Seine Comics kennt die ganze Welt — seinen Namen aber kennen nur wenige: Schicksal
wohl eines jeden Autors in diesem Genre. Den Namen des Geoffrey Eleazar Smith
aber sollte man ganz groß schreiben. Ist er doch der Klassiker, ja sogar der eigentliche Schöpfer
des Comics.
„Inkunabeln einer neuen Sprachform, welche das kommende Jahrtausend beherrschen
wird" nennt Roland Barthes die Comics, die Smith in den Jahren zwischen 1896 und 1917 in der
amerikanischen und später auch in der europäischen Presse erscheinen ließ. Aus acht seiner
insgesamt rund 4000 ( ! ) Stories fügte Smith 1913 die Szenenfolge TARELLA OR ADVENTURES
OF A YOUNG INNOCENT zusammen, die im New Yorker „Civic Theatre" erfolgreich uraufgeführt
wurde und seither auf der angelsächsischen Bühne heimisch geworden ist. 1922 wagte Leopold
Jessner in Berlin die deutsche Erstaufführung, nach der Alfred Kerr in seiner Rezension über
„die angelsächsische Engelhaftigkeit des Trivialen" sinnierte und Smith den „Dante der
Hintertreppe" nannte.
1878 geboren in Black Oakes/New Jersey als 6. Sohn des schottischen Einwanderers Barry
Eleazar Smith. „In meiner Familie waren die Legenden und Sagen der alten Skalden Schottlands
noch so lebendig, als wären sie gestern zum erstenmal erzählt worden. Ich erinnere mich, wie
wir fast jeden Abend in unserem kleinen Kramladen saßen und den Geschichten meines Vaters
lauschten. Durch das Dunkel zogen dann die schottischen Helden: der schreckliche
Sheag-lean-no-roddigogh, König Opheagn'n mit seinen 99 Rittern und der Drache
Mah'Nephogean-gh, der noch immer unbesiegt in der Tiefe der Felsenbucht von Reddaganh
haust. Aus dem Ur-Stoff dieser altschottischen Geschichten, die Smith von seinem Vater
hörte, sollte er später seine unsterblichen Comic-Stories brauen: den Zyklus um
Arthur den
Eisernen, Barny den Bogenschützen und vor allem Prinz Eisenherz.
1892 Geoffrey Smith trampt nach New York. Anfangs schlägt er sich als Pflastermaler
vor der Baptistenkirche in der 62. Straße durch, wird aber vom Reverend Oates verjagt:
„Der Junge hat eine gotteslästerliche Phantasie, Gott der Herr möge ihm die Kreide naß
werden lassen!". Danach jobbt er als Liftboy, Zeitungsverkäufer, Aufseher im türkischen Bad,
Gehilfe in einer Sargtischlerei. Eine Episode als Schlepper für ein Spezialitäten-Bordell in
siamesischem Stil wird zwar von seinen Gegnern hartnäckig behauptet, ist aber nicht verbürgt.
1894 Erste eigene Stories, die er — handgeschrieben — für 12 cents pro Stück an die
Schüler einer Sonntagsschule an New Yorks Lower East Side verkauft. Smith wird von
einem Agenten der Western Electric Inc., hinter der Thomas A. Edison steht, angeworben.
Mit Edisons Agenten, einem gewissen Tomczyk, tritt er die Reise in den Westen an.
„Erst hinter Detroit verriet mir dieser Gentleman, was er eigentlich von mir wollte. Da aber
war es bereits zu spät, aus dem Pullman-Luxuswagen der I. Privat-Klasse zu springen".
Die tiefen Narben des Tomczyk-Erlebnisses sollten in allen späteren Helden Smith',
denen man eine ,allzu pfadfinderhaft enthaltsame Haltung gegenüber Frauen' ankreidete,
spürbar bleiben. Am Ziel der Reise, in Kalifornien, lernt Smith Thomas A. Edison persönlich
kennen, der in der abgeschiedenen Savanne in einem streng bewachten Labor mit der laufenden
Fotografie experimentierte. „Die Phantasie des alten Herrn war leider rein technisch. Es
fiel ihm nichts besseres ein, als seine kostbaren Filme mit Radfahrern und Windmühlen
zu belichten. Ich erfand ihm aus dem Hut ein paar spannende Szenen, die ich sofort mit
einem Dutzend Arbeitsloser aus Beverly Hills und einigen Indianern aus den umliegenden
Reservaten in Szene setzte. Der Alte war aus dem Häuschen, und seine Geldgeber
versprachen nicht nur, seine verrückte Erfindung zum Patent anzumelden, sondern
wollten auch unbedingt die Fortsetzung meiner Szenen sehen. So erfand ich auf einmal
den Spielfilm, den Western und die Serie".
1896 Smith schreibt für den „San Francisco Weekly Dispatch" (Ausgabe vom 12. Februar)
seine erste Bildergeschichte, die ein stellungsloser Landschaftsmaler namens Frank O. Burger
schlecht und recht illustriert. Thomas A. Edison findet die rührselige Story seines Assistenten
Smith „very comical" und schafft damit — ohne es zu ahnen — den Namen für eine neue
Gattung: den
Comic. Smith kassiert für sein Opus eins 4 Dollar 43 cents. Im fernen New York
aber wird der aufstrebende Pressezar Randolph Hearst I. auf den Geschichtenerfinder von
der Westküste aufmerksam und äußert:„Wenn wir diesen Vulkan nicht an die Ostküste
verpflanzen, kann unsere Presse hier einpacken". Er heuert Smith für 300 Dollar wöchentlich
an mit der Auflage, im „New York Journal" wöchentlich eine Comic-Story zu veröffentlichen.
So entstehen die „Katzenjammer Kids", die Smith unter dem Pseudonym Rudolph Dirks
erscheinen läßt.
1897 Smith erfindet am 4. Februar die Spruchblase: „Bis zu diesem Tage hatte ich dauernd
das Problem, wo ich hintun sollte, was meine Figuren sagen. Da ging ich an einem eiskalten
Morgen an McBrides Coffeehouse vorbei: dichter Dampf quoll den Gästen McBrides aus dem
Mund und blieb sekundenlang in der frostigen Luft stehen, während sie eifrig aufeinander
einredeten. Geoffrey, sprach ich zu mir: das ist es ! Beschrifte die Dampfwolken, und du
hast deine Dialoge untergebracht! Gesagt, getan — und im nächsten 'New York Journal'
hatten meine Helden alle die Dampfwolken von McBrides Coffeehouse vor dem Maul.
Die Spruchblase trat ihren Siegeszug an!"
1898 Smith verliebt sich in seine 15jährige Cousine Virginia McKenna. Als Tatarella
findet sie Eingang in seine Geschichten. Allein bis zur Jahrhundertwende widmet er ihr
1328 Comic-Stories. Seine Liebe indes bleibt unerwidert: 1901 ehelicht Virginia den
Wollwaren-Großhändler Ambrose Brown jun. Eleazar Smith, der selbst unverehelicht blieb,
adoptierte 1906 Virginias 3. Sohn, Gordon Curtius. Virginia wurde durch insgesamt 12 Geburten
dick und unansehnlich. Ihr Urbild aber lebt fort nicht nur in Tatarella, sondern auch in deren
Nachschöpfungen
Barbarella, Phoebe Zeit Geist, Sweet Gwendoline und Bianca Torturata
- bis in unsere Zeit ein bleibendes Denkmal für Virginia McKenna !
1899 Begegnung mit
Karl May anlässlich dessen erster Amerika-Reise. „Er ließ mich in
New York ins Hotel kommen. Er machte mir den Eindruck eines schwindsüchtigen
Kantors, und ich erzählte ihm ein paar Geschichten, um ihm seine letzten Tage etwas
aufzuheitern. Erst hinterher erfuhr ich, daß er Schriftsteller war und meine Stories unter
dem Titel
,Old Surehand', ,Der Schatz im Silbersee' und
,Winnetou' als eigene Werke
erscheinen ließ. Ich war vielleicht sauer!"
1901 Smith überwirft sich mit Hearst, der inzwischen 67 Zeitungen an der Ost- und
Westküste mit Smith' Comics beliefert, aber nur jeweils 4 ( ! ) mit ihm abrechnet. Smith tut
sich mit dem jungen irischen Einwanderer Lawrence Arthur King zusammen („Durch Larry,
der mitten aus den Klassenkämpfen in Manchester kam, erfuhr ich zum erstenmal,
was Sozialismus ist") und gründet das King Features Syndicate, in dem Smith, King,
die Zeichner und Vertriebsspezialisten auf genossenschaftlicher Basis zusammenarbeiten.
„Unsere ersten sechs eigenen Strips schickten wir an die Sozialistische Internationale
mit der Widmung: ,Eine Frucht sozialistischer Arbeit aus dem kapitalistischen New York!"
Wir bekamen unsere Strips postwendend zurück. Jemand hatte mit Bleistift auf den
Umschlag geschrieben: „'Verbitten uns die Zusendung Ihrer bourgeoisen Widerwärtigkeiten!'
Larry war ziemlich geknickt, und ich mußte ihn trösten: „Vielleicht lernen die Marxisten doch
noch eines Tages, daß Comics die Sprache der Zukunft sind!".
1903 Smith engagiert den jungen Lionel Feininger („Leider ging er später nach Deutschland,
wurde dort angesteckt und malte Ölbilder, die nur von deutschen Intellektuellen gelobt
wurden. Damit war er für den Comic verloren") und Winsor McCay als Zeichner. Für McCay
erfindet er die surrealistischen Träume von „Little Nemo", die bekanntlich Sigmund Freud
in seinem Buch „Traumdeutung" stark beinflußten.
1904 Smith trennt sich von King: „Dieser ehemalige Sozialist hat mich ärger betrogen als
sogar der kapitalistische Geier Hearst ! Er ließ alle meine Figuren auf seinen Namen patentieren
und wurde fett durch den Verkauf von Lizenzen an die Industrie. Nun gab es Pfeifen, die
aussahen wie mein Prinz Eisenherz und Handtuchhalter, die die süßen Formen meiner Tatarella
aufwiesen ! Und ich hatte das Nachsehen, während Mr. King kassierte."
1906 Um King zu übervorteilen, der die bisherigen Stories von Smith ausschlachtet, erfindet
Smith eine völlig neue Gattung: „Ich verlegte meine Stories auf ferne Planeten und Mars-Raketen,
um Mr. King zu entgehen. Meine Haushälterin, Mrs. Grimes, wollte unbedingt, daß ich ihren
Schwiegersohn, einen eitlen Iren namens O'Connor, in diesen Geschichten auftreten
lasse. Da ich süchtig war auf Mrs.Grimes' köstlichen Plumpudding, tat ich ihr den Gefallen und
verwandte den schönen Iren als ,Armand den Galaktischen'. Sie revanchierte sich und
nannte das neue Zeug ,Science Fiction'. Ich glaube aber nicht, daß sich so eine blöde
Bezeichnung durchsetzen wird".
1909 Das produktivste Jahr von Smith: stets gehetzt von Kings ständig wachsender
Crew und deren Kreationen, erfindet Smith „Blondie", „Tarzan", „Popeye" und „Krazy Cat",
die erste Tierfigur im Comic, von der Mickey Mouse, Donald Duck und Bug's Bunny direkt
abstammen. Im selben Jahr produziert er den ersten Zeichentrickfilm und schreibt
Drehbücher für Harry Langdon und Ben Turpin. Zugleich konzipiert er mit 'The black trial'
den ersten Vampirfilm, den er - da Hollywood ihn wegen der militanten Frauenvereine
nicht zu realisieren wagt - an den dänischen Produzenten Urban Gad vergibt. Gad bringt
ihn unter dem Titel „Vampyren" erfolgreich mit seiner Frau
Asta Nielsen heraus. Asta
Nielsen wird Smith' enthusiastische Anhängerin und Propagandistin in Europa. „Sie
schrieb mir, daß sie in den Drehpausen meine Comics lese. Ich schrieb zurück: ,O.k.,
hoffentlich merkt man das auch noch hinterher im fertigen Film!' "
1911 Smith lernt Eugen O'Neill kennen. „Er zeigte mir seine Bibliothek von 4200
Bänden - mir, der ich lediglich zwei Bücher ganz gelesen habe: die Bibel und ,Harter's
Versandkatalog für den Hundefreund', Ausgabe 1889. Hinterher verlor er vier Partien
Bridge gegen mich. Dabei soff er unentwegt Sherry, ließ mich aber mit Ginger Ale sitzen.
Da hatte ich endgültig von der hohen Literatur die Nase voll".
1913 Smith legt sein Vermögen in Aktien der „Ormond Food Company" an, deren
Präsident Horatio L. Ormond soeben ins Theatergeschäft am Broadway einsteigt.
„Ormond überredete mich zu dreierlei : 1. zum Genuß von Austern der ,Ormond Food Comp.',
die erst gar nicht durch meine schottische Kehle rutschen wollten; 2. dazu, aus den besten
acht meiner bislang 2900 Comics ein Theaterstück zu bauen. Ich erschrak und dachte
an O'Neill mit seinen protzigen 4200 Büchern: ich hatte nicht so viel, konnte also auch
keine Stücke produzieren. Ormond tröstete mich: ,Beruhigen Sie sich - das einzige Buch,
das ich besitze, ist mein Hauptbuch. Und dennoch habe ich dauernd Erfolg'. Das
überzeugte mich. Ich schrieb ihm das Stück in sechs Tagen. Sein 3. Vorschlag aber
ließ mir den Schweiß ausbrechen - ich sollte mich für die Theaterwerbung fotografieren
lassen ! Dabei hatte mir meine Großmutter Clivia Macintosh von Kindesbeinen an
eingeschärft: ,Wenn ein Schotte eine Photographie von sich machen läßt, hat er
höchstens noch drei Jahre zu leben!'." Bis heute hält sich deshalb hartnäckig das
Gerücht, das einzige Foto von Geoffrey E. Smith stelle gar nicht diesen, sondern
Mr. O'Connor, das Urbild des galaktischen Armand dar 3). Smith' Stück wird unter
dem Titel „Tatarella — Adventures of a young Innocent" erfolgreich am 3. 12. 1913
im New Yorker „Civic Theatre" uraufgeführt und bis heute in der gesamten
angelsächsischen Welt nachgespielt. Die Rolle des Quasimodo verkörperte ein
unbekannter englischer Schauspieler, dessen Namen der Personenzettel mit
C. Spencer Chaplin angibt. . .
1915 Ein schüchterner Junge aus dem mittleren Westen bewirbt sich bei Smith
als Bürogehilfe. Sein Name: Freddy Garcia. „Ich sage: ,Mit so einem Namen fragt
dich jeder in New York, ob du nicht vielleicht von der Mafia bist!" So erfand ich für
ihn einen neuen Namen: Walt Disney. Einundfünfzig Jahre später sollte der einstige
Freddy Garcia Smith in „Disneyland" ein monumentales Denkmal errichten: eine
dreißig Meter hohe Nachbildung der Festung von
Sattarshi Ghor, in deren bronzene
Tore eingraviert steht „Gewidmet dem ewigen Angedenken meines Lehrers Geoffrey
E. Smith, der der Klassiker des Comics war".
1917 Als die USA in den Krieg gegen das kaiserliche Deutschland eintreten, meldet
sich Smith freiwillig zur Armee: „Nicht aus Patriotismus, mir war einfach langweilig.
Außerdem hoffte ich, in Europa würden mir ein paar neue Stories einfallen". Sein
Eintritt in die Armee scheitert daran, daß er sich für den Wehrpaß fotografieren
lassen soll. So läßt er sich als Alleinunterhalter vom Fronttheater des VII. Expeditionskorps
der US-Infanterie engagieren: „Ich sang ihnen auf der Überfahrt die altschottischen
Balladen meiner Kindheit vor. Keine war kürzer als mindestens 60 Strophen. So
waren wir im Handumdrehen in Le Havre". An Bord ist auch
Ernest Hemingway:
„Er führte 14 verschiedene Whisky Sorten mit sich. Ich bewunderte ihn schrankenlos."
Nach einer durchzechten Nacht mit Hemingway in dem bretonischen Dorf Becherel
(Dpt. Ille-et-Villaine) werden beide morgens von einer Rinderherde überrannt.
Smith wird dabei tödlich verletzt. Hemingway, der Smith in seinem Roman
„In einem anderen Land" 1929 ein literarisches Denkmal setzte, schreibt darüber
an Gertrude Stein: „Er starb als echter Kelte: Malzbranntwein im Leib und Gesang
auf den Lippen".
1926 Walter Benjamin veröffentlicht einen Essay über Smith in der Frankfurter
„Zeitschrift für Sozialforschung" unter dem Titel „Vision, Gewalt, Telos — Das Werk
des Mythenbildners Geoffrey E. S..", über den sogleich eine heftige Kontroverse mit
Gershom Schalem und Horkheimer entbrennt³). Benjamin zieht den Aufsatz zurück,
der erst 1968 von der Westberliner Zeitschrift „Alternative" (Nr. 59/60) wiederentdeckt wird
und die Rezeption Smith' durch die Neue Linke vorbereitet. Benjamin über Smith:
„Dem Telos gleichermaßen wie einer vor-augustinischen Spiritualität verhaftet, trieb
er das Imago einer Welt ins Nichts seiner Epoche, in dem Signale des
Dahingeschwundenen mit den Fanfaren des Zukünftigen sich zu einer jederzeit
reproduzierbaren Syntax zusammenschließen".
1) Alle Zitate von Smith stammen aus G. E. Smith „My life, my dwarfs, my heroes",
ed. by L. Henry Harris, Wisconsin University Press 1924.
2) Vgl. hierzu Gordon C. Smith „My father's life — Falsehoods, legends, perceptions",
Ann Arbpr/Michigan 1963, p. 121—127.
3) Vgl. Rolf Tiedemann „Studien zur Philosophie Walter Benjamins", Frankfurt/M. 1965,
S. 237 f, S. 385 ff.
Außer der genannten Literatur sei dem Interessierten noch folgende Literatur empfohlen:
Alexander Kluge/Oskar Negt: „Der die Blasen füllte", in „Öffentlichkeit und Erfahrung",
Frankfurt 1972, s. 297—319. Alfred Schmidt: ,,Metonymie und Sozietät - Das Werk des
Geoffrey E. Smith als soziales Medium", in: „Sprache im Technischen Zeitalter", 11/1974.
Für die freundliche Überlassung der Aufführungsfotos von 1913 danken wir Mr. Gordon C. Smith,
Palm Springs/California, und dem New York Museum of Dramatic Arts.