MELCHIORs wohl nie zuvor
Wenn ihr denn schon
was herzeigen müsst aus euren Tresoren -
dieser ganz & gar unerwünschten
Öffentlichkeit, dann sperrt es gleich wieder ein -
in einen Glaskäfig. Mit Geländer drum rum !
Und Aufsehern - bärbeißigen Gesellen, die vorher
auf dem städtischen Schlachtviehhof
Dienst getan haben oder als Feldwebel einer
grimmigen südslawischen Armee.
Und denen
die sich dann immer noch reintrauen :
Schrifttafeln vor die Nase !
Schrifttafeln !!!

Zur Abschreckung des Besuchers,
des Eindringlings.
Der mit seinen Steuern
( aber das kümmert euch Beamte ja eh nicht )
euer Museum doch bezahlt.
So war's Grundgesetz
im Museumsgewerbe,
als ich, so ahnungslos wie
unternehmungslustig,
Ende der 70er Jahre darauf traf.
Im Historischen Museum Frankfurt
.

Am EISERNEN STEG
über den Main,
heute bunt bepackt mit Liebesschlössern.
Dabei wollte ich, der Theaterer,
ROBINSON CRUSOE den berühmtesten Inselbewohner
doch nur so wassernah & abenteuerlich aus- und darstellen, wie's ihm zukommt.
Eine Insel lag zum Greifen nah vor dem Museum im Main. Her damit !
Die verschreckte Bürokratie aber rückte noch nicht mal den Schlüssel heraus.
Man glaubts nicht : zu einer Insel braucht man einen Schlüssel !
Robinson seinerzeit hatte noch keinen gebraucht.
"So schuf er" schrieb meine Ermöglicherin und Mittäterin Heike später,
"als Herzstück der neuen Präsentation eine tiefblaue ozeanische Meereslandschaft mit einer begehbaren Insel darin, die als Bühne für spielerische Aktionsformen diente. Wobei die Inselhöhle besonders beliebt war. Vor ihr standen die kleinen Besucher Schlange, krochen hinein, hinterließen Sprüche und Zeichnungen . Frage eines Jungen „Wann bitte ist es in der Höhle nicht so voll ?“
ROBINSON Die Geschichte des
berühmtesten Inselbewohners
1978 .

Die Öffentlichkeit - Publikum, Presse, Fernsehen -
war jubelig angetan.
Heike, die Ermöglicherin und Mittäterin,
freute sich und schaut hier durch einen hölzernen
Robinson,der vor dem Museum aufgestellt war,
um Publikum anzulocken.
Das hier den Kopf durchstecken und
sich als Robinson fotografieren lassen konnte.
Der Kopfdurchstecker freilich wurde
bei einem Gastspiel in Düsseldorf geklaut.
Als Trophäe.

Ausgerechnet vor dem Goethemuseum.
Ermutigt ans nächste Werk.
Eigentlich sollte es eine Spielzeug-Ausstellung werden.
Als ich aber das Spielzeug-Museum in Nürnberg gesehen
hatte, befahl ich mir : so etwas verübst du nicht !
Mich widerten die achtlos-rührselig präsentierten
Possierlichkeiten hinter Vitrinenglas an,
aus denen jeder historische Gehalt gewichen war.

Ich entwarf ein völlig neues Modell :
das Rollen-Museum.
Schon am Eingang ein
ENTSCHEIDE DICH für
eine soziale Rolle :

Großbürger ROT
Handwerker GELB
Bauer GRÜN
Jude WEISS
Manufakturarbeiter BLAU
Fahrender / Outcast BRAUN



"Für dieses Projekt"
beschrieb Heike später,
schuf Melchior
"eine richtige kleine Stadt,zu der
auch ein Jahrmarkt gehörte.
Der Zugang zu der Stadt ging durch
Tore in Kindergröße ( 1.30 m ) ."
Das Spielzeug, das Grundmaterial,
diente zur Illustration und
verkleinerten Veranschaulichung
der jeweiligen Lebenswirklichkeiten.
Der Kasten am unteren Bildrand
des schwarzweißen Pressefotos ist
ein Spiegelsystem, in dem
sich die Besucher


in der Kleidung ihrer sozialen
Rolle sehen konnten, hier
der Manufakturarbeiter.

"Kinder müssen genauso
lange arbeiten wie Erwachsene."



"Eine Marktszene en miniature
bei dem Bauern, ein Bauchladen
mit Trödel bei den Juden.
Zusammengestellt wurden diese
auf den bunten Wänden
mit verschiedenen Materialien ( Originale
und Nachbauten ) ,
Reproduktionen von zeitgenössischen
Grafiken..."


"Die Stationen der jeweiligen
Kindheitsgeschichte waren gleich :
Geburt, Familie, Wohnung, Spiel oder Arbeit.
Schule, Ausbildung, Erwachsenwerden,
Heirat und weitere Zukunft.
Damit reichte der Bogen weit
über das Stichjahr 1780 weit ins 19.Jahrhundert
hinaus, um am Ende
der Gänge dem ( erwachsenen ) Betrachter
aufzuzeigen, welche Fortsetzung die
Geschichte nahm " ( Heike )

Hoch über den Köpfen
jeder sozialen Rolle deren Wünsche,
Lebens-Entwürfe, Utopien :
hier der Handwerker, der sich in seiner
Stadt beengt fühlt,
den`s fort drängt, vom Zunftzwang,
auf die Walz,
ins Ausland oder gar nach Übersee.

Darum das Segelschiff.
Der unfrohe Hauslehrer
des Großbürgers.
Links unter ihm das Puppenhaus
der Frankfurter Familie Gontard,
bei der Friedrich Hölderlin
unglücklicher und unglücklich verliebter Hauslehrer
gewesen ist .

Die Kinder seiner Diotima haben mit diesem
Puppenhaus gespielt. Während er dabei saß ?
Atmet der alte Holzkasten noch davon,
teilt er's uns mit ?


"Das bin ich mit acht Jahren.
Wir sind eine reiche Kaufmannsfamilie.
Das ist mein Zimmer, wir haben
einen Stallknecht,
einen Hauslehrer, eine Zofe."
Die Judengasse
Die Welt
der reichen Leute
Den Juden war in Frankfurt
bis zur Befreiung durch den Code Civil
des Napoleon
eine Art Kloake an der alten Stadtmauer
zugewiesen, die Ludwig Börne
( der hier aufgewachsen ist )
drastisch beschrieben hat.
Die Judengasse

Die Symbolfarben vereinigen sich
auf dem Fußboden : die sozialen Rollen
und Stände ,
sonst mehr
oder weniger getrennt,
treffen auf dem Jahrmarkt aufeinander
bei den Puppenspielern und
Bärenführern und Bänkelsängern,
zwischen Taschenspielern und Taschendieben,
erfahren in der Laterna magica, was sich draußen
in der Fremde tut,
und besteigen die russischen Schaukeln,
die Vorläufer der heutigen
Riesenräder.
Die die Kirmes betreiben,
sind fahrende Leute,
"Grattler" wie man in Bayern
sagt,
in den Städten nicht geduldet.








Der Pranger
"Die Schau bedeutete sehr wohl Spaß und Vergnügen.Sie kam den Kindern in ihrem Bedürfnis nach Motorik entgegen, sie konnten sich frei bewegen,Dinge anfassen, immer wieder Überraschungen erleben. Zugleich bot sie Möglichkeiten sich mit den dargestellten Schicksalen zu identifizieren, Vergleiche zu ziehen, Betroffenheit zuzulassen. So wurde sehr wohl begriffen, wie sehr die Grenzen der Standesgesellschaft das Leben bestimmte. Dabei war der Zugang sehr persönlich. Die Kinder wählten ihren Lieblingsgang und sprachen von 'meinem Haus' oder von den 'vornehm pinkligen Reichen'. "







Am Ende jedes Lebensganges
war gedrängt zu sehen
( oben im Bild ) ,
wie die
sozialen Rollen sich nach dem Stichjahr 1830
entwickelten, was ihnen widerfuhr
oder ( hier beim Juden ) blühte.
Wohl nie zuvor
hat es in der Bundesrepublik eine so
phantasievolle, zum Entdecken,
Spielen und Erzählen anregende
Ausstellung gegeben“

jubelte Peter Bier
vom Stern .
Das Fernsehen schickte uns
Kamerateam
um Kamerateam,
die örtliche und die überörtliche
Presse war
geräuschvoll des Lobes voll
Professoren kamen
von weit her
und ihre Studenten folgten ihnen
busweise, ein österreichischer
Unterrichtsminister und späterer
Bundeskanzler, Kurt Sinowatz
zwängte seine beträchtliche
Leibesfülle durch die Gassen von
ANNO KINDERMAL .


Nur die Museumskollegen im Hause schäumten vor Hass.
Urängste brachen auf : diese Inszenierung spült uns Menschen in die Festung !
Andrang, feuchten Atem, Betatschter.
Und vor allem das Schrecknis aller Schrecknisse - Kinder ! Kinder !! Kinder !!!
Bestellte Lesebriefe ANTI ( innerhalb der verbonzten SPD ). Das ZDF PRO .
Ich selbst, Sofortmaßnahme, erhielt Hausverbot. Eine Bürger-Initiative legte sich
ins Zeug PRO. Die Presse hatte wochen- ja monatelang ein sicheres Thema.
Wieder PRO. Aber die Vögte des Museums vertrotzten sich CONTRA CONTRA CONTRA,
weil immer mehr Publikum in die Festung flutete.
Wo's vordem so behaglich stille war.



Heike wurde
in den Berufswechsel getrieben.
Bewerbungen an andere Museen
scheiterten an den Vorwarnungen
der Kollegen, die stets hurtiger
beim Magistrat/Bürgermeister/Kulturreferenten
anlangten als sie selbst.

Sie floh zum Rundfunk,
und im Hause regierte nun wieder beamteter
Stillstand.
Das Modell Rollenmuseum
( das Modell inszeniertes Ausstellungswesen
allgemein ) aber hat trotz alledem und alledem Schule gemacht
und das Schrifttafel- und Vitrinenmuseum
in die Ecke gedrängt. So etwa
in Ludwigsburg, wo eine Miniaturausgabe unseres
ANNO KINDERMAL
zu begehen, zu bekriechen und zu begreifen ist.
Oder im Auswandererhaus
Bremerhaven als monumentale Fortentwicklung,
ausgestattet mit allen Extravaganzen
heutiger Technik.
Insgeheim & unausgesprochen aber
war den Vitrinen-Vögten noch das geringere
Ärgernis, dass wir kecke Neuerer waren, sondern
dass wir nicht verhehlten : wir sind ein Paar und steen dazu.
Eben das ( heiliger Wilhelm Reich, hilf ! )
forderte die Museums-Zölibatäre
zu ihrem Purgatorium heraus.