem Bild, wie vor Grauen geflüchtet.
„Keine Vergebung ! Kein Erbarmen !“
Unter finsteren Brauen hervor schwang der Monsignore seine Wortpeitsche.
„Das Untier in euch ist nur auszutilgen durch Selbstreinigung ! Volkes Stimme wird sich erheben und Gottes Sturm wird es hinweg fegen !“
Volkes Stimme. Gottes Sturm.

„Keine Amnestie heut für den Schampus, Damenherrschaften !“
Im Dachgarten von Krenleitners Stadtpalais wurden den Gästen Champagnersorten aus edlen Lagen gereicht. Die Kellereien, aus denen sie kamen, wie die bei Nolay und Pommard, gehörten Krenleiner. An die Stelle der Bierhumpen, wie sie zu ihm gehörten, nun edle Sektkelche aus Glasbläsereien im Böhmischen, die Krenleitner auch gehörten. Wie ihm auch die Gäste gehörten, einer wie der andere.Darum schauten sie ihm fest in die Augen, wenn er nun sein Glas zu ihnen hin erhob.
„Der Kandidat ist mein Bruder in dem Sinn, dass ich auf ihn spuck, so wie man auf sein Bild im Spiegel spuckt in der Früh, wanns mich anstinkt, daß ich ums Verrecken der da sein soll.“
Das wurde belacht. Kreni wir kommen wurde gerufen, als seien die ausländischen Hooligans auch hier schon angekommen. Man sah indessen Abendkleider, fremde Generalstäbler, Wirtschaftsspitzen, Couturiers, Soutanen, Playmates, Schauspieler, den einen oder anderen Frack.
“ Prösterl ! Prösterl allseits ! Unserem Ehrengast – „
Auch das wurde belacht.
„ - doch doch so möchte ich ihn heut nennen, unsern Hauptdarsteller !“
Der nun seinem großen Tag entgegen ging. Und der bereits breit seine Prominenz habe auskosten können. Acht Kinder hatte er gestern zu seg-nen, heute elf. Wortwörtlich zu segnen ! Ein Extremkletterer-Team, das in den Himalaya aufbricht, hat sich um sein Unterhemd beworben. Als glücksbringender Talisman. Und Krenleitners Fußballmannschaft hat sich, um abermals die Meisterschaft zu gewinnen, seinen Zopf reser-vieren lassen.
„Dieses schmächtige Zöpflein da an seinem Hinterköpfl ! Das einzig verwegene an ihm.“
Auch das wurde wieder belacht. Das Zöpflein wurde angefasst, berubbelt wie die Nasen der bronzenen Löwen vor der Residenz ; es war blond und missfarben, aber Krenleitner strahlte jetzt schon als hielte er bereits wieder einen Meisterschaftspokal in den Händen, frage nicht zum wievielten Mal !
Dann ließ Krenleitner den Kandidaten herumführen in seinem Stadtpalais, und die ganze Gesellschaft gab ihnen das Geleit, die Sektpokale in den Händen.
„Damit er sich anschaut zu was ers genauso hätt bringen. Wie ich. Wenn er doch bloß…“
Ja, wenn er. Die Fernsehzimmer. Die Umkleideräume. Die Bäder. Die Schlafzimmer.
„Die Damen unter den Herrschaften hier, die drauf bestehen, dass er sie heut und jetzt und hier flachlegt – „
Das wurde belacht, unter oho ! , bei den weiter hinten Stehenden wagte jemand einen Pfiff auf den Fingern.
„Also diese Damen die schau ich besser nicht an, weil sonst bin‘s ja ich noch, der rot wird, und ein Krenleitner kann es sich von Haus aus nicht leisten, dass er rot wird. „
Und unter Gelächter ging’s sightseeingmäßigmäßig durch highlight um highlight, durch die Sauna, die Bowlingbahn, jede und jeder bemühte sich, dem Kandidaten die Arme um die Schultern zu legen, umschlungen flanierte man zur Boxhalle und in die Tennis-Veranda.
„Alles“ räsonnierte Krenleitner„ so nach der Melodie : friss es rein in dich, mit den Augen, das alles hätt dir auch gehören können von der Vorsehung her.“
Im Pferdestall streichelte Krenleitner seiner Lieblingsstute die Nü-stern.
„Von der Zucht her heißt sie Xenia. Aber ich nenn sie Marille nach meiner Tochter.“
Und legte allen, während Marille Xenia seine Hand beknabberte, seine Prüfungsfrage vor :
„Angenommen, Damen Herrschaften, ich schenke euch ein Känguruh und dazu eine dürre Insel bei Grönland – „ in Grönland,was - ( Zurufe.Lacht. ) Ah,ich hör,die Damen Herrschaften sind vif auf dem bestimmten Terrain...was ? ( Zurufe ) Sie ham sich bereits eingekauft in die Branche...( klatscht ) Respekt ! Alsdann Musik,Vorhang
Schlossarek raunte ihm etwas zu. Krenleitner unterbrach sich. Trank seinen Champagner aus, ehe er allen verkündete, der Kandidat sei nicht mehr auf seinem Rundgang durch Glanz und Fülle seines Hauses. Der Kandidat sei entführt worden.
Man schwieg so betreten wie es der Nachricht angemessen war. Nur einer, schon besüffelt, man sah seinem Smoking nicht an dass er Generalstäbler war, kicherte über sein Glas hinweg :“Entführt ! So wie die Braut immer entführt wird bei der Hochzeit…das nennt man Brauchtum.“
Krenleitner schüttete ihm seinenbeigenen Sekt ins Gesicht.
„Diesmal ist ernst, du Arsch !“

Es ist nicht wahr, was in der Stadt gestreut wurde, dass ich die Spiegel im Schlafzimmer des Palais Holnstein in der Weise eingesetzt habe, dass dahinter Spanner Platz nehmen konnten um sich an den Spielen dort drinnen zu delektieren. Damit gingen die Neidhammel hausieren, die sich einen Architekten wie mich nicht leisten konnten. In Wahrheit habe ich die Spiegel an der Decke anbringen lassen, nur die Engel und die Fledermäuse hätten dort herein spitzen können und ich habe die Spiegel konkav anfertigen lassen, so dass sie die darunter liegenden Körpern bizarr verformten, wenn die sich wälzten und übereinander herfielen, und die Übereinanderherfaller sahen sich selbst verwandelt in Kriechtiere und Vipern und Tintenfische, kurz in alles Getier das die Libido steigert. Ein Lustnest bauen war der Auftrag. Und ein Lustnest habe ich gebaut. In den Kneipen wurden die Figurenschnitzer und Stukkateure bestochen, dass sie herausrückten mit Flüsterrapports über vergoldete Kokotten mit samtgepolsterten Vaginae und Satyrn mit wippspritzenden Phalli. Die Handwerker hielten dicht, sie mussten dicht halten, denn die ge-wünschten Cochonerien gab es nicht, und wurden darum umso beharrlicher in den Wirtshausgehirnen fort und fort geschnitzt, in Gips geformt und ausgeschmückt.
Auch in diesem Lustnest hielt ich an dem Ensemble meiner vertrauten Figuren fest, die meine Gehirnwerkstatt bevölkern wie eine Schau-spielergesellschaft die Hinterrbühne, an meinen Minerven, Adonissen und Nymphen die selbstbefriedigend auf Delphinen ritten. In ihnen sollten sich die realen Menschen wieder erkennen, an ihnen sollten sie sich messen, welche die von mir gebauten Räume bevölkerten. Und ich weiß, ich habe sie so weit gebracht dass sie beschämt da saßen, die Beine übereinander geschlagen, nachdem sie sich ihrer Reifröcke und Stützkorsetts entledigt hatten, und ihr stinkiges Fleisch auseinander floss sobald Fischstäbchen und Gurtbänder es nicht mehr umzäunten. Und über ihnen, in den Paneelen, ließen meine geschnitzten Demoiselles mit triumphierenden Grinsen ihre Brüste aus Lindenholz ins Zimmer wachsen. Aber ich habe ihnen auch sphères de fuits hingebaut, Kavernen des Rückzugs. Sie mussten nur die Kerzen ausblasen, die ihre unzulängliche Körperlichkeit in ferkeliges Licht hob, und dann in die Bilder hineingreifen die sich auf ihrer Netzhaut abgelichtet hatten von meinen Minerven, Adonissen und Nymphen, und alsbald waren ihre dadurch angeregten Wonnen zu vernehmen, ihr Lustgestöhn vervielfacht, viel heiß auf sie zurück aus Schallkammern, die ich über und hinter den Lotterbetten hatte anbringen lassen.
Ich selbst habe es gleich darauf vergessen bis auf den heutigen Tag, da man mich beauftragt, das System der alten Lustkammern neu aufzurüsten. Auch wenn sie längst nicht mehr zu erkennen sind, denn seit gut 200 Jahren residiert der Erzbischof hier, und die geistlichen Herren haben was ihnen unschcklich schien, hinter Paravents verschwinden lassen. Ob sie trotzdem das Hohe Lied singt, wenn zu Bette geht ?

Es war üblich geworden, dass der Kandidat die Nacht vor seinem Auftritt im Bett des Erzbischofs verbringen durfte. Mit einer Dame seiner Wahl. Der Kardinalerzbischof betete im Vorzimmer, die ganze Nacht. Krenleitner pflegte ihm großzügig die Fronleichnamsprozession zu sponsern, die durch die breitesten Straßenachsen der Residenzstadt zog und bei der Krenleitners punktestärkste Fußballmannschaft den Baldachin tragen durfte und die zweitstärkste die Weihrauchfässer schwang.
Alle zwei Stunden wechselten der Erzbischof und der Monsignore sich ab im Gebet.
Diesmal aber vollzog sich der Gebetswechsel nicht leise und in Beschaulichkeit. Es gab Krakeel, kaum dass der Erzbischof den Mon-signore abgelöst und sich auf die Betbank niedergekniet hatte. Gerenne auf den Fluren, Türenschlagen, zwei oder drei Pistolenschüsse.
„Diesmal ist er in echt entführt !“
Das erste, wonach Krenleitner schrie, als er hereinstürzte, nur einen Trenchcoat über dem Schlafanzug, war ein Team seines Fernsehens, dann erst schrie er nach Schuhen. Dass er Schuhe brauchte war dringlich, denn er stand mitten in Spiegelscherben. Es war nicht Schlossarek, der ihm Pantinen anzog, sondern ein Kaplan, dessen zeremonielles Niederknien einen Flair von geistlicher Gefasstheit in die allgemeine Verwirrung brachte.
„Schaun sich das einer an“, jammerte Krenleitner, auf den Kaplan gestützt, “sowas von einem Zerstörungswerk…“
Krenleitners Füße kamen mit dem ungewohnten klerikalen Schuhwerk nicht zurecht, sie waren das Voranstürmen gewohnt. Der Kaplan und zwei Nonnen mussten ihn davor bewahren, ein weiteres Mal in die Trümmerhaufen aus Spiegelscherben und Stuckrahmen zu tappen.
„So ein sinnloses Zerstörungswerk…“
Die Gäste der Party waren herüber gekommen, besser versehen als Krenleitner mit wärmenden Pelzmänteln und auch Weinkaraffen, und das Entsetzen der Damen wurde noch tiefer durch tiefe Schlucke aus ihren Cocktailgläsern.
„Vorsehn, Damenherrschaften ! Das ist alles denkmalgeschützt… so-was von denkmalgeschützt…und jetzt so ein Zerstörungswerk…“
Das Fernsehen war nun da. Krenleitner stellte sich noch einmal zwischen die Scherben.
„Dieses Zerstörungswerk…man ist fassungslos…fassungslos...“
Der Kaplan und die Nonnen hielten Krenleitner untergefasst.
„Aber auf sowas muss es hinauslaufen, unausweichlich, wenn da so Elemente…so gewisse Elemente aus dem Dunklen heraus….wenn die eingreifen in mein Werk…an dem ich…an dem ich jahrelang…“
Der Kaplan und die Nonnen übernahmen barmherzig für ihn das Wort, berichteten in die Linsen, was sich zugetragen hatte, die Kameraleute arbeiteten sich durch die Haufen von Spiegeltrümmern und Verstörten hin zu Krenleitner und dem Kardinal Erzbischof.
„Eminenz …diese Schäden an Ihrem ehrwürdigen Bau…wie kann ich das jemals wieder gutmachen…“
„Aber mein liebes Seelenkind, keinen Gedanken verschwenden jetzt an das was ersetzbar ist. Bei Ihnen ist doch der weit schmerzlichere Scha-den.“
Der Erzbischof blickte an der Kamera vorbei, Krenleitner ernst hinein, mit seinem Leidensgesicht, Millionen waren draußen in der Nacht zugeschaltet.
„Der schmerzlichste Schaden aber ist beim gesunden Empfinden für Recht und Gerechtigkeit. Ein Messerstich mitten ins moralische Fühlen des Volkes…ein Messerstich…“
Erst als es heraus war, wurde dem Erzbischof bewusst was er gesagt hatte, die Stimme versagte ihm, sein Kopf senkte sich an die Wange des Monsignore. Der winkte den Kameras mit flatternden Händen, sie sollten wegschwenken.
Weit draußen an den Rändern der Stadt hatten die Hooligans einander an die Bildschirme geholt.
Jetzt, wo Katastrophe angesagt is, und alles am Kippen, da isses Ehrensache, dass der big Kreni auf uns rechnen kann. Und zwar eisern. Wir berufen uns selber ein alle Mann hoch ! Als dem Kreni sein Spezial-kommando - und bringen den Kandidaten wieder bei !
„Kreni, wir kommen !“
Sie durchkämmten die Stadt, nun nicht mehr untergehakt. Auf eigene Faust, und die sauste.
„Gefasst !“
„Blutet wie 'ne Sau.“
„Dabei issers gar nich.“
„Woher willstn das wissen, dassers nich is, immerhin wollt er doch stiften gehen vor uns, hej.“
„Einer, der garantiert mit drin hängt in der Entführung. Sonst hätt er sich doch seiner Festnahme nich widersetzt.“
„Und dass er blutet wie ne Sau spricht auch gegen ihn, hej.Weil, blutet beim Schlachter vielleicht der Metzger, wo sein Amt von rechtswegen ausübt, hej ?“
„Aber' n Bimbo und n' Illegaler isser auf jeden Fall.“
„N’Illegaler is doch jeder von denen.“
„Wie die aussehen, kommen die auf Delikte, die gibt‘s gar nich bei uns in Holzminden.“
“Wenn wir die nich sicherstellen, gibts die auch in Holzminden.“
„Kreni, wir ham ihn !“

In einer Wohnung im Bahnhofsviertel saßen zwei Männer weit weg vom Fenster. Es war laut auf der Straße, die Brüller hatten die Oberhand, und die beiden wollten nicht gesehen werden.
"Ich hab das nicht mehr ertragen. Ewig und ewig dieses Zunge zeigen !!! Und dieses Hemd runter !!! Sowas von Erniedrigung. Und erst Meine Mobilie !!! Das darf sich einer nicht rausnehmen, und wär der auch unterlegen noch und noch vom Einkommen her keine Vergleichsgröße. Aber hinten und vorn Bruder im Mund führen ! Bruder !!! Derart mit einem umspringen ist einfach gegen die einfachste Menschenwürde. Und wie du da immer dagehockt bist, am Spielplatz ! Ein leerer Kartoffelsack. Sowas von elend, sowas von hilflos, total ohne Perspektive…Mann, hau ab ! hätt ich da oft sagen wollen. Verpiss dich, ich schau nicht hin.“
Das Selbstgespräch ging über Stunden. Der andere schwieg und drunten auf der Straße wurde gebrüllt.


mir dann gesagt,wie in eine Versitzgrube,die Blasen wirft...( Pause ) Renn ! hätt ich dir da zurufen wollen,hau ab,fang neu an irgendwo weit weg,ich halt dir den Rücken frei mit allem was ich einzusetzen hab,und wärs das eigne Leben,renn ! du bist mir keinen
„Was mich das gekostet hat, an Eigenwürde, das mit anschauen müssen. Wie du auf die Kinder gestiert beim Gummi-Twist. Gestiert und gestiert. 51…52…53…. Der stiert in seine eigne Kindheit hinunter, hab ich mir zurechtgelegt. Nein, du bist mir da keinen Dank schuldig. Aber da hat sich ein Zusammengewachsein herausgebildet zwischen uns, für das ist so ein Wort nicht zu gering angesetzt wie…ich möchts mal so nennen… Kameradschaft, Mitmenschlichkeit, Verbundenheit...“
Es wurde an die Tür geklopft dreimal kurz, zweimal lang. Ein verein-bartes Signal. Schlossarek trat an die Tür und fragte halblaut Kennwort ? Draußen wurde das Kennwort gesagt.
„Gummi-Twist“.
Dann wurde aufgeschlossen.
„Überall in der Stadt sind sie am Razziamachen“ sagte Marille, als sie eintrat “es war kaum ein Durchkommen.“
„Kreni,wir kommen“ sangen sie unten auf der Straße.
Sie legte ihre Finger um seinen Hals, es wurde eine Liebesszene, die Liebesszene aus dem Erzbischöflichen Palais wurde fortgesetzt diesmal ohne den betenden Erzbischof vor der Tür, und auch Schlossarek, der Getreue wurde hinausgeschickt und hielt im Treppenhaus Wache, und während Marille die Tätowierungen bestaunte und sich umsetzen ließ, was sie bedeuteten, griffen die Hooligans diesen und jenen auf, wussten nicht wo sie ihn einliefern sollten und machten darum noch kürzeren Prozess mit ihm. Professor Haberstock beobachtete mit Ingrimm, wie Krenleitner der Unsteuerbare, seine eigene Masseninszenierung nicht mehr steuern konnte. Der Monsignore, mit dem Haberstock sich einig wusste gegen den Bierbaron, setzte eine Sondersendung an.
„Rächer stürmen durch unsere Stadt“ und die Augenbrauen des Monsignore düsterten dabei „wie die vorweggenommenen Engel des Jüngsten Gerichts und der Volkszorn wendet sich – „
„Nun sags schon“, brollerte es in Haberstock „sag : der Volkszorn schäumt auf wie Biermaische…jetz sags schon“.
Und beugte sich dicht vor den Bildschirm, um dem Monsignore vor-zusprechen, was gesagt werden musste.
„- bis wir ersaufen darin: Wo doch uns allein die Rechtsprechung zusteht…uns allein – nun sags schon !“
Beim dritten nun sags schon wurde es Haberstock bewusst, dass er dasselbe tat was in diesem Augenblick Millionen andere taten auch und damit nichts weiter bewirkte als dass der Bildschirm von seinem Schweiß schmierig wurde wie auch Millionen andere Bildschirme schmierig wurden. Haberstock schaltete aus.
Als wohl einziger unter diesen Millionen. Es ekelte ihn vor dem Massenkundgebungshaften, es ekelte ihn vor den Stadiongerülpse und dem Bierhaften am Gerichtigkeitsfimmel des Bierbarons, vor dem consensus omnium der als Kohlweisling über allen Bauerngärten fliegt. So entging ihm, dass der Monsignore eine Abordnung der Hooligans um sich im Studio versammelte, ihnen Kreuzeszeichen auf die Stirnen nudelte und sie seine Engel nannte die den Willen der allerhöchsten Gerechtigkeit vollzogen. Was sie verlegen werden ließ, wo wir doch evangelisch alle sind hier jedenfalls in der überwiegenden Mehrheit, und ihre Ver-klemmtheit wurde wiederum durch den Monsignore vom Kindischen erhöht wurde oh meine Kinder meine Kinder ihr seid die jugendlichen Arme der Gerechtigkeit und dann wurde niedergekniet und gebetet, evangelisch wie katholisch, für die Landeskinder die sich erst von den Auswärtigen zeigen lassen mussten wie man asoziale Elemente von der Straße sammelt. Haberstock versetzte derweil dem Fernseher Tritte, er hatte seinerseits Kandidaten ausgewählt mit höchstem Verantwortungs-bewusstsein, die er nun missachtet sah. Der Bierbaron gehörte aus dem Verkehr gezogen und die Selbstreinigung nie wieder an einen Privaten verpachtet.
Nicht dass Schlossarek an der Tür des Appartments gelauscht hätte das er hüten sollte. Er gönnte dem Paar seine Zweisamkeit, endlich ungestört von der Neugier der Medien und der Frömmelei der Pfaffen. Aber er hörte doch, dem Lärm auf der Straße zum Trotz, Marille drinnen singen : "I bin dei Schweiberl / i mach no koan Summa".
Ein alpenländisches Volkslied. Der Kandidat sollte mitsingen, und er sang mit.
"I hoff bloß drauf daß'd a Zweigerl bist für mi / Damit i juchazn ko, du waarst zu mir kumma/ und i waar dei gar herzigs Schatzerl für di."
Schlossarek war gerührt. Der Kandidat war nun endlich im Glück. Schlossarek sang selber mit, schlecht und recht mit seiner splissigen Raucherstimme, es war eine einfache, rührende Melodie. Man konnte darüber ins Träumen geraten, von einer Almwiese, fern von der Ödnis eines schmutzigen Spielplatzes und vom Gummi-Twist. Als das Fern-sehteam aus dem Aufzug polterte, konnte Schlossarek es kundig ein-weisen hinter welcher Tür der vielen Appartments gesungen wurde.
„Aber lasst sie erst zu Ende singen…“
Einer der Beleuchter kannte das Lied und summte mit, Tränen traten ihm in die Augen. Erst als Krenleitner dazukam, wurde die Tür auf-gebrochen. Schlossarek hätte einen Schlüssel gehabt, aber Krenleitner be-stand auf Gewalt.
„Meine Mobilie im Bett mit meiner Tochter !“
Er musste den Satz wiederholen, weil keine Kamera zur Stelle war.
„Schlossarek, stell ihn vor mich hin.“
Der Aufnahmeleiter hatte den Punkt bereits markiert, auf den der Kan-didat platziert werden sollte. Der aber ließ sich nicht zurechtstellen, sondern griff Krenleitner jäh mit einem Schwinger an. Der schlug gegen die Bettkante, und erst als er sich wieder aufrichtete, bemerkten die Kameraleute, dass es beide es ernst meinten.
„Weiterdrehen !“ rief Schlossarek. „Kein Schnitt !“
Er half Krenleitner auf. Aber der stand nicht lange.
„Verlängerung !“ Diesmal half Marille ihm wieder auf die Beine.
„Wo er doch die selbe Gewichtsklasse hat als wia du…“
Und küsste ihren Vater auf den Mund. Diesmal kam Krenleitner nicht mehr zu sich.
„Da liegt er, der Versager“ sagte Marille. Die erste Kamera bekam es nicht sogleich mit, weil sie auf Krenleitner blutigen Mund gerichtet war. Marille musste es noch einmal sagen.
„Versager ! Und mit Versagern gehört aufgeräumt. Hat mein Papa mir beigebracht.“
Sie sprach das Papa mit vier weichen Bs aus, wie es eine Vierjährige tut.

„Kreni, wir kommen !“
Ein Blasorchester spielte den Tölzer Schützenmarsch. Die Menge grölte darüber hinweg “So ein Tag, so wunderschön wie heute….“
Der Rundfunkreporter, es war Himmelmeyer, berichtete für die die nicht mehr auf den Platz passten :“ Wow ! Das haut rein ! Sie kriegens ja selber mit, liebe Hörerinnen und Hörer, die Sie sich eben erst zuge-schaltet haben - das ist nicht Atmo Fußballstadion, was hier brodelt, das ist nicht platter Sport-Enthusiasmus wie bei einem x-beliebigen Auf-stiegsspiel… das ist die geballte Stimmkraft der Nation, das ist das Extremste an Klanggewalt, was sich hier zusammen gefunden hat. So um die 20 000 bis 24 000 sind es laut Auskunft des Veranstalters die sich hier auf dem Marienplatz versammelt haben, und mit Ihnen, liebe Hörer der angeschlossenen Sender - mit Ihnen da draußen geht es locker in die Millionen around the world. Im Brennpunkt des Geschehens erkennt man jetzt hier auf der Ehrentribüne die Spitzen der Monarchie und der Industrie, der Landsmannschaften, die Geistlichkeit, den österreichischen Bundeskanzler im launig-angeregten Gespräch mit dem chinesischen Botschafter - und da ! Da bahnt sich gerade eine Furt durch die hoch-gestimmten Massen …eine Abteilung Burschenschaftler bildet stramm Spalier, mit gezogenem blankem Degen, und...er kommt ! Er ist es ! Er zieht ein ! Durch die zehntausende, die seinetwegen hier zusam-mengeströmt sind ...Hände, hunderte von Händen recken sich ihm entgegen...wie süchtig nach seiner Berührung...Kinder werden ihm auf die Schultern gehoben...Säuglinge, kaum zwei, drei Tage alt...-Herz-zerreißendes spielt sich da ab...viele versuchen gar ihn zu küssen.. es ist unsagbar, es ist unbeschreibbar... Monsignore Zirngibl breitet die Arme aus, er steht bereits auf dem Podium, und der Kandidat fliegt mehr die Stufen hinauf als dass er springt...er stolpert... der Monsignore fängt ihn auf, er stützt ihn, und da steht er nun im gleißenden Sonnenlicht überwölbt vom sprichwörtlich weißblauen Himmel, der sich heut ganz besonders herausgeputzt hat... und der Kandidat , ein Bild von einem Mannsbild, ist kein anderer als der landesweit bekannte Krenleitner.“
„Kreni, wir kommen !“
„Fähnchen und Wimpel werden für ihn geschwenkt, Konfetti fliegt von überallher, Primeln und Glockenblumen verfangen sich in seinen blonden Locken, streifen wie liebkosend sein Gesicht, streifen an seinen muskulösen Beinen entlang nieder auf den Bretterboden des Podiums, so dass er in einem Berg von Blüten steht ..ein Bild ! Ein Bild ! Das nur mit dem Herzen so recht aufgenommen werden kann. Und nun spricht der Monsignore – „
“Du unser aller Bruder du –„
„Und der Monsignore….er legt nun beide Arme um ihn…“
„Deducant te angeli –„
„ -und die Glocken des Domes Unserer Lieben Frau beginnen nun in die ergriffene Stille hinein zu läuten –„
„- et perducant te –„
„ - und jetzt erschallen auch die Glocken von Sankt Peter –„
„- chorus angelorum te suspiciat“
„- und nun alle...alle anderen Glocken der Stadt...ein Schwingen in der Luft ! Ein Schwingen,das sich hineinschwingt in die Gemüter der zehntausende –„
„- exsolvatus etiam pro nobis –„
„Und der Monsignore geleitet den Kandidaten, geleitet Krenleitner jetzt zu dem gewaltigen goldenen Trichter, der auf dem Podium aufragt vor der gotischen Rathausfassade, dem Trichter, der die mächtige Inschrift trägt KRENLEITNER'S TARGET... un-endlich behutsam schiebt der Monsignore den Kandidaten in die Mitte des Trichters in diesen Krater aus Gold...gebannt lassen die zehntausende ihre Arme sinken, ihre Fähnchen, Wimpel, Blumensträuße...“
„Adiuva nos, domine, delere eum. Amen.“
„Und AMEN wiederholt die Menge. Und mit diesem Amen, diesem A, das da steht für allen Anfang, für alles, was da an Glückhaftem kommen soll – mit diesem A holen alle Atem…holen die zehntausende Atem…“
“Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaah...
„Und sie lassen Sauerstoff in ihre Lungen strömen. Eine Brise wie draußen auf der hohen See...
„Seid ihr gefüllt,meine Brüder,meine Schwestern ?“ rief der Monsignore über den Platz hin. Und die Menge summte Zustimmung.
“Dann bekenne, mein Sohn Krenleitner dass du ein Versager bis gemäß deinen eigenen Anspruchen und dass du es verdienst, ins Nichts befördert zu werden…
Anwachsendes Schreien deckt ihn zu Brüllsturm
„In Worte nicht mehr zu fassen, was in den Gesichtern hier ringsum vorgeht...sie verlieren alles Menschenähnliche... wie die Gesichter sich verzerren...wie sie zerfließen...wie sie sich aufwulsten,aufblähen zu Blasebälgen - zu tiefroten, gedunsenen, schweißigen Blasebälgen - nur noch Stimme sind sie, Schrei, Gebrüll...und der Trichter aus Gold da oben vervielfacht das ins Unermeßliche - Er wird gebeutelt,wie von einem Orkan hin und hergerissen...eine Windhose aus Geschrei zerreißt dem da oben die Trommelfelle... Das Geschrei der Menge steigert sich zu einem unerträglich spitzem Ton. Der Kandidat schreit grell. Der Ton überschlägt sich ins…

„So hab ich nich mal gebrüllt damals bei Schalke gegen Hannover 96, beim Foul in der zweiten Halbzeit, total heiser bin ich da nach Hause gekommen...aber diesmal…“
„Wie da dem sein Gehirn weggespritzt is, hättet ihr ma sehn sollen ! Einzig von was ? Von meinem Gebrüll !“
„Du brüllst alles raus, was säuisch is in dir..und das hängt wie 'n Riesen-Furz vor dir in der Luft, und du brüllst weiter, und davon wirds mit einem Mal zum Sturm..“
„Aber was da röhrt aus meinem Schlund is nicht mein geringes Etwas sondern eins zu eins Gottes Stimme !“
Es posaunt durch mich der Allmächtige um den Abschaum aus der Welt zu tilgen durch mich den geringsten seiner Söhne ich bin seine Stimme geworden ich bin sein Sturm geworden

“Sie haben Ihre Mission picobello erfüllt amal wieder„ sagte Krenleitner zum Monsignore, als sie nach getaner Arbeit unter den Linden in Krenleitners Garten saßen.
„Eine Einschaltquote von 87 Prozent!“ lächelte der Monsignore.
„Und zum krönenden Abschluss“ lächelte Krenleitner zurück „jetz no den Traum von einem Johannisbeergelee ! Eingekocht von meinem Töch-terl eigenhändig“.
Lebend gern, lächelte der Monsignore, greife er da zu. Die Ehre sei ganz auf ihrer Seite, lächelte Marille. Und auch ihr Papa, der Babba, langte zu.
„Immer nach einer von meinen Hinrichtungen steigen die Krenleitner-Aktien um sieben bis neun Punkte. Aber diesmal sind sie sogar naufkra-xelt um sage und schreibe elfeinhalb Punkte. Elfeinhalb !
Weil er eben solide Ware liefere, lächelte der Monsignore, das Johan-nisbeergelee auf der Zunge. Mit Spannungsmomenten noch im letzten Moment.
„Das war Marilles Idee mit dem Kidnapping. Nehmen Sie noch von ihrem Gelee.“
Respekt Respekt, lächelte der Monsignore, das Töchterl wächst kon-genial ins Metier des Babba hinein.
„Aber a jedes Mal kommt mir vorher ein Angsttraum : ich bin es selber der zerblasen und zerschrien wird…“
Der Monsignore konnte sich lassen vor Lachen.
„Oh oh Opferlamm! Sie sollten sich dringend einem Beichtvater anvertrauen.“
Das Gelee spritzte von seiner Zunge übers Tischtuch.
„Das Volk hat das Recht auf seinen ganz großen Abschaum.“
„Legen Sie die Hand auf meinen Bauch, Monsignore“ lächelte Marielle, die Johannisbeereinkocherin, und führte dem geistlichen Herrn die Hand.
„Ein kleiner Erdenbürger strampelt schon bald da drin.“
„Einer kommt, ein andrer muss dafür weg. Die Plätze an der Sonne sind knapp.“
„Und er wird ein echter Krenleitner und getauft nach mir. Weil, von mir erbt er das Durchsetzerische von Haus aus, die hundertprozentige Witterung für das, was totsicher ist.“

contemporary is beim Volksganzen.
„Und von seinem Vater“ grinste Marille „erbt er nix ?“
„Das Boxerische. Den linken Haken. Den rechten Haken Das er-gibt…Schlossarek !“
Krenleitner, der Bäckergeselle, war wieder einmal um den schnit-tigfeinen Ausdruck verlegen, und Schlossarek musste einspringen.
„Das ergibt eine wechselseitige Steigerung hochwertigster Gene.“
„Da hören Sie’s. Und das mit einem Schwiegersohn, der mir nimmer in der Firma rumlungern kann.“

Auf der Heimreise fuhren sie wie Sieger in einer langen Reihe hintereinander. Alle ihre Caravans auf der Mittelspur, und man hütete sich sie weg zu hupen. Denn wer so triumphal die Autobahn bean-spruchte konnte nur von dem Richtplatz zurück kehren, an dem mit Stimm- und Lungenkraft das Übel aus der Welt geschafft worden war. Aber das Übel würde neu angreifen, es war allgegenwärtig, wer seine Kraft einmal eingesetzt hatte bis an den Rand seiner Leistungsfähigkeit, dem oblag auch weiterhin Verantwortung. In den Wagen, die heim-kehrten ins Münsterländische und Vorpommersche wurden die Kandi-daten für die nächste Selbstreinigung besprochen. Das sind wir denen schuldig im Königreich dass wir uns vollbringen wenn sie uns schon einbinden als Fremde. Eigene Listen wurden erstellt, penibel durch-nummeriert. Wenn denen die Delinquenten ausgehn im Königreich müssen wir anrücken mit unseren. Nummer 0314 beispielsweise ist fällig. Die soziale Treppe runtergestoßen ohne Verschulden, obdachlos, Tankstellenüberfall. Wer sich einfach so runterstoßen lässt der ist schon lebensunwert. Nummer 0315. Achtmal Kindsmissbrauch in der Woche sind bei ihm Schnitt. Bei keinem überführt. Aber man merkts seinem Sohn doch an, weil er ist mein Nachbar. Nummer 0316. Arbeitslosengeld erschlichen. Nummer 0317 –
„Aber sag mal wenns einen selber trifft, dann kann man sich doch auch einliefern.“
„Dann biste ein Freiwilliger und kriegst noch Ruhm extra.“
„Und das zur besten Sendezeit.“
„Von was sollen wir denn leben wenn wir nicht sterben dürfen.“
„So ein Tag, so wunderschön wie heute / so ein Tag, der sollte nie vergehn...
„Kreni, wir kommen !“

Nun saßen sie in der Schaukel. Auch Haberstock hatte sich dazu gesellt. Es war still in der Residenzstadt, und das Publikum der Großen Selbstreinigung abgerückt. Sie genossen den Abend unter den Linden.
Deducant te angeli et perducant te chorus angelorum te suspiciat.
„Was heißtn das eigentlich, Monsignore ?“
„Die Engelsscharen lauern schon auf dich, Bürscherl“ lachte der Monsignore über seine Zigarre hinweg. „Ein schönes Empfangskomitee für einen werdenden Papa !“
Nur Krenleitner lachte nicht mit.
„Und adiuva nos domine delere eum, das heißt hilf uns o Herr ihn auszutilgen. Das hat schon eine sakrisch apokalyptische Dynamik. Das ist ganz große Oper. Das ist mehr als Oper. Tausendstimmig. Zehntausend-stimmig : ins Vakuum mit ihm !
„Vakuum, Hochwürden“ wandte Schlossarek, der Getreue, ein, “kommt in der Bibel nicht vor“.
„Aber es wird dortselbst gesagt Ich will meine Feinde zerstoßen zu Staub der Erde . Ätsch !"
„Zweites Buch Samuel“ ergänzte Haberstock“ Kapitel 22,Vers 43.“ " - und sie zerstäuben und zertreten."
„Zerstäuben !“ Haberstock griff zu.“Der springende Punkt. Bei diesem Verfahren hinterbleibt ungebührlich viel Rückstand.“
„Rückstand - ?“ verwunderten sich die anderen.
„Winzigste Reste, Partikelchen“ dozierte Haberstock und war nun ganz Professor. “Jedermann schleppt den Delinquenten atomisiert mit Mil-lionen sich ins traute Heim. Moleküle, lassen Sie sich das von einem Na-turwissenschaftler sagen, die in ungezählte Organismen eindringen, sich festsetzen als Mikroteilchen in den Schleimhäuten festsetzen, als Seu-chenkeime weiterschwären in den Seelen von hunderttausenden. Die wiederum Millionen infizieren, durchschimmeln, durchseuchen, Miriaden zu Schädlingen verfaulen lassen, die nun ihrerseits schleunigst zur Liqui-dierung anstehen. Ist es das,was Sie bezwecken ?“
Krenleitner war überfordert und blickte auf seinen Schlossarek, aber der sah den Schwalben zu. Der Monsignore musste sich ins Zeug werfen.
„Aber es war doch Gott höchstpersönlich, der bei Samuel vom Zerstäu-ben spricht !“
„Soll er doch !“ Nun war auch Schlossarek, der Getreue, auf dem Sprung.“ Aber erst im System Krenleitner –„
„Patientiert fei in alle EG-Staaten !“ strahlte der.
„ - erst im System Krenleitner wird die Austilgung des Sozialschädlichen ins restlos Vollkommene getrieben. Restlos voll wörtlich zu nehmen. Woraus schlagend folgt : Krenleitner ist Ihrem Bibelgott um Längen vo-raus.“
„Technisch wie moralisch“ grinste abschließend Krenleitner und Es war an der Zeit, die kühl gewordnen Münder mit Cognac zu erwärmen. Man erhob sich, um die goldene Muschel zu bewundern, die nun von Scheinwerfern erhellt, in der Innenstadt glühte. Die Türme des Marien-doms ragten dahinter auf wie zwei Schwurfinger. Oder wie zwei Hasen-ohren.
„Ich verrats Ihnen unter dem Siegel vom allerheiligsten Beichtge-heimnis“ flüsterte der Monsignore Haberstock zu, in dem Beichstuhl-Ton, der sich dazu schickte, “das Kind das Marille erwartet ist gar nicht vom Kandidaten. Das ist von ihm selber.“
„Das hab ich seinen eigenen Worten bereits entnommen, Rabbi“ lä-chelte Haberstock bös und schlenzte den Cognac zwischen den Ritter-sporn, denn er war ein mit sich sehr gestrenger Abstinenzler.
„Dafür gibt er mir den nächsten Kandidaten ab. Bei dem Maische-Hallodri hat‘s mir schon lang viel zu arg gemitmenschelt.“
Gemeinschaftlich freuten sie sich über die Nacktschnecken, die sich an den Cognactropfen gütlich taten. Sie hatten sie gut im Blick, denn um die goldene Muschel herum begann zum Tagesausklang ein Feuerwerk und spendete festliches Licht.

18. Kapitel
Hinfort wird keine Zeit mehr sein, schreibt der Evangelist Johannes in seiner Geheimen Offenbarung im 10. Kapitel im 6.Vers.

Ich der Untermessliche genieße es, dass das Reserl wie ein Hem-denmatz auf meinem kleinen Finger sitzt.
Hoppe-hoppe-Reiter !
Das mollige Reiterchen hat seine Kindheit auf mir verbracht. Meine Livree mit ihren tausend Taschen, Abnähern und Knöpfen war die Landschaft die sie als erste durchstreifte lange bevor sie die Landschaften da draußen kennenlernte mit ihren Flüssen und Bäumen. Ich war ihre Stadt und ihr Gebirge ehe sie wirkliche Städte erlebte und wirkliche Gebirge. Ich war ihr Spielzeug, ihr Schiff und ihr Zeppelin, und wenn sie von mir abgestiegen war, hat sie ein anderes Leben geführt. Ein fremderes als wenn sie auf mir ritt und reiste.
Ich strecke den kleinen Finger meiner Hand aus, um sie draufklettern zu lassen. Und ich freue mich über ihr Lächeln, wenn sie auf meinem Fingernagel rittlings voran rutscht. Vertrauensvoll freihändig, weil sie weiß, dass ich wie seit ihren frühesten Kindertagen meine andere Hand unter sie halten werde. Ihr Gerstl Hansi, an meinem Ärmelsaum fest-geklammert, sieht bänglich zu, wie sie herumturnt. Ein properer Bursch, und er ist noch properer dadurch dass er vor Eifer bbt es zum Prinzgemahl zu bringen. Aber kommt ihm seine Prinzessin vor wie eine Hochseilartistin und er ist tief unten der Stallbursch und nicht schwindelfrei, und seine sonst immerzu roten Ohren sind auf einmal weißlich. Schäm dich, Bub ! Du hast dir ein Wagestück vorgenommen, dann kehr auch den Schneidigen heraus ! Und um seine Eifersucht zu wecken, streiche ich dem Reserl mit dem Ballen des rechten kleinen Fingers über den Hintern. Hansis Ohren werden nun wieder rot, schneidig rot, wie es sich gehört für einen, der sich in meiner Livree längst schon Quartier besorgt hat und seinen Namen in meine Bauchhaut eingeschnitten, und all seine anderen Kumpane habens im gleichgetan. BETZMEIER FRANZ FREIKORPS GERSTL, PITTRICH SCHORSCH FREIKORPS GERSTL, BETZMEIR LUDWIG FREIKORPS GERSTL, BETZMEIR UWE FREI..bis ihnen die Messer stumpf wurden. Denn meine Haut ist hart.
Freikorps, dass ich nicht lache. Eine Bubenbande von Krankenpfle-gebürschchen, die eben erst hat gewahr geworden sind welche Kräfte in ihnen nisten ohne dass sie es geahnt haben. In ihnen, den scho-nungsvollen Leisetreter, die niemals die Stimme erheben durften wenn sie ihre siechen Greise vor sich herschoben, haben jüngst mit ihrer Stimmgewalt auf dem Marienplatz Krenleitner, den Bierbaron ins Nichts gebrüllt. Nicht sie allein haben ihn zerbrüllt, aber das verkleinert nicht ihr Triumphgefühl. Ihr Solarplexus schwingt immer noch davon, ihre Lungen brüllen immer noch, und sie schütten in meiner Livree so viel von Krenleitners Bier darüber dass es ihnen scheint der Schaum davon steige ihnen aus Mund und Ohren. Und nach dieser Großtat werden sie eine weitere vollbringen, nach noch einer Halben Bier und noch einer, und die Residenz mit ihren Flinten aus dem Schützenverein erstürmen. Und kein Pardon geben. Und sie sind in ihren Räuschen gewiss dass ich sie getreulich zu ihrem Kampfeinsatz trage.
Der Gerstl sitzt rittlings hinter seinem Reserl, zwei große Kinder auf meinem kleinen Finger. Ich strecke ihn weit in die Nacht hinaus, während ich voranschreite.

Der Historischen Kommission wird solche Vorzugsbehandlung nicht zuteil. Sie muss mühsam zwischen den nackten Zehen des Riesen hindurch klettern wie durch gnadenlose, wenn auch rußlose Kamine. An den Lichtstreifen ihrer Taschenlampen entlang tasten sich die Kom-misionisten durch den Wald. Der Hauptlehrer erspart es ihnen diesmal die Pilze zu benennen, er hat bei der Ins-Nichts-Schreiung Krenleitners seine Stimmbänder überanstrengt, aber die Pilze senken sich trotzdem gehor-sam vor ihnen. In der Tiefe angelangt, empfängt sie auch diesmal wieder der Gnom und zieht seinen Dreispitz.
„Unsäglich, der Kerl“.
Die Kapazitäten der historischen Wissenschaften erwidern den Gruß nicht.
„Dreist.“
„Bodenlos.“
„Geschmacklos. Wie ein billiger Cicerone, der auf Touristen lau-ert.“
„Als angemaßter Gigant der Kunstgeschichte.“
„Gigant ! Mit seinen jämmerlichen paar Dezimetern !“
Der Gnom dienert, macht einen Kratzfuß und hält einen ge-schnitzten Türflügel auf.
„Sie werden finden, messieursdames, was Sie zu finden wünschen.“
Die Baronesse schmatzt dem Gnom einen Kuss auf die Nase, als sie an ihm vorbei ins Innere geht. Mit wiegenden Hüften. Diesmal wird Weichslgartner sie nicht unbeaufsichtigt lassen, auch wenn die geschni-tzte Tür respektlos vor ihm zugeschlagen wird. Er stemmt sich dagegen, er kämpft gegen so viel achtzehntes Jahrhundert, nach ihm auch Haselwanter, denn der kann wiederum Weichslgartner nicht unbeauf-sichtigt lassen, und Mittermayer nicht die beiden anderen. Die Tür ist den dreien gefällig mit all ihrem Schnitzwerk und mit einem belustigten Stöhnen, als wisse dass sie zum erstenmal zusammen durch eine Öffnung gegangen sind. Durch welche auch immer.
“Sie werden finden was Sie zu finden wünschen.“
Das Reserl folgt dem Gnom überall hin, denn stets führte er sie zu Überraschungen die er eigens für sie versteckt hatte. Früher sind es Baumhäuser gewesen oder Wippschaukeln oder Sandburgen, bewohnt von Stallhasen oder ein Maskenfest mitten im Sommer. Dabei ist dieses früher noch gar eingetreten, denn wenn sie ihm auch schneller als sie befürchtete über den Kopf gewachsen ist, sind sie Spielfreunde geblieben. Allein der Gnom weiß jetzt wie damals welche Juxerei sie sich ersehnte wenn das Hofzeremoniell sie wieder einmal ödete. Hinter einem Paravent war sie bereits aufgebaut, aus seiner Fantasie in die Realität von Schwungrädern, Seifenblasen und Klingelglöckchen verwandelt, und sie machten sich beide daran sie einzuweihen, während vorne die Hof-chargen mit verknitterten Gesichtern weiter ihren Dienst tun mussten und ihr Gequietsche zu überhören versuchten.
In den Gemächern die der Gnom nun für sie bestimmt hat, erwarten sie Brummkreisel und Bauklötzer und die vollzählige Sippschaft ihrer beam-teten Teddybären. Die sich heute verschüchtert gibt, denn es ist ihnen vornehmer Besuch hereingeschneit, Erzherzöge und Kronprinzen und Erbprinzen. Alle rosenwangig und mit angestrengten Gesichtern, denn Mission ist heikel. Sie sollen das Reserl heimführen an ihren jeweiligen Hof und zu ihrer gekrönten Gemahlin machen. Aber keiner der Freier bringt ein Wort heraus vor lauter blaublütiger Wohlerzogenheit, und ragt dabei nicht höher auf als bis zum zweiten Westenknopf des Gnoms, manierlich frisiert und mit treuherzigen Glasaugen. Einem jeden wurde reichlich Garderobe mitgegeben, und dazu ein eigener Schrankkoffer der wiederum ihn selbst, den Gnom und sogar das Reserl hoch überragt. Sie allein ist berufen, die Herren Bewerber einzukleiden je nach Rang und Jahreszeit und festlichem Anlass. Soll sie diesem da das Jawort geben, dem sie gerade in den Jagdanzug hilft ? Was hat er doch für robuste Ärmchen ! Und dabei keinerlei Brusthaar, wie sie es bei Männern immer erschreckte. Oder jenem, dessen Parade-Uniform ganz in Weiß gehalten ist, der Farbe seines Leibregiments und er ist Ehren-Oberst trotz seiner jungen Jahre. Oder soll sie sich mit dem Schnurrbärtigen verloben, zumindest fürs erste, dem da ein Reitdress beigegeben wurde mit gespornten Stiefelchen ? Hinwiederum, die will er sich nicht anziehen lassen, er besteht auf Schlittschuhstiefeln, und der Ehrenoberst will seinen Helm nicht umgeschnallt kriegen, dem stolzen Federschmuck zum Trotz, und dem mit dem Jägeranzug sind die Ärmel zu eng geworden, er ist heimlich gewachsen womöglich, und der Schnurrbärtige will sich nur von Mama in die Hosen helfen lassen.
Da wird es dem Reserl bewusst, dass hinter all den stolzen Freiern Schwiegermütter hervor äugen. Denen das Reserl sich nicht ausliefern will, denn sie hat selbst eine Mutter im Nacken, die ihren Regentengatten zu einem stumm gewordenen Zupfi herunter regiert hat.
Auch für solche Momente des Zweifels hat ihr Jugendfreund, der Gnom vorgesorgt. Er hat ihr Schokoladendepots eingerichtet, wo immer sie ihr Hinterteil niederplumpsen lässt, und sie kann zugreifen ohne hinzusehen, vom Likör-Praliné bis zum Nougatstern ist alles vorhanden, sie darf weidlich schlecken und lutschen, ohne dass ihre Regentenmutter sie zum abermalsten Mal rügt wegen der Kakaoflecken. Kakaoflecken auf der Garderobe sind keine Sudelei mehr in dieser ihrer Hofhaltung, auch das hat der Gnom vorausgedacht, sie schmücken das Schweinderl, das sich bekleckert hat wie ein Orden, und es bedarf nicht einmal mehr eines Seidenbands wie ein richtiger Orden, weil der Fleck auf dem feinen Aufputz für sich selbst spricht und strahlt als hätte er sechs goldene Sterne wie der pour le mérite. Das Kleckerschweinderl darf, hoch deko-riert, stolz zwischen langweilig Sauberen sitzen mit brauner Schmierage auf Mündchen und Husarenuniform und mit noch süßerer Hoffnung im Herzen, vom Reserl erhört zu werden.
Und sonntags werden alle die zierlichen Herrleins im Halbrund auf Kissen gesetzt und Reserl zieht vor ihnen den Vorhang ihres Theaters auf. Die Schauspieler sind sehr gefügig, denn ihre Köpfe sind holz-geschnitzt. Der Gnom führt den Kasperl Larifari und die Schwieger-mutter, und es treten wiederum Freier auf, fast nichts als Freier. Das Krokodil verschlingt diesen und jenen, das Krokodil hat beständig Appetit auf Freier wie das Reserl auf Schokolade. Das tut der Auslese gut und ist possierlicher anzusehen als die anstrengende Schießerei des Odysseus auf die Bewerber der Penelope, und wer schon ist hier so kräftig, um immer wieder den Flitzebogen zu spannen. Dann wieder ohrfeigt das Reserl das Krokodil, weil es gefräßig ist wie das Reserl selbst, dann wieder ohrfeigt sie einen Freier, weil der zudringlich wird und ihr mit seinen Glasaugen in den Ausschnitt lugt. Immer klein-wüchsiger werden die Darsteller, sind bald nur noch Fingerpuppen, benagte Nougatstängel mit Gesichtern, und der Gnom erscheint neben ihnen als Riese. So gerät das Reserl immer mehr ins Zwergische, ihr Uterus zieht sich zusammen, ihre Vagina auch, und niemand kann mehr von ihr fordern wovor sie sich so sehr fürchtet : Thronfolger und Prinzes-sinnen zu werfen wie eine Zuchthündin.
Die Rebellenarmee torkelt.
Aber wer überrannt wird, bemerkt das Torkeln ohnehin nicht, sondern liegt mit zerschmettertem Schädel und die Stiefel der Siegreichen zertrampeln ihm Gesicht und Rippen. Nur der Kom-mandeur der Rebellen bemerkt verbittert das Torkeln. Sieger haben nicht zu torkeln. Aber was sind das für Rebellen, die auf einen Kommandeur hören, wo sie doch gegen die da oben überhaupt zu Felde ziehen, ratzebutz radikal gegan alle de da drobn, und wer über ihre Besoffenheit nörgelt, der ist auch einer von denen da droben und kann noch von Glück sagen, wenn sie ihn nur beiseite schieben, wie jetzt ihren Anführer, den Gerstl Hansi, für den sie die Residenz erstürmen sollen.
„Aber des is doch gar net de Residenz !“ brüllt der Gerstl.
Und ob das die Residenz ist, sie kennen sie alle aus dem ff, von ihren Besuchen im nahen Hofbräuhaus her, und da sind sie noch ganz anders getorkelt und es war trotzdem die Residenz. Und wie heraus-fordernd das große Tor da sie angrinst, weil es sich sicher glaubt zwischen den beiden wachhabenden Löwen ! Die erzenen Viecher stehen wie zwei Eckzähne, bedroht werden die Oberländer Buben also auch noch, ein solches Tor gehört zermalmt und verkleinholzt. Darum rüsten sie die Fahnenstange um, die sie mitgebracht haben damit sie dem Gerstl Hansi eine Standarte dran hissen, und nun muss sie als Rammbalken herhalten. Und sie rammen, torkelnd. Der dumpfe Ton den sie dabei verursachen bringt ihre Gehirne zum Dröhnen und das Bier darin zum Schäumen, und unter ihrem Ansturm wird gleich die ganze Residenz zusammenbrechen, und nur der Bierschaum wird sie retten vor dem Erschlagenwerden.
Da öffnet sich das Tor, und an der alleruntersten Kante schaut der Gnom heraus.
„Sie werden finden was Sie zu finden wünschen.“
Durch den Anlauf den sie genommen haben, reißt der Baumstamm sie mit fort und hinein, nur der Gerstl Hansi ist nicht so geschwind wie der Baumstamm, an dem doch seine Standarte flattern sollte. Der Gnom tritt zuvorkommend zur Seite. Que dommage, ein Putschkönig ohne eine Putscharmee, die ihm auch gehorcht ist eine betrübliche Gestalt, und wo hat er seine Putschprinzessin gelassen, das Reserl ? Beim ersten Besuch in der Residenz konnte der Hansi noch den roten Horsti vor sich herschieben als Schutzwand auf Gummirädern, da musste er sich gar so fremd und ausgesetzt fühlen wie jetzt, wo die bunten Völkerschaften der Besucher nicht da mehr sind, die Herolde, und der Riese der durch den Plafond hereinsah, die Geparden und Quadrilletänzer. Davon ist nur der Gnom geblieben. Der den Finger auf den Mund legt.
„Sie werden finden was Sie nicht erwartet haben. Sie werden selbst erwartet.“
Da ist der Gerstl gewiss, dass der Gnom eingeweiht ist, und dass der alte Spieleinfädler auch das Spiel des Gerstl Hansi bestens eingefädelt hat. Er sieht sich schon auf einem Thron sitzen, den der Gnom für ihn hat aufstellen lassen, mit fünf Stufen davor und Scheinwerfern drum herum und seine Oberländer Raufgesellen haben inzwischen den Sieg für ihn erfochten ohne dass der Hansi sich eine Schramme zugezogen hätte, sonst fußelte der Hofzwerg jetzt nicht so eilfertig an seiner Seite. Seine Getreuen werden ihn erwarten, salu-tierend, nun wieder ausgenüchtert, und das Reserl wird ihn mit zwei Küssen auf beide Backen im eigenen Hause willkommen heißen. Im eigenen Heim, der Residenz.
Es ist blendend hell, wo der Gnom ihn hinführt. Ein kleiner Garten, in der Mitte ein Gingkobaum.
„Ihr Schüler ist da, Madame“.
Die Regentin sitzt auf einer Recamière, im Schatten, luftig gekleidet. Er muss neben ihr aufs Polster.
„Und hast du die Fibel auch dabei ?“
Á vôtre service, der Gnom hat die Fibel dabei. Er zieht sie aus seiner Redingote hervor, aus einer Tasche am Gesäß. Was mag das für ein Buch sein, denkt der Hansi, das als Arschpolster dient, dazu schwarz wie ein Pfarrersrock, und auf der Vorderseite ist ihm ein Kreuz eingeprägt.
„Beaucoup de plaisir a tout le deux“ kratzfußt der Gnom und ist schon davon.
„Bub, pass fein auf. Ich lern dir was.““
Sie schlägt das Buch so kundig auf wie etwas Altbekanntes. Und gluckst.
„Zieh deine Socken aus“ lächelt sie, „ist doch eh schon warm genug“, und während sie ins Buch schaut, knubbelt sie Hansis Füße.
„Ah ! Was für ein stahlhartes Sprunggelenk. Und was für starke Sehnen. Das lässt auf allerhand Potenz schließen.“
„Aber das…das was Sie meinen…“ der Hansi bringt den terminus technicus nicht über die Lippen, in Gegenwart der Landesmutter „…das befindet sich doch gar net da drunten.“
„Aber an den Fußsohlen spürt mans.“
Dem Gerstl Hansi schießt Rot ins Gesicht. Vielleicht Rot in sein Glied.
„Und das steht da in Ihrem Buch ?“
Aber wo der Bub denn hindenkt ! Als das in Buchstaben aus-drückbar wäre.
„Schau doch selber.“
Zuerst erkennt er nichts, weil die Schatten des Gingkobaumes über die Seiten huschen. Als sie ihm das Buch in die Hand gibt, erkennt er noch immer nichts, denn was da dargestellt sein soll, es ist zu alter-tümlich gezeichnet. Auch wenn die Regentin ihm erklärt das seien Illustrationen zum Hohen Lied. Er weiß nicht was das Hohe Lied ist, weiß nichts von Wie Davids Turm dein Hals und deine zwei Brüste wie zwei Kitzchen dein Schoß ein tiefer Kelch. Aber das alles ist im Bilde dargestellt. Altertümlich, aber es ist da. Und als wären die Verfasser selbst erschrocken, ist das Buch mittendrin, auf Seite siebzehn nämlich erst, der Allerheiligsten Jungfrau Maria gewidmet.
„Für den Fall, weißt, dass ein Lutherischer es in die Hand kriegt.“
Damit der erschrickt und es aus der Hand legt wie einen erhitzten Kieselstein.
„So entgeht ihm Seite achtzehn. Schau.“
Als sie ihm die Seite hinhält, schießt Hansi schon wieder Rot ins Gesicht. Wie es sich gehört bei dieser Lektüre. Liber positorum. Das Buch der Stellungen. Erdacht von einem Mönch in Herrenchiemsee ums Jahr 1260. Man kennt seinen Namen nicht, denn der Abt hat ihn ausgetilgt und sämtlichen libri positorum derer er habhaft werden den Ofen beheizt, es war ohnehin grade Januar. Ein einziges Exemplar freilich ist ihm entschlüpft, ein Fischer hatte es hinüber gerudert zu seiner Liebsten, Novizin im ehrwürdigen Kloster der Benediktine-rinnen auf der Nachbarinsel. Wo die frommen Schwestern sich sogleich ans Abschreiben machten und namentlich ans Abmalen. So konnten bald schon die Kapläne, die jüngeren vor allem, ihren Pfarrschäfchen, die hilfreichen Bilder vorlegen : hast du dieses verübt oder jenes ? Hilfreich insbesondere, wenn die Beichtkinder die Be-namsungen nicht wussten für die Übungen die sie bereits vollführt oder noch vor sich hatten. Und die nun bestrebt waren, den wüsten Bildern, die Beichtväter ihnen gewiesen hatten noch wüster nach-zueifern.
Die Regentin muss das Buch mehrfach um seine Achse drehen, bis dem Hansi aufgeht, was die Bilder zeigen. Wenn er es verstanden hat, wird er rot.
„Aber Bub, du verwandest dich ja no ganz in a Radiserl. Für die rote Farb wird einer bloß anfällig, weil er zu lang keusch g’wesen is.“
Das will der Hansi nicht auf sich sitzen lassen. Und wie er unkeusch gewesen ist. Mit ihrer Tochter Reserl !
„Aber Büberl, doch net mit so einem minderjährigen Marzipan-mauserl…“
Nun wird er erst echt rot. Traudl erregt die neue Röte so heftig, dass sie die Fibel hinter sich wirft und von Hansi Besitz ergreift. Nach dem ersten Samenschuß reißt sie ein Blatt vom Gingko und klebt es dem Hansi auf die Nase. Als die beiden vollends erschöpft sind und bäuchlings im Gras liegen ( das Fauteuil hatte für ihren Tatendrang nicht mehr ausgereicht ) kommen Ziegen aus dem Laubengang ge-schlendert und lecken ihnen die Hinterbacken mit rauen aber zärt-lichen Zungen. Ihr Gemecker klingt nicht hämisch, es klingt wie Lob auf ziegisch.
Hansi hat vier Gingkoblätter auf der Nase. Die Ziegen lassen sie un-beknabbert.

Die U-Bahnwächter sind auf keine Palastgarde gestoßen. Die Ausru-fung ihres Amplinger zum Monarchen hatten sie sich unbandig ausge-malt, als unbandiges Mordsspektakel, sie hätten den guten, viel zu bescheidenen Alten auf ihre Schultern gehoben und im Laufschritt durch die Prunkflure und Säle getragen, ein Fenster im obersten Stockwerk aufgestoßen und das Volk hätte ihm zujubeln müssen. Und damit auch ihnen. Und wäre kein Volk zur Hand gewesen, sie hätten schon eins zusammengetrieben, und in ihrem Schwitzkasten hätte es gejubelt bis zur Atemlosigkeit, hätte gebarmt dass es nochmal jubeln darf und nochmal..
Hätte. Hätte. Hätte. Aber nun ist nicht einmal eine Residenzwache da, die wimmernd an den Wänden kauert, sich die Schienbeine reibt und ver-sucht sich die abgeschlagenen Nasen wieder aufzusetzen. Gesiegthaben ist langweilig ohne Besiegte und schon gar ohne Verwundete. So reißen sie die Schwerter und Degen von den Wänden, zersäbeln die Luft, ereifern sich immer mehr darüber dass sich da kein fremdes Fleisch in den Weg stellt zum Zersäbeln, keine gegnerischen Hälse, Bäuche, Vi-sagen, und ihre angestaute Wut tobt sich an Kristalllüstern und Sitzpolstern aus.
Der falsche Schlachtlärm ruft einen Winzling auf den Plan, der so herr-scherlich bestimmt zwischen sie tritt, dass sie sogleich ihre Waffen sinken lassen.
„Mes enfants ! Au positition !“
Überrumpelung. Überraschung. Respekt. Der Winzling steht mit ge-zücktem Florett da, von der Spitze über das ausgestreckte Ärmchen bis zur Kinnspitze eine gerade Linie. So lehrt er sie dass sie ihre Säbel gänzlich falsch angefasst haben. Muffelnd drehen sie sich weg.
„Lümmel ! Werdet ihr parieren !“
Sie sind gewohnt beim Trainieren hart gefordert zu werden. Das ver-missten sie in der letzten Zeit, als Amplinger mit ihnen immer nur artiges Servieren geübt hat, mit gefalteten Servietten in der Armbeuge. Und vorher das Überziehen weißer Handschuhe und das Salutieren vor ihrem neuen König. In dreierlei Varianten : mit geschlossenen Beinen am Morgen und schallendem vive le roi, mit dem Ziehen der Federhüte ( ja, er hat ihnen Federhüte befohlen ) im Freien und Kniebeugen zum Abend-gebet. Dabei galt, den Huldigungsruf ausgenommen, strenges Mundhal-ten. Wo sie doch bis dahin keine Bewegung tun konnten ohne Urwald-gebrüll. Und nun kommandiert und exerziert wurden von einem, der zeit-lebens selbst ein Herumkommandierter gewesen war. Sie raunzten, sehnten sich nach Sandsäcken, Blut und klickenden Handschellen und nur ihre schmucken Hoftrachten hielten sie, was die Disziplin betrifft, noch einigermaßen in der Fasson. Hier vor diesem Uralten aber, der so wütig mit seinen Beinchen aufstampft, dass seine silbernen Schuh-schnallen klingen wie das Knurren eines Kettenhundes, vor dem werden sie augenblicklich handsam.
„Filous maudits !“
Bereitwillig lassen sie sich ihre massigen Beine von ihm zurecht rü-cken.
„Der rechte Fuß anderthalb Fußlängen vor dem linken !“
Kampfschüler waren sie, Kampfschüler sind sie nun wieder, und unbe-kannte Sorten des Bekriegens und Siegens machen sie neugierig.
„Der linke Fuß wird hundertzwanzig Grad angewinkelt !“
Und graziös gefälligst, dicke Buben ! Und nicht so mit dem Fuß auf-knallen als sollte der eine Küchenschabe tot treten.
„Et autre fois ! Graziös, habe ich gesagt !“
Und kein Urwaldgebrüll ! Wer es nicht verhalten kann, muss an die Wand zum Schämen und zuschauen wie die anderen die Klingen kreuzen. Und wenn es zwei sind, die nicht gut tun, werden ihnen die Schuhbändel kreuzweis verknotet.
„Der Schritt nach vorwärts soll geschmeidig sein wie bei einer Katze !“
Die Klingen sirren, sie singen eine Melodie die lange nicht mehr zu hören war, und der am meisten Vergnügen daran hat ist der Gnom.
„Schultermuskulatur entspannen !“
Die massigen Kerle müssen sich weit herunterbeugen, um seine Stöße zu parieren. Aber ein runder gebeugter Buckel verstößt gegen die directive, also nimmt einer den Gnom auf die Arme. Wie leicht der ist, wie ein Vogel ! Der Vogel ficht nun aus kommoder Höhe, und seine Florettspitze zuckt schneller hin und her als sie mit ihren jungen Augen mithalten können.
„Flèche !“
Der, der ihn tragen darf, setzt seine Schritte unwillkürlich, als wären des Gnoms Beine mit einem Mal seine eigenen Beine. Als er es bemerkt, reckt er sich vor Stolz und stemmt den Gnom damit noch höher.
„Faitez sortie !“
Immer schon ist der Gnom Kriegern dienstbar gewesen. Auch die Dickbuben sind Krieger, Handwerker des Garausmachens, mit Muskel-kraft und Urwaldgebrüll. Der Gnom hat von jeher den Krieg zum Kunst-werk machen müssen, jetzt wird er die Buben zu seinem Kunstwerk machen. Seinem letzten vielleicht.
„Flèche !“
Einer hat den Ghnom geritzt. Blut tropft, wie sie es vorhin noch herbei-gewünscht haben. Aber doch nicht das Blut des Uralten !
„Gebts doch Obacht …o mei o mei…“
Dass der Alte diesen Saft überhaupt noch in den Adern hat und nicht inwendig ausgetrocknet wie ein vertrockneter Käfer.
„O mei ….wer versteht denn schnell was von Erster Hilfe…“
Jeder möchte ihn auf seine Knie legen. Wie einen Igel der unter ein Motorrad geraten ist.
„Passts doch auf, sonst derbricht er no…“
Einer stöbert in der Lakaientracht die zu tragen ihnen Amplinger zur Pflicht gemacht hat, angelt eine Dose Glucosemilch heraus und säugt ihn.
„Spinnstn du… da is doch a Koffein drin !“
Der Gnom trinkt mit großer Begierde.
„Und viel z’viel Aufbaustoffe für so an altn Tadderer“.
Andere ( die ihn nicht auf die Knie gekriegt haben ) bestehen darauf dass der alte Tadderer dringlichst mit ihrem Heftpflaster versorgt, mit ihrem Bio-Kraft-Yoghurt gestillt werden muss. Da stößt der auf wie ein Säugling und eine kleine Fontäne hüpft ihm aus dem Mund.
„Sag i doch…des vertragt der net.“
„Der geht uns no ei.“
Zum ersten Mal seitdem er in diesem Lande ist, empfängt der Gnom amour. Er weiß nicht einmal das hiesige Wort dafür. Ist es Liebe ? Zärtlichkeit ? Zuneigung ? Er sucht nach einer Verdeutschung von tend-resse und douceur und schläft darüber ein. Sie wagen es nun, da er so abgefüttert lächelt, mit den Fingerspitzen in seine Falten zu fassen. Ob er nicht doch aus Porzellan ist. Oder Elfenbein. Oder sonst einem alter-tümlichen Werkstoff, von dem sie noch nie etwas gehört haben.
„Wenn er wieder aufwacht…“
Dann wird er vorgeführt kriegen wollen, wie weit sie vorangekommen sind in der Fechtkunst.
„Haltn du so lang.“
Es wird abgewechselt. Der Dickbube, der den Gnom auf den Knien hält, übernimmt dessen Rolle als Fechtmeister und ruft -
„Flèche ! Graziös, habe ich gesagt !“
Und die Füße nicht auf den Boden knallen, als gelte es einer Küchenschabe !

Emiljosef Schroubek, das Glückskind aus dem Märchen, dem von drei Wünschen alle drei erfüllt werden. Anders als im Märchen aber gehen bei Schroubek alle drei Wünsche in einen, und wie sie erfüllt wer-den weiß Schroubek schon als er die Wendeltreppe hinab steigt, die allein für ihn bestimmt ist, jede Stufe klackt unter seinen Schuhen Schroubek ! Schroubek ! Schroubek ! Es wird ihm bereits hochgestimmt unterirdisch zumute noch ehe er bei der untersten angelangt ist.
Schroubek wünscht einen wohlausgebauten Stollen vorzufinden. Und tasächlich. Und Schroubek, das Glückskind aus dem Märchen, findet einen wohlausgebauten Stollen vor. Er hat noch gar nichts erkundet, aber schon gehört es ihm. Schroubek ruft voraus ins Dunkel : „Schroubek kommt !“
Es dauert lange, bis der Stollen seinen Namen als Echo zurückträgt, also hat Schroubek allerhand vor sich. Und, noch fröhlicher gestimmt, ruft Schroubek nun alle seine drei Vornamen voraus. Den dritten, den ihm seine Eltern gegeben haben, verrät er nur wenigen, er hat ihn bei sich stecken wie einen Spezialausweis für besondere Gelegenheiten, to whom it may concern. So wie jetzt und hier.
„Und Reinhard kommt auch mit.“
Der Stollen lässt sich besonders lange Zeit, bis er als Echo zu Schrou-bek zurückgerollt kommt. Der Widerhall ist dafür umso deutlicher und hört sich an wie ein Sie werden finden was Sie zu finden wünschen !
Schroubek weiß jetzt, sein Stollen wird ihn geradewegs unter den Hradschin zu Prag führen, in dem vordem Reinhard Heydrich residiert hat. Und macht sich auf den Weg, ein zuversichtlicher Unterling, und marschiert singend drauflos.
„Wir sind vom k und k Infantrieregiment…“
Wie es hallt ! Wie eilfertig Wände und niedrige Decken seinen Gesang verstärken ! Und er gibt den Wänden was Kräftiges zum Widerhallen Kamerad so wollen marschieren wir / dann macht unser keiner zuschanden. Kamerad wir müssen die Festung sein / denn sie haben uns alles genommen./ Kamerad, wir müssen die Kugeln sein / die über die Räuber kommen…
Bei den Räubern wird es Schroubek eng. Nicht, dass ihn die Räuber ängstigten, sondern weil das Gemäuer über ihm niedriger geworden ist. Er muss sich bücken, um voran zu kommen. Ein junges Volk steht auf zum Sturm bereit / Reißt die Fahnen höher, Kameraden! / Wir fühlen nahen unsre Zeit / die Zeit der jungen Soldaten. Sein Rücken schubbert an dem Eingewölbten über ihm.
Er lobt, immer noch der zuversichtliche Unterling, den Witz des Baumeisters, der ihm, der immerzu beflissen Bücklinge gemacht hat, nach diesen Bedürfnissen das Mauerwerk gefügt hat. Oder hat er es nach seinen eigenen Maßen gefügt, denen eines Zwerges ? Ist doch auch der Gnom ein Durchdrängler gewesen, ein Hintertür- und Tapetentürbenu-tzer, und ist wohnhaft gewesen in Diener-Kabinetten und Mezzanins.
Wie die Schroubeks, Sprösslinge eines Passagenvolkes, wohnhaft ge-wesen sind in Vorzimmern und Antichambres anderer Staaten. Da aber nie in den Audienz- und Thronsälen, den Herrschaftssalons, den Oval offices. Immer als Hin- und Herhuscher in den Windfängen der G-eschichte. Und, sich durch die Enge voran arbeitend, überfällt Schrou-bek angenehm das Bewusstsein, dass er auch von Paschern und Schmug-glern abstammt, den Hin- und Herhuschern per se. Gesegnet ist mit Generationsreihen von Russgesichtigen, die es verstanden, sich zwischen Wölfen und Grenzern durchzuschwindelen. Sogar noch den Baumstrunk konnten sie glaubhaft darstellen, auf den der Gendarm sich niederhockte,
wenn er atemlos geworeden war von der Verfolgung. Und sie machten den Ruf des Eichelhähers nach, der im ganzen Wald verkündete, dass weitum kein Spitzbube unterwegs sei.
Das Erdreich drängt sich immer dichter um Schroubek, bis es ihn gänzlich umschließt. Wo mag er jetzt gründeln ? Unter Pilsen ? Oder schon unter Olmütz ? Unter Mährisch-Ostrau ? Wo auch immer Schrou-bek wieder ans Tageslicht buddelt wie ein Maulwurf nach getanem Wühlwerk, er wird die Leute dort oben leutselig willkommen heißen in slawischem Dialekt, und welche slawischen Dialekte beherrscht Schroubek nicht. Das Erdreich schleckt an ihm wie eine Hundemeute Mergel, Lehm, Schotter, die gut mit ihm stellen will, wie auch er sich gut mit allen stellen will.
Auch mit seinem Erdreich. Es ist sein Erdreich dadurch, dass er es un- terpflügt und damit ist auch alles seins geworden, was obendrauf ist. Voran, Schroubek ! feuert das Erdreich ihn an, weiter durch Mergel, Lehm, Schotter, Quarz und Glimmer und wenn Schroubek unter russische Erdgasleitungen ankommt, werden die Rohre ihm den Rücken schubbern und er wird es nicht kalt haben.
Sondern slawisch warm, in allen Dialekten.

„Sie werden finden was Sie zu finden wünschen.“
Das ließ sich der Balken nicht zweimal sagen, er rumpelte voran und riss die Freischärler mit sich und hinein. Drauflos, wir zermalmen sie ! Zünftige Sieger müssen zünftig zermalmen.
Auch wenn’s der Balken ist, der die Führung übernommen hat und die kraftstrotzenden Buben nur noch seine Anhängsel sind.
Als er sie mitten hinein gewuchtet hat ins Getümmel, verfangen sie sich in einem Gewirr aus Gummireifen und Speichenrädern und Klapp-sitzen, fallen übereinander, der Sturmbalken kommt abhanden, und sie können die siegreiche Standarte nicht daran hissen. Von siegreich keine Rede mehr, alte Männer helfen ihnen wieder auf die Beine und befreien ihre Arme aus den Radspeichen der Rollstühle.
„Habts euch weh do, Buam ?“
Es war der Rat des Gnoms gewesen, einen Schutzwall aus sabbernden Kopfwacklern gegen die Freischärler zu bilden, und er hat schlau gegrinst dabei. Der Gnom versteht allerhand von Uralten als Dämpfer und Besänftigungswall. Die Putschisten, als sie noch keine waren haben diese alten Männer durch Klinikflure und Alpenlandschaften geschoben. Nun revanchieren die Alten sich, versorgen die Blessuren der sieglosen Buben und atzen sie mit Blut- und Leberwürsten. Schaut, es ist doch schon so reichlich gestürmt worden, da hinten lehnen noch die Gewehre von den roten Republikanern aus der 1919er Revolution. Und was sind die Buben von damals schneidig gestürmt, Rotfront hurra !
So dass es gar keine Rolle gespielt hat, dass die armen Schlucker sich keine Patronen haben leisten können. Und gleich daneben lehnen die Sen-sen, auf Dreschflegel gespießt, und die Morgensterne von den Oberländer Aufständischen aus dem 1705er Jahr. Morgensterne aus Stahlnägeln, in Prügel gehämmert. Aber die Oberländer haben sie nicht schwingen müs-sen gegen einen Feind. Die Roten von 1919 haben ihnen freundlich die Stadttore aufgesperrt und jetzt ersäufen sie einträchtig Blut- und Leber-würste im Bier.
Befreiung wohin man schaut.
Und zu was sind sie befreit, zu den Segnungen der Schlachtschüssel sind sie befreit, und wer mag, auch noch zu einem Enzianschnaps. Freitisch für alle, und alle langen zu, und der ihnen spendiert, ist der Hauptlehrer Hiebele. Niemand erinnert sich mehr daran, dass er ein grauer Schulbock ge-wesen ist ( er sich auch nicht ) und engbeinig und verklemmt dage-standen hat. Jetzt steht er breitbeinig da, weil er kein Notenbüchlein mehr führen muss. Er stellt allen, die er eingeladen hat, Vorrückern wie Sitzen-bleibern, wohlgefüllte Teller vor die Nasen, und die Essenden ziehen sie noch dichter unter ihre Nasen, wenn über die Tische her die Baronesse von Treidlein heran getanzt kommt.
Sie kauen weiter, das schon, mit Mündern, die vor Bewunderung offen stehen. Aber es ist ihnen unmöglich, das Zerkaute hinunter zu schlucken, wenn sich die Baronesse vor einem dreht.
Barfuß. Man muss in die Hände klatschen, ihren Rhythmus, und das Sauerkraut auf der Zunge will nicht in Schlund rutschen, es will die Waden der Baronesse sehen.

Walpurgisnacht ! befindet Hölzl auf seinem Beobachtungsposten in der Schaltzentrale des Sicherheitssystems. Die Baronesse lässt es zu, alle an ihre Waden fassen, wenn seine Monitore es ihm recht berichten. Hölzl muss mit seinen Kameras näher heran zoomen, sich Gewissheit ver-schaffen, jeden einzelnen Finger dingfest machen jedes einzelnen Lüst-lings, Namen und Personalnummer dieser Befreier und Freischärler und Freigeister registrieren. Und sie aus dem Verkehr ziehen, ehe es zum Verkehr kommt,
Aber die Schaltkreise seiner Sicherheitskanzel sind ihm nicht zu Willen, die Bottoms und Leuchtdioden blaken und flimmern amüsiert, als ob sie über ihn kicherten, zwitschern und blinkern untereinander statt ihren Dienst zu tun, zeigen ihm Tabellen über Kartoffelaufkommen und Legebatterien im Landkreis Uffenheim. Wie ein Beamter, der eine Jalou-sie vor sich herunterzieht Schalter geschlossen.
„Eierausstoß gegenüber Freilandhaltung leicht gestiegen bei ermittel-ten Kohlehydraten 0,58 g…“
Jäh erschreckt ihn eine Großaufnahme der Baronesse, bildschirmfül-lend wie sonst nur der Monsignore in seiner Beicht-Show, aber als Hölzl den Bildschirm mit den Lippen zu ihr will, steht Weichslgartner vor ihm, im, Trachtenanzug.
Weichslgartner wird von den Orgiasten vereinnahmt als ihresgleichen, und es schützt ihn keine Trennscheibe wie Hölzl sie hat. Recht geschieht ihm ! freut sich Hölzl, im feinen Glencheck, und genießt wie das Gewoge den ewigen Kontrahenten verschluckt. Und wie das Kartofflige in der Kartoffelbaronin, die Oberhand gewinnt über das Baronessliche.
Gewissdoch gewissdoch gewissdoch müssen da Knöpfe eingearbeitet sein, die Versenkungen auftun, Falltüren klappen lassen, gewiss-doch…aber wo sind sie ? Hölzl sucht, seine Hände werden immer zittri-ger, Leuchtdioden zwitschern und blinkern untereinander sollen wir ihm seinen Willen lassen oder sollen wir ihn triezen ?
Als er drei- viermal das Licht über der Szene jenseits der Scheibe hat ausgehen lassen, beginnt man da drin zu singen. Und man ruft nach noch mehr Blackouts. Als sie ihm gelingen, wiederum gegen seinen Willen, wird die Internationale angestimmt, in ein Fugato vermantscht mit dem Andreas Hofer-Lied.
Und die Stimme der Baronesse ist deutlich heraus zu hören.
Er wird die Baronesse in eine Vaku-Kammer einschließen, für die nur er den Code weiß. Sie wird an die Scheibe hämmern, mit den lackierten Nägeln Codes trommeln, aber der Code der sie befreit könnte, nicht dabei sein. Er wird ihr durchs Panzerglas zunicken, ihr Kusshändchen zuwer-fen, sie mit Gesten seine Zuneigung versichern. Und die Baronesse wird schreien, unhörbar, und es wird heiß in ihrer Kammer, und Hölzl die Temperaturen nach oben steuern, sie reißt sich ihre nassen Fetzen vom Leib reißt, schweißüberströmt.
Jetzt ist sie Göttin Diana, wie er sie wollte. Aber sagen wird er -
“Igitt, Madame, Sie sind eine Mumie, 13. Dynastie“
Und wird den Regler der Maschinerie, die ihr den Sauerstoff entzieht, langsam bis zum Anschlag drehen.

„Sie werden finden was Sie zu hören wünschen.“
Aus dem Deckengemälde schaut ein Himmel voller Heiliger und Engel herab auf Himmelmeyer und Stapferer, und in einer Kartusche steht darunter zu lesen Tempus non erit amplius.
„Hinfort wird keine Zeit mehr sein“ übersetzt Himmelmeyer, der Theologie studiert hat, wenngleich protestantische.
„So sagts der Engel mit einem Antlitz wie die Sonne und Füßen wie Feuersäulen in der Offenbarung des Johannes.“
Stapferer, katholisch eingeschult in Ingolstadt, ist nicht firm in solchen Texstellen und hört zu.
„Apokalypse, Kapitel 10 Vers 6. Nämlich keine Zeit mehr bis zum Jüngsten Gericht. Dem sich alle stellen müssen, die Lebendigen und die Toten.“
„Auch die Großkopferten ?“
„Sogar die Heiligen.“
Wie sie dort oben im Fresko aufgereiht sind. Stapferer macht im Kup-pelgewölbe einige Bischöfe und Päpste aus. Über der Orgelempore, unter der aus dem Haupteingang Wallfahrer hereinkommen, ist das Tor der Ewigkeit gemalt, die Türflügel sind geschlossen. Am gegenüberlie-genden Rand des Deckengewölbes wartet der Gerichtsthron. Noch ist er leer. Der ihn sogleich einnehmen wird, hält sich schon in Bereitschaft. Jesus Christus. Noch sitzt er auf dem Flüchtigsten und Vergänglichsten was dem Maler in den Sinn gekommen ist, dem Regenbogen. Der sich alsbald auflösen wird.
„Jesus ist schön.“
„Er schiebt das Spielbein vor wie du.“
„Wie du. Wenn du aufspringen willst.“
„Wie du. Ich sehe richtig wie er sich gleich abstößt mit dem andern
Fuß – „
„- und dann abfedert vom Badewannenrand. Wie du.“
„Und er hat seine Toga oder was das immer sein soll genauso salopp umgeschlagen wie du das Frottiertuch.“
„Bloß, du bist sehniger.“
„Der da ist ja richtig mollig.“
„Aufgefüttert mit zuviel Manna.“
Einer fährt dem anderen mit dem Fingernagel an der Wirbelsäule entlang. Das Gicksen, das daraus entsteht, wirft die Kuppel als Crescendo zu ihnen zurück.
„Was für eine Akustik !“
Die Rundfunkleute in ihnen ermuntern sich zu einer Aufnahme. Immer in Bereitschaft auf der Jagd nach dem Geräusch des Tages, der Woche, des Monats. Stapferer knöpft als erster seinen Hosenstall auf und Himmelmeyers Hand macht sich ans Werk. Stapferer hält sich das Mikrofon an den Mund. Noch im Orgasmus bleibt er sich bewusst, dass er nicht unter 45 Hertz stöhnen darf, sonst geht’s zu matt über den Sen-der. Dann schiebt Himmelmeyer seinen Slip beiseite und Stapferer wird tätig.
Jesus ist nicht errötet. Wenn sie die Aufnahme abspielen, verziehen die Heiligen keine Miene.
„Na ihr Keuschlinge, wollt ihr mithalten ?“
Stumm erwarten die da oben weiterhin das Jüngste Gericht, danach werden sie ins Himmelreich aufgenommen. So stumm, dass sie niemals in Himmelmeyer und Stapferers Radioreich aufgenommen werden.
„Oder ob sie uns anschwärzen ?“
Oder ob sie beide dem Gericht verfallen, fragt sich Himmelmeyer, der Evangele.
„Aber Kindlein !“
Aus dem Beichtstuhl lacht der Monsignore heraus.
»Selig, steht geschrieben, die da reinen Sinnes sind ! Da über euch ist es an die Decke gemalt“.
Der Monsignore weist hinauf zu einem Kranz von kleinen Fresken rings um das Kuppelgewölbe.
„Alles Bildlein, in denen noch und noch Absolution erteilt wird. Gott der Herr lässt sich nicht lumpen mit seiner Gnade. Da zum Exempel der Za-chäus aus dem Gleichnis : Steig herab, der Menschensohn ist gekommen, um zu retten, was verloren war“.
„Lukas Kapitel 19 erster Vers“ ergänzt Himmelmeyer gehorsam.
„Und da Christus und die Sünderin Magdalena. ! Deine Sünden sind dir vergeben. Geh in Frieden!«
“Lukas Kapitel 7, Vers 36 bis 50“ weiß Himmelmeyer.
Der Monsignore zieht Stapferer in den Beichtstuhl.
Eine intime Unterweisung in Katechismus. Der Begriff der Beichte ist immer gänzlich falsch ausgelegt worden. Wo doch im Beichtspiegel, wo den Kindern die Sünden registermäßíg bekannt gemacht werden, in Wahrheit die besagten Sünden dargeboten werden wie Leckereien im Schaufenster. Will wiederum sagen, die kindliche Vorstellungskraft wird befeuert und ihr Wagemut, will wiederum sagen : die hochlöbliche audicia wird quasi unter den Achseln gefasst und hoch gehoben wie man Kinder selbst halt auch so hochhebt vor der Konditorei : schau`s dir an, und dann greif zu !
Dein properes Körperchen ist eingerichtet für vielerlei Übungen, leibliche wie sinnenhafte. Für was wohl hat Gottvater seinerzeit so sorg-fältig herum geschöpfert an den Wundermechaniken deines Leibes ! Für die Erde und die Walfische und die Sterne hat er sich nur je einen Tag vorgenommen, für seine Menschlein aber gleich zwei, einen für das mit dem Stengelchen und einen für das mit der Ritze, damit sie auch was Rechtes miteinander anfangen möchten.
Also fang gefälligst auch was damit an. Und huldige !
Nämlich ihm, aus dessen liebenden Händen du entsprossen bist im feuchtwarmen Mesopotamien ! In einem wollüstigen Garten, wo er die Pflanzen wie brünstige Lebewesen herumschlecken ließ an deiner nackigen Haut, Geschaffenes an Geschaffenem, auf dass zueinander komme in coniunctio, und der Schöpfergott kann sein Amen drüber sprechen.
Und freut sich.
Stapferer ist im Beichtstuhl verschwunden. Den Vorhang haben sie zugezogen. Drinnen, hört Himmelmeyer, sind sie bei gewisperten Erin-nerungen angelangt an ihre Schlafsäle im Konvikt, in denen es ebenso finster war wie jetzt in der Höhle des Beichtstuhls, wenn der Pater das Licht ausgeknipst hatte.
Dann kamen die Nachtmahren über sie, ritten auf dem dünnen Zudeck, kleine Teufelchen krochen zwischen Stockwerkbetten herum als Schlan-gengewürm, und die Angst drückte auf die Blasen, und wer im Stock-werkbett nicht den Unterplatz hatte, konnte seinem Schöpfer danken dass er verschont blieb vom Weihwasser des Schrecknisses und nur benässt wurde vom eigenen Sperma.
Und der Herr Jesus sah dies alles, denn er hing wachhabend an der Wand, eine Funzel leuchtete ihm, er starb die ganze Schlafsaalnacht lang einen qualvollen Tod und hatte nur ein Lendentuch um auf dass sein Blut aufgefangen werde. Wie Krenleitner hing er da, als wir ihn zerbrüllten nur dass den unsere Stimmgewalt umgebracht hat ist und den Jesus unse-re Sünden, aber beide waren zum Anbeißen anzuschauen im Todeskampf.
Sie geraten darüber ins Stöhnen hinter dem Vorhang, und Himmelmeyer fingert an seinem Aufnahmegerät.

Udo Quantz wird von drei Herren erwartet.
Als er sich ihnen nähert, kommen sie ihm bekannt vor. Ihre Konturen jedenfalls, Schultern, Größe, Ohren. Nicht ihre Gesichter, denn diese drei Köpfe er hat er nur vornüber gebeugt wahrgenommen. Nicht im Konzern also, da haben alle geradewegs ihm ins Gesicht zu blicken. Sondern in einer Konferenz, wo den Teilnehmern erlaubt wird, privatim Notizen zu machen. Mit dem Stichwort Notizen ist er stracks bei Hölzl, dem unentwegten Notizenmacher ( eine Gestalt, gegen die er endlich mal durchgreifen muss ), und mit Hölzl ist er bei der Historischen Kommis-sion.
Dort saßen auch die drei. Kamen gleichzeitig, aber nicht zusammen, gingen gleichzeitig aber nicht zusammen. Und schwiegen unisono. Hier stehen sie zusammen. Und schweigen wieder. Bis auf einen, der mit der behandschuhten Rechten eine einladende Geste macht.
„Sie werden finden was Sie zu finden wünschen.“
Quantz wirft einen Blick darauf.
„Aber das da wünsche ich gar nicht zu finden.“
„Sie sollten sich nicht so verhärten.“
Warum redet nur einer, und die anderen schweigen ? Weil er so schwer an seinen Unterlagen trägt ?
„Es ist doch ein segensreicher Teil Ihrer Firmengeschichte“.
Auch die anderen tragen schwer, ihre schwarzen Aktenköfferchen ziehen ihnen die Arme tief. Sie sollten sie absetzen und sich lockern. Aber sie drängeln ihn vor sich her.
„Gehen wir.“
Weiße Wölkchen steigen dem aus dem Mund, der spricht.
„Nach Ihnen bitte.“

Wie kann es so kalt sein hier unten. Quantz hat doch raffinierte Kli-maregler einbauen lassen. Anlagen konstruiert aus dem großem Erfah-rungsschatz im unterirdischen Bauwesen heraus.
„Und das Level der Technologie ist nicht stehen geblieben beim damals Erreichten.“
Nun steigen mehrere weiße Wölkchen auf, denn nun sprechen alle drei.
„Von dem die wehrhaften Industrien des Landes noch immer zehren.“
„Es ist in vieler Hinsicht überwältigend, da einen Blick drauf zu werfen.“
Sie drängeln Quantz zu den Gebäuden hin. Sie drängeln ihn nicht eigentlich, sie nehmen ihn die Mitte, unter schonungsvoller Konver-sation. Wenn er nach rechts ausscheren will, schiebt sich der rechte Flü-gelmann vor, und wenn er nach links ausweichen will, der linke. Der Dritte legt ihm den Arm um die Schultern, als sie durchs große Eisentor gehen.
Quantz ist so überrascht, dass er ihn nicht zurechtweist. Quantz, der immer selbst den Weg bestimmt hat, den andere gehen sollten. Hier drinnen steigen die weißen Wolken aus den Mündern genau so dicht auf wie draußen.
„Die Temperatur ist eine Maßnahme gegen vorschnelle Überhitzung der Werkstoffe.“
„Und zur Beschleunigung des Arbeitstempos.“
„Sie sind vorgesehen – „ nun öffnet einer sein Köfferchen und hat erstaunlich schnell eine Akte aufgeschlagen „ – für die Werkbank 17.“
„Hier, wenn’s recht ist.“
Einer zieht ihm den Mantel aus..
„Was erlauben Sie sich !“
„Sie beschämen die übrige Belegschaft mit so piekfeinen Klamotten.“ „Sie sollten sich ab jetzt keine Provokationen mehr leisten, 2163.“
„Zwotausendwiebitte - ?“
„Das sind Sie. Die Nummer wurde eigens gewählt im niedrigen Be-reich.“
„Eine elitäre Zählung. Als Kotau gewissermaßen vor Ihrem Rang.“
„Ihren wirklichen Namen erfährt hier niemand. Zu Ihrer eigenen Sicher-heit.“
„Aber ich habe da draußen meine Mission zu erfüllen !“
Sein Atomprogramm. Der Test steht dicht bevor
„Schweigen Sie.“
„Gespräche sind streng verboten, Nummer 2163.“
„Eine Vorschrift, die sich eigentich erübrigt, weil – „
Der Lärm der anlaufenden Maschinen verschluckt den Rest dessen, was der Dritte sagen wollte.
„Auf zu geringe Stückzahl übrigens…“ brüllt ihm der Zweite ins Ohr „….auf zu geringe Stückzahl steht Essensentzug“.
Auch das geht unter im Gedröhn. Es bleiben nur weiße Wölkchen in der Luft hängen.

„Sie werden finden was Sie zu finden wünschen.“
An Amplinger vorbei will etwas gegen die Mauer rasen, flink wie ein geworfener Stein. Es würde so ungestüm und hart gegen den Verputz klatschen, dass es vom eigenen Aufprall zurückgeworfen würde und die Mauer bröselte.
Aber es bröselt nichts, und es klatscht nichts. Denn Amplinger fängt es auf. Es ist sorgfältig umwickelt, Amplinger selbst hat die Binden um König Ottos Kopf so behutsam angebracht, dass Nasenlöcher, Augen und Mund frei bleiben. Darum kann der König jetzt mit den Zähnen fletschen, den wenigen die er sich noch nicht eingeschlagen hat beim Gegen-die-Wänderennen, und Verfluchungen gegen Amplinger spucken weil der ihm schon wieder eine Selbstzertrümmerung nicht gegönnt hat.
Otto packt ( er ist immer kräftiger gewesen als sein dicker Bruder Lud-wig ) Amplingers Kopf mit beiden Armen, und der wird nun gegen die Mauer gerammt.
Aber nichts bröselt, nichts wird gerammt, Amplinger hält König Otto etwas drittes Rundes hin. Der reißt die Augen auf und staunt. Soooooo rot ist das, was ihm Amplinger da hinhält, da muss er beißi beißi machen und es verschlucken. Aber es ist zu groß zum Verschlucken, und die Zähne sind eh nicht mehr vollständig. Auch mit den Patschhändchen lässt es sich nicht greifen. Sondern hüpft davon.
Das steht ihm auch zu, denn es ist ein Gummiball. Der König muss hinterher rennen und ihm zurufen, es solle stehen bleiben, denn es wird gefressen. Amplingers Kater mischt sich ins Spiel, er will den Ball auch fressen. Er versetzt ihm mit den Tatzen Hiebe, die ihn ins Wirbeln bringen wie ein Karussell und damit dem Ball nicht noch schwindliger wird, hüpft er in großen Sprüngen davon.
Der Kater setzt ihm nach, und weil er nun einmal auf allen Vieren läuft, begibt auch der König sich auf alle viere und bellt, dass es zum Fürchten ist und der Kater vor ihm davonstiebt, treppab und fort durch weite Treppenaufgänge, der Ball immer voraus.
In der Kapelle stehen die silbernen Urnen mit den Herzen der Kurfür-sten und Könige. AMPLINGER ROSWITA ist in eine Urne eingraviert, HAUSFRAU ZU KIRCHSEEON.
„Du bist schon eingezogen“ freut sich Amplinger.
Die Urne steht sehr hoch, er kommt nicht dran um sie in der Hand zu wiegen. Daneben eine zweite AMPLINGER JOSEPH MARIA. Sie noch leer, er steht ja hier auf seinen beiden Beinen. Aber er ist müde. Sehr müde. Er legt sich auf den Altar.
„Der Kater ist auch mit eingezogen“.
Die Schäfte der brennenden Kerzen wärmen seine Hände.
„Endlich hat die Katze genug Platz zum Herumstrawanzen und ist nicht mehr eingesperrt auf der Etage den ganzen Tag, bloß weil dieses Arsch-loch von Vermieter….aber das wirst ja eh noch wissen.“
Jetzt ist sie zum Hofkater aufgestiegen und hat einen Palast zur Verfügung, durch den sie einen König hetzen darf. Amplinger lauscht den beiden nach, wie sie von Saal zu Saal scheppern. Wenn der Ball in der Grünen Galerie gegen den großen Spiegel springt ! Venezianische Arbeit, zweites Drittel achtzehntes, unersetzlich. Und die Niobe, Carrara-Marmor, sechzehn Zentner schwer, und die flämische Tischuhr, der Ta-felaufsatz von Bustelli…
Amplinger, der Aufseher gibt dem Hausherrn in sich Anweisung, sich Schlüssel und Schlüsselgewalt beschaffen. Dazu muss er tief hinunter steigen ins Wachstübchen. Vorbei an der Akanthusranke aus stukkiertem Gips, in der sich der Gnom zum Schlafen gelegt hat. Die Postkarten der Kollegen an der Wand sind noch verstaubter, seitdem er nicht mehr hier war. Über seinem Stammplatz aber ist eine neue festgeklebt. In frischen Farben zeigt sie eine Steilküste, davor Brandung, und einen Palazzo unter Pinien.
An Herrn Joseph Maria Amplinger Residenz buchstabiert er mühsam. Einer seiner Kollegen hat ihn da großmütig mit einem Feriengruß beehrt. Er kramt nach seiner Brille und murrt schon vorweg darüber, wie en passent und doch großkotzig einer mit seiner sündteuren Pauschalreise Eindruck schinden will bei einem anderen, der sich keine leisten kann.
Als er die Brille endlich auf der Nase hat, erkennt er die Schriftzüge seiner Frau.
Aber zum Entziffern kommt er nicht. König Otto steht in der Tür. In der linken Hand hängt der Kater und in der rechten der Ball. Oder was von beiden noch übrig geblieben ist. Hat Otto die Katze erdrosselt, weil sie ihm den Ball nicht ablassen wollte ? Amplinger ist nicht danach, Ge-richt zu halten. Der König grinst, soweit man es unter dem Verband sehen kann, und verlangt lallend nach einem neuen Ball für ein neues Verfolgungsspiel.
Amplinger wird den Kater in der Urne bestatten, die für ihn selbst bestimmt war. Und morgen früh wird er dorthin fahren, woher ihm seine Roswitha geschrieben hat.
Die Briefmarke zeigt dieselbe Meeresküste wie die Karte. Der Post-stempel ist der eines Landes, von dem er noch nie gehört hat.

19.Kapitel
Muspilli*

„Quantz - !“
Sie lassen jede Anrede weg vor Bestürzung.
„Er ist es tatsächlich…“
Respektlos in der dritten Person. Als ob sie von einem Wiedergänger sprächen. Einer Wachsfigur, die sich als das Original ausgibt. Und ihm dabei nicht im entferntesten ähnlich sieht.
„Es fehlt nur noch, dass einer an mir kratzt mit dem Fingernagel, ob das Wachs vielleicht noch warm ist.“
„Aber Herr Professor…“
„Oder ob ich vielleicht schon leichenstarr bin.“
„Wir mussten doch fest davon ausgehen, Herr Vorsitzender…“
„Ich weiß selber was ich alles für Titel führe“ brüllt Quantz.
Und mustert ihre Gesichter. Wie viele von denen, die jetzt Bestürzung zur Schau tragen, verstecken dahinter ihre Freude darüber dass er ab-handen gekommen war ? Und war es überhaupt bloß Freude, waren seine alerten Herren nicht bereits dabei, seine Positionen neu zu besetzen ?
Zu besetzen mit sich selbst.
„Aber es wurde doch berichtet…“
„Es hatte doch offensichtlich ganz den Anschein - “
„Ich höre - ?“
„Es war doch unbedingt davon auszugehen alle, die mit Ihnen – „
„Na, wird’s bald ?“
„Alle, die in ihrer Begleitung waren –„
Verschollen sind. Abhanden gekommen. Ausge-ixt.
„Bloß ausgerechnet ich, justament dieser Quantz, nimmt es sich heraus und erscheint leibhaftig wieder. Wollen Sie doch sagen.“
Keiner will das sagen. Alle wollen das sagen.
„Das heißt, meine Herren, dass Sie allesamt nicht mit den Bauplänen vertraut sind, von da unten.“
Wie Quantz mit ihnen vertraut ist, der genauestens intus hat, wo die Durchschlupfe eingezeichnet sind.
„Hat einer der Herren die Traute zu bekennen, dass er Projekt Thassilo nicht in- und auswendig kennt, samt Geheimtunneln, Notausgängen, automatischen Hydraulikschächten ? Der möge vortreten.“
Niemand tritt vor. Die alteingesessene Traditionsfirma von Quantz hat schon die Bunker des Führers in die Erde gegraben. Und was waren das für Spitzenprodukte der Mineurkunst ! Wer weiß, wessen seine Vor-fahren fähig waren, der weiß auch, wozu Quantz fähig ist. Und darum ist es eine Huldigung an die eigene Adresse, wenn Quantz ihnen entgegen-schleudert, dass das Projekt Thassilo zur Falle geraten ist. Nur eben nicht für ihn, Quantz.
„Zur Mausefalle für unsere Elite, meine Herren !“
Auf Nummer Sicher gelockt und den Schlüssel rumgedreht. Ein Delikt sondersgleichen.
„Ein Versagen, für das Köpfe rollen werden.“
Alle richten ihre Augen auf den Fußboden. Sie könnten ja in einem der besagten Köpfe sitzen.
„Wir haben uns in die Hände eines satanischen Dreikäsehochs bege-ben !“
Und mit dem Furor, der einem zusteht, der von den Toten wieder auf-erstanden ist, verordnet Quantz dass rückhaltlos ermittelt wird. Und es wird ermittelt, und herausgefunden was Udo Quantz herauszufinden wünschte.
Die Verschwörungen waren das Werk des Gnoms.
„Und keiner von Ihnen hat es im entferntesten erwittert, meine Her-ren.“
Eines dieser bizarren Kunstwerke, denen ein Udo Quantz immer schon misstraut hat. Die Phantastereien, die sich blähten in Köpfen, die viel zu klein dafür waren. Anmaßungen, inspiriert von seinen Fabelwelten und Ornamentwucherungen. Und das bizarrste an diesen Kunstwerken war, wie nun step by step ausgeforscht wird, dass er das Projekt Thassilo bevölkern wollte.
„Ein Museum bevölkern ! Einen Tresor mit lebenden Figuren be-siedeln ! Perversion in Vollendung nenn ich das.“
Widernatur nennt er das. Entartung. Die Ästhetik des Schweifenden als Design des Monarchie, das Schlängelnde und Schlingernde konnte zur Staatsraison werden, hat durch den Gnom den Staat selbst paralysiert. Mit Blattgold überzogen, aber ungreifbar wie Seidenbänder im Wind.
„Spät aber hoffentlich nicht zu spät : das steht allem total kontra für was das Große Konsortium steht. Für das wiederum meine Wenigkeit steht.“
Wenigkeit !
Mit sofortiger Wirkung werden alle Inszenierungen untersagt die dieses verhängnisvolle Rumpelstilzchen ins Land gekleistert hat. Phantasma-gorien, aufwendig und unnütz. Bombastische Drapierungen, die den Blick auf eine Realität verhüllen, die bitter genug ist : die Nuklear-Anla-gen des Landes sind in Gefahr von feindlichen Satelliten per Laser lahm-gelegt zu werden.
„Wir brauchen berechenbare Fronten in der Stunde der Bewährung ! Klare funktionelle Formen. Wie ein Marschflugkörper !“
Wenn ringsum Feinde sind, sind auch Rocaillen Feinde. Palmetten und stukkierte Putten, vergoldetes Rankenwerk, schmarotzerisches Dekor, das Staub fängt und auf nichts verweist als auf sich selbst. Der Gnom wird zum Staatsfeind erklärt und zur Selbstreinigung freigegeben.
„Öffentliche Hinrichtung, damit der Plebs endlich merkt, was für uns alle auf dem Spiel steht.“
Und der Riese, der mit ihm konspiriert hat, wird in einem Aufwasch gleich mit liquidiert.
„Aber bedenken Sie die Turbulenzen, die bei einem solchen Unter-nehmen anfallen…“
„Soll das Volk sich doch an denen heiser brüllen, dann merkt es, was es uns schuldig ist !“
Aber der Herr Vorsitzende möge um Himmels Willen diese Aber-ton-nen Fleisch bedenken. Muskeln. Knochen. Eingeweide.
„Ein Delinquent, der Hochhäuser überragt !“
Und auch im Liegen wird der Kadaver noch länger sein als ein Güterzug. Will man das der Bevölkerung zumuten, und dem Verkehrs-fluss ?
„Notabene die Geruchsbelästigung dabei.“
„Schlachthausgestank über Stadt und Land !“
„Eine Abdeckerei von Gebirgsmassiv-Ausmaßen.“
Man rät zu Betäubungsschüssen, diskretem Zerlegen per Chemie. Udo Quantz kehrt den Pikierten heraus.
„Schon wieder lasse ich mich runterhandeln.“
Eine Art Kalkgrube, wenns recht wäre, so peu a peu ? Die Chemiker unserer bewährten Industrien werden sich schon was einfallen lassen.
„Schließlich kann man den Kadaver doch nicht klammheimlich zum Abwracken in, sagen wir, den Kongo verfrachten.“
Das löst die Stimmung.
„In diese Gegenden da unten verfrachtet man ja immerzu so allerhand.“
Was man nicht als militärische Güter deklariert. Aber als was soll man einen toten Riesen deklarieren ?
Pragmatisches Schmunzeln, entspanntes Gelächter. Das ist die Stunde Hölzls und seiner Notizen. Wer so eifrig mitgeschrieben hat, ist ein Mann der Übersicht, der Bewahrung und der Vorausschau. Hölzl, in Würdigung seiner besonderen Begabungen, wird Sonderkommissar für die Abwick-lung des Bewussten. Des Franzmanns, des Franzzwergs.
„Wie war sein Name doch gleich wieder ?“
Die alten abgehalfterten Titel lässt Hölzl mit einem Federstrich wieder zu. Die weg gehängten Uniformen dürfen wieder angezogen werden. Der Zapfenstreich wird wieder eingeübt, der Präsentiermarsch wieder ge-blasen. Gepanzerte Fahrzeuge werden wieder ins Stadtbild integriert, und alles, was sie im Gefolge haben.
„Ich möchte es einen späten Sieg des Klassizismus nennen“ lässt der Sonderkommissar sich vernehmen, darin nun doch wieder Kunsthisto-riker.
“Und der Gradlinigkeit, die ihm innewohnt !“
Hölzl hatte noch ein stets einfügen wollen. Aber sein neues Amt gebietet ihm, den Kampf gegen seinen ererbten S-Fehler nicht über den nun auszufechtenden Kampf des Gradlinigen gegen das Chaos zu stellen.
„Unsere Raketen“ bestätigt ihn Udo Quantz „lassen wir ja auch nicht in Kurvenlinien fliegen“.
Und lacht. Das Lachen des Siegesgewissen. Dieses in Harvard erwor-bene Baseball-Champion-Lachen, bei dem alle Zähne seines vorteilhaften Gebisses strammstehen.
Und der Volkszorn schäumt auf.
Der Volkszorn will Opfer. Der Volkszorn will zertreten, will es splittern und krachen hören. Lange genug hat das Volk den französeln-den Schnickschnack schon ertragen.
„Weg mit dem gschneckelten G‘raffl !“
Mit Wagenhebern wird dagegen angegangen, das Jagdschlösschen Amalienburg zur Ruine gehauen. Die vorweg aufgefahrene Feuerwehr steht dafür gerade, dass die Flammen nicht auf den wertvollen Föh-renbestand des Parks übergreifen. In der Grünen Galerie der Residenz toben sich Volkskräfte aus, die vordem bei Krenleitners Volksbelusti-gungen nur mit der Stimme dabei waren.
Die Aufseher sind beiseite getreten und klopfen sich den Gipsstaub von den Uniformen. Die Ornamente offenbaren noch im Zerhauen-werden, wie weibisch sie immer schon gewesen sind, ohne Gegenwehr zerstieben sie wie erstarrte Schlagsahne und zurück bleiben rostige Draht-bügel. Keine ebenbürtigen Gegner, und der Volkszorn will doch ehrliche Verrichtung.
Viel zu lange hat sich der Steuerbürger zurückgehalten, sagt Hölzl in die ihm hingehaltenen Mikrofone, um abzurechnen mit diesen degene-rierten nackigen Nixen, Najaden, Faunen und nach Luft schnappenden Tritonen.
Dem ganzen Gschewrrrl, setzt man am Stammtisch fort, das wo niamals net einer nützlichen Tätigkeit nachgegangen und da dafür auch noch gepflegt worden ist. Und die wiederum erneuerte Wut greift über auf Steinplastiken, die erst zu Kaiser Wilhelms Zeiten aufgestellt wurden, auf neubarocke Balustraden und Gesimse aus dem Jugendstil. In eine Aufführung von Cosi fan tutte im Augsburger Stadttheater bricht der Mob ein, zwingt das Orchester, den Tölzer Schützenmarsch zu spielen, auch ohne Noten ! Wer nicht gehorcht, dem werden die Instrumente zerschlagen. Das Publikum, selbst beschimpft als Rokokogesindel, stürmt die Bühne und zertrümmert das Bühnenbild.
„Dieses spontane Temperament hat durchaus Stil“ entfährt es Hölzl, aber er hütet sich, es öffentlich zu äußern, zu viele Zungenbrecher lauern in der dennoch richtigen Sentenz.
Lang schon offenstehende Rechnungen werden beglichen. Das Öl-porträt, das die greise Künstlerin nach dem Jugendfoto der Gattin gemalt hat, die Familie ist sich da einig, zeigt eine Vogelscheuche. Zumutung ! Beleidigung ! Wozu hat man das Weibstück studiert, auf der Kunst-akademie ! Entschädigung soll sie leisten !
„Die Vogelscheuche ist sie selber, hängt ihr den Keilrahmen um den Hals !“
Dem Kunstschmied, der zum dritten Mal gemahnt hat, weil das Gar-tentor noch immer nicht bezahlt ist, wird die Werkstatt demoliert. Bürger, die in der Fußgängerzone ihr Eis schlecken, werden dabei säuerlich ge-stört von dem neu angebrachten Fresko an der Frontseite des Rathauses, der Eisdielenbesitzer hat oftmals über Sodbrennen klagen gehört. Steckt den Freskomaler in die Industrie zur Ertüchtigung, soll er doch Granaten drehen !
Die Schützenvereine greifen zu den Waffen, die sie gehortet haben und lassen die Kunstmaler in die Mündungen schauen, auch die Dekora-tionsmaler, deren Verzierungen über den Balkonen nun Missfallen erregen, trotz Gemsen und Enzianen. Die den Faunen und Girlanden des Gnoms nachgemalt scheinen.
„Artecht is so ein G`schnacklwerk net.“
Auch gegen Bildhauer und Friedhofsteinmetze wird vorgegangen, gegen Schauspieler und Musiker, alles dasselbe schmarotzerische G#schwerrl, gegen Goldschmiede, Holzschnitzer und Kunstgewerb-lerinnen, Batikerinnen und Puppennäherinnen. Und Puppenspieler. Ge-gen alle, deren Tätigkeit aufs Ausgefallene gerichtet ist und nicht auf Rüstung gerichtet.
Die Kunstleute, die mit ansehen müssen, wie ihre Leinwände zer-schnitten, ihre Farbtuben an den Fensterscheiben ausgedrückt werden
( und in ihren Gesichtern ), wie ihre Architekturmodelle zu Tisch-tennisplatten umgedreht werden und ihre Tonfiguren den Autos vor die Stossstangen geworfen, sie rotten sich zusammen und lechzen nach Ha-lali.
Wer verfolgt wird, wird zum Verfolger.
Aber nicht aufs Größere drischt er ein, aufs Nächstkleinere drischt er. Zuerst hält das Kinderpublikum es noch für eine Darbietung, wenn in der Nachmittagsvor-stellung eine Handvoll Kerle den kleinwüchsigen Pau-senclown rund um die Manege jagen. Die Kinder jubeln. Auch noch, wenn die Kerle ihn endlich ins Sägemehl werfen. Ihm die Schminke mit Sägemehl aus dem Gesicht reiben.
Ist er nicht der verkleidete Kuwilier ?
In zweihundert Jahren hat man seinen Namen nicht aussprechen ge-lernt, aber der Liliputaner, der da schreiend um sich schlägt, das muss er sein, der sich heimtückisch versteckt, weil er ein Staatsfeind ist. Hier im Zirkus, zwischen Schwertschluckern und dressierten Ziegen drückt er sich vor dem Gesunden Volksempfinden.
Drei Bildhauer werfen ihn sich zu wie einen strampelnden Kater, ihre Erzgießerarme sind stark genug, ihn aufzufangen. Die Kinder jubeln. Als ein Rahmenmacher ihn auffangen soll, strauchelt er, und als der Rah-menmacher ( es ist ihm zugute gehalten : er hantiert sonst nur mit Holz-leisten ) den vermuteten Kuwilier mit mattem Schwung zu einem Gold-schmied weiter schleudert, geht der mit Kuwilier zu Boden, und nur dem Goldschmied gelingt es, sich danach wieder aufzurappeln.
Um nach dem Clown zu treten, der ihn zu Fall gebracht hat, statt dass der seine Schuldigkeit als Spaßmacher in der Manege tut. Und das höhnische Gelächter verschuldet, das nun über dem tief gedemütigten Goldschmied zusammenschlägt.
Was die Kinder im Zirkus gesehen haben, lassen sie auf dem Nach-hauseweg an den Gartenzwergen ihrer Nachbarn aus. Die haben die Kin-der immer schon verhöhnt mit ihrer Kleinheit, mit ihren weißen Bärten und ihren Grinsegesichtern. Es tut den Kindern gut, ihnen die zu zer-schmettern und ihnen das Grinsen aus den Fressen zu hauen.
Aber die Gartenwichtel sind aus Plastikmasse gegossen und klötern hohl doing doing doing. Womit sie die Kinder schon wieder verhöhnen. Die Gift und Galle der Vorgartenbesitzer, die sich gegen die Kinder rich-tet, fordert die Gift und Galle ihrer Eltern heraus, es kommt unter ge-schwungenen Zaunlatten weit mehr zu Schaden als nur Gartenkugeln und Nasen und beschwichtigende Mütter müssen sich dazwischen werfen.
„Hörts auf hörts doch auf alles nur wegen dem verfluchten Kuwilier !“
Den gilt’s doch dingfest zu machen.
„Und dann derschlagts´n !“
Man hat ihn für eine Jahrmarktsattraktion gehalten, einen Misswurz aus einer Menagerie. Man war bereit, ihm ein Almosen in den Blechnapf zu werfen, wenn er denn einen hingereicht hätte und obwohl er nicht auf den Händen laufen konnte. Und, einmal eingeschlichen, hat er alle betro-gen in seiner scheinheiligen Zwergischkeit.
Genasführt, zu Narren erniedrigt, noch niedriger als er selber. Un-messbarer Schaden ist entstanden durch ihn. Links und rechts von ihm Kahlschlag. Handwerker, die ein sicheres Auskommen hatten und Fami-lien gegründet, liegen auf der Straße. Die Stukkateure, Kostümschnei-der, Wärter von Pfauen und Meerkatzen, Polsterer und Feuerwerker werden bespuckt und verhöhnt. Und sogar ihre Kinder als Zwergzwergi-Bankerte veräppelt, die Gemütsart des Landes ist bildmächtig im Erfinden von Schmähungen.
Die Hofhaltung, deren Prunk Heerscharen anzog, steht verwaist. Die Touristen irren, auf der Suche nach dem gewohnten Schaugepränge, das sie aus St.Louis/Missouri oder Singapur hierher gelockt hat, ratlos durch die leere Residenz.
Wo die Nutznießer des vormaligen Systems, die Gradlinigen, die Uni-formträger und die Spartanischen, nun ihrerseits Posten bezogen haben. Sie schmerzen die leeren Wände und schmucklosen Säle nicht, ihr Wesen ist die Kargheit und war immer die Kargheit, eine vom Gnom unter-drückte Kargheit.
Nun nehmen die Kargen die schnurgeraden Straßen des Leo von Klen-ze wieder in Besitz mit klingendem Spiel in ebenso geraden, dem Manns-tum wohl anstehenden geraden Rhythmen. Lange verwaiste Wach-häuschen werden wieder bezogen, Posten stehen wieder Posten, in grauer wetterfester Montur.
Das Land ist ein wehrhaftes Land, es liefert wehrhafte Produkte in alle Welt, es darf erwartet werden, dass die Landeskinder sich dessen bewusst zeigen in Haarschnitt, Kleiderschnitt, Kleiderfarbe. Die Jugend, die es eben noch chic fand, Kniehosen und Reifröcke zu tragen, kleidet sich feldgrau, gefällt sich in Razzien auf Kniehosen, Perücken, Reifröcke.
Seidenes überhaupt.
Die Straßenstreifen setzten Betongesichter auf wie weiland Joseph Effner eins aufgesetzt hatte, und nachts werden nun auch die Bauten wieder mit Scheinwerfern angestrahlt, die der Führer hinterlassen hat und in das respektable Licht gesetzt, das ihnen gebührt. Sie sind vorbildhaft, erkennt man jetzt, sie strahlen eine standfeste Kraft aus, die sich jedem mitteilt, der sie betrachtet. Noch.
Die sich aber sogleich erheben kann um aufzubrechen zum Kampf wie eine Panzerkolonne oder eine Kolonne von Schlachtschiffen und wer den Sieg davonträgt ist unzweifelhaft angesichts ihrer wehrhaften Mauern und ihrer mannhaften Schmucklosigkeit.

An den Riesen traut sich keine Streife heran. Aber nachts angestrahlt wird er auch nicht. Er schreitet dahin unter seinen Sternen, als trüge er den Regenten und die Regentin zu einem Trachtenfest oder einer Schul-Einweihung. Aber diesmal trägt er allein Professor Haberstock, der an Bord geflohen ist wo ihn, wie er hofft, Quantz nicht vermutet.
Der Regent hat in seinem Eigenheim bleiben müssen, die Fenstervor-hänge lachen treuherzig nach draußen wie immer, aber im Schlafzimmer findet man den Ernstl säuberlich zugedeckt und leblos, bekleidet mit einem Pyjama, den ihm die Regentin selbst ausgesucht hat. Die Rechner des Großen Konsortiums, bereits schläfrig geworden über seiner Causa, haben den Regenten abgeschaltet.
Beinahe wäre sein Fall unverhandelt geblieben, hängen geblieben auf dem Dienstweg zwischen den Großrechnern. Die Turbulenzen um den Gnom, zusammen mit der bedrohlichen Weltlage, hatten ihre Kapazitäten überhitzt, und einige Rechner waren ihrerseits bereits abgeschaltet, als die Abschaltung des Ernstl erörtert wurde.
Von den einen wurden gewisse Indizien für erdrückend befunden, der Ernstl habe die Verschwörung begünstigt, in deren Mittelpunkt – cher-chez la femme - seine Tochter Reserl stand, von anderen wiederum, er sei der einzige Nicht-Verschworene weitum gewesen. Die Rechner des Elektronikkonzerns waren für Herzinfarkt als Buße, die der Panzerfabrik für Amtsenthebung, die Mehrheit für einen Kuraufenthalt bis auf weit-eres. Nur der Rechner des Konzerns Quantz hatte alles, was über den Monsignore gesammelt wurde, versehentlich aufs Konto des Regenten gespeichert und wurde dabei ertappt. So war sein Antrag Einweisen in die Selbstreinigung von a priori nichtig.
Ernstls Herz war diesem Gezerre nicht gewachsen. Das stille Lächeln auf seinem Gesicht aber zeigt an, dass er einverstanden war mit jeglicher Maßnahme die über ihn verhängt werden sollte.

Durch den Vorgarten des Eigenheimbesitzers Ernstl schreitet Hölzl bereits in der Haltung des Serenissimus, der er bald sein wird. Halt dich grade, Poldlerl, hat sein Vater ihn immer ermahnt. Aber was hat der Bürgerliche schon von Buckeln verstanden, und er belobigt sich selbst, wie er seine Krummrückigkeit in blaublütige Grandezza verwandelt.
Das Haus ist voller Blumen bis unters Dach, die Zimmer viel zu klein für so schwere Gerüche. Eine Aussegnungshalle hat hohe Gewölbe, um sie aufzufangen, in Ernstls Einfamilienheim bleiben die Lilien- und Ro-sen-Chrysanthemen-Dünste unter den geschnitzten Balkendecken hängen und nehmen Hölzl den Atem.
„Also Hölzl - !“
Der hustet, wegen der Dünste. Die Fürstin Lichnowsky tritt auf ihn zu.
„Wir finden uns hier ganz und gar auf uns allein gestellt mit unserer Trauer, Hölzl !“
Schon wieder Hölzl !
„Aber der Verewigte und die Frau Gemahlin- „
Er muss der Fürstin Lichnowsky die beiläufig hingestreckte Hand küs-sen.
„- und unser aller Reserl sind unbekannten Aufenthalts !“
Dann den Damen Waldersee –
„Und nirgendwo ein Katafalk.“
- und der alten Schwarzenberg und dann der jungen Schwarzenberg und dann der ganz jungen Schwarzenberg.
„Es ist ein Skandal sondersgleichen !“
Und auch die Liechtensteinische hat es sich nicht nehmen lassen ihre Aufwartung zu machen.
„Ein Frevel gegen die monarchische Idee !“
Die ganze Corona ist zugegen, die das Reserl und Traudl in die Fein-heiten des Monarchischen hat einschulen sollen. Sie bewegt sich in dem stickigen Bestattungs-Odeur, als wäre diese ihre ureigenste Atemluft. Und Hölzl, halt dich grade, Poldlerl, rügt sich hustend, dass er die Fenster aufreißen möchte. Aber da ist nichts zu wollen : in den Fenstern stehen dicke Kerzen und leuchten ihre Trauer nach draußen, wo das Volk am Zaun verharrt. Hölzl wünscht sich, dass die Damen wenigstens luft-spendende Fächer zur Hand hätten, wie anno kaisermal.
„Ins Esszimmer hätt der Katafalk doch wunderbar stimmig hinein-passt.“
„Eine Kapuzinergruft mit Flieder und Herrgottswinkel.“
„Im Schlafzimmer noch weit stimmiger. Unter einer entsprechenden Drapierung. Schwarzer Samt,und gerafft.“
„Fragen wir doch den Herrn Sonderkommissar, wo er den Katafalk hat hinstellen lassen.“
Alle Damen wenden sich Hölzl zu. Sein Teint wird noch bleicher als sonst, und die Stirnadern noch violetter, auf dem Fonds seiner weißlichen Haut.
„Hölzl !“
Hölzl hat nur Ernstls Sitzgelegenheit gedacht, den Thron. Für sich selbst. Jetzt ist er nah an einer Ohnmacht, denn nun dringen neben dem schweren Blumenduft auch noch die versammelten Parfüms der Damen auf ihn ein.
„Der Herr Sonderkommissar schweigt uns beredt was vor.“
Hinter ihren Trauerschleiern vergittert, mustern sie ihn wie Sultans-frau-en, die in der Anonymität ihres Miradors unter den Vorübergehenden denjenigen auswählen, der am Nachmittag auf dem Marktplatz geköpft wird.
Halt dich grade, Poldlerl.
Hinter seinem Rücken, als sei er gar nicht anwesend, beginnt die Liechtensteinische eine Lobrede auf ihn, Als einer, schnattert sie, der mit affairs très secrètes umgehen muss, ziehe er sich beachtlich aus der Affaire.
„Für den Anfang, das g’hört gewürdigt, macht’ers durchaus so lala.“
„Und was bleibt ihm schon weiters als wie nur der Anfang.“
“Weiß ma doch eh, was aus einem Bürgerlichen wird, der sich zu hoch hinauf traut.“
Nun ordnet sich alles zu einem Netz, in dem Hölzl bald die Spinne ist und bald nur noch die Fliege.
„Der muss vertreten, diese ominösen Verschwörungen wären nix weiter als wie ein Werk des Herrn de Cuvillíés“.
Sie sprechen den Gnom so korrekt aus, wie Hölzl es von Landeskindern noch nie gehört hat, mit einem eleganten Anhub beim ersten i.
„Armer Hölzl.“
Für die Damen ist der Arme damit wie hinter einem Paravent ver-schwunden, auch wenn ihm nun die blauvioletten Adern ins Blau-schwärzliche schwellen. Denn er muss mit anhören, dass die Freifrau von L. alles über die Verschwörungen erfahren hat, rein alles, die ganze Affär kleinklein, von einer gewissen Komtess, die es ihrerseits im Bett erfahren hat. Dem zuverlässigsten Horchposten seit Marquise de Pompadour und Ludwig dem Heiligen.
In Wahrheit ( aber was heißt hier Wahrheit ), ist die Freifrau von L. selber eben diese betthörige Komtess, und ihre Nachrichten umso zuver-ichlässiger. Authentischer als alles was Mikrofone, Wanzen und Beobach-tungssatelliten erlauschen könnten.
„Das große Konsortium hat halt wieder amal durchputzt.“
Quantz war Haberstock im Wege, der eine wollte dieses Atompro-gramm, der andere wollte jenes Atomprogramm, aber beide Strategien versagten vor der asiatischen Gegenrüstung. Quantz musste sich Ha-berstock vom Hals schaffen und Haberstock Quantz.
„Und jetzt versteckt der eine wie der andre, das schwör ich, im Riesen.“
„Eingenäht ins Futter.“
„Und schwänzen so alle zwei, dass sie weg g’hören.“
„In den Mistkübel.“
„Aber Hoheit…“
„ Dann halt in die poubelle, Sie Tschapperl.“
„Unsereins denkt eher an den Dolch, der zu Absolutismus-Zeiten zuver-lässig hinterm Bettvorhang gelauert hat.“
„Und man hat noch von Glück sagen können, wenn der hinterm Bettvorhang bloß der eigene Halbbruder war.“
Die Enkelinnen und Urenkelinnen der Entthronten haben ein untrüg-liches Gespür für solche Verklappungsvorgänge, wann sie anstehen und wann sie überfällig sind.
„Späterhin hat man Guillotinen dafür herg´nommen.“
Da beschließt Hölzl, halt dich grade Poldlerl, dass er lieber seinen Kopf behalten will als seine Reinheit.
„Ich werde den Trauerzug des Regenten anführen.“
Stracks hat er die Aufmerksamkeit wieder für sich.
„Als erster und niedrigster Diener des Verewigten.“
Die vereinigten Parfüms der Damen blähen sich erhitzt.
„No da schau her. Das nenn ich ein wahrhaft tiefseelisches Zeichen.“
Und er lädt die Damen ein, ihn zu begleiten, mit Kerzen in den Hän-den. Auf Pilgerschaft wie er, unbeirrt von Regenschauern und in festem Schuhwerk. Es wird still. Man hat sich in ihm getäuscht, ist aus dieser Stille heraus zu hören. Und betrachtet seinen bleichen Teint nun wohl-wollender. Diese violetten Adern, und dieser Zungenfehler ! Die Damen schmelzen Hölzl ein in die Moribunden-Friese, vor denen sie sich seit je-her bewegen.

„Anlässlich des Hinssssscheidens unsssseressss Regenten Ernsssst“ verkündet Hölzl, “wird eine ssssiebentägige Sssstaatsssstrauer -“
In dem weiteren Text wimmelt es nur so von ssstattfinden, ssstattlich, ssstaatlich und sssogleich, und auch dem Ssstaatssssstreich wird Erwäh-nung getan. Hölzl nötigt allen, die ihn hören, Respekt ab : da stürzt sich einer mutig in den Kampf, und wär’s der mit der eigenen Zunge.
Staatstrauer erleichtert vieles und kaschiert noch mehr.
Schwarze Fahnen verhüllen die Werke des Gnoms, die noch nicht be-seitigt ( be-ssseitigt ! ) werden konnten. Die allseits gedämpfte Stimmung ( Sssstimmung ! ) erlaubt tiefes unabgelenktes Nachdenken, Todesgedan-ken gehen um, ja werden wohlfeil.
Und es bleibt unbemerkt, dass hinter den schwarzen Fahnen neue Re-geln eingeführt werden. Mit Bedacht hat Hölzl den Ssssstaatsssstreich zu-mindest ( zumindesssst ! ) dem Namen nach schon einmal erwähnt. So ist er in der Welt, und dass er tatsächlich vollzogen, wird von Trauerfahnen zugehängt.
Und während nun der Leichnam des Ernstl unters Messer kommt und sein Herz herausgetrennt, um es einzubalsamieren ( nach dem altehr-würdigen Rezept aus dem 15.Jahrhundert : zwei Teile Eisenvitriol auf drei Teile schwefelsaurer Tonerde sowie Essenzen, die der Hof streng geheim hält ) und den Muskel des Berufsschullehrers in eine kostbare Reliquie zu verwandeln, vermisst das Volk die TV-Massenbeichten des Monsignore.
Das sündige Volk kann seine Sünden nicht mehr los werden, nicht mehr dem Touchscreen anvertrauen, und keine Absolution mehr erlan-gen.
Und kein „Schwoabn ma’s abi, de roten Sündn und de schwarzn aa glei mit dazua“ mehr hören.
Magengeschwüre, Trunkenheit und Gewaltdelikte nehmen zu. Wirkli-che und vermeintliche Sünden werden ungezügelt in aller Öffentlichkeit herausgeschrien, in Verkehrsmitteln, Supermärkten und Frisieralons. Alle Welt kann sie mit anhören, und man zerrt nicht einmal mehr die Kinder fort.
Die elektronischen Ohren des Großen Konsortiums erfahren, was ihnen bisher verborgen geblieben war. Die elektronischen Ohren kennen keine Tränen und kein Entsetzen, aber im Großen Konsortium sieht man zusammengekniffene Münder, und Udo Quantz tobt hinter verschlos-senen Türen.
Der Riese, wird gemeldet, hat sich sich ohne Marschbefehl entfern. das kann nur bedeuten, dass Haberstock sich in ihm versteckt. Eingenäht, der feige alte Sack, ins Futter.
Quantz lässt den Riesen unter Feuer nehmen.
Seine Hände, die sonst den Hofstaat tragen, fahren vors Gesicht, aber auch unter dem Angriff der Lasergeschütze schreitet Gregor weiter. Seine Innereien sind getroffen, die Füße tun ihren Dienst, im Unterleib sind große Lecks, Gregors Hände tasten daran herum und versuchen beisam-men zu halten was nicht mehr beisammen zu halten ist. Der Darm ist an-geschossen.
Der Riese scheißt alles aus sich heraus, was er je verschluckt hat.
Zuerst die Querhammel und Obstruanten, die man vor Zeiten in seinen Rachen geworfen hat in der sicheren Erwartung dass er sie zerbeißen wird. Aber er hat sie nicht zerbissen, er konnte sie gar nicht zerbeißen, ebenso hätte man ihn mit Feldsteinen atzen können, seine Schneidezähne waren schon seit Urzeiten zu stumpf zum Zersäbeln selbst von Feldhasen, und seine Stockzähne standen viel zu weit auseinander zum Zermalmen.
So glitt, was man in seinen Rachen warf, unzerkaut den Schlund hinunter. Und traf dort auf Wald- und Wiesentiere, die sich, als der Riese schlafend auf einer Lichtung lag, arglos in seinem offen stehenden Maul hatten umsehen wollen. Ob es nicht tauge als Wohnhöhle, Paarungskuhle, Nistplatz, oder einfach Schattenlaube bei Sommerhitze. So fanden sich hier Schafe verschiedenster Rassen ein, später dann die zugehörigen Hirten, die ihnen suchend hinterher geklettert waren. Und schneller noch Rebhühner, Dachse, Wachteln und Feldhasen, die vor ihnen her in ein vermeintlich sicheres Versteck flüchteten. Hinterdrein neugierige Kühe, die hier satte Weidegründe erwittert zu haben glaubten.
Als als sie aber entdeckten, dass das was sie für einen Anger voller saftiger Kräuter gehalten hatten, die Zunge des Riesen war, fanden sie keinen Durchschlupf zwischen den Zähnen. Mensch wie Tier, vom Spei-chel des Riesenmauls hüfthoch eingeschleimt überfiel der Urschreck, dass sie ober- wie unterwärts von den Hauern des Riesen umfangen wa-ren.
Ihr letztes Stündlein stand bevor, Todesangst war angesagt, aber mitten-hinein meckerte aus der Spucke heraus fröhlich ein Ziegenbock, seine Frauen und Zicklein fielen mit ein und unversehens schwammen sie ge-meinschaftlich durch die Mandeln hindurch, wie auf einer Rodelbahn hinab in die Speiseröhre. Wo sie auf Eulen stießen, denen die Finsternis im Riesenschlund zupass kam, denn hier konnten sie sich nicht nur des Nachts, sondern auch tagsüber der Jägerei hingeben, weil es hier unten keinen Tag mehr gab und sich Haselmäuse und Eichhönchen greifen, die in Obstbäumen wohnten, die keine grünen Blätter mehr hatten, sondern weiße, aus Kirschkernen und Mandeln gekeimt, die der Riese vor Zeiten in süßen Kuchen verzehrt hatte.
Und die ihr Wurzelwerk in die Fensterhöhlen von Gebäuden getrie-ben hatten, die nun kein Fenster mehr brauchten, denn es herrschte Fins-ternis draußen wie drinnen. Es waren Freunde des Gnoms gewesen, die diese Bauwerke versenkt hatten, denn der Gnom selbst hatte sie errichtet. Nun lagerten sie hier unten, zu ihrem eigenen Schutz. Gleich neben anderen Gebäuden, die nun wieder die Feinde des Gnoms an den Riesen verfüttert hatten, in der sicheren Erwartung, dieser werde sie auf Nimmerwiedersehen verdauen.
Und auch diese hatte der Gnom errichtet oder doch errichten wollen. Denn manche von ihnen waren noch nicht fertig gebaut und bis zum Dachstuhl gediehen, noch immer werkelten Bauleute darin, setzten Stein auf Stein, verputzten die Wände und die Stukkateure warteten mit ihren Gipsbottichen darauf, sie mit des Gnoms berühmten Rankenwerken zu schmücken.
Sie alle kamen bei künstlichem Licht weit zügiger voran als bei dem der launischen Sonne, nichts störte sie in ihrem Tagwerk, keine Ehe-frauen, keine Kinder, kein Wolkenbruch und kein Frost, denn sie hatten verstanden, die Bauchgase des Riesen für ihre Lampen abzuzapfen und damit ihr Arbeitsrevier auszuleuchten , zogen unverdrossen Plafonds ein, verlegten Parkettböden, trieben Flure voran, setzten Etage auf Etage weit über die Pläne des Gnoms hinaus, denn die Risszeichnungen waren ir-gendwo vergessen worden in den Darmwindungen, und wenn ihnen eine Schleimhaut im Wege stand, durchbrachen sie, mauerten sich voran in die Milz, legten Bohlen in die Bauchspeicheldrüse und zimmerten Wendeltreppen in die Labdrüsen.
Und wurden stets gedrängt : Platz da ! Noch ein Kämmerchen her ! Denn Wohnraum war knapp in diesen Regionen, sie wurden bevölkert von Wesen, die es draußerhalb, jenseits der stumpfen Zähne des Riesen, nicht gab, weil ihre Eltern sich erst in der Finsternis hier unten zusam-mengefunden hatten.
Wo sie sehr wohl erkannten, dass sie Weiblein und Männlein waren, nicht aber welcher Art, woraus mancherlei neue Arten entsprossen. Mischwesen denen Tentakeln wuchsen, Oxolotl mit Hebammen und Chemischreinigern als Halbgeschwistern und vieläugige Olme, blutsver-wandt mit niederbayrischen Viehzüchtern, denen sie freilich nicht im ent-ferntesten glichen.
Dieses Völkchen drängte sich eng auf eng mit Verschwörern, die vor Zeiten geplant hatten den Riesen mit Gift ums Leben zu bringen, um damit eine Revolte auszulösen. Zu diesem Zweck hatten sie aber und aber Hektoliter von Eisenhut, Bilsenkraut, Seidelbast und Weißem Germer zu Mordbrühen aufgekocht, die sie sorgsam Eimer um Eimer dem schlafen-den Riesen in den Schlund schütteten, bis sie im Giftrausch bewusstlos in eben diesen Schlund hineingespült wurden von ihrer eigenen Übelsuppe.
Die dem Riesen lediglich einen mäßigen Schluckauf entlockte, mit dem er alles, was an Gift mühselig hinein geköchelt worden war, wieder ausspie.
Freilich nicht die Übeltäter, die von jedem Rülpser erneut an seinen Mandeln geschleudert, dort hängen blieben und endlich durchgewalkt in die Tiefe plumpsten. Wo sie, nun Gefangene des Riesenwanstes und ihres eigenen Hungers, genügend verbliebene Brühe vorfanden, um bis ans Ende ihrer Tage Pilzsuppe zu löffeln.
Zwischen den Pilzsuppenlöfflern marschierten, so gut es ihnen eben möglich war, Heerhaufen hin und her, von ihren Vorausmarschierenden in jeweils entgegen gesetzte Richtungen kommandiert, denn die einen gehörten der Weißen Armee an, die anno 1918 die Rote Armee massak-riert hatte, und die anderen gehörten gar keiner Armee an, sondern waren Bauernhorden, die seit dem Jahre des Unheils 1705 gegen die kaiser-lichen Truppen zogen.
Die einen waren bestückt mit Stahlhelmen, Karabinern und Seitenge-wehren, die anderen mit Dreschflegeln und Sensen, und wenn der Vor-austrupp der einen auf die anderen stieß und Stehenbleiben ! Parole ! schrie, konnten sie sich nicht eins werden, denn die einen suchten nach aufrührerischen Arbeitern, die sich verbarrikardiert hatten und die sie erschießen sollten, und die anderen suchten nach einem Durchstieg in den Befestigungsanlagen, hinter denen sich die Soldateska des habsburgi-schen Kaisers verschanzt hatte.
Was sie aber tatsächlich ausfindig machten, waren statt Festungs-mauern nur die Mauern, an denen die Handwerker zugange waren, und die forderten sie auf, ihre Waffen beiseite zu legen und sich nützlich zu machen, indem sie ihnen Backsteine und Mörtel zureichten. Indessen die Soldaten der Weißen Armee von den Giftköchen aufgefordert wurden, sich bei ihnen nieder zu hocken und von ihrem Gebräu zu löffeln.
Stieß aber ein vorausmarschierender Häuptling hie auf einen voraus-marschierenden Hauptmann dort, so brüllte der eine sogleich wie es ihm eingeschärft worden war Niedermachen den Kerl ! und schwang seinen Dreschflegel, um es auszuführen und der andere schrie, wie ihm gleich-falls beigebracht Legt an, Feuer !
Hier unten jedoch, im Gewirr der Dünndärme, blieb der Dreschflegel, mit dem zum tödlichen Schlag ausgeholt wurde, in den Schleimhäuten hängen, und in den Gewehren steckten nur noch die leeren Hülsen der Patronen, weil die Darmdämpfe sie zersetzt und zerbröselt hatten.
Dafür riss ein umso mächtigerer Furz, der urplötzlich durch die Höhlung fuhr, beide Krieger nieder, alle Krieger riss er nieder, samt Ka-rabinern und Dreschflegeln, und schleuderte sie davon, und mit ihnen die Mischwesen, die Bauleute und Baustellen, die Eulen und Kühe und Schafe und Olme und sogar die weißen Bäume.
Das alles ergoss sich nun, kataraktete aus dem After des Riesen heraus, als ein Sturzbach, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat, schoss aus dem Becken des Riesen, zwischen seinen unermesslichen Arschbacken hindurch wie durch ein Portal.
Unter Donner und Blitz. Das Donnern rührte her vom Auf-die-Erde-Poltern der Massen, und der Blitze rührte her von den Magenwinden, die sich an dem Wind draußen entzündeten.
Was da aber donnerte und blitzte, war erst die Vorhut des riesigen Scheißsturms, der nun kommen sollte, war erst das Kackgut aus den un-tersten, dem After am nächsten gelegenen Röhrungen des Mastdarms. Was nun nachrückte, nachgedrückt wurde aus dem Zwölffingerdarm von den Lasten dahinter, das war die Familie des Riesen.
Die der Riese vor Urzeiten verschlungen hatte, weil er ihnen zuvor-kommen musste ihn selbst zu verschlingen. Als er dies widerliche Werk vollbracht hatte unter Gewürge und Gespucke und auch Tränen, als er die übel schmeckende und haarige Bagage durch die Pforte seiner Mandeln – und die war nicht zur Begrüßung weit offen, sondern weil die Natur es so eingerichtet hat, auch bei einem Riesen – und seinen vorbestimmten Weg durch die Speiseröhre und Zwerchfell hinab nahm, erhob die Vettern-schaft ein Geschrei, eben ein Mordgeschrei, das seinen Brustkorb erzit-tern ließ, eben das Geschrei verhinderter Mörder, die beim Morden das Nachsehen hatten.
Dies und noch mehr ihre geballte Masse drückte ihm dermaßen die Luft ab, dass er fast daran erstickte und die Zeigefinger in den Rachen rammte, um sich zum Erbrechen zu bringen und derart die Verwandt-schaft wieder los zu werden. Wodurch er ein wüstes Geruckel in der Speiseröhre erzeugte, es erstarb den gefressenen Riesen das Plärren in den Kehlen und sie – obwohl doch von jeher aneinander spinnefeind – verkrallten sich in Todespein ineinander und flehten mit dem letzten Rest ihrer heiseren Stimmen den jeweils anderen anderen, eben noch gehass-ten Vetterfeind, um Rettung an.
Es war ein kathartisches Spektakel, an dem der Heilige Franziskus seine helle Freude gehabt hätte. Nur dass der Heilige Franziskus eben im Riesenschlund nicht anwesend war, wo sich die aufgefressenen Riesen-vettern zu einem unheilvollen Klumpen verklammerten, der weder vor- noch rückwärts zu ruckelte und dem armen Riesen Gregor die Brust ver-mauerte.
In seiner Not soff der gluckergluckerglucker einen ganzen See leer, und die sperrigen Vettern wurden mit hui – Erlösung ! – unter munterem Gießbach-Zischen vom Oberbauch in den Unterbauch gespült, und wie Frösche aus der Wasserleitung in den Magen gespien.
Nun sannen aber draußen in der Welt, außerhalb von Gregors In-nereien, noch immer Mitglieder seiner Riesensippe fressgierig auf Rache für die bereits Verschlungenen. So sah der Riese sich gezwungen, eine unbekömmliche lang Weile ausschließlich Verwandte als Nahrung zu sich zu nehmen. Eine Kost, die ihn, da den Geschmacksorgen eine Tortur, erbarmungswürdig abmagern ließ.
Mit ihm magerte auch sein Magen, in dem es für die Verspeisten daher eng und immer enger wurde, zumal die frisch Verschluckten sogleich die altgewohnte Zwietracht wieder aufleben ließen. Fürs erste noch milderte diese der See, der sich ihretwegen und durch sie hier unten eingefunden und breit gemacht hatte. Seine Fische schwammen staunend zwischen den verschlungenen Riesen umher und bewunderten die Luftblasen, gefüllt mit gelbem Zorn und schwarzen Verwünschungen, die aus ihren Mäulern aufstiegen. Und die die Speiseröhre des Riesen, als wären es seine eigenen Aufstoßer, wohl oder übel hinauf weiterleiten musste ans Freie, wo sie als schwefelige Giftblasen zerplatzten.
Je mehr aber der See sich abwärts in die Harngänge vertröpfelte, umso trockener wurde wiederum der alte Hass, bis er sich aufs Neue entzün-dete, und schon verspeiste aus alter Gewohnheit wieder der eine den an-deren. Das aber minderte zwar die Personenzahl und milderte die Enge im Riesenmagen.
Steigerte aber auch den Grimm auf die Sippe ins Unermessliche, denn diese war nicht nur übel schmeckend sondern auch unverdaulich, verursachte Bauchkrämpfe und übles Aufstoßen, und dem armen Riesen oblag es, auch dieses durch sein Röhrensystem nach draußen zu be-fördern.
Die Rülpsenden aber sannen sehnsüchtig den Aufstoßlüftchen nach, die frei davon perlen durften, während sie hier fest saßen, und sie fanden nicht den Dreh sich selber aufzustoßen. So verlegten sie sich, da ihnen schon die Chemie nicht zu Willen war, auf die rohe Riesengewalt. Dazu fehlten ihnen aber die Hieb- und Stichwaffen um dem Vetter die Darmwände kunstgerecht aufzuschlitzen.
Und selbst wenn dieser Metzgerstreich gelungen wäre, was hätte es ihnen genützt, in den angrenzenden Eingeweiden des Vetters hätten sie sich heillos verirrt. Wer von ihnen wusste schon, wie eine Milz von innen aussieht oder ob es sich eben in eine Niere geklettert seien, ob nun die rechte oder die linke. Und ob es aus der Bauchspeicheldrüse Verbin-dungswege hinüber in die Leber gibt und von da in die Harnröhre, aus der man das Tageslicht wieder erblickt.
Wenn sie es also nüchtern bedachten, waren den Eingeschlossenen nur ihre Eckzähne zur Hand oder eher zu Maul, diese aber glitten wieder und wieder elendiglich an den glatt-glitschigen Darmwänden ab, dass es rein zum Heulen war. Letztendlich, um nicht vollends klein bei zu geben, verfielen sie darauf, ihre Gliedmaßen dermaßen von sich zu spreizen, dass kein anderes Speisegut mehr passieren konnte Anhalten ! Kein Durchgang hier ! und der Vetter an Hunger einginge und gleichzeitig an fortdauernder Verstopfung leiden müsste, samt Blähungen und schwä-renden Eiterbeulen, an denen sie sich berauschten noch ehe sie sie erzeugt hatten, und an infernalischem Dauerfurzenmüssen.
Unterdessen wirkten die besonderen Mechanismen des Riesenmagens auf sie ein und kneteten sie in ihrem von der Natur bestimmten Zeitmaß durch. In der Weise, dass die Längs-und Ringfasern des Magens ihres Vetters ( wie jedes Magens, auch des ihren, aber in diesem befanden sie sich ja nicht oder nur einige von ihnen ) in unermüdlicher Bewegung war ( wissenschaftlich heißt diese Peristaltik ) und bald sich strafften, bald sich zusammenzogen, so dass alles was darin herumquoppelte, quorlte und quampfte, in regelmäßigen Abständen gegen die Schleimwände ge-presst wurde. Damit die Labdrüsen, die darin festgewachsen waren, das Verspeiste, sei’s Vetter oder Gebäude oder Vieh, weidlich sülzten und üppig mit Salzsäure tauften und vom Festen zum Weichen wandelten.
Um es nach solcher glücklich vollbrachten Zurichtung durch den Schließmuskel der Pförtnerklappe in den Zwölffingerdarm zu schieben, wie eine Lämmerherde abends in den Stall geschoben wird.
Die verspeisten Riesen wurden dessen freilich nicht teilhaftig, sie stemmten sich ja gegen jede Wandlung und rammten ihre Füße tief in die Labdrüsen des Vetters. Aber so bockig ortsfest sie sich auch verhielten, das Gewirbel um sie ließ sie nicht ungezaust. Sie gerieten zu Wesen, die an Wollstränge erinnerten, vielfach um die eigene Achse verdreht, durch die alles hindurch gepumpt wurde was des Weges schwamm, Axolotl wie Schafe wie Kühe und Olme.
Manches davon verhakte sich auch in ihnen, aber auch und ihren Windungen, Axoltotl, Schulkinder, Obsthändlerinnen und Hebammen, Mörtelbottiche und Gerüste von den Baustellen des Gnoms samt ganzen Dachstühlen, aber auch Bäumen mit weißem Laub, die in ihren Gliedmaßen zu wurzeln begannen. Und sie hatten, fest gespreizt wie sie sich nun einmal hatten, keine andere Wahl, als alles sich ansiedeln zu lassen, was sich da ansiedeln wollte.
So wurden sie zu geselligen Seeanemonen und Korallen zwar nicht des Meeres, aber des Magensaftes, und entfernten sich immer weiter von dem, was sie früher als Riesen verübt hatten. Aber was hat so ein Riese schon verübt, außer Mensch und Tier zu ängstigen, und darüber hinaus nur Kahlfraß. Das hat er verübt. Mit überlangem Verdauungsschlaf hinterher und dem Zuscheißen von Dörfern und Dorfschulen und Gemü-segärten.
Gregor war der einzige Nützliche in der Sippe, er ging wupp wupp manierlich der Wege die ihm befohlen waren, vergaß seinen Magen und die Sippe darin, trug den Hofstaat unter den Sternen hin und hatte die Taschen voller buntscheckigem Wuselvolk von dem die Vettern nichts wussten, obwohl sie nur durch die Bauchwand von ihnen getrennt waren. Und im selben Rhythmus, dem Schrittmaß ihres Vetters wupp wupp schwapp gewiegt wurden wie diese.
Als sie nun ins Freie purzeln, durcheinander geschmissen wie Umzugs-gut, im hellen Licht auf die Landschaft geschissen werden, dehnen sie sich, die sich so lange verkeilt hatten in den Gedärmen des Vetters ohne damit das mindeste zu bewirken, sie entspreizen sich, als hätten sie Tele-skopgelenke, sie sind auf einmal wieder richtige Riesen, und sie erschre-cken sich vor sich selbst so sehr dass sie sich verstecken zwischen dem andern, das aus dem After ihres Vetters herauspoltert.
Wie den Bäumen mit dem weißen Laub, das unter der Helligkeit des Himmels sogleich seine Farbe wechselt.
Grün schießt in die Blätter, und Blüten brechen hervor.
Auch die Baustellen, an denen die Bauleute unverdrossen gewerkelt haben, finden nun Platz, um sich weiter zu dehnen. Aber sie dehnen sich voller Selbstbewusstsein, wie die Bäume, und haben keinen Grund sich vor sich selbst zu grausen wie die Riesen.
Freudig pfeifend nehmen Zimmerer und Mauer wahr, wie viel Grund-stücke, Äcker und Wiesen hier draußen noch nicht mit den Bauten des Gnoms besetzt sind. Das wollen seine Handwerker sogleich beheben und machen sich ans Werk, sie sind auf seine Planzeichnungen nicht mehr angewiesen, lang schon sind sie ihnen irgendwo in den Gedärmen abhanden gekommen, seine Grundrisse sind in ihren Köpfen, sie können seine Werke auswendig, in dem ungewohnten aber höchst willkommenen Tageslicht greifen sie Maurerkelle und Hobel fester, sie haben sie nie aus der Hand gelassen und setzen die Mirakel in Ziegel und Stuck um, die er erdacht hat.

Bei einem Haus, es steht abseits am Rande eines Dorfes, wummert et-was Gewaltiges gegen den Gartenzaun. Was hat da zu wummern, sagen die Leute drinnen, da hat nichts zu wummern, jetzt wird Abendbrot aufgetragen, und die Mutter stellt dampfende Spaghetti auf den Tisch. Es wummert aber doch, sagen die Kinder, und jetzt knirscht es sogar, da ist ein Ungeheuer draußen, das frisst unsern Gartenzaun. Es gibt keine Ungeheuer, sagen die Eltern, ihr schaut euch zu viel Grausgeschichten an im Fernsehen.
„Still jetzt und langt zu, bevors kalt wird.“
Da wummert es wieder und knirscht, als fräße eben doch ein Ungeheuer den Gartenzaun, und das mit größerem Appetit als die Kinder. Schon sind sie draußen.
„Da ist ein Heißluftballon abgestürzt“ meldet eins der Kinder.
„Da sind sogar zwei Heißluftballons abgestürzt“ meldet ein anderes.
Siebengescheites Dahergerede. Bei dieser Dunkelheit kann man doch gar nichts weiter erkennen als dass etwas großes Dunkles zwischen den Obstbäumen wabert. Deren Kronen es aber weit überragt.
„Der Geruch würde zu einem Heißluftballon passen.“
Die Eltern schnuppern.
„Das muss ein Gas sein, das da irgendwo austritt.“
Ein beißend beiziger Geruch, wie von wilden Tieren.
„Und gleich zwei davon…“
„Und auch noch so dicht nebeinander…“
Ein Tier also, zwei Tiere, die da seufzend und quietschend in den Apfelbäumen hängen und deren Bäuche am Gartenzaun schubbern ?
Die Mutter traut sich das anzufassen was ein Bauch sein könnte.
„Es sind Haare dran, lange flusige Haare“.
„Jetzt stinkt deine Hand selber wie ein wildes Tier.“
Süß und beißend beizig. Und warm. Die Kinder sind auf den Gartenzaun geklettert, und von da auf die Äste, die in den vorderen Ballon stechen wie Mistgabeln in einen Heuhaufen.
„Kommt da auf der Stelle runter !“
Aber es ist zu spät für Ermahnungen.
„Wie, wenn das Dingsda explodiert !“
Die Kinder haben ein Abenteuer gerochen und keine Eltern der Welt werden sie dran hindern, es auszukosten.
„Da singen welche !“
Jetzt hören auch die Eltern dass in den Ballons noch etwas anderes sein muss als das Stinkegas.
„Da müssen wir rein !“
Lachhaft vergebens brüllen die Eltern, benommen von dem Süßbei-zigen. Das Geturne der Kinder lässt die Äste der Obstbäume schwanken. Sie sehen dabei aus wie Finger, die über den rätselhaften Ballon strei-chen, um ihrerseits zu zu abzutasten was wohl darin sei. Die Kinder haben einen Schlauch entdeckt, der in einer Astgabel hängt wie der schlaffe Arm einer riesigen Krake. Eine Kriechröhre ! Die sie ins Innere bringt. Und sie entdecken auch noch, zu allem Unglück für die Eltern und zu allem Glück für sich selbst, dass das ausgefranste Ende dieses Schlauches über das Garagendach baumelt. Seine runde Öffnung lockt wie ein Kanalrohr, mit so etwas wie einem offenen, weichen Maul, mit dem es Wagemutige küsst. Und schon sehen die Eltern ihre Kinder als Verdickungen in der Röhre vorankrabbeln, das sich vom Garagendach hinüber zu den Bäumen schwingt, und diese Verdickungen wiehern vor Lachen. Nun hilft kein Zurückschreien mehr, vor lauter Hilflosigkeit fallen der Mutter wieder die Spaghetti ein, die auf dem Tisch erkalten. Da fasst ihr Mann sie an der Schulter.
„Horch – jetzt sind da auf einmal Gongs“.
Da drin, drinnen in was auch immer, wird auf Becken geschlagen, schwere Bleche, und es klingt als ob Glocken läuteten. Den Kindern, die ins Innere des Ballons vorgedrungen sind, dröhnen sie so laut in den Ohren, dass sie nicht verstehen, was die rot gewandete Tante da in der Mitte der Höhle verkündet.
Auch wenn sie noch so schreit, und dabei pendelt ein großer Perlenring vor ihrem Gesicht hin und her, und an ihren Armen pendeln ver-heißungsvolle Klunkerchen, Talismane und bunte Zöpfe.
Was für eine Verkleidung ! Ein aufregendes Spiel steht bevor. Das Per-lengehänge kommt zum Stillstand, bedeckt beide Augen, wenn sie jetzt die Arme hebt und die Gongs mit einem Mal verstummen.
Sie schreit etwas von Verhängnis und Schicksal und Vorbestimmtem und dass ein Beben über sie alle gekommen ist, von einem Gott ge-schickt, dessen Namen die Kinder aber nicht verstehen, und mit den allen meint sie die Weiber die sich vor ihr auf den Bauch geworfen haben.
„Aber da ist doch kein Gott mit bei !“ rufen die Kinder, um endlich mit ins Spiel zu kommen.
“Ihr seid in unserm Apfelbaum gelandet mit eurem Ballon.“
„Kiiiiiinder !!!!!“ kreischen die Oberpriesterin und ihre Glaubeweiber, und nur die Kinder wissen nicht, dass sie eine Priesterin vor sich haben und einen Kult, sie klatschen in die Hände und freuen sich aufs Einge-ladenwerden zu dem Spiel.
Aber sie werden nicht eingeladen, die Glaubeweiber rappeln sich auf die Beine mit erzbösen Gesichtern, die Gongs dröhnen wieder als woll-ten sie die Kinder mit ihrem Getöse verschlingen. Das Zurückrobben in der fleischigen Röhre will den Kindern weit schwerer gelingen als das unbeschwerte Hereinkriechen, sie verheddern sich in sehnig Matschigem, verknäulen sich ineinander, finden den Ausschlupf nicht mehr.
So dass sie nicht mit ansehen wie nun auch der andere Ballon ins Spiel gekommen ist, das kein Spiel ist. Dem ist es übel ergangen, der erste Ballon hat ihn halb erdrückt, so dass er hier und dort aufgeplatzt ist unter noch süßbeizigerem Gestinke.
Kopflose, Verstörte arbeiten sich aus den Rissen in der runzligen, haa-rigen Haut, alles Frauen, aber blutverschmiert wie sie sind, geht es ihnen vorab nicht um sich selbst, sondern darum allerhand Kultgerät zu bergen, Kreuze, Kerzenleuchter und Madonnenstatuen.
Noch und noch Madonnenstatuen.
Dass in den Obstbäumen etwas Frommem ein Unglück zugestoßen ist, hat sich längst herumgesprochen. Der Ortsgeistliche ist herbei geeilt und packt mit an beim Bergen der Frauen und der Madonnen. Aber warum haben die, wundert er sich, wundern sich die Pfarrkindern, warum haben die alle Ledersäcke über den Köpfen und warum sind ihnen Lederbeutel vor die Brüste gebunden ?
Und warum sind die Frauen zugehängt mit Lederbeuteln, die den beiden riesigen Säcken gleichen, die in den Bäumen hängen ?
Weil die lederbeutligen Madonnen nun einmal geweihtes Gut sind, sollen sie in der Dorfkirche Aufnahme finden. Beflissen und voll gepackt geht der Pfarrer dem Zug seiner voll gepackten Gemeinde voran, links und rechts an der Hand je eine der Verunglückten, Trost spendend und warmen Kakao verheißend.
Seine Kirche ist eine von betont moderner Aufmachung, manchem Gläubigen schon von allzu moderner Aufmachung, von einer Sporthalle nicht mehr zu unterscheiden, und unser Trafohäuschen hämen sogar die Getreuen, die trotzdem jeden Sonntag hinein gehen.
Dieses ausgestellt Schnörkellose wird nun ein Ende haben, die wunder-lichen Lederbeutelfigürchen werden den nüchternen Sichtbeton vergessen machen, und das beißendbeizige Rüchlein, das sie verbreiten wird man hinter Weihrauchduft verschwinden lassen.
Als aber der Zug bei der Dorfkirche ankommt, tönt es ganz anders heraus, als es aus einem Trafohäuschen tönen würde. Und auch aus einer Schulsporthalle.
Drinnen wird auf Becken geschlagen, auf schwere Bleche, es klingt als ob Glocken läuteten. Die mit denen, die im Turm hängen wenig gemein haben, so dunkelheidnisch hören sie sich an. Die Tür ist verrammelt, und als einige vom Pfarrgemeinderat eine Räuberleiter bilden, können sie nur vermelden, dass ein Riesen-Etwas auf den Altar gesetzt worden ist das aussieht wie ein hünenhaft aus der Form geratenes Ei.
„Herr Pfarrer…“ stammeln die Geretteten, „unsere beiden Kirchen sind sich spinnefeind.“
Die Geretteten da drinnen, die schneller waren als die Geretteten hier draußen. Und der Pfarrer, der eigentlich erst Vikar ist und somit in vielem Seelenhirtlichem noch nicht recht firm, dafür über und über mit Madonnenstatuen bepackt ( deren Ledersäcklein ihm das Gesicht kitzeln ) versteht trotzdem, dass mit den beiden Kirchen nicht die katholische und die evangelische gemeint sind.
Und dass die Geretteten hier draußen nicht so urwaldswüst drauflos psalmodieren würden wie die da drin. Die nun unter dem Gelärme von Rasselstäben dazu einen Stampftanz aufführen, dass die Fensterscheiben erzittern.
„Und wer erklärt mir endlich was es auf sich hat mit diesem Corpus delicti da auf unsrem Altar.“
Als der Vikar die Antwort vernimmt, ruft nicht er, sondern rufen die Mitglieder des Pfarrgemeinderats : „Um Himmels Willen, schickt bloß die Kinder weg !“
Als sei es der Wille eben dieses Himmels, dass sie nun schon wieder eine Räuberleiter bilden, hastiger als zuvor. Um noch einmal zu be-schauen, was ihnen bei der ersten Beschau ein Mysterium geblieben war. Nun ist es ihnen noch immer noch ein Mysterium, aber nun wissen sie wenigstens, dass das da ein halber Zwilling ist. Ein Ei aus den gestrandeten Halbkugeln.
„Sind denn die Kinder immer noch nicht weg …“
Dabei sind sie längst weg, sie vergnügen sich in den verwaisten Hoden-säcken, singen, brüllen, schlürfen den höllisch beizigen Gestank. Sie haben die Schläuche eingeholt, durch die sie hereingeklettert sind ohne zu erkennen dass es Samenleitern sind, und in den Bäumen verknotet, so dass kein Erwachsener mehr zu ihnen hinauf gelangen kann.
Im kommenden Jahr, wenn der ganze Segen sich aufgelöst haben wird und zu Mutterboden zerfallen ist, werden die Kürbisse hier üppiger gedeihen als je. Und die Stare werden früher einfallen, um die Kirschen-ernte zu vertilgen. Und dennoch den Menschen nichts vor dem Schnabel wegfressen, denn die Bäume werden so reichlich tragen wie seit Urgedenken nicht mehr.
Und Spargel, so prall wie man sie nie gesehen hat, wird es schon im April geben. Dazwischen aber werden, zu jedermanns Verwunderung, wahre Wälder aus Sauerampfer sprießen und wer auf ihn genäschig ist, wird sich bis zur Überfressenheit daran gütlich tun, bis der Saft ihm bis zu den Zehen rinnt.

Die Schulterstücke lösen sich als erstes von meiner Livree. Sie sind vollgesogen mit Schneewasser, sie schreien im Wind, bis die letzten Zwirnsfäden durchgescheuert sind die sie noch hielten. Die Epauletten seufzen, als jammerten sie nach den vielen Besucher auf ihren silbernen Zierstickereien festgeklammert haben, um sich daheim dessen rühmen zu können „auf den Schulterstücken haben wir gestanden, ganz oben, direkt unter den Wolken !“
Nun hält nur noch ein letzter Zwirnsfaden diese Schulterstücke fest, jetzt baumeln sie noch eine kurze Weile auf der Höhe meiner Oberarme, dann meiner Ellenbogen.
Dann nehmen sie Abschied und stürzen hinunter auf die Landschaft. Und die Krähen, die generationenlang auf mir gesiedelt haben, flattern schreiend hinterher und versuchen ihre Nester zu retten.
Dann machen sich die Fangschnüre von meiner Livree los. Sie machen sich nicht eigentlich los, sie können nur ihrer eigenen Hinfäl-ligkeit nichts mehr entgegen setzen, brechen mürbe ab wie Regenrohre an einem verlassenen Haus. Der Wind und das schwere Eis reißen sie herunter, nachdem sie sich lange gewehrt haben. Im Fallen zerren sie die Verschnürungen vor meiner Brust mit. Ein langer schmerzlicher Kampf entsteht daraus, Reihe um Reihe springt krachend von mir fort unter der Zugkraft der Schnüre, die bereits als Geschlinge um meine Knie scheuern und nach Halt suchen. Aber das Eis weist sie ab, mit einem letzten metallischen Seufzer fallen sie nieder, verhaken sich in den Bäumen und wollen mich fangen wie in einem Netz : bleib da ! Bleib bei uns ! Lass dich nieder, wir haben einen Platz für dich gefunden, ruh dich aus, wir gehören zu dir wie du zu uns gehörst.
Aber ich gehe weiter. Wupp wupp wupp.
Von fast allen meinen Eingeweiden schon verlassen, spüre ich, wie sich nach und nach auch die Nähte meiner Livrée auflösen, schwer vom Schneeregen, der durch die Breschen einsickert, die die Schulterstücke gerissen haben. Die Seide der Innenfutter hält der Nässe nicht stand, Taschen zerplatzen unter dem Gewicht des Wassers. Nähte, die mir lange die Treue gehalten haben, geben sich auf und können die Stoffmassen nicht mehr an mich heften. Wenn ich schon lange vorbei bin, höre ich meine Rocktaschen auf den Erdboden fallen, wo sie als wunderliches Fundstücke bestaunt werden mögen. Ich kann nichts mehr für sie tun als ihnen dankbare neue Mieter zu wünschen. Meine Lunge löst sich aus mir, verletzt von den Schüssen die man auf mich abgefeuert hat. Ebenso schwer vom Winterregen wie meine Montur, fällt sie abwärts zwischen meinen Gürtel hindurch, verhält sich noch in meinem Becken, das schon leer ist und plumpst endlich weiter, nicht mehr aufgehalten von den Kniehosen, die sich lang schon verabschiedet haben.
Ich komme schneller voran ohne alle diese Lasten. Nur mein Herz schickt sich nicht an, mich zu verlassen. Sein Pumpwerk gibt meinen Schritten das Maß vor. Es hallt wieder in meinem Knochengerüst, in dem wir nun alleine sind.
Wupp wupp wupp.
Zwischen den Sternen auf die ich blicke, haben sich andere kleine Gestirne eingenistet, die ich nicht wahrnehme. Aber ich weiß, dass sie da sind und von Menschenhand geschaffen. Missgünstige und unbestech-liche Aufpasser, die auf mich herunterstarren und es mit mir und mit niemandem gut meinen.
Was sie beobachten, geben sie weiter in verbunkerte Kommando-Zentralen in Arizona, im Ural, in Changchun, wo ebenso kalte Augen es registrieren und an kalte Maschinen weitergeben.
Ich will meinen letzten Weg nicht von ihnen belauert wissen. Ich strecke die Arme aus in dem Wahn, die kalten Augen vom Himmel herunter zu reißen wie eine abscheuliche Karnevalsdekoration. Aber so weit reichen nicht einmal meine Arme hinauf. Die da oben aber werden es wahrnehmen und als Geste eines hilflosen aber unbotmäßigen Zwerges gegen sich deuten und es mich übel vergelten lassen.
Ich lasse meinen Freund unter der Zunge hervor gleiten, ohne dass er aus dem Schlaf fällt. Ich spucke den Gnom sorgsam aus, ehe auch der Speichel mich verlässt und mein Gaumen austrocknet.
Ich rücke den Gnom mit der Zungenspitze zurecht, denn nun versagen auch meine Arme mir den Dienst. Als ich ihn zurecht gelegt habe, sehe ich nicht das Gesicht meines Freundes, sondern erkenne einen Ein-dringling in ihm der sich unter meine Zunge geflüchtet und sich den Platz meines Freundes angemaßt hat von dem nur die Mächtigsten im Lande gewusst haben und der Tote ist von allen denen der Mächtigste gewesen aber sein Name will mir nicht mehr in den Sinn kommen was bedeutet schon sein Name wenn mir die Sinne schwinden

Wenn die gelben Fahnen nicht knatterten, wäre es völlig still in dieser Gegend.
Ihre Masten sind das einzig hoch Aufragende hier weit draußen, alles um sie her ist flach. Ein Wettbewerb in Flachheit. Das Autohaus weiter hinten. Die Baustoffhandlung in der Senke, die Filiale der Bio-Nah-rungskette. Der Wertstoffhof noch weiter hinten. Die gelben Fahnen sind auch das einzig Kecke hier, und keck wirken sie mit ihrer Sonnen-farbigkeit nur, weil alles andere hier grau ist, grau gedacht von den Bau-herren her, und grau ausgefüllt von den Betreibern.
Was soll man groß mit Farben und Gedöns protzen, kommt eh zu teuer unterm Strich. Die Leute kommen sowieso weil sie einfach brau-chen was hier angeboten wird. Und auf den reellen Discounterhandel setzen und nicht auf verstiegene Schaumschlägerei mit Farben und Gedöns und Protz.
Der Konsumbedarf zwingt sie hier heraus ins Flache, und die Fahnen sind zu dem Zweck : die markieren weithin sichtbar dass der Verbraucher sich hier familienweise mit dem eindecken kann für Haushalt und geho-benen Bedarf.
Parkraum wird zudem reichlich geboten, Kunden haben einen Bonus für einen ganzen Tag, bei Großeinkäufen auch unbegrenzte Parkfreiheit.
Aber heute ist es hier still, weil Sonntag ist.
Gregor der Riese geht in die Knie auf dem freien Feld neben den knat-ternden Fahnen. Knattern ist Dienst, sie sind aus Kunststoff und regen sich nicht auf wenn neben ihnen ein Riese zusammenbricht. Erst überragt er sie noch, aber sein Atem kann nicht mehr in sie fahren wie der Wind es tut, denn Gregor hat keinen Atem mehr.
Er hat auch keinen Blick mehr, auch eigentlich keinen Körper mehr, er ist nur noch ein Gerüst, das seinen einstigen Umfang anzeigt und an dem hier und da noch ein paar Fetzen hängen von seiner Livrée.
Das Bunte daran ist verschlissen. Der Schnee, in den sich der Regen nun verwandelt, tut das seine, die Farben auszuwaschen und der Farbe dieser Ebene hier draußen zu anzupassen.
Der Riese hockt, als wollte er sich ausruhen. Dann kippt er zur Seite, mit der rechten Schulter zuerst, in den Schnee, der nun schon so dicht liegt als wäre er ein Bett, das auf den Riesen wartet. Der Riese lässt keinen Ton hören, als der nun gänzlich hintenüber fällt. Nicht einmal eine Wolke stäubt auf, wenn er hineinsackt, denn dazu ist der Schnee zu nass. Gleichmütig fährt er damit fort zuzudecken was von dem Riesen geblieben ist, wie ein Plumeau.
Drinnen in den Verkaufsetagen, wo es warm und trocken ist, warten andere Plumeaus bezogen mit freundlichen Blumen, wie es sie draußen in der Natur der Saison halber nicht gibt. Wohnzimmer, Küchen, Bade-zimmer, Kinderzimmer stehen bereit, um ganze Familien aufzunehmen, die hier Probe wohnen und andere dabei zusehen lassen, wie sie wohnen. Wie sie sich gesittet auf Sitzgruppen niederlassen, auf Matratzen sprin-gen, hohle Bücher aus den Regalen nehmen um diese mit ihren Puppen zu bestücken. In Resopaltischen spiegeln sich ihre erwartungsfrohen Gesichter. Spülen fordern dazu auf, sie ewig so sauber zu halten wie sie jetzt sind. Armaturen sehnen sich danach, von Hausfrauenhänden aufge-dreht zu werden, und Fußmatten darauf, den Straßenschmutz von Kinder-schuhen zu streifen ehe diese in die Schuhschränke eingereiht werden, die seitlich bereit stehen, in Größen je nach Kinderzahl geordnet und mit freundlich lächelnden kindgemäßen Tierwesen geschmückt.
Die Fahnen knattern.
Im Erdgeschoss des flachen Möbelhauses werden an einem Fenster Stores verschoben. Es wird heraus geschaut, aber mehr als ein schmaler schwarzer Strich entsteht nicht zwischen den Stores. Nun werden sie wieder ineinander geschoben und bilden eine dichte Bahn von weißlichen Linien, die glatt von oben nach unten fallen. Niemand kommt aus einer der eisernen Türen.
Die Fahnen knattern.
Auf die Dämmerung zu, der Riese ist nun gänzlich zugeschneit, bahnt sich ein Streifenwagen den Weg durch den Schnee. Die drinnen sitzen, kurbeln ein Fenster herunter und schauen hinaus auf die aufgerichteten Sohlen des Riesen, die als Steilwand über ihnen hochragen.
Von den Zehen hat der Schnee Besitz ergriffen, es ist nicht mehr erkennbar dass es Zehen sind. Aber auch die Sohlen erkennt der zweite Polizist, der nun aussteigt, nicht als Sohlen. Er hämmert missbilligend auf die Fersen, dabei fallen die Schneemassen, die sich auf dem Knöchel ge-sammelt haben auf ihn herab und er flieht unter Verwünschungen zurück in den Wagen.
Drüben in der Hausmeisterwohnung werden die Stores auseinander ge-schoben. Es wird wieder herausgespäht.
Der andere Polizist kurbelt das Fenster herunter und ruft zu den Sohlen hinauf :“Da derfe Sie net parken !“
Er ruft es dreimal, damit es dem Gesetzesübertreter auch zu Ohren kommt, ordnungsmäßig. Dazwischen lässt er eine Pause, in der seine Rat-losigkeit widerhallt.
Dann beraten die beiden, die im Auto sitzen lange. Der Zweite, es ist der, der sich die Schuhe noch nicht mit Schnee verunreinigt hat, heftet ein Schreiben an die Sohlen. Er fährt so dicht heran, dass er das Papier von seinem Sitz aus befestigen kann, mit einem Klebstreifen, den ihm der andere von der Rolle gerissen hat.
Das Papier enthält alles was im vorliegenden Fall einschlägig ist. Dass hier unbefugt ein Gegenstand deponiert worden ist auf einer unter öffent-licher Verwaltung stehenden Fläche welche für das Abgestelltwerden von Objekten nicht freigegeben ist gemäß ( siehe Rückseite ) und das kein kennzeichnungspflichtiges Fahrzeug ( oder Anhänger, siehe Rückseite ) im Sinne der Straßenverkehrsordnung darstellt.
Womit eine Zuwiderhandlung gegen diese und die Bestimmungen des o.g. Gesetzes gegeben und o.g. Objekt unverzüglich zu entfernen ist. Gez. Amtsstempel.
Die Stores werden wieder ineinander geschoben wenn der Polizei-wagen davon gerollt ist, und bilden eine dichte Bahn von weißlichen Linien, die glatt von oben nach unten fallen. Hinter der das Licht in der Hausmeisterwohnung nicht mehr zu sehen ist.
Niemand kommt aus einer der eisernen Türen. Nur die Fahnen knattern im Wind.
Später in der Nacht verfärbt sich der Horizont im Süden. Grell. Wird weiß. Am Himmel zeichnet sich das ganze Land ab. Zuerst die Flüsse, als weiße Bänder, dann die Seen.
Die Hügel, Weiden, Wälder, Moore. Zuerst in ihren natürlichen Farben die allmählich ausbleichen, ausglühen, verglimmen. Das Dunkle wird hell, das Helle dunkel, das Dunkle gelb rotviolett, dann wieder hell. Ein Kampf der Farben.
Zuletzt erscheinen die Städte als rotglühende Kraken. In ihnen verglü-hen die Menschen, die Schützen, die Trauernden, die die Herz-Urne be-gleiten, die Arbeiter in den Rüstungsfabriken, die Höflinge und Mitläufer und Mittuer und die Ingenieure des Großen Konsortiums.
Mit ihren Rechnern verschmelzen sie zu einer einzigen Masse, nun für immer vereint.

UUARANT ENGILA UPER DIA MARHA
Engel gehen über das Land
UUECHANT DEOTA UUISSANT ZE DINGE
und wecken die Völker und weisen zur Richt¬statt
INPRINNANT DIE PERGA POUM
es verbrennen die Berge und Bäume
MANO MITTILAGART
es fällt der Mond der Erdkreis brennt
KISTENIT UERIT DENNE STUATAGO IN LANT
es steht keine Eiche mehr auf der Erde
DAR NI MAC DENNE MAK ANDREMO HELFAN DEMO
MUSPILLI
Da kann keiner dem andern mehr helfen angesichts der
Zerstörung der Welt
DENNE DAZ PREITA UUASAL ALLAZ VARPRINNIT
Wenn die Erde verbrennt
ENTI UUGIR ENTI LUFT IZ ARFURPIT
und der feurige Wind sie hinweg¬fegt.

Zum ersten Mal erklingt die Stimme des Riesen.
Stimme lässt sich das nicht mehr nennen was dort schmerzlich quarrt wo einmal der Kehlkopf war. Mag auch sein es ist nur der Wind, der klirrend durchs Eis fährt, und es kommt wenn man’s denn in menschliche Begriffe übersetzte, bei diesem seinem einzigen Gesang nur ein mageres Schluchzen heraus. Schluchz nicht, Gregor, würde der Gnom seinem Freund sagen, was uns teuer war ist tief drunten aufgehoben, unzerstör-bar.
Der Gnom geht darin umher und sieht nach dem Rechten, als direc-teur über Gebäu, Festinen und Lustbarkeiten.
Und wer sollte ihn jetzt noch von diesem Amt abberufen.

Das Nachtdunkel des Südens, stelle ich mir vor, ist ein ganz anderes Nachtdunkel als das unsere am Nordhimmel, ein fahriges Blauschwarz muss es sein, mit blaugrünem Dampf darin, spiegelt es doch die uner-messlichen Ozeane wieder. Die Sternbilder leuchten dadurch salziger als bei uns, stechender, erhitzt von den warmen Winden. Ich stelle mir vor, wie es sein muss unter ihrer Wegweisung zu wandern.
Ich werde größere Schritte nehmen können, aber weil dafür zu wenig Land da ist, gelange ich schneller an Küsten und muss ins Wasser steigen und im Ozean bis zu den Knien waten, bis zur Brust, bis zum Kinn und dabei gewaltige Bugwellen aufwerfen, die mir das Gesicht kühlen, bis ich keinen Grund mehr unter den Füßen habe.

Die unermesslichen Schuhe des Riesen mit den silbernen Schnallen sind stehen geblieben, wo der Riese sie hat stehen lassen. Die silbernen Schnallen sind vergangen, aber das Leder hat sich zu harten Wänden versintert, und sein Inneres bildet zwei mächtige Krater. Geschützt vor den Winden, die nun weit glutiger sind und vor der Sonnenhitze, die nun wüstengleich brennt, siedeln sich in ihnen allerhand Wesen an, die den Feuersturm überstanden haben.
Sie sehen keinen Wesen mehr ähnlich, wie sie vordem gelebt haben, aber hier drinnen fühlen sie sich geborgen.
Denn in den Felswänden, die einmal Schuhe waren, lebt noch immer die Erinnerung, dass der Riese sich seiner Schuhe entledigte, weil er die Hände einer Frau erwartete.
















MELCHIORs poetry
MEINE SPHINX

Zwischen all den verklemmten
In- und Unter-sich-Guckerinnen
diesem Haufen evangelischer Schüchterschnecken
mit dem Forthusch-Blick
ist sie – sie ! - mir doch eine recht immense
Erscheinung : man beachte allein ihre goldenen
Brüste. Dazu ihre Flügel aus edelstem Erz.
Anders als den In- und Unter-sich-Guckerinnen
gelingt es ihr ein jedes Mannsbild zu stoppen
das in die Rathausstraße einbiegt
mit nichts weiter als ihren Lapislazuli-Augen.
Behutsam nimmt sie mit ihren Krallen
jedem der die Hand vors Gesicht reißt diese
fort und stellt leise, schmauchend, beiläufig fast ihre
unausweichlichen Fragen
lächelnd dabei mit ihren metallen geschwungenen Lippen.
Und auch noch nach gut sechseinhalbtausend Jahren
hat keiner von all diesen Simpeln irgendeine Antwort
jemals parat.
So bleibt ihr, wie bekannt, nichts andres
als sie zu verschlingen, die Simpel, ob sie ihr munden nun
oder - meistens - auch nicht.
Wenn sie sie dann verdaut und die Simpel
die Ehre genießen in ihren edlen Gedärmen zu rumpeln
darf ich ihr den Metallbauch, den schwer
arbeitenden, streicheln.
Und sie legt ihre Flügel aus Erz dankbar um mich
und die späten Flaneure, die da einbiegen
in die Rathausstraße, haben ihr Wohlgefallen
an uns.


ICH SCHULDE
DIR
EIN GEDICHT

heißt eine CD mit vierzehn
meiner Gedichte,
ausgewählt von Marina Dietz
und gesprochen
von Hans Jürgen Stockerl


( weiterlesen >>> unten links )
>>>
Drei Gesänge vom Haus

1
ANREDE AN DIE KRÖTEN MEINES HAUSES

Ich bitt euch , entspringt nicht.
Lasst zu, dass ich euch anrede.
Ihr seid zu leben gewohnt hier.
Ich bin es noch nicht.
Von daher , ratlos , erhoffe ich Ratschläge von euch.
Dahingehend , wie man sich so unbeschwert durchbringt
wie ihr in diesem Gemäuer ,
ohne Alpdruck und Trauer , und woher euch die Atemluft
kommt in den stickigen Rohren , für die ich euch zuliebe
keinen Mietzins erhebe , Warzige , Breitmäulige.
Ich bin lernbegierig.
Verkriecht euch , bitt ich , nicht vor mir.
Ich erwarte euren Ratschlag .

2
TAGWERK

Weit vor Morgen werd ich geweckt.
Mein Vater steht vor mir , mahnend , nun sei
es hoch an der Zeit , Hand an den Dachstuhl zu legen ,
die Fenster zu dichten ,
auch seien die Regenrinnen schon morsch
gewesen zu seiner , längst verwichenen Zeit.
Und er schreitet aus , keinen Widerspruch duldend.

Hinter ihm her stapfend , sehe ich seinen fehlenden Arm
den weggeschossenen Unterleib
durch die Hälfte seines Schädels hindurch
erblick ich die Mauer
die er zu flicken gedenkt.

Als hab ers gehört , wendet brüsk er sich um :
ich solle mich nicht unterstehen , diese Mängel , sagt er,
als Ausrede für eigene Trägheit zu nutzen.
Schließlich habe , sagt er , aus der erzwungnen Musse
seines Grabes vor Leningrad heraus weidlich sattsam
fünfzig Jahr lang betrachten er können ,
worans diesem seinem , meinem , unserem Hause gebricht.

Beschämt ergreife ich das Werkzeug,
das lange von ihm verwahrte ,
und geh ihm zur Hand.

3
DIE FARBEN

Reiß die Fenster nicht so weit auf , zetert das Schwarz,
die Helle die da hereinspringt , die frisst mir am Teint .
Eben drum ! lache ich . Und beleidigt macht es sich
fort , und hinter ihm her hinken im Lodenmantel des
Missmuts und der Missgunst das Grau und das finsterbeizige
Braun , gefolgt von ihrer Sippe der Zwischentöne aus
gründunklem Hass und hassdunklem Verderben.

Leer ist das Haus nun farblos
will sagen
neuer Färbung gewärtig.

Ich stehe am Fenster und lächle das Abendrot an :
Wohnung zu vermieten ! Willst du nicht einziehn ?
Am besten für immer .
Darf ich mich einreihn , kichert das Ocker , das Abendrot ist
meine Cousine . Hier ist gut sein , japst da die Tante , das
Gelb , und setzt ihre Koffer ab in sämtlichen Zimmern . Ich
bin eine , ich warn euch , die früh aufsteht .
Bei Sonnenaufgang schon spürt ihr meine Goldkringel
auf eurer Nase wie Honig . Und wenn ihr erwacht , steht
meine Schwester , das Zinnober , an euren Betten und
lärmt : aufstehen , freuen , wir kriegen Besuch !

Und schon eilt sie und öffnet die Haustür für
das Blau , das Grün , das Türkis , und die unbestimmte
Färbung des Glücks die am Frühnachmittag sich einstellt
nach einem Beischlaf.

Ich , der Graue ,
trete beiseit und lasse sie alle herein.


DAS TAGEBLATT

Es erstaunt mich nicht dass
mein Vater plötzlich raunzt hinter meiner
linken Schulter : den ganzen Tag, Sohn,
hast du dir nicht Zeit gegönnt ins Tageblatt zu schaun.
Störts dich, wenn ich dir
ein wenig was draus vorles. Während du
weitermachst mit dem was du da treibst, Sohn.
An diesem, ich verstehs nicht, Dingsda.
Mit dem Leuchtschirm und den Tasten.

Ich bediene meinen Laptop, Vater. Aber lies nur.

Was, Sohn, willst du hören ? Sport
oder mehr aus dem Vermischten ?

Lies , Vater, was du dir zutraust. Lies…

Und er liest. Kehlig. Und liest falsch.
„Kondoleeehza Rike“ buchstabiert er
anstatt Condoleeza Rice.
Und „M-ar-sa-i-elle“ statt Marseille.
Und statt Rescherschen buchstabiert er„Recherchen“.

Ich vertipp mich, Vater, immerfort,
bei solchem Beiprogramm, wie du es mir bietest,
sei nicht bös.

Er unterbricht sich. Hustet. Es klingt hohl.
Schau Sohn, durchs Tageblatt sich arbeiten ist hart.
Aber jede Nachricht erweitert doch auch den Blick.
Und ein Blick in die Welt, der gehört erkämpft
wie ein Baum zugehaun gehört. Ich weiß
das, ich war Holzhandwerker.

So gesehen, Vater, lies nur weiter, Vater, lies.
Und ich tippe.

„Kondoleeehza Rike betonte in …in…Neff Delhi..“
Und er hustet, unterbricht sich.
„Schau, ich hab gelernt zu glauben an das Tageblatt.
Dreimal ist es gekommen in der Woche zu meiner Zeit.“

Und ich tippe.

„Es ist alles drin gestanden was zu meiner Zeit von
Belang gewesen ist : die Zuteilungsperioden
von den Lebensmittelkarten, die Verdunkelungsvorschriften –

Die Verdunklungsvorschriften ?

„Wegen Fliegeralarmen. Wegen Terrorbombern,
weißt du, Bub.“

Den Terror ,Vater, den habt ihr doch verbreitet !
Ihr mit den zerdrückten Kreuzen an den Kragenspiegeln
und dem Führerbefehl in eurem Schädel.

Er wird still. Er hustet. Es klingt hohl.

„Schau, du bist ja so viel älter als wie ich jetzt, Sohn,
und so viel belesner als wie ich Dorfbub, der ich unbelehrt lieg
als Nummer 2074 in der Reihe sechsundzwanzig hinten.“

Hör, Vater, ich hör mir das nicht an dass die Toten
allsamt unter der Erde da zusammenkriechen zu einem Haufen.
Die Erschlagnen, die Verhungerten, die Vergasten,
die lehnens ab, mit euch zusammen zu vermodern.
Denen von der Wehrmacht !

Er hustet. Es klingt hohl.

„Ich sehe nicht weit von meinem Platz aus
in der Reihe sechsundzwanzig und die
von der Kriegsgräberfürsorge stellen mir einmal
im Jahr ein Licht hin seit sechzig Jahren bloß du Sohn
bist nie gekommen in der ganzen Zeit
mich besuchen so wie ich dich in der Isolierstation
wie du fünfeinhalb warst mit Diphterie.“

Jetzt bin ich es der da hustet. Und der schweigt.

„Der Winter ist hart im Norden weißt du da vor Leningrad,
jetzt heißen sie’s wieder Petersburg aber 30 Grad minus
bleiben dreißig Grad und die Hände mit denen ich dich
umschlungen hab mein Bub sind zerfressen vom Frost.“

Er hustet. Es klingt hohl.
„Was also willst du dass ich lese ?“

Lies mir von
Recherchen, lies mir von Marseille…
Lies mir von mir aus von Condoleeeza…
Aber lies, Vater.
Lies.



IMMERWÄHRENDER NEKROLOG

Du ?
Ich schulde dir ein Gedicht , nach
so vielen Jahren.

Alle gehen vorüber, grün, rot...
Du bist dort oben, weiß.

Du, die du mich ansiehst, die du
nichts andres zu tun hast
in deinem weißen Jenseits,
aus deinem Blechsarg in der Mauer
im Zentralfriedhof fern in der Vorstadt :
jung, unerbittlich, unentwegt.
Noch immer : du.

Dabei wohnst du -
du, ich bin dicker geworden
bestimmt längst nicht mehr dort -
unbeweglicher, seitdem wir beieinander lagen
sondern deine Reste -
du, ich schmeck immer noch deine Feuchte
deine irdischen Krumen sind lang schon -
und hör deinen Herzschlag
weggeschafft worden laut Friedhofsverordnung -
der klang als wenn jemand die Treppe heraufstürmt
nämlich nach einem bestimmten Verwesungsgrad -
du, ich hör dich immer noch davongehn nach dem allerletzten Adieu
wurde ein neuer Gast eingelagert im Blechsarg -
traurig langsam über die Magnolienblätter
bezog Wohnung dort und ist nun auch schon vermodert -
in der Avenida Tobalaba am 29.August
wurde auch schon wieder herausgescharrt
gegen 23 Uhr am Abend
und abgelöst durch einen Neuen -
in die Entfernung, ins Nie-Wieder ,in den Tod
der nun auch auch schon wieder zerfallen -
aber ich hör und seh und schmeck dich noch immer.

Sie sollten mich zu dir legen, du, in den allerletzten
blechernen Sarg
Dann werd ich dir berichten, was sich zutrug in der Welt
und in mir, seitdem wir uns liebten.

Alle gehen vorüber, grün, rot...
Du bist dort oben, weiß.


DIE NACHT IN DER VENEDIG UNTERGEHT

Als bei Sonnenaufgang der Öltanker
auf 12 Grad östlicher Länge
die Stelle passierte an der auf
der Seekarte Venedig
eingezeichnet war
auf 45 Grad nördlicher Breite
da gewahrte der Rudergänger
keine Untiefe
keinen noch so geringen Widerstand
mehr im Wasser
und hielt unbehindert zu
auf die Küste dahinter
auf Porto Marghera und Mestre
die Öldepots und Raffinerien
auf Standard Oil
und British Petroil
und auf Esso

Venedigs Häuser aber zu dieser Stunde
zwischen Morgen und Nacht
gleiten auseinander lautlos
wie in Falten gelegtes Papier
flattern zwitschernd davon
eine papierflügelig lustige Herde
übers noch verschlafene Meer
Und lassen zwitschernd sich nieder
nach kurzem nach endlosem Flug -
Auf Längengrad ?
Im Ortlosen.
Auf Breitengrad ?
Im Unauffindbaren.
Ciao ! Ciao !
Vorla barca ? Comandela, che ariva ?

Und wenn Venedig denn wirklich
untergegangen ist
wirds auf dem Grund liegen eines hellen
eines leichten Gewässers
Und nur ein Glückskind, geboren
am goldnen, um ungraden Sonntag -
ein Glückskind wird als einziges
seine Dächer entdecken dürfen
tief drinnen im Wasser :
seht mal, da unten liegt was,
seht mal, das ist Venedig !
Aber keiner unter den vom Glück
Übergangnen wirds ihm glauben
und hinsehn.
Und so, zugleich ver- und geborgen
von den bergenden Wassern
wird Venedig weiterhin leben :
gesunken auf nun endlich
unsinkbarem Grund.
Luftperlen werden sprudeln aus den Mündern
der Kinder und tanzen nach oben.
Ihre Schritte über die Stufen der Brücken
echoen sich weiter als springselige Weise
und lüften die Rocksäume den gicksenden
den verkleideten Nonnen
die zum Maskenball eilen.
Vorla barca ? Comandela,che ariva ?

Und Gott,der hier eine Frau ist,
stakt durch die Unterwasser-Kanäle,
eine goldne Larve mit roten Bäckchen
vor dem Gesicht, und ruft :
Che la serva ? Che vegna ? Vorla barca ?
Erweist mir die Ehre und lasst euch
von mir ein Stückchen weit rudern !

Und sie erweisen die Ehre und steigen zu ihr...
Come si fa in Venezia a dir di no ?
Und sie beugen sich über den Bootsrand
und lassen ihre Brüste
im Unterwasser-Wasser sich spiegeln und lachen :
welche von uns Schwestern hat denn nun
die saftigsten Früchte lagern auf
dem Balkönchen ?

Vorla barca ? Comandala , che ariva ?

Wenn der Öltanker
die Stelle passiert an der auf
der Seekarte Venedig
eingezeichnet war
da gewahrt der Rudergänger
keine Untiefe
keinen noch so geringen Widerstand
mehr im Wasser

Vorla barca ?


SECHS METAMORPHOSEN NACH OVID
Zu den Oboen-Soli von Benjamin Britten

I
PAN

Das riecht doch jeder gegen den Wind
dass die dich nicht will , schwarzzottliger Geilbock
also hetz sie nicht bis ins Schilf-Dickicht
bis in die Verzweiflung bis sie
keine andre Zuflucht mehr weiß als sich zu verwandeln
in einen hilflosen Halm ,
und selbst den rupfst du aus, du Wüstvieh -
um diese Melodie drauf zu blasen.
Diese Melodie...

Dank dir Geilbock trotzdem : so wird deine Gier
und ihre Tugend zugleich für uns zu Musik.

II
PHAETON

Rück sie raus, Papa, die Zügel für den Sonnenwagen !
Mich gelüstets ihn kutschieren vom Frührot in den Dämmer
seine Flammenräder in die Wolkenkurven schneiden
da geht nichts drüber, Alter, das ist der Wonnen grellste
heutzutag im Jahr 2000 ante

Rück sie raus, Papa, die Schlüssel für den Maserati !
Ich bin geil drauf mit ihm brettern in die Disco
seine Pneus taff die Serpentinenkurven schneiden
da gehts nichts drüber, Alter, das ist der Wonnen grellste
heutzutage im Jahr 2000 post

III
NIOBE

Aber nach dem Schmerz der das Innre verkarstet
kommt diese Unfähigkeit das was einen verkarstet zu benennen
die Verletzung zu übersetzen in Wörter
die mitteilen was Grausames denn einem widerfuhr

aber da sind keine Vokabeln mehr keine Vergleiche
nicht einmal mehr Buchstaben nicht einmal mehr Atem der
Töne über die Lippen bringt

Der Echo des Schmerzes hallt von Berg zu Berg
und der Berg ist doch nur das eigene versteinert verfelste eigene
Innere

IV
BACCHUS

Hat jetzt jeder
Hat jetzt jeder seinen Becher seinen voll mit
hat jetzt jeder
Wohlsein ! Na dann stoßt an !
Hat jetzt jeder seinen Becher voll hat
humta rumta na stoßt dann stoßt an -
Ja auf was denn ?
Auf die Weiber
na die Weiber
die da hinten schnattern rumta
mit dem Tropfen der da gluckert humta
auf die Trauben die dran baumeln rumta
an den Weibern an den Reben humta rumta
hat jetzt jeder seine Trauben seinen Tropfen
na dann stoßt an
spielt mit Trauben spielt mit Tropfen
lasst euch tropfen euch zertröpfeln
ja die Weiber die da hinten fangen euch schon auf
wie die Trauben humta rumta
ist jetzt jeder Tropf sein Tröpfchen
rumta ?

V
NARCISSUS

O du Unbeschreiblicher du da unten unter den Wasserringen
O du Unbeschreiblicher du da oben über den Wasserringen
heraufheben will ich dich zu mir
eintauchen will ich in dich in dir
du, ich will dich haschen in den Wasserringen
du , ich will dich fesseln mit den Wasserringen
will in eins geschmiedet
will in eins geschmiedet
treiben mit dem Herrlichsten
schwimmen mit dem Göttlichsten
das ich je gesehn
- mit mir !

VI
ARETHUSA

Hej du, Nympchen !
Nymphchen, bleib doch stehn !
Nymphchen, es ist heiß !
Nymphchen, mein Verlangen ist noch heißer !
Nymphchen, bleib doch ,leg dich
lass dich wässern dorten auf dem Moos -

Von wegen wässern :
Tante Diana, reich erfahren, hats mir
eingeschärft was ein Mannsgelichter einzig
antreibt
Lass mich also selber Wasser werden, Tante,
und dann stäub ich
kalt auf ihn herab mich

bis er flüchtend fortströmt
in den Katarakt :
ich die Woge
er die Strömung
ich die Gier und
er die Jungfrau

das gibt ein Spielchen, Tante !
Panta rhei.

DIE ESOTERISCHEN

Elfriede P., Logopädin aus Krefeld, schwört
sie vermöge nach zehn Minuten Meditation schon zu fliegen
und weiter, dass sie dabei Krischna höchstselbst singen hört
Herta R., Anlageberaterin in Neheim-Hüsten
behauptet ihr Astralleib könne dergestalt sich verbiegen
dass sie zur Bürozeit leibhaftig fortsegelt in
Mohammeds heilige Wüsten.

Susanna L., Eurhytmielehrerin in Neheim-Hüsten
hat dreimal schon den Nanga Parbat bestiegen.
Seitdem, versichert sie und weist dieselben vor, leckt
ihr Buddha die Waden.
Welch ein weiblicher Andrang das ins Transzendentale !
Ich steh da , per Sexum ausgeschlossen, und fremd draußen vor,
nein drinnen : in meiner Küche.

Da klopfts, und ich lasse eine späte Besucherin ein,
mit Stirnkuss. Es ist die Heilige Theresa von Avila .
„Hast du’s mitgebracht ?““ Was denn ?“
„Das Rezept für das Lauchgemüse mit Hammel.“
Wir kochens. Die Heilige Katharina von Siena
schneidet die Zwiebeln.

Wir schmausen. Wir entkorken den Wein.
Und wenns sehr viel aufzuessen gibt,
oder weg zu trinken
findet zu später Stunde auch noch
die Päpstin Johanna sich ein.

Elfriede P., wie gesagt, Logopädin aus Bielefeld, schwört
sie vermöge nach zehn Minuten Meditation schon zu fliegen
und weiter, dass sie dabei Krischna höchstselbst singen hört.

Ei, soll sie doch ! Wir tanzen derweilen schon.
Wir tanzen. Wir tanzen…
Katharina, Theresa, die Päpstin.
Und schlafen, gegen Morgen, ineinander geringelt ein.


SOMMERJUBEL

O fifferten o fafferten
Wau zauckt so faff der Fuff
Und fifferte und fafferte
Im teufen Truff und Schnuff

O fifferte o fafferte
Sin Burux hangg dich schlaupp
Dann fifferte dann fafferte
Die hanke Krampp dem Plaupp

To fifferte to fafferte
Teu tifferte teu tafferte
Die serxe timme Muhl
Fo fifferte zur Sommerzeit
So fiffrig faffrig fuhl !

Heja fiffer foffer fu !

MELCHIORs Nachhall
Überraschung aus Weimar :
eine junge Frau hat dort einen meiner
Romane, von mir längst vergessen,
ausgegraben und auf ihre Weise neu erzählt :
als TYPOGRAFISCHEN COMIC :

die Geschichte von Wacki, dem Klassendicken,
der den Tippzettel seines Vaters
verbummelt , weil er wieder einmal in
Tagträumen um seinen Freund
KÖNIG KUPFERKOPF verfangen war. Dabei hätte
Papa doch 7 Richtige gehabt !
Wacki kriegt Dresche, aber KÖNIG KUPFERKOPF
kommt schon geritten auf seinem Rosse
Symopox und prescht in die Wohnküche, direkt über
dem Küchenbüfett -
das "beginnt zu schwanken
und fällt langsam vornüber.
Die Mauer dahinter wölbt sich
und zerplatzt in kleine Backsteinbrocken..."
Wie hier trefflich zu sehen.
"KÖNIG KUPFERKOPF ist der Rächer
der Geknechteten. Unzählbare
Kerben in seiner Kupferhaut erinnern an
zahllose, siegreich bestandene Kämpfe.
KÖNIG KUPFERKOPF
ein wahrhaft ritterliches Spielzeug,
das in die Hand eines jeden echten Jungen gehört !"
Denn es gibt ihn auch als Spielfigur
und als Helden einer Fernsehserie.
Immer wenn die läuft, schaltet Papa allerdings seine
Sportschau ein.

Aber nun, da KÖNIG KUPFERKOPF
leibhaftig erscheint, springt Wacki hinter ihm auf
das kupferne Ross und sie reiten Im Fluge los,
um Rache zu nehmen an
allen, die je hässlich zu Wacki waren.
Und Melissa Fiebig hat mit ihrem Comic
den master of fine arts
an der Bauhaus-Universität Weimar errungen.
Chapeau !
www.melissafiebig.de
Und wir lernen wieder einmal von Claude Levi-Strauß
und seinem Ausspruch über GEOFFREY E.SMITH,
den Erfinder des Comics. Nachzulesen unter
MELCHIORs Theater