Es war eben doch eine Wallfahrt. Nach Tübingen. Nicht zu dem über-wallfahrteten Hölderlin, nicht zu Mörike,
Hegel, Silcher. Auch nicht zu Walter Jens.
Aber zu einem, für mich, überaus Wallfahrtswürdigen.
Dabei habe ich bei meiner Wallfahrt, was man doch von einem Wallfahrer erwarten dürfte, das Ziel nicht
gefunden. Den Anlangpunkt nicht erreicht, wo der Wallfahrer niederkniet, sein Gebetchen ableistet, sein
Trage-Kreuz oder was immer er hierher geschleppt hat, niederlegt, sich die Erbsen aus den Schuhen holt,
ob nun gekocht oder ungekocht.
Hier wäre der Anlangpunkt ein schlichter schwäbischer Gartenzaun gewesen, in Staketenordnung oder
diagonal genagelt : hier also hat der Wallfahrtsanlass 17 Jahre lang seine Schüler/Adepten mit seinen
Erkenntnisfeuern erleuchtet ! Das hätte ich vor mich hinsagen müssen, zu einer Wallfahrt gehört auch
ein zünftiges Wallfahrtsgebet, und mich dabei an diesem Gartenzaun festhalten, erschöpft, vielleicht wäre
dieses Erschöpftsein schon zu viel Pathos gewesen fürs schwäbische Gemüt der Hausbewohner jenseits
des Staketenzauns. Die sollten doch nicht behelligt werden, schon gar nicht verschreckt, vielleicht hätten
sie nicht einmal gewusst, zu wem ich, der am Staketenzaun, da eigentlich pilgerte.
Aber ich habe unter den vielen gleich aussehend biederst schwäbischen Zweifamilienhäusern SEINS
nicht erkannt. Alles Wüstenroth, Schwäbisch Haller, alle Bausparkassen heißen ja immer schwäbisch.
Eine Kleinbürgergegend, hier hausen nur Mieter, man gelangt zwar durch die Neckarhalde oben auf dem
Berg durch eine Parade von protzigen Verbindungshäusern hierher, aber hier tief unten in der Neckar-Ebene
ist alles Schwäbisch Hall. Wo ER, das Wallfahrtsziel, als Mieter zwischen Mietern, als holterdipolter Übersiedelter
aus der Zone ( damals sagte noch tout le monde so ) zwischen zusammengekauften Möbeln vom Trödelmarkt
hauste. Ein Ossi ( sagt man, entspannt, heute ) der zwei Dritteln des Universitäts-senats unerwünscht war.
Immerhin, die abgelegene Straße, über der die Verbindungshäuser ( der Juristen und Mediziner und
Wirtschaftswissenschaftler ) wie eine Riege von gerüsteten Rittern stehen, da unten in der Neckar-Ebene,
früher ordinär „im Schwanzer“, immer schon ein Blinddarm, heißt nun nach IHM. Am Ende des Wurmfortsatzes
ein Haus voller orientalischer Flüchtlinge mit überquellenden Kindern, im Garten Gebirge von Plastik-Spielzeug
und Plastikmüll, überragt von den robust-brutalen Eisenbeton-Trägern einer dröhnenden Umgehungsstraße.
Der Anstoß zur Wallfahrtsreise war ein jüngst unbemerkt erschienenes Erinnerungsbuch eines seiner Jünger, herausgekommen in einem Tübinger Kleinverlag. Es enthielt so viel Tübingen und Pfeifenrauch, dass ich
beschloss : ich muss da wieder hin. Nach gut 25 Jahren.
Und die Impulse meiner mittleren Jahre ehren. Auch das beiläufige Erinnerungsbuch ( eines, der später den
Rhetorik-Lehrstuhl besetzte, den vordem einmal Walter Jens volltönend innehatte ) mit diesen Impulsen hinterm
Berg und ergeht sich in Pfeifenrauch.
Die Wallfahrt, ausgelöst durch Gert Uedings Buch, hätte auch auf allerkürzestem Weg in mein Bücherregal
führen können, oder zu den Philosophie-Regalen der Stadtbibliothek : Wiederlesen nach drei, vier Jahrzehnten !
Oder, am ehesten noch, zu den Tondokumenten, die ich auch habe, der Tübinger Antrittsvorlesung von 1961
etwa, die ich vor Zeiten anhörte und immer wieder anhörte, sogar im Walkman, bis zum Süchtigwerden. Alle
die das je gehört haben, lese ich nun, waren betört von seiner freien Rede und dem Furor dieser Gestalt, die
von weither zu kommen schien.
Ich auch.
Aber konnte er auch schreiben , i.e.. sich schriftlich mitteilen denen, die ihn eben nicht in persona erlebt
haben, nicht mehr erleben konnten. War er lesbar ? Er-lesbar ? Verstehbar, wenn man ihn nicht auf dem Katheder
vor sich hatte, wo er als Zweimetermann erschien, obwohl er, lese ich jetzt, nur 1.75 maß und im Alter in sich
zusammen sank.
Hat er den Seinen ein Lehrgerüst hinterlassen, in das sie sich einfügen können ? An sie weiterzimmern
können ? Einen philosophischen Richtungweiser, an dem entlang diese Jünger sich vorantasten können,
oder ausschreiten, mit Marx, Karl May und der Thora in den Taschen ? Um eine Gegenwart und – sein
Terrain ! – eine Zukunft zu meistern, in der seine mächtige Stimme uns nicht mehr mutmachend voranschickt ?
In einer jüngst erschienenen Biografie des Antisemiten Horst Janssen wird er ( den Janssen mehrfach
unflätig beschimpfte ) nur noch als „Märchenerzähler“ gelten gelassen. Dass Martin Walser ( und nicht nur er )
seinen „Orgelton“ pries, gehört in die 70er Jahre. Danach stürzte die große Utopie des Staatsmarxismus, die
auch IHN gestürzt hatte und der Marxismus, aus denen er Energien gesogen hatte, wurde bereinigt. Die ZEIT,
deren Herausgeber den Tagesbefehl ausgegeben hatte „wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“, riet zu Blochs
gänzlicher Abschaffung.
Weil wir uns inmitten der Dystopien befinden, gell. Weil wir von der Dämmerung nach Vorwärts nichts
mehr wissen wollen. Wissen wollen sollen. Die Zeitäufte haben den Hoffnungsdenker widerlegt, ist
angesagt. Widerlegter kann ein Denker nicht sein, höre ich. Darum beschränkt sich selbst ein Adept
wie Gert Ueding aufs Nostalgische ( und treibt mich damit nach Tübingen, fast bis an den Gartenzaun.)
Seit dem Club of Rome stürzen wir ins Nichts. Ins nüchterne Nichts, ohne alttestamentarische Orgeltöne.
Teddy Adorno, der Antipode, hatte sich da besser eingerichtet. Er bezog den sicheren Posten des
Pessimisten. Die Abschaffung eines Pessimisten fordert keine Denkschule und kein Feuilleton, schon gar
keine deutsche.Dabei war er viel mehr ein Hedonist, war viel mehr hinter den Frauen her, mehr denen
unter denen unter 15, hat, Sohn eines Weinhändlers, viel mehr Rotspon leer gepichelt. Zudem hat er sich
das stabilisierende Beziehungsgerüst der empirischen Soziologie in den Rücken geschraubt, das ihn
bruchsicher in die Zeiten nach dem Ausrangieren des Karl Marx hinübergleiten ließ.
Wie aber, wenn die beiden so antipodisch gar nicht waren ? Sie haben sich früh aufeinander bezogen,
aber der Kalte Krieg, die amerikanischen Sponsorengelder, die 68er Studenten ( Bloch liebten sie, Adorno
trieben sie in den frühen Tod ) haben sie auseinander und auf Abstand gehalten in einem unübersichtlichen
Gelände.
Nicht getrennt.
Mit solchem im Kopf, verstolperte ich mich in der Tübinger Neckarebene unter der grausigen
Umgehungsstraße und fand das bescheidene Heiligtum nicht. Aber weil eine Wallfahrt eben einen
Anlangpunkt braucht, fand ich dann doch seine Lieblings-Buchhandlung, auch wenn auch sie nicht mehr
die selbe und an einem anderen Ort war wie um 1970. Ein freudlicher Buchhändler ( „Doch, doch , es
kommen noch so an die zehn pro Jahr, die nach ihm fragen“) wies mir den Sessel, in dem ER gesessen
hat. Gesessen haben soll.
Aber : ist ein Sessel nicht ein viel zu statisches Möbel für E.B. ?
Gert Ueding : Wo noch niemand war – Erinnerungen an E.B. Klöpfer & Mayer Tübingen 2016, 210 S.